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Novellen und Erzählungen teilweise fantastischer Natur, die Leah Cim wie gewohnt mit einem gehörigen Schuss Erotik anreichert.
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69er-Stellung, Alien, Edelpuff, Fick-mich-Fummel, Kunstszene
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Seitenzahl: 255
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Im Zeichen der Lilie
Melchior Silvanus‘ rätselhaftes Verschwinden
Spuk im alten Steinbruch
Entstehen
Entdeckung
Schlussstein
Schall und Rauch
Schreckliche Gewissheit
FMF
Rinxal aus dem Kofferraum
Fremdkörper in der Wildnis
Außerirdischer Besuch
Herr Protons tragisches Ableben
Energiedefizit
Lagebesprechung
Heimkehr?
Zu Hause!
Geschenk des Himmels
Rockin‘ Regina
69
Panikverordnung
Der Mann umschlich das Haus auf jenen drei Seiten, die öffentlich zugänglich sind, warf immer wieder Blicke zur Dachtraufe und auf die Wände. Vor allem die Stukkarbeiten schienen es ihm angetan zu haben.
„Ob das ein Bulle ist?“ fragte Gianna ihre Freundinnen Toni und Inga, die von drinnen den beobachteten, der dasselbe von draußen tat.
„Nie im Leben“, erwiderte Toni, „einen Bullen erkenne ich einen Kilometer gegen den Wind. Guckt euch an, wie der aussieht. Eher Junkie oder bestenfalls Alternativer.“
„Vielleicht zur Tarnung?“
„Das bringt ein Bulle nicht fertig. Der kann anziehen was er will und sich einen Irokesenschnitt zulegen; die misstrauisch-musternde Miene haftet ihm an.“
„Der da mustert uns doch auch.“
„Nicht uns, sondern das Gebäude. Den Eingang beachtet er gar nicht, was für einen Gesetzeshüter das Wichtigste wäre.“
„Apropos Eingang: Er nähert sich ihm.“
„Dann wird’s spannend.“
Das Fleur-de-Lys-Haus steht nicht sperrangelweit offen, aber auf Klingeln wird einem männlichen Besucher nach sorgfältiger Musterung im Allgemeinen aufgetan. Die meisten klingeln allerdings am Hintereingang, denn sie wollen nicht unbedingt an diesem Ort gesehen werden. Dort wartet auch ein schattiger Parkplatz, auf dem ein Auto aus allen möglichen Gründen abgestellt werden kann.
Es klingelte an der Vordertür.
Inga, die heute Wachdienst schob, öffnete. Ihr wurde dieser Dienst meistens zugeteilt, denn sie war in allen möglichen Kampfsportarten trainiert und trug außerdem eine unauffällige Schusswaffe am Körper. Angesichts ihrer Rolle als Rausschmeißerin war sie vollständig und keineswegs sexy gekleidet.
Der Mann, der vor ihr stand, verhieß Entspannung. Er war ungefähr 50 Jahre alt und lächelte nicht freundlich, sondern eher schüchtern. Das ist bei vielen der Fall, die erstmals als Freier über die Schwelle treten, aber dieser hier erweckte noch nicht einmal den Eindruck, ein Freier zu sein. „Womit können wir dienen?“
„Entschuldigen Sie bitte vielmals meine Unverfrorenheit. Wäre…; wäre eventuell der Hausherr zu sprechen?“
„Die Hausherrin, meinen Sie?“
„Gern auch sie. Mein Name ist Heinrich Bunderoth.“
„Und in welcher Angelegenheit darf ich Sie melden?“
„Es geht um Ihre Liegenschaft, das Fleur-de-Lys-Haus, das Lilienhaus.“
„Wollen Sie es kaufen? Dann sage ich Ihnen gleich …“
„Bewahre! Ich möchte es abmalen.“
Kurz darauf saß Heinrich Bunderoth in Geraldine Kunzes Büro. Gianna hatte zwei Kaffee und ein bisschen Gebäck gebracht und Geraldine hörte zu, wie der Fremde von ihrem Etablissement schwärmte.
„Eine Jugendstilvilla, wie in näherem und auch weiterem Umkreis keine prächtigere zu finden ist. Neben den abgesetzten Ecken und Kanten ist es vor allem das immer wieder auftauchende Motiv der Lilie, das mich fasziniert. Sie ziert jede Freifläche und jede sieht ein klein wenig anders aus.“
„Sie sind ja auch handgefertigt. Ein Kunstwerk ist selbsterklärend ein Einzelstück.“
„Wissen Sie das Baujahr?“
„1907. Zum Glück wurde hier während der Kriege nicht herumgebombt und so steht das Haus weitgehend in demselben Zustand wie vor 115 Jahren da. Leider gibt es kein Gemälde und damals waren nur Schwarzweißaufnahmen möglich, sodass wir die Ursprungsfarben nicht kennen. Die wechselten nämlich mehrmals, das wissen wir. Der jetzige Putz ist ungefähr 20 Jahre alt. Seinerzeit waren sogenannte Champagnerfarben und karmesinrot modern und genau darin erstrahlt unser Bau: Die Stukkarbeiten wie Seitenpfosten und Stockwerkabsätze, vor allem aber die Lilien champagnerfarben und die Wandflächen karmesinrot.“
„Die Fenster sind modern. Doppelglas, vermute ich.“
„Das ist heute kaum anders machbar. Isolierung, Energie sparen …“
„Eine typische Überheblichkeit moderner Architekten. Sie glauben gar nicht, wie gut die alten Doppelfenster mit ihren Kreuzen, deren äußeren Läden nach außen und inneren nach innen zu klappen waren, vor Kälte und Hitze schützten. Besser als das modernste synthetische Gelump, dafür gebe ich Ihnen Brief und Siegel.
Ist aber egal. Ich will Ihr Haus ja nicht fotografieren, sondern abmalen. Da habe ich einige Freiheiten, darunter die, die Fenster so zu gestalten, wie es historisch korrekt ist.“
Geraldine sagte einen Augenblick lang nichts. Dann ging sie auf Herrn Bunderoths letzten Satz ein. „Richtig, Sie wollen es abmalen. Ich finde es sehr rücksichtsvoll, dass Sie das ankündigen. Es wird oft fotografiert, aber nie kam bisher einer auf die Idee, hier zu klingeln und zu fragen, ob er das darf. Er darf es übrigens, sofern er auf öffentlich zugänglichem Gelände, das heißt dem Bürgersteig, bleibt.“
„Das Fotografieren dauert ja nur eine Sekunde, während Sie meinen Anblick vermutlich einige Tage werden ertragen müssen.“
„So lange brauchen Sie für ein Gemälde?“
„Es werden sicher mehrere, mindestens drei. Eins überlasse ich als kleinen Dank auf jeden Fall Ihnen.“
„Das sollte uns freuen.“
„War Ihr Haus nicht einmal Schauplatz eines Films?“
Geraldine lächelte, denn die Erinnerung daran schmeichelt ihr bis heute. Dennoch versuchte sie die Bescheidene zu spielen. „Nur im ersten Szenario. Der berühmte Regisseur Eike Haberstedt gab uns die Ehre, seine Neuverfilmung von ‚Carmen‘ in diesen Hallen zu eröffnen.“ Dass der Preis darin bestanden hatte, ihre begehrteste Mitarbeiterin Petra ziehen zu lassen, damit diese unter den Fittichen Haberstedts in eine rauschende Schauspielerinnenkarriere eintauchte, verschwieg sie wohlweislich.
Gianna trug die Gedecke ab und Geraldine fragte ihren Gast: „Möchten Sie sich drinnen ein wenig umschauen?“
„Das wäre sehr nett.“
„Dann wird Sie die junge Dame führen. Lass‘ das Zeug stehen, Gianna, das trage ich selber in die Küche.“
Während Geraldine das ‚Zeug‘ in die Spülmaschine räumte, kreisten ihre Gedanken um den Besucher. Heinrich Bunderoth, nie gehört. Seinem Äußeren nach war er kein Mitglied der gehobenen Klasse, aber seine Ausdrucksweise war alles andere als gewöhnlich. Ein hochgebildeter, aber weltfremder Künstler, der in der harten ökonomischen Wirklichkeit keinen Fuß auf die Erde bekäme. Ich frage mich, dachte sie, als sie die Klappe der Maschine schloss, ob er von seinem Gekleckse leben kann oder Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss.
Gianna führte Herrn Bunderoth zunächst in das Treppenhaus, der sich über dessen prachtvolle Ornamentik begeistert zeigte. „Jugendstil in vollendeter Ausführung“, sagte er immer wieder.
„Fehlen nicht Putten, Löwenköpfe und sonstige Figuren?“ fragte Gianna.
„Das wäre Klassizismus“, belehrte der Besucher sie. „Bei Klassizismus wird häufig die Grenze zum Kitsch überschritten. Bei Jugendstil nie.
Gestatten Sie die Frage, wie ich Sie anreden darf?“
„Gianna. Meinen Familiennamen möchte ich nicht ins Spiel bringen.“
Bunderoth wirkte leicht irritiert, fing sich aber bald und erkundigte sich: „Sind auch die Zimmer zu besichtigen?“
„Einige. Einen Augenblick.“
Gianna sah auf ihrem Smartphone nach, welche Räume nicht belegt waren, und zeigte zwei von ihnen vor. Erneute Begeisterungsstürme. „Welch‘ edle Stukkarbeiten! Wissen Sie eigentlich, was das alles wert ist?“
„Ich weiß zumindest, was es kostet, eine defekte Stelle ausbessern zu lassen.“
„Das tun Sie?“
„Schnellstmöglich. Kein Kunde soll den Eindruck bekommen, es mit einem Lotterladen zu tun zu haben.“
„Was ist eigentlich Ihr Geschäftszweig?“
Gianna brauchte sich nur einen Wimpernschlag lang zu besinnen. „Dienstleistungen aller Art, vor allem entspannen verhärteter Werkzeuge.“ Sie war trotz oder vielleicht sogar wegen ihres Berufs nicht auf den Kopf gefallen.
Bunderoth war nicht anzusehen, ob er mit ihrer Antwort etwas anzufangen wusste. Als Gianna ihn in den Gemeinschaftsteil führte, wurden seine Augen nochmals größer, obwohl sie das für unmöglich gehalten hatte.
„In Ihrer Lounge würde ich gern einmal eine Vernissage ausrichten. Vom Eingang aus ist sie durch eine einzige Tür leicht zu erreichen. Die stukkverzierte Decke und die herrlich eingefassten Ecken bilden ein konkurrenzloses Ambiente, während die weißen Wände Bilder fantastisch zur Geltung brächten.“
„Ich weiß, dass die einst mit knallbunten Tapeten beklebt waren. Frau Kunze war damals schon Chefin und veranlasste, dass sie Feinputz weichen sollten. Ich kenne den damaligen Zustand nicht, aber es müssen dem Betrachter die Augen wehgetan haben.
Sagen Sie, haben Sie einige Beispiele Ihres bisherigen Schaffens dabei?“
„Natürlich.“
Bunderoth fingerte sein Smartphone aus der Innentasche seiner Jacke, navigierte darauf herum und zeigte Gianna einige Beispiele. Diese war beeindruckt.
„Wie Sie sehen, male ich gegenständlich, realistisch. Das heißt aber nicht, dass alles 1:1 wie abfotografiert ist. Ich gab Frau Kunze zu verstehen, dass ich beispielsweise die modernen Fenster durch die originalen mit Kreuz zu ersetzen gedenke.“
In der Kunstszene war Gianna nicht bewandert, sonst hätte sie das eine oder andere Motiv erkannt oder ihr die Signatur ‚PaPu‘ am rechten unteren Rand der ihr gezeigten Bilder etwas gesagt. Denkbar ist auch, dass die Abbildungen auf dem Display zu klein und dessen Auflösungen zu schlecht waren, als dass sie diese Einzelheit wahrzunehmen vermocht hätte.
Nachdem sich die Tür hinter dem unerwarteten Besuch geschlossen hatte, sah Geraldine Gianna neugierig an. „Und?“
„Komischer Kauz. Total nett und vor allem beinahe unanständig höflich, aber total neben den Schuhen.“
„Meinst du, er hat geschnallt, dass das hier ein Puff ist?“
„Ich glaube nicht, dass er zwischen einer Prostituierten und einer Protestantin zu unterscheiden weiß.“
„Unterschätz‘ ihn nicht. Er ist hochgebildet.“
Während der nächsten Tage sahen die staunenden Passanten einen alternativ aussehenden Herrn mittleren Alters auf dem Bürgersteig gegenüber des Fleur-de-Lys-Hauses vor einer Staffelei sitzen und eifrig pinseln. Viele bleiben stehen und sahen dem Künstler eine Weile zu, denn dass hier ein Meisterwerk im Entstehen begriffen war, offenbarte sich auch einem Banausen. So unauffällig, dass es auffällig war, schlenderte immer wieder eine junge Dame an dem Maler vorbei, vermied jedoch, direkt auf dessen Leinwand zu starren.
Die Liebesdienerinnen, die tagsüber anwesend waren, versorgten ihn in gewissen Abständen mit Kaffee, Wasser und belegten Brötchen. Sofern er einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen gezwungen war, blieb eine von ihnen zur Bewachung der Staffelei draußen. Sein Geschäft erledigte Bunderoth allerdings nicht im Fleur-de-Lys-Haus, sondern in der dafür vorgesehenen nahegelegenen Anstalt.
Ungeduldig fragten sich die Frauen, wann der Künstler wohl fertig sein und ihnen seine Werke zeigen würde. Ihnen fiel auf, dass er mehrmals seine Perspektive wechselte.
Nach knapp zwei Wochen war es soweit. Seit dem Eröffnungsgespräch hatte Heinrich Bunderoth das Gebäude nicht mehr betreten. Als er nun, mit einer Riesenmappe unter dem Arm, zum zweiten Mal klingelte, war es nicht die misstrauische Inga, die die Zugbrücke hinabkurbelte, sondern mehrere Frauen versuchten das gleichzeitig. Rasch führten sie ihn in den Aufenthaltsraum und baten ihn, durcheinander redend, seine Schöpfungen zu offenbaren.
Bunderoth griff in seine Mappe, zog ein Bild nach dem anderen heraus und befestigte geübt zwei Klebebandstreifen an deren Ecken, um sie an der Wand zu befestigen. Das geschah so nervtötend langsam, dass Geraldine Zeit fand, sich ihren Damen zuzugesellen und mit ihnen die „ah“s und „oh“s zu teilen.
Drei Gemälde und eine Zeichnung zeigten eine Wirklichkeit, die Schöneres als die wirkliche Wirklichkeit zeigte, nämlich den vermuteten Urzustand des Fleur-de-Lys-Hauses. Die Fenster entsprechen der Bauweise, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts üblich war, und die Straße ist gepflastert und nicht asphaltiert. Auf einem der Bilder nähert sich rechts vom Gebäude ein Rolls Royce Silver Ghost und auf einem anderen von der Querstraße ein Pferdefuhrwerk. Eins der Gemälde zeigt das Objekt von schräg links, eins frontal und eins von schräg rechts. Der Schokoladenperspektive widmet sich die Zeichnung, nämlich die Ecke schräg links.
„Die Farbe ist Spekulation“, gestand Bunderoth zu, „aber mit einem barocken Gelb und weißen oder roten Eckbetonungen liege ich vermutlich nicht total daneben. Die blaue Version mit beigen Ecken ist dagegen eher unwahrscheinlich.“
„Wo haben Sie denn das uralte Auto her?“ fragte Gianna, die sich immer schon mehr für mobile als für immobile Artefakte interessiert hatte.
„Ich besitze ein altes Matchbox-Modell. Das habe ich im richtigen Winkel skizziert und eingesetzt, als das Haus vollendet war.“
„Das Schöne ist“, mischte sich Geraldine erstmals in das Gespräch, „dass Sie die ganzen Stauchungen und Verzerrungen, zu denen es auf Fotografien zwangsläufig kommt, einfach ignorieren können.“
Bunderoth sah sie an und lächelte. „Es gibt Shift-Objektive, die dieses Manko zu 90% ausgleichen. Heute greift man eher zu Drohnen, die von halber Höhe aufnehmen. Die kissenförmigen Verzeichnungen rechnet moderne Software kaltblütig ’raus.“
„Vergessen Sie nicht die Entzerrungsfunktion in Korrekturprogrammen.“
„Die ist die schlechteste Lösung. Die verwandelt rechteckige Fenster in den oberen Etagen in trapezförmige. Welche Lösung Sie auch wählen: Ich bin der Meinung, dass jede Manipulation sichtbar ist und immer bereit zu wetten, dass ich sie aufdecke, so raffiniert sie auch sein mag. Bisher habe ich immer gewonnen.
Es gibt Maler, die fotografieren ihr Motiv und malen das Bild vom Foto ab. Ich halte das für unlauter und natürlich genauso aufdeckbar wie beim Foto selbst. Ich versichere Ihnen, dass ich das hier nach meinem eigenen Augenmaß erschaffen habe.“
„Das glauben wir, weil wir’s wissen“, bestätigte Gianna. „Wir waren schließlich Zeugen der Entstehung.“
„Gut, meine Damen“, wandte sich Bunderoth an die mittlerweile vollzählig versammelte Mann- oder besser gesagt Frauenschaft, „welches gefällt Ihnen am besten? Ich hatte ja versprochen, eins dem Haus zu überlassen.“
Getuschel setzte ein und verdeutlichte, dass die Damen uneins waren.
„Wissen Sie was“, erklärte Bunderoth jovial, „überlegen Sie sich’s in Ruhe. Ich lasse alle hier hängen, sodass Sie sie jederzeit angucken können. Morgen Mittag werde ich wieder auftauchen und die drei Durchgefallenen an mich nehmen.“ Das Angebot stieß auf begeisterte Zustimmung.
Nachdem Bunderoth sich verabschiedet hatte, scheuchte Geraldine die Mädels zurück zu ihrer Arbeit. „Unsere Freier haben lange genug auf dem Trockenen gesessen. Wir dürfen froh sein, dass sie so viel Geduld aufbrachten, auch wenn der Anlass nachvollziehbar würdig war. Nichtsdestotrotz müssen wir langsam wieder Geld verdienen.“
Ein Bordell hat seine Hauptbetriebszeiten vom späten Abend bis zum frühen Morgen. Gegen drei Uhr wird es ruhiger und die Sexarbeiterinnen, die Feierabend haben und kein Auto besitzen, hauen sich in einem der zahlreichen chambres separées hin, um irgendwann am Morgen nach Hause zu gehen, denn sie wohnen natürlich nicht in ihrem Wirkort.
Inga besaß zwar ein Auto, hatte aber mit einigen ihrer Kunden ein Gläschen Sekt getrunken und wollte keinesfalls ihren Führerschein aufs Spiel setzen. Sie war gerade einzuschlafen im Begriff, als sie ein Geräusch aufschreckte, das nicht zum Haus gehörte.
Sie hatte eine Kammer gewählt, die für Liebesdienste nur im Fall von Überfüllung genutzt wurde, denn sie war eng und enthielt gerade mal ein Waschbecken als sanitäre Einrichtung. Dafür lag sie strategisch günstig zwischen dem Küche-Bar-Trakt und der Lounge. Und aus der Bar war das Geräusch erklungen.
Inga überlegte, ob sie die Deckenbeleuchtung einschalten sollte, entschied sich dann aber dagegen und tastete nach ihrer Taschenlampe. Vorsichtig öffnete sie die Tür ihres Zimmers und schlich auf den dunklen Flur, um gleich darauf so leise wie möglich die zur Bar zu öffnen.
Dann stand sie drin und lauschte. Wenn sie die Luft anhielt, vermeinte sie ein leises Atmen zu vernehmen, das sie hinter dem Tresen ortete. Sie war sich ihrer kämpferischen Fähigkeiten bewusst und verspürte keine Angst. Außerdem kannte sie jede Stolperfalle im Haus, was ein Eindringling vermutlich nicht von sich behaupten konnte, und wäre im Dunkeln jedem Gegner überlegen.
Sie hatte zwar einen Pyjama an, war aber barfuß, sodass sie sich lautlos der fraglichen Stelle zu nähern vermochte. Gänzlich lautlos offenbar nicht, denn sie hörte an einem Rascheln, dass der Eindringling zurückzuweichen versuchte. Der hat mehr Schiss als ich, dachte Inga, schaltete ihre Taschenlampe ein und leuchtete hinter den Tresen.
Eine völlig eingeschüchterte Frau kauerte dort und sah entsetzt in den Lichtkegel. „Wer sind Sie und was wollen Sie hier?“ herrschte Inga sie an. „Ich…, ich….“ Mehr brachte das Wesen nicht heraus.
Inga schritt auf es zu, packte es fest an einem Handgelenk und zerrte es zur Wand, an der sich der Schalter für die Barbeleuchtung befindet. Dann endlich sah sie ihren Fang genauer an. Eine schmale, kaum hochgeschlossener als sie selbst bekleidete Frau war die Analyse. Diese zitterte, als stünde sie vor dem Scharfrichter, sodass ihre Häscherin beinahe Mitleid bekam.
Inga überlegte. Sie brauchte Hilfe und dann war das weitere Vorgehen zu durchdenken. Das letzte, was ein Edelbordell brauchen konnte, war im Morgengrauen ein Polizeiauto mit Blaulicht vor seiner Eingangstür.
Sie schaffte es, die Frau weiter fest gepackt zu halten, während sie über ihr Smartphone Gianna erreichte. „Hast du geschlafen? Tut mir leid, aber du musst dringend in die Bar kommen; ich habe eine Einbrecherin gefasst …; Was? Erklärungen später. Schwing‘ erstmal die Hufe.“
Gianna brachte gleich Toni mit, die im selben Raum genächtigt hatte. Beide hatten im Gegensatz zu Inga beinahe nichts an, was der Wucht ihrer zornbebenden Persönlichkeiten jedoch keinen Abbruch tat.
Inga hatte ihren Fang auf einen Stuhl platziert. Von drei kräftigen Bewacherinnen umzingelt hatte er keine Chance zu entkommen. „So, meine Liebe, jetzt erwarten wir eine Erklärung“, begann Inga das Verhör. „Zunächst: Wer sind Sie?“
„Mercedes Garçia“, lautete die verschüchterte Antwort.
„Und was suchen Sie? Größere Geldsummen werden gut bewacht, wie Sie sehen.“
„Nein, das suche ich überhaupt nicht.“
„Sondern?“
„Sie haben doch vier Original-Pujols im Haus. Die wollte ich mir ansehen.“
„Was für Dinger?“
„Original-Pujols. Sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, was das ist.“
„Das wissen wir schon. Pau Pujol ist der angesagteste lebende Maler. Aber was hat das mit uns zu tun?“
Plötzlich begann Mercedes Garçia zu lachen. Ihre Panik schien verflogen, denn der Umgang mit so ungebildeten Personen wie denen, die sie gerade in der Mangel hatten, vermittelte ihr ein Überlegenheitsgefühl, das den Kräfteverhältnissen Hohn sprach.
„Ich habe Sie schon öfter gesehen“, sagte Gianna unvermittelt. „Während Herr Bunderoth unser Haus abmalte, kamen Sie dauernd vorbei und warfen verstohlene Blicke auf ihn und das, was unter seinen Händen entstand.“
„Bin ich also doch aufgefallen. Das hatte ich vermeiden wollen. Es war mir einfach ein Herzensanliegen, dem größten Künstler der Gegenwart nahe zu sein, auch wenn er mich wahrscheinlich nicht wahrnahm.“
„Sie reden immer vom größten Maler und Künstler. Wen um alles in der Welt meinen Sie?“
„Wie ich bereits sagte: Pau Pujol.“
„Hier war nur Herr Bunderoth. Der malt allerdings sehr gut und möchte uns eins seiner hier vor unserem Haus entstandenen Werke überlassen.“
Mercedes lachte erneut. „Sie sind auf heißer Spur. Ahnen Sie immer noch nicht, wer Heinrich Bunderoth ist?“
Inga, Gianna und Toni schauten sie fassungslos und mehrere Sekunden lang schweigend an. „Sie meinen …?“
„Es gibt nichts zu meinen. Heinrich Bunderoth ist Pau Pujols bürgerlicher Name.“
„Ich dachte, er wäre Spanier.“
„Wenn, dann Katalane. Das ist ein Unterschied. Bunderoth nahm einen katalanischen Namen an, weil er sich mit unserer Sache solidarisch erklärt hat und erklärt.“
„Unsere Sache … Folglich sind Sie Katalanin?!“
„Richtig. Neben seinem Genius ist es das, was mich zu einem besonderen Fan von ihm macht.“
„Aber Herr Bunderoth ist Deutscher?“
„Ganz bieder. Da aber der Prophet im eigenen Land nicht viel wert ist, gibt er sich als Exoten aus.“
„Woher wissen Sie das alles?“
„Du lieber Himmel! Wer im Netz ein bisschen sucht, findet leicht alle Informationen.“
„Das heißt, Sie sind nicht mit ihm persönlich bekannt.“
„Hätte ich es sonst nötig gehabt, immer wieder an ihm vorbei zu schleichen, während er Ihr Haus malte? Nein, bedauerlicherweise nicht.“
Inga hatte einen Entschluss gefasst. Da es Mercedes unmöglich war, unter ihrem luftigen Outfit eine Waffe versteckt zu halten, hielt sie Zugeständnisse für angebracht. „Sie möchten die Bilder sehen?“
„Aus ganzem Herzen.“
Inga sah Gianna und Toni an. „Sollen wir ihr das gewähren? Unter unserer Bewachung kann sie eigentlich nichts anstellen.“ Die Angesprochenen nickten.
„Darf ich meine Handtasche wiederhaben? Sie liegt hinter dem Tresen.“
„Erlauben Sie, dass ich das tue und einen Blick hineinwerfe, bevor Sie sie an sich nehmen?“
„Natürlich.“
Die Lichter in der Lounge brannten und Mercedes stand eine ganze Weile verzückt vor den Exponaten. Dann geriet sie ins Plappern. „Sehen Sie rechts unten in der Ecke den PaPu-Krakel? Das beweist die Echtheit. Und eins dürfen Sie behalten? Das macht Sie zu Millionärinnen.“
Ganz ohne Lärm waren die Aktivitäten der vergangenen Stunde nicht vonstattengegangen; zudem verriet ein Lichtschimmer unter der Tür, dass sich jemand im Aufenthaltsraum befand. Eine gewisse gesunde Neugierde bewog Geraldine, nachzuschauen. So leise wie möglich öffnete sie die Pforte und sah Gianna, Inga und Toni zusammen mit einer fremden Frau entrückt vor Herrn Bunderoths Werken stehen, und zwar so entrückt, dass keine der Vier sie gehört hatte. Wenig erstaunlich, dass alle zusammenzuckten, als sie ihre Stimme erhob: „Was ist denn hier los?“
„Wir sind gerade in den Anblick von vier echten Pujols versunken.“
„Jetzt verarsch‘ mich nicht, Gianna. Und wer ist die Person zwischen euch?“
Nein, es war keine Verarschung. Als Geraldine eingeweiht war, versank auch sie in ehrfürchtiges Schweigen. Am burschikosesten gab sich Toni. „Komisch. Gestern, als wir vor vier Schöpfungen eines Herrn Bunderoth standen, sagten wir ‚schön, schön‘ und gingen unserer Wege. Jetzt, da sie zu Pujols mutiert sind, beten wir sie geradezu an, obwohl es sich um dieselben Fetzen Leinwand wie gestern dreht.“
„So ist das nun mal, meine Liebe“, erwiderte Geraldine ungerührt, „so ist der Lauf der Welt. Einmal berühmt ist jeder Mensch etwas anderes als vorher, obwohl die metzgertechnischen Ingredienzen sich nicht geändert haben.“
„Was wird mit mir?“ fragte Mercedes unvermittelt. Ihre Bewacherinnen hatten sie beinahe vergessen und ihr wäre möglicherweise zu fliehen gelungen, hätte sich nicht eine Eingebung Gehör verschafft, die ihrer künstlerischen Karriere ungeheuren Auftrieb zu geben versprach.
„Ach so.“ Immerhin war Mercedes eine Einbrecherin, aber auch Geraldine war der Gedanke an ein Polizeiauto mit Blaulicht vor dem Eingang des Fleur-de-Lys-Hauses alles andere als angenehm. So fuhr sie fort. „Sie haben ja erreicht, was Sie wollten. Ich traue mich nicht zu beurteilen, ob Sie der Versuchung erlegen wären, die Pujols mitgehen zu lassen, wären Sie nicht erwischt worden, aber Sie haben nichts dabei, was zum Einpacken geeignet wäre und groß herumzusuchen hätten Sie kaum die Muße gehabt. Ein Diebstahl hätte nur Sinn, wenn die Bilder unbeschädigt bleiben. Dass Sie keine anderweitigen Absichten hegten, betrachte ich als glaubwürdig.
Wir werden Sie laufen lassen. Ich bitte Sie aber, uns Ihre Anschrift dazulassen und irgendwie zu beweisen, dass sie stimmt.“
Während Mercedes Garçia ihren Ausweis hervorkramte, um Geraldines Wusch zu entsprechen, erinnerte sich Inga an das Häufchen Elend, das sie hinter dem Tresen hervorgezerrt hatte, und Mitleid und Sympathie gewannen die Oberhand. „Ich geb‘ Ihnen einen Tipp“, raunte sie ihr zu.
„Bis morgen Mittag müssen wir uns entschieden haben, welches der Bilder wir behalten wollen, denn dann kommt Herr Bunderoth vorbei, um die anderen drei mitzunehmen. Wenn Sie zufällig hier auftauchen und klingeln, werde ich Ihnen öffnen. Das wäre eine Gelegenheit für Sie, Pau Pujol offiziell persönlich kennenzulernen.“
Mercedes strahlte Inga und dann die anderen an. „Es wird zu dem Zufall kommen. Ich danke Ihnen und euch allen, dass ihr mich trotz meines Fehltritts so gut behandelt. Ich werde das nie vergessen.“
Das Portal ward ihr aufgetan und die Morgenröte der Freiheit empfing sie.
„Die gute Mercedes scheint nicht auf Rosen gebettet zu sein“, sagte Gianna beiläufig während des Frühstücks. „Ob sie bei uns mittun kann?“
Geraldine schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht nur arg dünn, sondern wohl auch nicht robust genug für unser hartes Geschäft.“
„Dünn kann durch essen beseitigt werden und mit Masse und Kraft wächst auch das Selbstbewusstsein, meine ich.“
„Da würde ich nicht drauf wetten.“
„Mich würde eher interessieren, wie es eine Frau geschafft hat, sich hier einzuschmuggeln.“
„Hier findet ständiges Kommen und Gehen statt, Inga, sodass einer oder eine mehr oder weniger nicht auffällt. Die uns Kosmetikartikel liefern, sind häufig Frauen. Angenommen, da wäre eine zweite dabei, die nicht dazugehört: Wer sollte das wissen oder merken?“
„Dann muss sie sich über längere Zeit versteckt gehalten haben.“
„Unser Haus ist verwinkelt und bietet reichlich Verstecke. Selbst wenn sie ertappt worden wäre, hätte sie sich damit herausreden können, sich verirrt zu haben.“
Der Mittag nahte und damit der Augenblick der Entscheidung. Nach einer ausführlichen Diskussion hatte sich die Mehrheit für die gelbe Variante mit den roten Ecken und Lilien entschieden und diese auf den Tisch gelegt.
Als Erste klingelte Mercedes. Unter dem Arm trug sie ein zusammengerolltes Stück Leinwand. „Ich habe auch etwas für euch gemalt, und zwar die Schönste der Lilien, die als Stukkverzierung an eurem Haus prangt.“
„Woher hast du denn die Vorlage?“ fragte Inga, die sich gar nicht bewusst wurde, dass sie Mercedes ohne Federlesens duzte. „Wir haben dich nicht auf dem Bürgersteig malen sehen.“
„Ich habe das gemacht, was Pau Pujol gar nicht schätzt, nämlich sie abfotografiert und die Fotografie abgemalt. Ich wollte nicht auffallen und hätte auch nicht gewusst, wie ich die schwere Staffelei hätte ‘ranschaffen sollen. Ein Auto besitze ich leider nicht.“
Als Herr Bunderoth klingelte, geriet jede der anwesenden Damen ins Schlucken. So ganz anders war es, statt einem – recht guten – Hobbypinsler plötzlich einer Berühmtheit Auge in Auge gegenüber zu treten.
„Benehmt euch natürlich“, mahnte Geraldine, als Inga loszog, um ihn einzulassen.
Heinrich alias Pau begann arglos: „Nun, meine Damen, für welches haben Sie sich entschieden?“ Dann merkte er, dass ihn alle anstarrten wie ein Weltwunder. „Ist etwas passiert?“ fragte er deshalb.
Geraldine sah ein, dass es sinnlos wäre, die Ahnungslose zu spielen. „Wir haben herausgefunden oder besser gesagt gesteckt bekommen, wer Sie sind.“
Pau Pujol sah in die Runde und räusperte sich. „Na schön, aber: Bin ich ein anderer Mensch als gestern?“
„Nein, zum Glück nicht“, platzte Toni heraus, die immer die Unbekümmertste war.
„Das denke ich auch nicht. Ich wäre froh, wenn wir weiter so miteinander umgingen wie bisher. Eine neugierige Frage stelle ich dennoch: Wie haben Sie es erfahren?“
In die lastende Stille hinein meldete sich Mercedes: „Ich habe es den Damen heute Nacht notgedrungen ausgeplaudert.“
„Notgedrungen?“
„Naja, ich wusste von Anfang an, wer Sie sind, und hatte mich hereingeschlichen, um mir in Ruhe Ihre Kreationen anzusehen. Kurz gesagt beging ich Hausfriedensbruch.“
„Sie gehören nicht ins Haus?“
„Nein. Meine Brettfigur spricht da eine deutliche Sprache. Zu meinem Glück kauften mir die Damen mein ehrliches Interesse an Ihrer Kunst ab und ließen mich laufen, ohne die Polizei zu alarmieren.“
Pau lächelte in die Runde. „Das war, glaube ich, nicht ganz selbstlos. Darf ich die weitere Geschichte erfahren?“
„Ich sah Sie während der vergangenen Wochen zufällig auf dem Bürgersteig sitzen und das Gebäude porträtieren. Das führte dazu, dass ich, äh, zufällig immer wieder vorbeikam und versuchte, einen Blick auf die Fortschritte zu werfen. Ich habe mich allerdings nicht getraut, Ihnen direkt über die Schulter zu sehen.“
Pau lächelte nun Mercedes direkt an. „Das hat Sie verdächtig gemacht. Ob Sie’s glauben oder nicht: Sie sind mir aufgefallen. Wissen Sie, die unbedarften Passanten hatten nicht die geringsten Skrupel, mich fast von der Staffelei wegzudrücken. Hätten Sie das auch getan, hätte ich mir nichts dabei gedacht.
Darf ich fragen, ob Sie Künstlerin sind?“
Mercedes wurde rot. „Hm, ja, ich male auch.“
„Dann dürfen Sie mir bei Gelegenheit gern eins oder mehrere Ihrer Werke zeigen.“
„Ich hab‘ eins dabei.“ Das war Mercedes herausgerutscht, ohne dass sie das so direkt gewollt hatte.
„Sie dürfen es mir gern zeigen.“ Der große, aber nichtsdestoweniger höfliche Mann bewies eine Vorliebe für das Wort ‚dürfen‘.
Mercedes wurde noch röter im Gesicht, obwohl das medizinisch für unmöglich gehalten worden wäre, und entrollte ihre Leinwand. „Ich habe einen anderen Stil als Sie.“ Sie hatte Mühe, das Zittern ihrer Stimme zu überspielen. Ganz gelang es ihr nicht.
„Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen. Im Gegenteil, es wäre schlimm, wollten Sie mich zu kopieren versuchen.“
Die mit wenigen Strichen skizzierte Lilie gewann Pau Pujols Wohlwollen. „Sehr gut“, urteilte er fachmännisch, „keine übertriebene Detailverliebtheit, auch die Grundfarbe nur angedeutet, aus unmittelbarer Nähe kein Zusammenhang erkennbar, aber je weiter der Betrachter zurücktritt, desto klarer wird die Aussage.
Darf ich Ihren Namen erfahren?“
„Mercedes Garçia. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie mich Mercedes nennen.“
„Den Wunsch erfülle ich Ihnen gern, Mercedes.“
Endlich wandte Pau seine Aufmerksamkeit wieder den versammelten Frauen des Fleur-de-Lys-Hauses zu. „Ich muss mich entschuldigen, meine Damen. Künstler unter Künstlern vergessen sich gern.
Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich mir alle Ihre Namen auf Anhieb merke, aber ich werde mein Bestes geben.“
„Außer meinem gibt’s bei uns sowieso nur Vornamen“, erwiderte Geraldine.
„Wissen Sie“, schweifte sie ab, bevor sie zur Vorstellung schritt, „dass Sie sich vorhin verraten haben?“
„Wodurch?“
„Sie sagten, wir hätten nicht ganz selbstlos darauf verzichtet, Mercedes von den Bull…, ich meine von der Polizei abführen zu lassen, nachdem wir sie erwischt hatten. Ich schließe daraus, dass Sie durchschaut haben, was das hier für ein Etablissement ist.“
Pau versuchte, sein Lächeln nicht in ein Grinsen abrutschen zu lassen. „Sehr gut hingehört, liebe Geraldine. Sicher war ich mir, nachdem Gianna als Ihren Geschäftszweig das Entspannen verhärteter Werkzeuge nannte. Wissen Sie, ich spiele ganz gern den Naiven. Ich sehe auch ein bisschen so aus, das heißt, ich sorge dafür, dass ich so aussehe. Das hilft mir viel bei Leuten, die mich nicht kennen.“
„Wie meinen Sie das?“ Geraldines Stimme klang spitzer, als sie es beabsichtigt hatte.
„Wenn ich jemanden porträtieren möchte. Sie oder er benimmt sich viel natürlicher, wenn ich als Hobbymaler auftrete. Im Nachhinein, wenn das Bild fertig ist, offenbare ich mich natürlich, denn ich brauche ja die Erlaubnis zur Veröffentlichung.“
„Hätten Sie das auch bei uns getan?“
„Sicher. Aber etwas später als es nun geschehen ist.“
Geraldine entspannte sich. „Zur Vorstellung. Ich habe das Gefühl, dass Sie uns bereits kennen.“
„Nur mit denen ich direkt zu tun hatte und die Sie mit Namen angesprochen haben.“
„Sie haben ein gutes Namensgedächtnis?“
„Mein Gedächtnis ist gefürchtet.“
Es stellte sich schnell heraus, dass Pau nach der Vorstellung tatsächlich alle Damen anzureden wusste, was ihm weitere Sympathieen einbrachte. „Meine Damen“, sagte er, nachdem er kurz in sein Smartphone gesprochen hatte, „ich habe gerade Anweisung gegeben, dass uns Kaffee und Kuchen in ausreichender Menge geliefert werden. Ich hoffe, dass das in Ihrem Sinn ist.“
„Oje, meine Figur.“
„Das ist die ewige Sorge aller Frauen, Gianna. Warum sollte es Ihnen anders gehen?“
„Na gut, gefastet wird morgen.“
„Sehen Sie, das ist eine vernünftige Überlegung.“
Inga sah hinaus und stotterte: „Da…; dastehteinrollsroycevordertür.“
„Wäre es dir möglich, dich artikuliert auszudrücken?“ tadelte Geraldine.
„Da steht ein Rolls Royce vor der Tür.“
„So ist’s besser…; was sagst du?“
„Mein Fahrer mit den bestellten Backwaren“, erklärte Pau beiläufig.
Geraldine hatte ein Schild an den Eingang gehängt, das besagte, dass wegen einer Familienfeier alle Dienstleistungen bis 18:00 Uhr ausgesetzt seien, und tat sich wie alle anderen an den dargebotenen Leckereien gütlich. Ihr kam zugute, dass sie nicht wie ihre Mitarbeiterinnen auf ihre Taille zu achten brauchte, denn sie schickt sich nie selbst ins Rennen.
Mittlerweile war geklärt, welches der Variationen die Damen des Fleur-de-Lys-Hauses zu behalten wünschten, und der Nachmittagskaffee neigte sich seinem Ende zu. Pau hatte sich Mühe gegeben, alle am Tisch einigermaßen gleichwertig zu behandeln, aber dass sein Hauptinteresse der Kollegin galt, war unübersehbar. Als er sich verabschiedete, fragte er Mercedes: „Ich würde gern einige Ihrer Bilder sehen, meine Liebe. Außerdem habe ich einen Vorschlag zu machen.“
Die Angesprochene senkte den Kopf. „Ich habe noch nie eins verkauft“, gestand sie. „Sie müssten sich in meine vier Wände bemühen.“