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Seit dem 9. Januar 2009 ist für Monica Lierhaus nichts mehr, wie es war. Eine Operation, die schiefgeht, eine Familie, die zum Abschiednehmen in die Klinik gerufen wird, eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die ins Koma fällt. Die Prognosen sind verheerend. Wenn sie überlebt, dann wird es ein Leben im Rollstuhl sein — unselbständig und von anderen abhängig. Für Monica Lierhaus ein Alptraum. In der Reha muss sie alles neu lernen. Schlucken, essen, sich bewegen. Aber sie will mehr: die Klinik auf eigenen Beinen verlassen. Und sie schafft es. Sie kämpft — um ihre Sprache wieder zu erlangen, ihre Erinnerungen, ihren geliebten Beruf. Die Krankheit hat sie verändert, eine andere aus ihr gemacht. Der Kern ist geblieben: eine faszinierend starke Frau, die sich nie aufgegeben hat. Ein offenes, ehrliches Buch, das Einblicke gewährt in Höhen und Tiefen der vergangenen Jahre. Vor allem aber ein Buch, das Mut macht.
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Das Buch
Seit dem 8. Januar 2009 ist für Monica Lierhaus nichts mehr, wie es war. Eine Operation, die schiefgeht, eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die ins Koma fällt, eine Familie, die zum Abschiednehmen in die Klinik gerufen wird. Die Prognosen sind verheerend. Wenn sie überlebt, dann wird es ein Leben im Rollstuhl sein – unselbständig und von anderen abhängig. Für Monica Lierhaus ein Alptraum. In der Reha muss sie alles neu lernen. Schlucken, essen, sich bewegen. Aber sie will mehr: die Klinik auf eigenen Beinen verlassen. Und sie schafft es. Sie kämpft – um ihre Sprache wieder zu erlangen, ihre Erinnerungen, ihren geliebten Beruf. Die Krankheit hat sie verändert. Der Kern ist geblieben: eine starke Frau.
Die Autoren
Monica Lierhaus, Jahrgang 1970, ist Journalistin und Sportmoderatorin beim Fernsehen. Auf SAT.1 führte sie jahrelang durch die Sendung ran, für die ARD moderierte sie u.a. die Sportschau und begleitete die Spiele der Fußball-Nationalmannschaft. Für den TV-Sender Sky führte sie während der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 Hintergrundinterviews; dort läuft auch regelmäßig ihre Gesprächsreihe Monica Lierhaus trifft … Monica Lierhaus lebt in Hamburg.
Heike Gronemeier arbeitete zehn Jahre als Lektorin bei verschiedenen Verlagen. 2009 gründete sie die Agentur »text & bild« in München und ist seitdem als Lektorin und Co-Autorin freiberuflich tätig.
Monica Lierhaus
mit Heike Gronemeier
Immer noch ich
Mein Weg zurück ins Leben
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1245-3
© by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagabbildung: © Wolfgang Wilde, Hamburg
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Gewidmet meinem Vater Horst, dem ich so viel zu verdanken habe. Er ist dem Tod dreißig Jahre lang immer wieder von der Schippe gesprungen – ein Kämpfer und Stehaufmännchen mit unfassbar vielen Talenten. Vom Beruf her war er Rechtsanwalt, doch eigentlich war er ein Feingeist, ein Künstler und Feinschmecker, und ein Mann, der sich komplett in den Dienst der Familie gestellt hat. Ich wünschte, er wäre noch bei uns.
Horst Lierhaus 18. Juli 1937 – 2. Oktober 2011
Über das Buch und die Autoren
Titelseite
Impressum
Widmung
Motto
Prolog
1 Stunde null
2 Der große Knall
3 Alles auf Anfang
4 Einmal Hölle und zurück
5 Frau Meyer sagt »Tschüss!«
6 Endlich zu Hause
7 Deckname »Mona Lisa«
8 Mein Held
9 Arbeit ist die beste Therapie
10 Wer nach den Sternen greift …
11 Licht und Schatten
12 In jedem Abschied liegt ein Neuanfang
13 Bruch mit einem Tabu
Epilog
Bildteil
Danksagung
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Als Benjamin Franklin einmal gefragt wurde, warum er eine Sache trotz großer Hindernisse nicht aufgebe, sagte er: »Haben Sie schon einmal einen Steinmetz bei der Arbeit beobachtet? Er schlägt vielleicht hundertmal auf die gleiche Stelle, ohne dass auch nur der kleinste Riss sichtbar würde. Aber dann, beim hundertundeinsten Schlag, springt der Stein plötzlich entzwei. Es ist jedoch nicht dieser eine Schlag, der den Erfolg bringt, sondern die hundert, die ihm vorhergingen.«
Aus einem Brief des Cheftherapeuten der Rehaklinik in Allensbach, frei nach Jacob Riis
Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es eben noch nicht das Ende.
Mein neues Motto für dunkle Tage – aus dem Film Best Exotic Marigold Hotel (2011)
Wo beginnt man, wenn der Anfang fehlt? Wenn es nur noch Erinnerungsinseln gibt? Kleine, verstreute, weit voneinander entfernt, ohne erkennbaren Zusammenhang. Manchmal auch große, mit klaren Konturen, gefüllt mit Bildern und Geschichten. Manche dieser Geschichten kann ich jederzeit abrufen. Andere verschwimmen, verschwinden wie in einem Nebel, obwohl sie gerade noch greifbar schienen.
Mein Leben hat zwei Anfänge. Den meines alten Lebens, das im Mai 1970 begann und am 8. Januar 2009 aufhörte. Und den meines neuen Lebens, das aus unzähligen Anfängen besteht. Jeder Tag ist ein solcher Anfang. Seit sieben Jahren.
Für meine Familie war der Anfang, dass ich überhaupt überlebt habe. Dass ich sie nach Wochen im Koma wiedererkannt habe. Dass ich zurückgekommen bin, wenn auch ganz anders, als wir uns das alle vorgestellt haben. Ihre Erinnerungen an diese Zeit sind noch da. Genau wie das Tagebuch, das Rolf damals geführt hat. In den ersten 140 Tagen sind die Einträge sehr lang, alles wurde festgehalten, jeder Fortschritt, jeder Rückschritt. Auch der Alltag und das, was diese Extremsituation für alle bedeutet hat. Nach 140 Tagen fühlte sich Rolf »leergeschrieben«, die Einträge ändern sich, werden zu kurzen Fragebögen. Was war heute gut? Was hat genervt? Was war der Fortschritt heute?
Ohne die Erinnerungen meiner Familie könnte ich die Geschichte meines zweiten Anfangs, meines neuen Lebens nicht erzählen. Es ist wie die Arbeit an einem Mosaik, das ich Stück für Stück neu zusammensetzen muss. Meine eigenen Erinnerungen sind, was diese Zeit angeht, nur in Bruchstücken vorhanden. Wenn überhaupt. Winzige Erinnerungsinseln – ein bestimmter Geruch, die Farbe einer Wand, ein paar Wortfetzen, ein Gefühl, ein Bild. Manche Erinnerungen stehen ganz für sich allein, andere hat mein Gehirn neu zusammengesetzt, so dass neue Bilder und Geschichten daraus entstanden sind.
Als ich aus dem zweiten Koma erwachte, dachte ich zum Beispiel, ich wäre in einer Klinik auf Mallorca. Hätte vielleicht einen schweren Unfall gehabt, im Urlaub. Tatsächlich hatte sich meine Schwester in meinem Krankenzimmer mit jemandem über eine geplante Mallorca-Reise unterhalten. Ein Geburtstagsgeschenk für ihren Mann. Aufgrund der kritischen Situation hatte sie ihre Pläne aber auf Eis gelegt. Auf irgendeiner Bewusstseinsebene muss ich dieses Gespräch registriert haben.
An das, was tatsächlich passiert ist, warum ich überhaupt in einer Klinik war, kann ich mich nicht erinnern. Nicht an die langen Monate auf der Intensivstation. Nicht an die emotionale Achterbahnfahrt, die meine Familie und die Ärzte durchmachten. Nicht an die grauenvollen Ängste, die Todesangst, die etwas mit einem macht, auch wenn man dieses Gefühl nicht bewusst abrufen kann. Irgendwo tief drinnen in mir ist das alles noch da. Aber nicht alles kommt nach oben. Über manches, das nicht nach oben kommt, bin ich froh. Über anderes, zu dem mir der Zugang fehlt, möchte ich manchmal nur verzweifeln.
Etwas in mir ist damals gestorben, und etwas hat überlebt. Ich bin, was meine Fähigkeiten angeht, eine andere geworden. Ausgewechselt in der zweiten Halbzeit, ohne dass ich den Pausenpfiff gehört hätte. Ein Kern ist geblieben. Einige Charakterzüge, die mir dabei geholfen haben, überhaupt zurückzukommen. Deshalb kann ich sagen, ich bin immer noch ich, auch wenn mir manches an diesem neuen Ich fremd ist. Vielleicht immer fremd bleiben wird.
Stunde null
Es bleibt eine gewisse Grundtraurigkeit über diese höllische Erkrankung, die nicht nur über meine Schwester hereingebrochen ist und ihr ganzes Leben verändert hat. Das Leben unserer ganzen Familie, unseres engsten Umfelds, ist aus den Fugen geraten. Die Folgen versuchen wir bis heute zu kitten.
Eva Lierhaus
Seit dem 8. Januar 2009 ist mein Leben geteilt in ein »Davor« und ein »Danach«. Auf der Trennlinie dazwischen steht »das Unglück«. Auf den ersten Blick vielleicht ein seltsamer Begriff. Aber ich sehe das, was passiert ist, tatsächlich als Unglück. Als eine Verkettung von vielen tragischen Situationen, die so nicht abzusehen war. Vielleicht kann ich mit diesem Begriff aber auch nur besser umgehen. Weil er mir etwas mehr Raum lässt. Ein Unglück passiert; es hat Folgen, mit denen man klarkommen muss. Die sich vielleicht eines Tages in den Griff bekommen lassen. Denen man sich nicht ergeben muss wie einem »Schicksal«.
Was die Zeit vor dem Unglück angeht, weiß ich noch, dass ich seit längerem unter einem seltsamen Pochen im Kopf litt. An einem Druckgefühl über dem Ohr, das nicht weggehen wollte. Vor allem nachts war es da, weshalb ich kaum noch gut schlief. Mit zwölf oder dreizehn Jahren hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass irgendetwas in meinem Kopf ist, das da nicht hingehört. Meinen Eltern gegenüber habe ich das nicht groß thematisiert, auch weil ich dachte, ich würde mir das alles vielleicht nur einbilden.
Als junge Erwachsene hatte ich dann schon einmal einen Neurologen aufgesucht, weil die Kopfschmerzen nicht besser werden wollten. Die Untersuchung hatte kein Ergebnis gebracht, und da ich ansonsten keinerlei Beschwerden hatte, beruhigte mich der Arzt mit Sätzen, die ich später auch von anderen Medizinern wieder zu hören bekam: Zu viel Stress, Frau Lierhaus, kein Wunder bei dem Pensum, Sie muten sich einfach zu viel zu, Sie brauchen eine Pause. Probieren Sie es doch mit Yoga oder autogenem Training, schalten Sie einfach mal einen Gang herunter.
»Einfach mal« einen Gang runterschalten, das konnte ich nicht, das konnte ich noch nie. Entspannungsübungen und ich – das geht nicht wirklich gut zusammen. Ich bin nicht der Typ, der los- und lockerlassen kann, ich stehe eigentlich immer unter Strom. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Früher habe ich das vor allem im Job gemerkt. Selbst in Zeiten, in denen der Terminkalender nicht voll war, konnte ich nur schlecht entspannen. Nach der WM ist vor der WM. Ich erinnere mich noch gut an eine Diskussion mit Rolf zum Thema Freizeitgestaltung. Ich war gerade von der Fußballeuropameisterschaft zurückgekommen und hatte einige Wochen frei bis zum nächsten Großereignis.
»Genial, was du in der Zeit alles machen kannst! Fahr doch weg, nimm dir eine Pause, genieß es!«
»Bist du verrückt? In acht Wochen beginnen die Olympischen Spiele in Peking! Ich muss mich schließlich noch vorbereiten.«
So war das immer. Ich hätte nicht wegfahren können, zumindest nicht entspannt. Der Druck, den ich mir selbst gemacht hätte, wäre viel zu groß gewesen. Meine Mutter Siggi hat einmal gesagt, ich sei wie eine Kerze, die an beiden Enden gleichzeitig brennt. Wahrscheinlich hatte sie recht damit, dass das auf Dauer nicht gutgehen konnte.
Was dagegen immer gutging, war das Wegdrücken. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Das Pochen war noch da, auch die Kopfschmerzen und die schlechten Nächte blieben. Der Stress war noch da, mein Perfektionismus, alles war wie immer. Ich funktionierte wie ein Duracell-Häschen. Wenn ich arbeitete, war sowieso alles andere vergessen. Außerdem – da war ja auch nichts. Das hatten inzwischen nicht nur verschiedene Ärzte festgestellt, ich hatte mich sogar unter die Hände einer Reiki-Meisterin begeben. Normalerweise bin ich eher kopfgesteuert, aber ich dachte, es kann nicht schaden, wenn sie meine Energiefelder auf Blockaden untersucht. Sie hat keine gefunden.
Dass mein Zustand keineswegs normal war, kam eher zufällig heraus, als ich mir die Augen lasern lassen wollte. Ich bin stark kurzsichtig – und Brillen habe ich immer gehasst. Wahrscheinlich, weil ich in der Schule deswegen immer gehänselt wurde. »Brillenschlange«, noch dazu eine mit Zahnspange. In meinem Kinderpass klebt ein fürchterliches Foto, auf dem beides zu sehen ist. Riesiges Brillengestell, verlegenes Grinsen mit Drahtverhau vor den Zähnen. Einfach nur schrecklich.
Mit den Kontaktlinsen, die ich seit Jahren trug, hatte ich zunehmend Schwierigkeiten. Meine Augen wurden schnell trocken und brannten, und wie ein Kaninchen wollte ich vor der Kamera nun nicht gerade aussehen. Ein Kollege hatte mir vorgeschwärmt, wie problemlos das Lasern bei ihm verlaufen sei und wie sensationell er seitdem ohne Hilfsmittel sehen könne. Genau das wollte ich auch.
Ich beriet mich mit einem befreundeten Arzt, der mir ebenfalls versicherte, dass Augenlasern heutzutage vergleichsweise ein Klacks sei. Der Laser würde weitgehend von einem Computer gesteuert, das Risiko für Fehler sei gering. Hinterher müsse man noch ein bisschen aufpassen, damit man sich keine Infektion einfange. Mit Salben oder Tropfen sei aber auch das leicht in den Griff zu bekommen.
Allerdings: Bevor ich mich ambulant in eine Augenklinik begab, sollte ich mir vorher noch den Kopf durchleuchten lassen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, um ganz auf der sicheren Seite zu stehen. Mit Hilfe einer Magnetresonanztomographie (MRT), einem speziellen bildgebenden Verfahren, würde ich nach einer halben Stunde in der Röhre sozusagen scheibchenweise Schnittbilder meines Kopfes erhalten.
Warum nicht?
Ich rechnete mit einer weiteren Bestätigung, dass da nichts sein würde. Und dass die Kopfschmerzen schlicht davon kämen, dass ich den Fuß einfach nicht vom Gas bekam.
Den Termin für das MRT hatte ich Anfang Dezember 2008. Als ich mich wieder anzog, bekam ich mit, dass etwas nicht stimmte. Durch die Glasscheibe des Kabuffs, in dem die Röntgenassistentin bis dahin alleine gesessen hatte, konnte ich sehen, dass sich inzwischen mehrere Personen über den Bildschirm beugten.
Bei der Nachbesprechung kurz darauf wurde nicht lange um den heißen Brei herumgeredet. Ich hatte eine Anomalie im Kopf, möglicherweise schon seit Kindertagen. Ein sogenanntes Angiom, eine Art Knäuel aus Gefäßen im Kleinhirn, das sich zwischen blutzuführenden Arterien und blutabführenden Venen gebildet hatte. Solche »verknoteten« Blutgefäße können an einigen Stellen stark verengt, an anderen sehr gedehnt und dadurch dünnwandig sein. Risse können zu inneren Blutungen führen.
»Frau Lierhaus, das Angiom an sich ist so weit gutartig, sollte aber in jedem Fall entfernt werden. Was Sie vorher noch abklären müssten: Bei solchen Anomalien können sich häufig Aneurysmen bilden. Das sind Aussackungen, die jederzeit platzen und zu einem ungehinderten Blutaustritt in den Gehirnraum führen können. Das muss nicht passieren, vielleicht liegt bei Ihnen diese Komplikation auch nicht vor, aber wenn so ein Aneurysma platzt … Ich würde Ihnen dringend raten, sich dahingehend noch einmal untersuchen zu lassen. Und falls der Befund positiv sein sollte, einen präventiven Eingriff vornehmen zu lassen. Damit sollten Sie nicht zu lange warten, das ist wie eine tickende Zeitbombe.«
Ich saß wie betäubt im Besprechungszimmer, die Stimme des Arztes rauschte in meinen Ohren. Also doch. Und was jetzt? Am 29. Dezember würde die Vierschanzentournee beginnen.
»Ich werde Sie zu einem Kollegen überweisen, und dann sehen wir weiter.«
Nach der nächsten Untersuchung einige Tage später hatte ich es schwarz auf weiß. Ich hatte ein Angiom und ein Aneurysma im Kopf. Die Haltung des Arztes war eindeutig: Wenn ich den Eingriff nicht machen ließ, würde ich mich einem hohen Risiko aussetzen. Platzt ein Aneurysma, endet das in gut der Hälfte der Fälle tödlich. Von den Überlebenden sind über vierzig Prozent dauerhaft durch neurologische Ausfälle oder schwere Defizite in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt. Wie lange das in meinem Fall noch gutgehen würde, konnte mir niemand sagen. Zwei Tage, zwei Monate, zwei Jahre. Die wenigsten Menschen wissen vorher, dass sie irgendwo im Körper ein Aneurysma haben. Sie fallen einfach um, und das war’s.
Ich hatte wenigstens die Chance, rechtzeitig zu handeln. Dafür zu sorgen, dass mir das nicht passieren würde. Mich nicht operieren zu lassen wäre daher ein bisschen wie russisches Roulette gewesen. Fünfmal geht es noch gut, der sechste Schuss sitzt.
Auch das Angiom musste raus, da sich dort jederzeit neue Aneurysmen bilden konnten. Ein Angiom benötigt Sauerstoff und Blut, und weil die Adern im Kopf nicht für diesen Extratransport ausgelegt sind, geht man davon aus, dass sich deshalb diese Aussackungen bilden. Außerdem konnten Blutungen aus kleinen Rissen im Angiom das Hirn schädigen. Oder das Geschwür konnte weiterwachsen und so auf lange Sicht ebenfalls Schäden verursachen.
Ließ ich diese beiden Eingriffe machen, blieben die Risiken der Operation. Und die waren in meinem speziellen Fall nicht unerheblich. Weil Angiom und Aneurysma so dicht beieinanderlagen. Weil niemand wusste, wie porös die Gefäße waren. Weil sowieso immer etwas schiefgehen konnte.
Es war eine Entscheidung ein bisschen wie zwischen Pest und Cholera.
An das, was mir in den folgenden Tagen genau im Kopf herumgegangen ist, kann ich mich heute kaum noch erinnern. Sicher hatte ich Angst, wie jeder Mensch Angst hat vor einem so schweren Eingriff. Sicher habe ich sie ein Stück weit verdrängt. Mich damit beruhigt, dass schon alles gutgehen wird. Nur ein Routineeingriff, durchgeführt von Spezialisten auf ihrem Gebiet. Alles nur zur Vorsorge, damit das verdammte Ding nicht eines Tages platzte. Womöglich noch vor laufender Kamera oder irgendwo in der Walachei, ohne eine Klinik in erreichbarer Nähe.
Geredet über meine Gefühle habe ich kaum. Das fällt mir grundsätzlich nicht leicht. Ich bin niemand, der sein Herz auf der Zunge trägt und alles fünfmal ausdiskutieren muss. Ich mache solche Dinge lieber mit mir selbst aus. Und wenn ich für mich eine Entscheidung getroffen habe, dann steht sie auch. Dann laufe ich auf Autopilot, dann geht es nur noch darum, pragmatisch alles vorzubereiten, was für diesen bestimmten Schritt nötig ist.
Einige Tage nach dem MRT stand meine Entscheidung fest. Ich würde sowohl das Angiom als auch das Aneurysma operieren lassen. In einem Aufwasch und so bald wie möglich. Mein Lebensgefährte Rolf war der Erste, den ich darüber informierte.
Ich kam nach Hause und war überrascht, dass Monica in der Küche herumwerkelte. Sie kochte mein Lieblingsessen, Rinderfilet mit Rosenkohl. Das gab es äußerst selten, weil sie Rosenkohl wirklich grauenvoll findet. Ich dachte im ersten Moment, hui, da gibt es was zu feiern. Und sei es nur, dass wir endlich mal wieder einen ruhigen Abend für uns haben. Wir hatten beide in dieser Phase sehr viel um die Ohren, standen unter Druck und gaben uns an manchen Tagen nur noch die Klinke in die Hand.
Nach dem Essen rückte sie dann mit der Hiobsbotschaft heraus. Ich hatte keine konkrete Vorstellung davon, was ein Aneurysma eigentlich ist, welche Gefahren damit verbunden sind.
In den nächsten Tagen haben wir uns zwar informiert, aber wir waren nicht auf die ganzen Graustufen vorbereitet. Nur auf die Varianten schwarz oder weiß. Weiß hieß: Alles geht gut; schwarz hieß: Sie kann sterben. Welche Dramen dazwischen möglich sind, hatte keiner von uns beiden auf dem Schirm. Auch die Ärzte, mit denen Monica im Zuge der OP-Vorbereitung sprach, haben uns darauf nicht wirklich vorbereitet. Vielleicht, weil sie diesen verheerenden Verlauf mit all den dramatischen Verkettungen auch nicht vorhersehen konnten.
Gemeinsam mit Rolf recherchierte ich nach Kliniken in Deutschland und im Ausland, die Erfahrungen mit solchen Eingriffen hatten. In Paris gab es ein Zentrum, in dem Aneurysmen nicht mehr von menschlichen Chirurgen, sondern von Computern operiert wurden. Sicher ein hochmodernes Verfahren, aber irgendwie eine seltsame Vorstellung. Außerdem war Paris nicht gerade um die Ecke. Am Ende entschied ich mich für das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Nicht nur wegen der Nähe zu meiner Familie und zu Freunden, sondern auch, weil ich aufgrund der Vorgespräche absolutes Vertrauen in die Fähigkeiten der Ärzte hatte. Deshalb hatte ich mir auch keine zweite Meinung eingeholt.
Die Risiken waren hoch, allein die »Basisinformationen«, die mir in einem der verschiedenen Aufklärungsgespräche vorgelegt wurden, umfassten dreizehn Seiten. In diesem Fall ging es um eine Neuro-Angiographie: Vor dieser speziellen Röntgenuntersuchung bekommt man ein Kontrastmittel. Dadurch können die Blutgefäße im Gehirn exakt abgebildet und Veränderungen genau lokalisiert werden. Auf der vorletzten Seite notierte der Neuroradiologe handschriftlich:
Bei Angiomen des Kleinhirns muss man nach der Operation mit der Möglichkeit vorübergehender Bewegungsunsicherheit und verwaschener Sprache rechnen (Ataxie).Es liegt ein flussindiziertes Aneurysma von > 6 mm Größe vor. An dieser Stelle mit dieser Vorgeschichte und den Begleitumständen ist dies ein separates beträchtliches Risiko, das eine noch höhere Dringlichkeit als die AVM [die arterio-venöse Malformation, also das Angiom] besitzt!Bei der Behandlung kann es zur Blutung aus dem Aneurysma kommen, mit der nicht völlig auszuschließenden Möglichkeit, dass eine solche tödlich ausgeht.Am 19. Dezember 2008 unterschrieb ich die Einwilligungserklärung. Der Termin für den Eingriff wurde für den 8. Januar 2009 festgesetzt.
Geplant waren zwei Schritte: Ein erstes Operationsteam sollte die Blutzufuhr in das Aneurysma stoppen. Dazu sollten winzige Platinspiralen, sogenannte Coils, mit einem Katheter von der Leistenarterie bis zur Aussackung nach oben in meinen Kopf geschoben werden. An der richtigen Stelle angelangt, sollten die Coils so »aufgeklappt« werden, dass sie sich wie die feinen Ästchen eines Vogelnests an die Innenwand des Aneurysmas legten. In den Spiralen würden sich dadurch Blutgerinnsel bilden, die das Aneurysma letztlich verschließen würden.
Dann sollte ein zweites Team übernehmen, meinen Schädel hinten über dem Nacken öffnen und das Angiom entfernen. Wenn alles gutging, würde ich am 31. Januar wieder die Sportschau moderieren – mit dem Eröffnungsspiel der Bundesliga HSV gegen Bayern München.
–––
Ich bin durch die wenigen Wochen, die mir bis zum Eingriff noch blieben, durchmarschiert, wie sonst auch, wenn ich mir etwas vornehme. Damit, wie kritisch das alles werden könnte, wollte ich mich nicht auseinandersetzen. Ehrlich gesagt habe ich trotz Aufklärung vielleicht auch nicht alles erfasst. Man sitzt da, hört zu, irgendwie rauscht es an einem vorbei. Man willigt ein in sämtliche Komplikationen, zumindest in die, die statistisch am häufigsten auftreten.
Kommt all das wirklich mit letzter Konsequenz an? Und selbst wenn es das tut, was hat man denn für Alternativen? Es muss ja trotzdem gemacht werden. Der Plan war, das Zeug raus aus meinem Kopf zu bekommen, und dieser Plan war gesetzt.
Ich lenkte mich ab mit Arbeit, bereitete meine Moderation für die Vierschanzentournee vor, packte meine Taschen und erledigte letzte Weihnachtseinkäufe. Nur der Heilige Abend verlief etwas anders als sonst. Am Vormittag hatten Rolf und ich einen Termin beim Notar. Dort setzte ich mein Testament auf. Ein Schriftstück mit acht Punkten, notariell beglaubigt. Eine gegenseitige Patientenverfügung, mit der mein Lebensgefährte und ich uns die Entscheidungsbefugnis für den Ernstfall übertrugen, hatten wir bereits einige Jahre zuvor aufgesetzt.
Seit knapp zwölf Jahren waren wir inzwischen zusammen. Die »Rosenhochzeit« zum Zehnjährigen – wenn auch ohne Trauschein – hatten wir in unserem Garten mit einem großen Fest gefeiert. Zum ersten Mal begegnet waren wir uns in den neunziger Jahren, als ich in Dresden an einem Moderatoren-Casting für die Sendung Brisant teilnahm. Rolf war damals als stellvertretender Programmchef für das Familien- und Tagesprogramm des MDR zuständig. Als ich 1997 dann für ein kurzes Intermezzo als Moderatorin zu blitz kam, trafen wir uns wieder. Er hatte seine Stelle in Dresden aufgegeben und war nun stellvertretender Redaktionsleiter bei blitz. Die Sendung hatte eigentlich so etwas wie Bild-TV werden sollen. Exklusiv versorgt durch das Blatt aus dem Springerkonzern. Ein Jahr lang hatten sie am Aufbau der Redaktion gearbeitet, doch dann war der Deal geplatzt. SAT.1 hielt dennoch daran fest und schickte die Sendung mit einem veränderten Konzept ins Rennen gegen Explosiv und Brisant.
Ich war zu blitz gekommen, weil ich eine überregionale Sendung machen wollte. Auch wenn Boulevard nicht gerade mein Thema war. Nach einem halben Jahr sagte ich zum ersten Mal, ich höre auf. Ich musste Moderationstexte schreiben für Beiträge, auf die ich keinen Einfluss hatte. Ich mochte das Niveau nicht besonders, die immer heftigeren Beiträge, damit man sich von den anderen TV-Magazinen abhob. Das Fass zum Überlaufen brachte dann ein Beitrag, den ich auf keinen Fall anmoderieren wollte. Es ging um einen Nachtclub in Paris, bei dem »eine Frau einer Vielzahl von Männern gleichzeitig als sexuelles Objekt zur Verfügung stand«. So die nüchterne Beschreibung der Jugendschützer für Gruppensex im Vorabendprogramm. Unterlegt war das Ganze mit Musik von Rammstein. Nachdem ich mich geweigert hatte, wurde der Beitrag schließlich an einem Sonntag ausgestrahlt, da hatte ich frei. Es hagelte Beschwerden ohne Ende, der Sender bekam ein hohes Bußgeld aufgebrummt.
Rolf und ich waren, was unsere Arbeit anging, relativ schnell auf einer Wellenlänge. Privat blieb ich eher auf Abstand. Beziehungen im Job sind immer problematisch, sie verändern das Gefüge im Team. Außerdem war Rolf verheiratet und hatte Kinder. Auf so etwas wollte ich mich nicht einlassen.
So langsam geändert hat sich das erst, als wir nach einer Redaktionssitzung einmal in größerer Runde zum Essen gingen und Rolf mich am Ende einladen wollte.
»Danke, das mach ich schon selbst.«
Ein Kollege sagte lachend: »Rolf, denk dir nichts dabei, sie mag dich auch so.«
Und ich dachte mir in diesem Moment: Stimmt eigentlich.
In den nächsten Wochen und Monaten hat sich Rolf richtig ins Zeug gelegt. Immer wieder fand ich irgendwo Postkarten von ihm, unter dem Scheibenwischer an meinem Auto, im Büro, und über das interne Nachrichtensystem tauschten wir fleißig kleine Nachrichten aus, die mit einem lauten »pling!« im Postfach des Computers landeten. Es dauerte, ich habe gezögert, mich gesperrt, aber irgendwann … Seiner Frau hatte er schon nach zwei Wochen gesagt, er habe sich verliebt. Da wusste ich noch gar nichts von meinem Glück.
Für meine Eltern war er von Anfang an wie ein zweiter Sohn, vor allem meine Mutter Siggi machte es ihm leicht, in die Familie hineinzufinden. Nur mit Eva gab es zunächst einige Eifersüchteleien, weil meine Schwester und ich so eng miteinander sind und ständig zusammenglucken. Nicht erst, seitdem wir wieder im gleichen Haus wohnen. Das war immer schon so. Für den Fall, dass es Rolf einmal zu viel werden sollte, schenkte sie ihm eine Postkarte. Mit der Aufschrift »schwesternfreie Zone«. Ein Spaß – aber mit ernstem Hintergrund. Er sollte die Karte an die Wohnungs- oder Küchentür hängen, wenn er uns einmal nicht im Doppelpack haben wollte. Soweit ich mich erinnere, hing sie aber immer nur an der schwarzen Schiefertafel in der Küche und kam nicht zum Einsatz.
Eva und ich sind aufgewachsen wie Zwillinge. Exakt ein Jahr und fünf Tage sind wir auseinander. Wir hatten die gleichen Frisuren und viele Jahre lang immer das Gleiche an. Nur die Farben waren unterschiedlich. Eva in Rot, ich in Blau. Eine hatte die blonde Puppe, die andere die dunkelhaarige. Die eine lag im roten Puppenwagen, die andere im blauen. Unsere Mutter fand das »niedlich«. Vor allem aber sehr praktisch, weil es weniger Zankereien darum gab, wer was anziehen wollte. Sie zog das tatsächlich konsequent durch, bis wir schon in der sechsten Klasse auf dem Gymnasium waren.
Eva hat sich nie daran gestört, sie hatte nicht das Gefühl, sich abgrenzen zu müssen. Während ich mit der Zeit nur noch genervt war. Den ganz offenen Aufstand habe ich trotzdem nicht gewagt. Sondern mir heimlich im Turnbeutel andere Klamotten mitgenommen, damit ich mich auf der Schultoilette umziehen konnte. Als meine Mutter das irgendwann mitbekam – schließlich steht nicht jeden Tag Sport auf dem Stundenplan –, war die Zeit der Lierhaus-Zwillinge vorbei. Aber wenn es nach meiner Schwester gegangen wäre, hätten wir wahrscheinlich noch das Abitur als doppelte Lottchen gemacht.
Mir kam das Leben damals manchmal vor wie eine nicht enden wollende Schleife aus Wiederholungen. Meine Schwester war mit allem einen Tick früher dran. Überraschungen waren Fehlanzeige. Sogar wenn wir Geburtstag hatten. Ich wusste schon fünf Tage vor meinem, was ich geschenkt bekommen würde. Auch da waren unsere Eltern konsequent gerecht. Wenigstens musste Eva fünf Tage warten, bis der große Kindergeburtstag gefeiert wurde, denn auch der fand natürlich gemeinsam statt. Für mich war das ein eher schwacher Trost.
Es gab uns lange nur im Doppelpack, lange haben wir zwei uns in gewisser Weise selbst genügt. Wir hatten die gleichen Interessen, gingen jahrelang in die gleiche Klasse und den gleichen Sportverein und teilten uns zu Hause lange Zeit ein Zimmer. Das Blöde daran war, dass Eva so wahnsinnig schlampig war! Superschlampig. Jeder von uns hatte einen Sessel im Zimmer; auf meinem konnte man sitzen, Evas war die Außenstelle vom Kleiderschrank. Unsere Eltern hatten schon die größten Befürchtungen, wie es aussehen würde, wenn sie mal eine eigene Wohnung hätte. Aber da war es wie geleckt, alles super aufgeräumt. Das war wohl Evas kleine Rebellion, weil ich so ordentlich war. Das Gute an unserem gemeinsamen Zimmer war, dass ich immer jemanden zum Reden hatte. Abends, wenn sie ihre Ruhe haben wollte, drehte ich erst richtig auf. Kam nur noch »Hmmhmm« aus ihrer Ecke, habe ich einfach irgendeinen Blödsinn erzählt, um sie zu testen. Und schon war sie aufgeflogen. Wenn wir uns heute auf Reisen ein Doppelzimmer teilen, geht dieses Spielchen weiter. Ich erzähle, Eva »hört zu«.
Die »beste Freundin« gab es bei uns nicht, wir hatten ja uns. Bis ich mit sechzehn oder siebzehn auch hier meinen eigenen Weg zu gehen begann. Mir einen eigenen Freundeskreis aufzubauen, darauf zu achten, dass es keine Überschneidungen gab, mich abzugrenzen, wo ich nur konnte. Das emotionale Band zwischen uns ist trotz meiner Abnabelungstendenzen selbst in dieser Zeit nie ganz abgerissen.
Ich brauchte diese Phase der Unabhängigkeit, des Allein-durch-die-Welt-Gehens. Das ist ein Schritt, der einem leichter fällt, wenn man weiß, dass man den Rückhalt anderer Menschen hat. Den hatte ich von Eva immer. Sie hat ein enormes Gespür für mich, sie weiß instinktiv, wie es mir geht. Manchmal noch bevor ich es weiß. Und auch wenn wir über größere Distanzen oder längere Zeit voneinander getrennt waren, hatte sie einen siebten Sinn. Anfang der neunziger Jahre zum Beispiel war Eva einmal in Venedig im Urlaub und konnte mich nicht wie gewohnt erreichen. Sie hatte geträumt, dass sie mir eine Niere gespendet hatte, und machte sich große Sorgen. Tatsächlich lag ich zu dem Zeitpunkt mit einer Nierenentzündung im Krankenhaus. Ihr Gespür für mich ist beinahe unheimlich, und heute ist es stärker denn je.
Es muss so nach etwa zweieinhalb Monaten in der Uni-Klinik gewesen sein. Wir waren inzwischen einigermaßen an die Situation gewöhnt und nicht mehr übermäßig ängstlich wie noch am Anfang. Jedenfalls waren meine Mutter und ich schon seit gut vier oder fünf Stunden in der Klinik. Es ging auf 19 Uhr zu, wir wussten, Rolf kommt jeden Augenblick, um uns abzulösen. Wir waren beide recht müde und kaputt und entschieden uns zu gehen. Wir haben uns von Monica verabschiedet und waren schon fast durch die Eingangshalle durch, kurz vor dem Klinikausgang.
Ich weiß bis heute nicht, was es war, ein komisches Gefühl. Auf jeden Fall sagte ich zu meiner Mutter: »Nein, komm, lass uns umdrehen und doch besser warten, bis Rolf da ist. Wir sollten sie jetzt nicht allein lassen.«
Wir waren kaum fünf Minuten zurück im Zimmer, als bei meiner Schwester plötzlich gar nichts mehr ging. Sie bekam keine Luft, röchelte wie verrückt und rang um Atem. Ich sprang auf und rannte auf den Flur, nirgendwo war jemand zu sehen, nirgendwo ein Arzt oder eine Schwester. Meine Mutter hat dauernd geklingelt, aber niemand hat reagiert. Monicas Oberkörper bäumte sich immer wieder auf im Bett, es war furchtbar. Ich hab nur noch gebrüllt. Hilfe! Wir brauchen sofort Hilfe!
Zum Glück kam in diesem Moment die Stationsärztin mit zwei Pflegern aus einem anderen Patientenzimmer; die wussten im ersten Augenblick gar nicht, was passiert war. Ein dicker Pfropfen hatte sich vor den Schlauch gesetzt, mit dem sie beatmet wurde. Das Ding war komplett zu.
Der Internist sagte mir am nächsten Tag, wenn wir nicht da gewesen wären und sofort reagiert hätten … Sie wäre entweder erstickt, und wenn nicht, wäre die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn so lange unterbrochen gewesen, dass sie einen irreparablen Schaden erlitten hätte. Und das bei all dem, was sie zu dieser Zeit schon hinter sich hatte. Ich hätte mir ohne Ende Vorwürfe gemacht, wenn wir nicht umgekehrt wären.
Die Phase unserer Abkapselung war sehr wichtig, für jede von uns. Für Eva war es sicher nicht immer leicht, die Verantwortung für »die Kleine« zu übernehmen, obwohl ich sie an Zentimetern schon nach gerade einmal vier Jahren überholt hatte. Und vor allem, weil ich nicht wollte, dass sie diese Verantwortung übernahm. Auf dem Schulweg habe ich sie einmal angeschnauzt, dass sie nicht dauernd neben mir laufen müsse. Ich könne das schon alleine. Augenrollend hielt sie von da an ein paar Meter Abstand. Für mich war es im Gegenzug einfach nervig, immer alles vorgelebt zu bekommen.
Heute passt zwischen uns kaum ein Blatt. Seit dem Unglück hat sich unsere Beziehung noch einmal intensiviert. Auch wenn sie vorher schon zu den wichtigsten und wertvollsten Menschen in meinem Leben gehört hat. Wenn ich mal wieder in einem ganz dunklen Loch sitze, schafft sie es, mich mit ihrem Humor da herauszuholen.
Meistens jedenfalls. Es gibt Tage, an denen mir das nicht gelingt. An denen auch bei mir einfach alles schiefläuft, ich emotional an meine Grenzen komme. Monica merkt das sofort und hat ein besonders schlechtes Gefühl, wenn sie mich dann auch noch beanspruchen muss, weil es nicht anders geht. Dieses auf andere angewiesen zu sein ist ja ohnehin das Härteste für sie. Meine Schwester war das erste von uns drei Kindern, das aus dem Elternhaus ausgezogen ist, auf eigenen Beinen stehen wollte. Obwohl sie die Jüngste war. Aber sie hatte schon als Kind einen atemberaubenden Unabhängigkeitsdrang und hat immer sehr auf eine gewisse Distanz geachtet. Manchmal denke ich, dass es mir in ihrer Situation leichter fallen würde, Hilfe anzunehmen. Für jemanden wie sie, der so viel Wert auf Eigenständigkeit legt, muss es sich vor allem in den ersten Jahren angefühlt haben, als würden Tausende Hände ständig an ihr herumfummeln, sie durchchecken, ihre Fortschritte bewerten. Jeden Tag sagt ihr jemand, wie tapfer sie ist und wie gut sie das alles macht. Am Ende des Tages bleibt sie aber mit sich und diesem neuen Leben allein. Mit den kleinen Erfolgen, vor allem aber mit den Rückschritten.
Wenn sie dann noch mitbekommt, welchen Spagat ich manchmal vollführen muss zwischen den Bedürfnissen meiner eigenen Familie, und sie nun auch noch etwas braucht, dann kippt es total, und alles ist nur noch schwarz. Sie ist traurig, dass sie mich braucht, wütend, dass sie wieder mal etwas nicht alleine hinbekommt. Mit dieser Reaktion kann ich dann eher schlecht umgehen – und schon ist bei uns beiden die Stimmung im Keller.
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Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhren wir zu meinen Eltern. Den ganzen Nachmittag über drückte ich mich nach Kräften davor, ihnen von der Diagnose und der anstehenden Operation zu erzählen. Erst als es nicht mehr länger ging, als wir fast schon im Aufbruch waren, rückte ich damit heraus.
Ich sehe sie noch vor mir sitzen, am Kaffeetisch, draußen wurde es schon langsam dunkel. Kurz bevor sie gehen wollten, sagte Monica ganz fröhlich: »Übrigens, ich lasse das und das machen, zur Vorsorge. Ach, Siggi, das wird gar nicht so schlimm. Ich bin in besten Händen dort, reine Routine, mach dir keine Sorgen. Ich gehe jetzt ein paar Tage in die Klinik, und Ende Januar moderiere ich dann das Bayern-Spiel.«
Als sie weg waren, saßen mein Mann und ich eine ganze Weile einfach nur schweigend da. Es war eine seltsame Stimmung, die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten, auf dem Tisch standen noch das Kaffeegeschirr, ein Teller mit Plätzchen und die Reste der Schwarzwälder Kirschtorte. Wir waren so erstarrt, dass wir die Tragweite im ersten Moment gar nicht realisiert haben.
Was damals genau in mir vorging, kann ich nicht mehr sagen, man verdrängt das mit der Zeit ja auch. Sicher haben wir uns in den nächsten Tagen informiert, was das alles zu bedeuten hatte. Welche Risiken bestanden. Geändert hat sich dadurch nichts. Monica war so klar in dem, was sie wollte, so klar in dem, dass es keinen anderen Weg gab als diese Operation. Es gab letztlich ja auch keine Alternative, außer der, abzuwarten, bis sie einen Schlaganfall hat oder tot umfällt.
Nach dem Besuch bei meinen Eltern fuhren wir nach Hause und packten. Wir wollten über Silvester an die Nordsee fahren, bevor ich am 6. Januar das Abschlussspringen der Vierschanzentournee im österreichischen Bischofshofen moderieren würde.
In den Tagen zwischen den Jahren telefonierte ich auch endlich mit meiner Schwester Eva, die mit ihrem Mann in Florida war. Auch das hatte ich bis zum letzten Moment hinausgeschoben, weil ich ihr Weihnachten nicht verderben wollte. Außerdem wusste ich genau, wie sie tickt. Kaum hatte ich ihr von der Operation erzählt, sagte sie tatsächlich, sie käme sofort nach Hamburg zurück. Auf keinen Fall werde sie mich in dieser Situation alleinlassen. Ich konnte das erfolgreich abbügeln: Das lass mal schön bleiben, das ist völliger Unfug. Nach dem Eingriff noch drei Tage Intensivstation, dann noch ein paar Tage auf der normalen. Und wenn ich dann nach Hause kann, kommst du gerade wieder zurück. Das passt doch perfekt.
Ich wollte den Ball möglichst flachhalten, vermutlich auch, um mich selbst zu beruhigen. Nur kein Wirbel, alles Routine. Ich wollte das Gefühl, dass schon alles gutgehen wird, nicht damit durchbrechen, dass irgendjemand seine Pläne ändert. Das wäre wie ein böses Omen gewesen.
Das Abschlussspringen der Vierschanzentournee habe ich mir von Amerika aus im Internet angesehen. Ich erinnere mich noch, dass Monica Martin Schmitt interviewte und dass sie mit dem Gewichtheber Matthias Steiner hoch oben auf dem Startbalken der Schanze saß und sich mit ihm unterhalten hat. Hinterher hat er sie in die Luft gestemmt, wie eine Hantel. Hängengeblieben ist mir auch noch, dass sie hinten auf einem fahrenden Schneemobil saß und von dort aus moderierte.
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