In Blut verbunden - Stuart MacBride - E-Book
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In Blut verbunden E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Eigentlich sollte man belohnt werden, wenn man einen Psychopathen fasst und dessen Opfer rettet. Allerdings nur, wenn man dabei alle Regeln befolgt. Logan McRae, stellvertretender Detective Inspector, erhält also statt einer Beförderung eine „berufliche Entwicklungschance“ in einem kleinen Küstenort nördlich von Aberdeen. Psychopathen scheint es dort nicht zu geben, dafür Drogendealer, Ladendiebe und entlaufenes Vieh. Und einige Vermisstenfälle. Da es sich bei den Verschwundenen jedoch um erwachsene Männer handelt, wird der Sache keine größere Bedeutung zugemessen. Das ändert sich, als ein totes Mädchen am Strand angespült wird. Denn Logan kommt einem Zusammenhang zwischen den vermissten Personen und diesem Mordfall auf die Spur ...

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Buch

Eigentlich sollte man belohnt werden, wenn man einen Psychopathen fasst und dessen Opfer rettet. Allerdings nur, wenn man dabei alle Regeln befolgt. Logan McRae, stellvertretender Detective Inspector, erhält also statt einer Beförderung eine »berufliche Entwicklungschance« in einem kleinen Küstenort nördlich von Aberdeen. Psychopathen scheint es dort nicht zu geben, dafür Drogendealer, Ladendiebe und entlaufenes Vieh. Und einige Vermisstenfälle. Da es sich bei den Verschwundenen jedoch um erwachsene Männer handelt, wird der Sache keine größere Bedeutung zugemessen. Das ändert sich, als ein totes Mädchen am Strand angespült wird. Denn Logan kommt einem Zusammenhang zwischen den vermissten Personen und diesem Mordfall auf die Spur …

Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

STUART MACBRIDE

In Blutverbunden

Thriller

Aus dem Englischenvon Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Missing and the Dead« bei HarperCollins Publishers, London
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © der Originalausgabe2015 by Stuart MacBrideCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagfoto: Sally Mundy/Trevillion Images; FinePic®, MünchenRedaktion: Eva WagnerAB · Herstellung: Str.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16753-0V003www.goldmann-verlag.de
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Gewidmet den tapferen Jungs und Mädels, denen wir es zu verdanken haben, dass die Grampian Police eine so fantastische Truppe war

Laufen.

1

Schneller. Spitze Blätter peitschen an ihren Ohren vorbei, die Skelette von Büschen und Sträuchern krallen nach ihren Fußknöcheln, als sie in den nächsten Garten taumelt, eine Atemfahne hinter sich herziehend. Das spröde, gefrorene Gras verbrennt ihre nackten Sohlen.

Er wird lauter, bricht rufend und fluchend durch die Hecken in der Dämmerung hinter ihr. Und kommt näher.

O Gott …

Sie klettert über einen hohen Holzzaun und löst dabei eine kleine Reiflawine aus. Ein scharfes Ratschen, als der Saum ihres Sommerkleids sich verhakt und ein Stück davon am Zaun hängen bleibt. Der Sandkasten schießt ihr entgegen, der Aufprall nimmt ihr die Luft weg.

Bitte …

Nicht so …

Nicht hier, in einem fremden Garten, hilflos auf dem Rücken liegend.

Über ihr verfärbt sich der Himmel von Schmutziggrau zu dunklem, schmierigem Orange. Winzige funkelnde Lichtpunkte ziehen ihre Bahn darüber – ein Flugzeug auf dem Weg nach Süden. Aus einem offenen Küchenfenster dringen Radiogeräusche. Rauchschlieren von einem lodernden Holzfeuer. Ein kleines Kind schreit, dass es noch nicht müde ist.

Auf!

Sie rappelt sich hoch und rennt weiter, der rutschige, gefrorene Rasen knirscht unter ihren Schritten. Die Schuhe hat sie schon in einem der letzten Gärten verloren. Die Strumpfhose zerrissen und voller Laufmaschen, die Füße mit den lackierten Zehennägeln dreckverschmiert. Die Atemluft versengt ihre Lunge, hüllt ihren Kopf in eine Nebelwand.

Lauf.

Sie steuert den Zaun auf der anderen Seite an, als die Hintertür aufgeht und ein Mann herauskommt, mit einer Teetasse in der Hand und offenem Mund. »He, Sie da! Was fällt Ihnen ein, hier …«

Sie bleibt nicht stehen. Senkt den Kopf ganz tief und stürzt sich in eine dichte Leylandzypressenhecke. Die spitzen Nadeln zerkratzen ihr die Wangen, ein stechender Schmerz durchzuckt ihre Wade.

LAUF!

Wenn Er sie erwischt, ist es vorbei. Er wird sie zurück in die Dunkelheit zerren. Wird sie wegsperren, fern von der Sonne und der Welt und den Menschen, die sie lieben. Wird sie quälen.

Sie bricht auf der anderen Seite hervor.

Eine Frau kauert neben einem Border-Terrier auf dem Rasen. Sie hat eine blaue Plastiktüte wie einen Handschuh übergezogen und ist im Begriff, sie über einen dampfenden braunen Haufen zu stülpen. Jetzt reißt sie die Augen auf, zieht die Brauen hoch, starrt die Gestalt an, die vor ihr steht. »Du lieber Gott, sind Sie …?«

Seine Stimme dröhnt durch die Dämmerung. »BLEIBEN SIE SOFORT STEHEN!«

Nicht stehen bleiben. Niemals stehen bleiben. Er darf sie nicht einholen.

Nicht jetzt.

Nicht nach allem, was sie durchgemacht hat.

Das ist nicht fair.

Sie holt tief Luft und läuft weiter.

»Herrgott noch mal …« Logan zwängte sich durch eine dichte Hecke in den nächsten großen Garten und bremste taumelnd ab. Spuckte bittere Fetzen Grünzeug aus, die nach Tannenduftspray schmeckten.

Eine Frau, die gerade einen Hundehaufen auflas, blickte mit großen Augen zu ihm auf.

Er zog sein Airwave-Handy aus der Tasche und schwenkte es in Richtung der Frau. »Wo ist sie hin?«

Die Hand, die in der Plastiktüte steckte, hob sich und zeigte zitternd auf den Zaun zum Nachbargrundstück.

Na super …

»Danke.« Logan drückte die Verbindungstaste und rannte los. »Sag Biowaffen-Bob, er soll mit dem Wagen zum Hillview Drive vorfahren, es …« Er kletterte auf das Dach eines kleinen Fahrradschuppens, schlitterte mit den Schuhen über den mit Reif überzogenen Kunststoff und stieg von dort auf eine schmale Backsteinmauer. Ließ den Blick über den Flickenteppich aus Gärten schweifen – manche dunkel, andere erhellt vom Licht, das aus den Fenstern fiel. »Es ist die Kreuzung mit der Hillview Terrace.«

Die rauchige Reibeisenstimme von Detective Chief Inspector Steel tönte aus dem Telefon. »Wieso hast du die Drecksau noch nicht geschnappt?«

»Fang bloß nicht so an. Es … Uaah!« Er verlor das Gleichgewicht, ruderte eine Weile mit den Armen und erstarrte dann, über das Rosenkohlbeet zweieinhalb Meter unter ihm gebeugt.

»Ich hab dir gesagt, was passiert, wenn du das verbockst.«

Bla, bla, bla.

Die Gärten erstreckten sich vor und hinter ihm und zur Rechten, wo sie an die Parallelstraße grenzten. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen. »Wo zum Teufel steckst du?«

Da – sie zwängte sich gerade durch ein Dickicht aus Vogelbeeren und Eschen und steuerte die Hecke auf der anderen Seite an. Noch zwei Gärten, und sie wäre wieder auf der Straße.

Okay.

Logan drückte wieder die Taste. »Du musst jetzt …« Sein linker Schuh glitschte von der Mauerkrone. »AAAAAAAAAARGH!« Dunkelgrüne Stängel knickten unter ihm ein, kleine grüne Bomben spritzten durch die Luft, als er krachend auf dem gefrorenen Boden landete. RUMMS. »Officer down!«

»Laz? Mein Gott, was ist denn da …« Steels Stimme wurde vorübergehend leiser. »Sie da! Schicken Sie ein bewaffnetes Einsatzteam und einen Krankenwagen in die …«

»Gah …« Er rappelte sich auf und wischte sich die zerquetschten Rosenkohlröschen von seinem verdreckten Jackett. »Officer wieder auf den Beinen!«

»Willst du mich ver…«

Er steckte das Handy ein, rannte auf den Zaun zu und kletterte darüber, ohne auf das unflätige Geschimpfe von Steel zu achten, das aus seiner Tasche drang.

Mit einem Dutzend Schritten hatte er den nächsten Garten durchquert und hievte sich über eine Buchsbaumhecke auf eine weitere Backsteinmauer.

Sie kämpfte mit einem Wall aus Rosensträuchern, deren stachlige, verschlungene Äste sich in ihr blaues Sommerkleid krallten und blutige Kratzer in ihre Arme und Beine ritzten. Das blonde Haar verfing sich in den Stacheln.

»BLEIBEN SIE, WO SIE SIND!«

»Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht …«

Logan ließ sich in den Garten fallen.

Sie riss sich los und verschwand in Richtung des letzten Hauses in der Straße. Zurück blieben ihre Haare … Nein, nicht ihre Haare – eine Perücke.

Er rannte los, setzte zum Sprung an. Fast hätte er es geschafft, doch er blieb mit einem Fuß an dem Rosenstrauch hängen, flog mit dem Kopf voran durch die Ligusterhecke auf der anderen Seite und fiel der Länge nach hin.

Sofort war er wieder auf den Beinen.

Da!

Sie war schon am Tor, doch er stürzte sich mit einem Hechtsprung auf sie, seine Schulter erwischte sie voll im Kreuz, und sie gingen beide auf dem Kiesweg zu Boden. Spitze Steine bohrten sich ihm in die Knie und in die Seite. Es roch nach Staub und Katze.

Und sie SCHRIE. Keine Worte, nur ein gellendes Gebrüll, das Gesicht hochrot, Spucke spritzend, die Augen wie Granitbrocken. Bartstoppeln schimmerten durch die dicke Make-up-Schicht auf ihren dornenzerkratzten Wangen, ihr Atem war eine säuerliche graue Wolke in der kalten Luft. Die Hände zu Fäusten geballt, prügelte sie auf Logans Brust und Arme ein.

Eine Faust schnellte auf Logans Gesicht zu, und er packte sie. »Hören Sie auf mit dem Quatsch! Ich nehme Sie fest aufgrund des …«

»ICH BRING DICH UM!« Die andere Hand schlang sich um seine Kehle und drückte zu. Fingernägel bohrten sich in seine Haut, scharf und spitz.

Jetzt wurde es ihm zu bunt. Er bog den Kopf nach hinten und ließ ihn dann wieder nach vorne schnellen. Krack – genau auf ihre Nasenwurzel.

Ein Grunzen, und sie ließ von ihm ab, während kleine Blutströpfchen seine Wange benetzten. Warm und feucht.

Er schnappte nach ihrem Handgelenk, zog daran, bis die Hand im rechten Winkel nach vorne abgeknickt war, und legte sein ganzes Gewicht auf das Gelenk.

Das Gezappel hörte augenblicklich auf, und er hörte nur noch, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen die Luft einsog. Der Adamsapfel hüpfte, als sie mit blutverschmierten Lippen zischte: »Lass mich los, du Schwein!« Das war keine Frauenstimme, sie wurde mit jedem Wort tiefer. »Ich hab nichts getan!«

Logan zog seine Handschellen heraus und schloss sie um das verdrehte Handgelenk, benutzte sie als Hebel, um den Druck auf das überdehnte Gelenk zu verstärken.

»Wo ist Stephen Bisset?«

»HILFE! VERGEWALTIGUNG!«

Noch ein bisschen mehr Druck. »Ich frage Sie nicht noch einmal – wo ist er?«

»Aaaaagh … Sie brechen mir das Handgelenk! … Bitte, ich weiß nicht …«

Noch einmal zugedrückt.

»Okay! Okay! Mein Gott …« Ein tiefer Atemzug durch zusammengebissene, blutbefleckte Zähne. Dann ein Grinsen. »Er stirbt. Ganz allein, im Dunkeln. Er stirbt. Und Sie können nichts tun, um das zu verhindern.«

2

Die Scheibenwischer schoben sich quietschend und ächzend über das Glas und befreiten es von dem dünnen Überzug aus winzigen weißen Flöckchen. Die Stadt hatte die Weihnachtsdekoration noch nicht abnehmen lassen: Schneemänner, Stechpalmenzweige, Glocken, Rentiere und Weihnachtsmänner leuchteten hell aus der Dunkelheit hervor.

Vor zehn Tagen war hier sicher noch die Hölle los – Hogmanay, der 31. Dezember, war wie hundert Freitagabende auf einmal –, aber jetzt waren die Straßen wie ausgestorben. Die Leute hockten wahrscheinlich alle zu Hause, bis über beide Ohren im Minus nach dem Weihnachts-Konsumrausch, und warteten sehnsüchtig auf den nächsten Zahltag.

Die Reifen des zivilen Einsatzwagens pflügten zischend durch den Schneematsch. Kein Verkehr – die einzigen anderen Fahrzeuge parkten am Straßenrand und ließen sich vom Schnee einen weißen Anstrich verpassen.

Logan drehte sich auf seinem Sitz um und warf einen bösen Blick nach hinten, während sie auf die North Deeside Road einbogen. »Letzte Chance, Graham.«

Graham Stirling saß vornübergebeugt da, die Hände jetzt vor dem Bauch gefesselt, und befühlte mit schmutzigen Fingern seine blutverkrusteten Nasenlöcher. Seine Stimme klang belegt und tonlos. »Sie haben mir die Nase gebrochen …«

Neben ihm auf dem Rücksitz schniefte Biowaffen-Bob. »Aye, und Sie haben ihm noch nicht mal dafür gedankt, oder?« Die dicke durchgehende Braue über seinen Augen verformte sich zu einem haarigen V. Er lehnte sich zu Stirling hinüber, so dicht, dass eines seiner großen, abstehenden Ohren dessen Stirn berührte. »Jetzt beantworten Sie die Frage: Wo ist Stephen Bisset?«

»Ich brauche einen Arzt.«

»Einen kräftigen Tritt in den Hintern brauchen Sie, sonst nichts.« Bob ballte eine Hand zu einer haarigen Faust. »Jetzt sagen Sie uns, wo Bisset ist, oder ich schwöre bei Gott, dass ich …«

»Detective Sergeant Marshall! Es reicht.« Logan bleckte die Zähne. »Wir prügeln nicht in Polizeifahrzeugen auf Gefangene ein.«

Bob lehnte sich zurück und ließ die Faust sinken. »Aye, da versaut man ja bloß die Polster. Rennie, such doch mal eine ruhige Ecke, wo wir anhalten können. Eine ruhige, dunkle Ecke.«

DS Rennie hielt den Wagen am Zebrastreifen an und spielte mit den Fingern ein Trommelsolo auf dem Lenkrad, während zwei elegant gekleidete Männer wankend die Straße überquerten. Sie hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und grölten einen alten Rod-Stewart-Song, ohne sich von dem heftiger werdenden Schneetreiben stören zu lassen.

Ihre Anzüge sahen wesentlich teurer aus als der von Rennie. Und ihre Frisuren auch – nicht allzu schwierig bei seinem hochgegelten Blondschopf über dem rotwangigen Gesicht und dem Hals, der in einem zwei Nummern zu weiten Hemdkragen verschwand. Wie ein kleiner Junge, der mit den Sachen seines Vaters Verkleiden spielt. Er warf einen Blick über die Schulter. »Sie wollen doch, dass das Gericht erfährt, dass Sie kooperiert haben, nicht wahr, Graham? Dass Sie uns geholfen haben? Könnte Ihnen ein paar Jährchen Knast ersparen.«

Schweigen.

Stirling zupfte ein Klümpchen geronnenes Blut von der Haut unter seiner Nase ab und schmierte es auf den zerrissenen Stoff seines Kleids.

»Der DI meint es ernst, Graham, er wird Sie nicht noch einmal fragen. Warum tun Sie sich nicht den Gefallen und sagen ihm, was er wissen muss?«

Eine Pause. Dann blickte Stirling auf. Und lächelte. »Okay.«

Bob griff nach seinem Airwave. »Wurde aber auch Zeit. Also schießen Sie los – Adresse?«

Grahams rosarote Zunge tauchte zwischen den blassen Lippen auf und leckte sie ab. »Nein. Sie und der Junge müssen aussteigen. Ich rede mit ihm« – er deutete auf Logan –, »oder wir fahren zurück zum Präsidium, und Sie besorgen mir einen Anwalt.«

»Seien Sie nicht albern, Stirling, wir werden nicht …«

»Kein Kommentar.«

Logan seufzte. »Das ist doch bescheuert, es …«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe: Kein Kommentar. Die zwei steigen aus, oder Sie besorgen mir einen Anwalt.«

Rennie verzog das Gesicht. »Chef?«

»Kein Kommentar.«

Logan rieb sich die Augen. »Aussteigen. Alle beide.«

»Chef, ich glaube nicht, dass das …«

»Ich weiß. Und jetzt raus mit euch.«

Rennie starrte Biowaffen-Bob an.

Pause.

Bob zuckte mit den Schultern. Dann kletterte er hinaus auf den menschenleeren Gehsteig.

Nach kurzem Zögern stellte Rennie den Motor ab und folgte ihm. »Ich finde immer noch, dass das keine gute Idee ist.«

Klonk. Die Tür fiel ins Schloss, und Logan blieb mit Graham Stirling im Wagen zurück.

»Reden Sie.«

»Der Wald an der Slug Road. Da geht ein Weg von der Straße ab, für das Tor braucht man einen Schlüssel. Ein … da ist so ein alter Forstarbeiter-Schuppen, ganz versteckt, wirklich total abgelegen.« Das Lächeln wurde verträumt, seine Augen auch, als ob er in einer Erinnerung schwelgte. »Wenn Sie Glück haben, ist Steve vielleicht noch am Leben.«

Logan griff nach seinem Handy. »Okay. Wir werden …«

»Ohne mich werden Sie ihn niemals finden. Die Hütte ist auf keiner Karte verzeichnet. Nicht mal auf Google Earth ist sie zu sehen.« Stirling beugte sich vor. »Sie können suchen, so viel Sie wollen – bis Sie ihn finden, wird Steve Bisset längst tot sein.«

Die Scheinwerfer des Einsatzwagens warfen lange, unregelmäßige Schatten zwischen den Bäumen. Die Nadeln funkelten im blau-weißen Licht der Stroboskop-Blitzer. Dicke Schneeflocken leuchteten auf, während sie in einem Zeitlupen-Tanz zur Erde sanken.

Auf dem holprigen, festgefrorenen Waldweg trat Logan von einem Fuß auf den anderen und ließ den Strahl seiner Taschenlampe an der Baumreihe entlanggleiten.

Abgelegen war gar kein Ausdruck.

Er wischte sich einen Tropfen von der Nasenspitze. »Na ja, was hätte ich denn tun sollen? Ihn ›Kein Kommentar‹ sagen lassen, bis Stephen Bisset tot ist?«

Der Waldweg schlängelte sich tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Grasbüschel, die ihn säumten, verschwanden allmählich unter dem Schnee, der im Schein der Taschenlampe glitzerte.

Am anderen Ende der Leitung stöhnte Steel. »Hättest du den Mistkerl nicht ein paarmal die Treppe runterfallen lassen können? Wir dürfen ja nicht …«

»Willst du vielleicht Stephens Familie erzählen, dass wir ihn haben erfrieren lassen, mutterseelenallein in einem Schuppen im Wald, nur weil es uns wichtiger war, die Vorschriften einzuhalten, als sein Leben zu retten?«

»Laz, so einfach ist das nicht, wir …«

»Denn wenn es das ist, was du willst, dann sag es mir jetzt, und wir fahren gleich zurück ins Präsidium. Du kannst Dr. Simms helfen, einen Leichensack auszusuchen. Sicher haben wir irgendwo noch ein bisschen hübsches Weihnachtspapier rumliegen, das könntest du nehmen. Pack seine Leiche als Geschenk ein und mach ein Schleifchen obendrauf.«

»Jetzt halt endlich die Klappe und …«

»Vielleicht was mit Kätzchen und Teddybären, als Trost für Bissets Kinder?«

Schweigen.

»Hallo?«

»Na schön, na schön. Aber ich will schwer hoffen, dass er noch am Leben ist. Und noch was …«

Er legte auf und stapfte auf den Wagen zu.

Biowaffen-Bob lehnte an der Motorhaube, die Arme verschränkt, die Schultern hochgezogen, einen Cowboystiefel auf die Stoßstange gestellt. Seine Nase verfärbte sich zusehends knallrot, ebenso wie die Läppchen seiner Satellitenschüssel-Ohren. Er spuckte aus und deutete mit dem Kopf auf den schlecht sitzenden Anzug hinter dem Lenkrad. »Der Knabe hat recht, das ist einfach bescheuert.«

»Tja nun, ich hab es mit der Chefin abgeklärt, also machen wir es.«

Er zog die Luft durch die Nase ein. »Was ist, wenn unsere Conchita irgendwelche Dummheiten versucht, während ihr da draußen im Wald rumlauft?«

Logan spähte an Bobs Schulter vorbei.

Stirling saß zusammengesunken auf dem Rücksitz. Das Blut war inzwischen zu einer schwarzen Maske getrocknet, die die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Blutergüsse verdunkelten schon die Haut unter beiden Augen. Das blaue Sommerkleid war nach der Verfolgungsjagd durch die Gärten völlig verdreckt und zerrissen. Er zitterte.

»Ich denke, ich riskier’s.« Logan nahm das CS-Spray aus der Jackentasche und fuhr mit dem Daumennagel die Rille zwischen der Schutzkappe und der Dose entlang. »Aber fesselt ihm die Hände hinter dem Rücken, für alle Fälle. Und ich will, dass ihr zwei euch bereithaltet, um im Notfall einzugreifen.«

Logan öffnete die Hintertür und bückte sich in den Wagen. Drinnen roch es nach Schweiß und Angst und rostigem Fleisch. »Raus.«

Zweige knackten unter seinen Schritten, als sie sich ihren Weg zwischen den graubraunen Ästen hindurch bahnten, immer dem Lichtkegel von Logans Taschenlampe nach. Eine winzige Insel der Helligkeit in einem Meer von Dunkelheit.

Irgendetwas bewegte sich da draußen. Kleine, flinke Füße und Krallen, die in die Nacht davonhuschten.

Logan schwenkte die Taschenlampe in die Richtung des Geräuschs. »Wie weit ist es noch?«

Stirling deutete mit dem Kinn nach links. »Da lang.« Die Worte wurden von einer Atemwolke begleitet, die im Lampenschein schimmerte und wabernd in der Dunkelheit verflog. Drachenatem.

Einen Abhang hinunter in eine Mulde, gesäumt von Brombeersträuchern und den braunen Überresten längst abgestorbener Farnwedel, die halb unter dem Schnee begraben waren. Und immer noch rieselte es aus dem schwarzgrauen Himmel herab.

Stirling stapfte in Rennies Schuhen dahin, abgestoßene schwarze Halbschuhe mit weißen Socken, die unter dem zerrissenen Sommerkleid und der Strumpfhose voller Laufmaschen riesengroß wirkten.

Auf der anderen Seite ging es wieder hinauf, durch die Farnwedel – sprödes Blattwerk, das sich um Logans Hosenbeine schlang und kalte, feuchte Fingerabdrücke hinterließ. »Warum er? Warum Stephen Bisset?«

»Warum?« Achselzucken. Das Metall der Handschellen blitzte im Licht der Taschenlampe auf. Mit den Händen hinter dem Rücken, die Finger lässig verschränkt, sah er aus, als machten sie einen gemütlichen Strandspaziergang. »Warum nicht?« Ein kleiner Seufzer. »Weil er da war.«

Logan sah auf seine Uhr. Fünfzehn Minuten. Fünf würde er ihm noch geben, dann wäre Schluss mit diesem Affentheater. Dann würden sie eine Hundestaffel anfordern und den Hubschrauber mit der Wärmebildkamera von Strathclyde kommen lassen. Immer vorausgesetzt, Steels Einfluss reichte aus, um die Kollegen dazu zu bringen, an einem Freitagabend im Januar so weit nach Norden zu fliegen.

Sie stolperten weiter zwischen den stummen Bäumen hindurch. Die abgefallenen Kiefernnadeln bildeten ockerfarbene Kissen zwischen den verschlungenen Wurzeln, wo das Astwerk darüber so dicht war, dass kein Schnee den Boden erreichte.

Er blieb stehen, schob seinen Ärmel zurück, um noch einmal auf die Uhr zu sehen. »Die Zeit ist um. Ich mach dieses Spielchen nicht länger mit.« Er packte die Plastikstange zwischen den Handschellen und zog daran, um Stirling zum Stehen zu bringen. »Das ist alles reine Zeitverschwendung, nicht wahr? Sie werden mir niemals zeigen, wo Stephen Bisset ist. Sie wollen, dass er stirbt, damit er nicht gegen Sie aussagen kann.«

Stirling drehte sich um. Starrte Logan an, das Gesicht von unten angeleuchtet, wie am Lagerfeuer, wenn Gruselgeschichten erzählt werden. Er neigte den Kopf nach links. »Sehen Sie das?«

Logan trat zurück, schwenkte den Strahl der Taschenlampe in einem Bogen über die Bäume, ließ ihn über den mit Nadeln übersäten Waldboden streichen, wo Schatten umherhuschten …

Zwischen den Stämmen tauchte eine windschiefe Holzhütte auf, halb verdeckt von einem Wall aus dürrem Brombeergestrüpp, in einer Lücke zwischen den Bäumen, kaum groß genug, um als Lichtung zu gelten.

Stirling senkte die Stimme zu einem scharfkantigen Flüstern. »Er ist da drin.«

Logan ging einen Schritt darauf zu. Und blieb stehen.

Er drehte sich um und leuchtete Stirling mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht. Stirling zuckte zurück und kniff die Augen zu. Logan nahm den Handschellenschlüssel aus der Tasche. »Auf die Knie.«

Die Tür des Schuppens war mit einem dicken Vorhängeschloss aus rostfreiem Stahl gesichert. An der Unterseite waren vier Ziffernrädchen, und der Bügel verband zwei schwere Metallplatten, die eine an der Tür befestigt, die andere am Rahmen. Beide so angebracht, dass die Schraubenköpfe abgedeckt waren.

Logan schwenkte die Taschenlampe zu Stirling. »Kombination?«

Stirling war immer noch auf den Knien, die Arme um den Baumstamm geschlungen, als ob er mit ihm knutschen wollte, die Hände auf der anderen Seite mit den Handschellen gefesselt, die Wange fest gegen die Borke gepresst. »Eins – sieben – null – sieben.«

Die Rädchen waren steif und schwer zu drehen, aber nach einigem Gefummel ließen sie sich bewegen. Quietschend drehten sie sich unter Logans Fingerspitzen, die in einem blauen Nitrilhandschuh steckten. Der Bügel sprang auf, er hakte das Vorhängeschloss aus und ließ es in einen Beweismittelbeutel gleiten.

Und drückte gegen die Tür.

Sie leistete fast so viel Widerstand wie die Rädchen am Vorhängeschloss, aber schließlich schwang sie knarrend auf, und ein Gestank nach ungewaschenem Körper und Blut und Pisse und Scheiße stürzte sich auf Logan, ließ ihn zurückprallen.

Einmal tief durchgeatmet.

Er trat über die Schwelle. »Stephen? Stephen Bisset? Es ist okay, Sie sind jetzt in Sicherheit. Hier ist die Polizei.«

Verdammt, hier drin war es tatsächlich noch kälter als draußen.

Der Strahl der Taschenlampe erfasste einen Haufen Stangen und Sägen und Ketten. Dann einen Stoß Holzscheite und eine alte Plane. Dann einen gusseisernen Ofen ohne Tür. Und dann einen Stapel verdreckte Decken.

»Stephen? Hallo?«

Logan streckte die Hand aus und nahm eine der Stangen von dem Haufen. Glatt und glänzend von zahllosen Händen, die sie im Lauf vieler Jahre angefasst hatten. Am anderen Ende klapperte eine Hippe; die Schrauben, die sie hielten, waren alle locker und verrostet. »Stephen? Ich bin gekommen, um Sie nach Hause zu holen.«

Er schob die Hippe unter die erstbeste Decke und hob sie an.

Du lieber Gott …

Raus ins Freie. Die kalte Luft kratzte an seinem mit Schweißperlen übersäten Gesicht. Er holte tief Luft.

Logan lehnte sich mit der Stirn an einen Baum, spürte die raue Borke auf seiner Haut. Der Duft der Kiefernnadeln war bei Weitem nicht stark genug, um den Modergestank des Schuppens zu überdecken.

Nicht kotzen.

Benimm dich wie ein Profi.

O Gott …

Tief durchatmen.

»Ich …« Seine Kehle schnürte sich zu, würgte die Worte ab. Er drückte die Stirn so fest gegen die Borke, dass es wehtat. Setzte noch einmal an. »Ich sollte Ihnen jeden Knochen im Leib brechen.«

Stirlings Stimme löste sich aus der Dunkelheit. »Er ist wunderschön, nicht wahr?«

Das Handy zitterte in Logans Händen, als er es hervorholte und Steel anrief. »Ich habe Stephen Bisset gefunden.«

Am anderen Ende war ein Juchzer zu hören. Und dann: »Laz, ich könnte dich knutschen. Ist er …?«

»Nein.« Obwohl er wahrscheinlich wünschen würde, er wäre es, falls er je wieder zu sich käme. »Ich brauche einen Krankenwagen, die Spurensicherung, einen Tatortkoordinator und jemanden, der mich daran hindert, diesen gottverdammten Graham Stirling am nächsten Baum aufzuknüpfen.«

3

Big Tony Campbell warf sein Jackett über die Lehne und ließ sich auf seinen Sessel plumpsen. Der Divisionskommandant von Aberdeen City, der Big Boss, der Große Zampano: ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und dazu passenden Händen. Sein kahler Schädel schimmerte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die sich über die Dächer der Stadt ins Büro retteten. Die einzigen Haare, die ihm oberhalb des Kragens noch die Treue hielten, waren seine Augenbrauen – dicht, schwarz und buschig.

Er wies auf den Stuhl auf der anderen Seite des polierten Holzschreibtischs. »Setzen Sie sich.« Dann schwenkte er seinen Sessel herum und bückte sich tief, wobei er Logan an dem Schauspiel teilhaben ließ, wie sein Hemd aus dem Hosenbund rutschte und ein dichter schwarzer Pelz darunter zum Vorschein kam.

Logan nahm auf dem bezeichneten Stuhl Platz, unterdrückte ein Gähnen und hielt sich die Hand vor den Mund, während Big Tony Campbell wieder auftauchte, in der einen Hand eine Flasche Highland Park, in der anderen zwei Bleikristallgläser. Er stellte alles auf dem Schreibtisch ab, gab einen ordentlichen Schuss Whisky in jedes der Gläser und reichte Logan eines. »Wie ich höre, wird Stephen Bisset durchkommen.«

Logan leckte sich über die Zähne. Rau und ungeputzt. »Ja, Sir.«

»Wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie zu spät gekommen wären.« Seine Finger verharrten über dem braunen Schnellhefter, der vor seinem Computer lag. Er vermied es, ihn zu berühren, als ob der braune Pappkarton ansteckend wäre. »Kastriert, die Zähne herausgerissen, der Brustkorb aufgeschnitten und ›Implantate‹ hineingestopft, mehrfach vergewaltigt … Ganz zu schweigen von all den Knochenbrüchen.« Er verzog die Mundwinkel. »Eine unfreiwillige Geschlechtsumwandlung, vollzogen durch Jack the Ripper. Aber wie auch immer …«

Er hob sein Glas, und Logan tat es ihm gleich. Sie stießen an, bevor jeder einen kleinen Schluck nahm.

Ein warmes Gefühl bahnte sich seinen Weg bis in Logans Magen und hinterließ rauchige Fußabdrücke.

Der Divisionskommandant schwenkte seinen Sessel zum Fenster herum. Er blickte hinaus auf sein Reich, über dem sich die Dunkelheit herabsenkte, und nippte noch einmal an seinem Whisky. »Ihre Vorgesetzte sagte mir, Sie seien nicht unbedingt der richtige Mann für den Job eines stellvertretenden Detective Inspector.«

»Ach ja?« Hinterfotziges Miststück …

Oder hieß das etwa, dass eine Beförderung anstand? Wurde auch Zeit, dass das blöde stellvertretend endlich gestrichen wurde und sie ihn zu einem DI ohne Wenn und Aber machten. Und vor allem mit der damit verbundenen Gehaltserhöhung. Okay, Überstunden könnte er dann nicht mehr abrechnen, aber es hatte eben alles seine Vor- und Nachteile. Logan setzte sich gerader hin. »Wissen Sie, Sir, ich glaube, es …«

»Verstehen Sie mich nicht falsch« – der Divisionskommandant hob eine Hand –, »es ist nicht so, als ob Sie der Aufgabe nicht gewachsen wären – die Bisset-Ermittlung hat das zur Genüge bewiesen –, aber sie scheint zu glauben, dass Sie keine Freude daran haben. Die Personalführung, die Tabellenkalkulationen, die Meetings, die Budgetplanung.« Noch ein Schlückchen. »Liegt sie da richtig?«

Stillhalten.

»Nun ja, Sir, es ist … Detective Chief Inspector Steel kann manchmal …«

»Sehen Sie, Logan …« – er schwenkte wieder zurück, ein breites Lächeln im Gesicht – »es ist mir wichtig, dass meine Mitarbeiter ihr jeweiliges Potenzial voll ausschöpfen. Und es ist mein Privileg und meine Pflicht, ihnen dabei behilflich zu sein.« Er prostete Logan noch einmal zu. »Zumal, wenn ich ihnen die Mittel an die Hand geben kann, sich hervorzutun.«

O nein.

Sag’s nicht.

Nicht dieses eine Wort, das kein Polizist je hören will.

Der Whisky brodelte in Logans Magen. Sein Lächeln war wie Zitronenschalen und Asche, aber er setzte es dennoch auf. »Sir?«

Bitte nicht …

»Ich glaube, ich habe da eine Entwicklungschance, die einfach ideal für Sie wäre.«

Zu spät.

– Montag, Spätschicht –

Cromarty:Windstärke sieben bis acht, zunehmend.Gelegentlich starke Böen.

4

»… und da wir gerade beim Thema sind: Raten Sie mal, wer heute entlassen wird?« Logan dehnte die Pause aus, während seine beiden Constables ihn anstarrten. »Alex Williams.«

Stöhnen.

Das Büro war nicht besonders groß. Eierschalenweiße Wände, an der einen eine große Pinnwand mit Fahndungsfotos, daneben ein Whiteboard; an den anderen Poster, Meldungen, Hinweisschilder, Kalender und weitere Whiteboards. Abgetretene blaue Teppichfliesen mit mehreren Schichten von Tee- und Kaffeeflecken. Statt Schreibtischen eine über Eck aufgestellte Werkbank mit vier Bürostühlen davor – der Kunststoff zerkratzt, der Bezug so zerschlissen, dass an den Rändern die Schaumgummi-Füllung hervorquoll – und ebenso vielen dampfgetriebenen Computern. Und Logan mit seinen zwei Mitarbeitern, alle in voller Ausrüstung und bereit für den Einsatz. Über allem lag ein brechreizerregender Geruch nach Käsefüßen, Chips mit Zwiebelgeschmack und Schuhcreme.

Logan fuhr sich mit einer Hand über die Stoppeln auf seinem Kopf. »Das Haus bekommt einen Warnvermerk, Stufe eins. Wenn irgendetwas passiert, will ich, dass innerhalb von fünf Minuten jemand vor Ort ist.«

Deano spielte mit der CS-Spraydose herum, die vorne an seiner gelben Warnweste befestigt war. Mit seinen großen Schraubenschlüssel-Fingern drehte er den dunkelgrauen Behälter in seiner Lederhülle so lange, bis die am Boden befestigte Spiralschnur ganz verdreht war. Das schwarze Polizei-T-Shirt spannte über seinen breiten Schultern. Auch wenn er sich wie jetzt auf seinem Drehstuhl fläzte, war nicht zu übersehen, dass er der Größte im Raum war. »Ich wette zehn Pfund, dass sie es bis Mittwoch durchhalten.«

Constable Nicholson zog die Mundwinkel nach unten und schob die Hände zwischen ihre Stichschutzweste und das schwarze T-Shirt. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf mit der nüchternen schwarzen Bobfrisur, während sie die Stirn in Falten zog. »Krankenhaus oder Leichenhalle?«

Deano legte den Kopf schief. Der schüttere Bewuchs über seiner Stirn schimmerte im Schein der Deckenbeleuchtung, die grauen Haare an den Seiten waren glatt nach hinten gekämmt. »Ich sag mal … Krankenhaus.«

Sie zog eine Hand heraus, die eine kleine Schottenkaro-Geldbörse hielt. »Wette angenommen. Ich sage bis Samstag und Leichenhalle.« Dann blinzelte sie Logan an. »Sarge?«

»Wollen Sie und Constable Scott ernsthaft darauf wetten, wann jemand verprügelt oder ermordet wird?«

Achselzucken.

»Okay.« Er griff tief in die Hosentasche. »Ich setze einen Fünfer darauf, dass niemand stirbt.«

Deano nahm das Geld und verstaute es. »Selber schuld, Sarge. Aber es liegt mir fern, Ihr Vertrauen in die Menschheit zu …«

»’tschuldigung.« Die Tür flog auf, und Constable Quirrel schob sich rückwärts ins Zimmer, in den Händen ein Tablett mit vier Bechern und einem Teller voller Rowies. Schmales Gesicht, kurz geschorene rotblonde Haare und wasserblaue Augen, mindestens einen Kopf kleiner als alle anderen im Raum. »Was ist? Was hab ich verpasst?«

»Alex Williams ist entlassen worden.«

»Ist das schon sechs Monate her?« Quirrel teilte die Teebecher aus, beginnend mit Logan, und ging anschließend mit dem Teller herum. Dann nahm er sich den letzten Rowie und parkte seinen schmalen Hintern auf dem verbliebenen freien Stuhl. »Na, solange ich nicht hinfahren muss, um …«

»Tufty.« Logan zeigte auf ihn. »Ich erteile Ihnen hiermit den Auftrag, Alex’ besserer Hälfte die Nachricht zu überbringen, dass es wieder mal so weit ist.«

»Aber Saaarge …« Er zog die Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen. Dann grinste er. »Wäre es nicht besser, wenn jemand vom Team Häusliche Gewalt das übernehmen würde? Die könnten doch viel besser die verschiedenen Optionen erläutern. Sind ja schließlich die Experten, und wir wollen ja nicht …«

»Tun Sie, was ich Ihnen sage.« Logan biss in seinen Rowie, senkte die Zähne durch die wachsartige Kruste in die leckere salzige Füllung aus Butter und Schmalz. »Und versuchen Sie sich anständig zu benehmen, wenn Sie dort sind. Das Letzte, was wir gebrauchen können, sind noch mehr Beschwerden.« Er nickte. »Weiter.«

Deano klickte mit der Maus, und auf dem Computerbildschirm erschien das Foto eines kleinen Fischerboots, der blaue Rumpf mit Roststreifen überzogen, darauf in verwaschener weißer Farbe der Name »COPPER-TUN WANDERER«. Daneben ein Bild, das einen Mann in mittleren Jahren in einer leuchtend orangefarbenen Jacke zeigte. Die feuchten Haare hingen ihm wirr in das wettergegerbte Gesicht, in der einen Hand hatte er eine Bierflasche, während er mit der anderen einen dicken, fetten Schellfisch hochhielt.

Es stand alles unter der PowerPoint-Folie, aber Logan las es dennoch vor. »Charles ›Craggie‹ Anderson, zweiundfünfzig, vermisst seit mittlerweile etwas über einer Woche. Tufty?«

»Okay …« Constable Quirrel zog sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte bis fast ans Ende. »Ich hab noch mal mit seinen Freunden und Nachbarn gesprochen – niemand hat etwas von ihm gehört. Dann hab ich die Küstenwache angerufen, und die sagen, dass die Copper-Tun ihres Wissens nirgendwo an Land gespült wurde. Ich warte noch auf Rückmeldung von den Häfen auf Orkney und Shetland und in Norwegen, für den Fall, dass er die Flatter gemacht hat.«

»Gut. Wenn Sie bei Alex Williams fertig sind, klappern Sie mit Deano Whitehills, Macduff, Portsoy und Gardenstown ab und befragen sämtliche Bootsbesatzungen. Hat irgendjemand Charles Anderson am Abend seines Verschwindens gesehen? Hat jemand mitbekommen, wohin er wollte? Hatte er irgendwelche finanziellen Probleme? Sie kennen ja das Prozedere.«

Deano nickte. »Sarge.«

»Und halten Sie Tufty diesmal an der kurzen Leine, okay? Ich habe noch nie erlebt, dass jemand, der noch in der Probezeit ist, so viel Ärger macht.«

Quirrel lief rot an. »Woher sollte ich denn wissen, dass sie keine Unterhose anhatte?«

»Ich wiederhole: An der kurzen Leine. Das ist jetzt der fünfte Vermisstenfall, den wir am Hals haben. Wäre ganz nett, wenn wir den hier tatsächlich finden könnten.« Pause. »Und der letzte, aber keineswegs unwichtigste Punkt: Wir haben eine neue Anweisung von ganz oben. Wir sind der Bezirk Moray and Aberdeenshire. Von jetzt an kriegt jeder, der dabei erwischt wird, wie er ›Mire‹ sagt, den Hintern versohlt. Noch Fragen?«

Deano verpasste seinem CS-Spray noch eine letzte Drehung. »Ja – ist das jetzt als Belohnung oder eher als Strafe gedacht?«

»Sie sind gestört, das wissen Sie schon, nicht wahr?« Logan aß den letzten Bissen seines Rowies und leckte sich das Fett von den Fingern. Dann stand er auf. »Deano und Tufty, Sie fahren mit dem Postauto. Janet und ich gehen ein paar Junkies filzen.«

»Sarge?« Nicholson lenkte den Streifenwagen um die Haarnadelkurve und schaltete vor der Steigung zurück. Zur Linken glänzte die Nordsee wie ein polierter Stein. Segeljachten und winzige Fischerboote schaukelten träge im Hafen. Eine angenehme Abwechslung nach dem scheußlichen Wochenende.

Auf der anderen Seite der Bucht schimmerte Macduff in der Nachmittagssonne.

Dann wurde die Aussicht durch die helle Rauputzfassade des Railway Inn verdeckt. Die Straße war von altmodischen schottischen Häusern gesäumt, alle überragt von dem einschüchternden grauen viktorianischen Klotz des Gesundheitszentrums. Nicholson massierte das Lenkrad mit beiden Händen und fragte in betont beiläufigem Tonfall: »Sarge, hat irgendjemand mit Ihnen über den Bewerberpool geredet? Ich meine, wie der Stand der Dinge so ist, wissen Sie?«

Logan zog den Reißverschluss an einer der Taschen seiner Schutzweste auf und fischte eine Rolle Pfefferminzbonbons heraus. Er befreite eins aus seinem Alufolie-Gefängnis, steckte es sich in den Mund und zerbiss es. »Glauben Sie mir – das CID wird total überschätzt.« Die Stichschutzweste war wie eine Faust, die seinen Brustkorb bei jedem Atemzug zusammendrückte. Die Handschellen schlugen klirrend gegen die Schnalle des Sicherheitsgurts. Der Teleskopschlagstock bohrte sich in seinen Oberschenkel, die Fixiergurte schnitten ihm ins Kreuz. Batmans Batgürtel hatte ihm bestimmt nie so viel Qualen bereitet. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie da unbedingt reinwollen.« Knirsch, knurps, krach. »Auch ein Polo?« Er hielt ihr die Rolle hin.

Über die Kreuzung und in die Castle Street, eine breitere Straße mit viel prächtigeren Häusern. Nicholson winkte einer alten Frau zu, die vor der Castle Bar stand und rauchte. »Kommen Sie schon, Sarge, Sie waren jahrelang beim CID. Sie wissen, warum.«

Logan steckte sich noch ein Pfefferminzbonbon in den Mund. »Ja, früher vielleicht. Aber heutzutage gliedern sie alles aus, was an dem Job interessant ist, und weisen es Spezialistenteams zu. Wenn Sie nicht zum Sonderermittlungsteam gehören, kriegen Sie nie einen Mord zu bearbeiten.« Er zählte die einzelnen Gruppen an den Fingern ab. »Dann gibt es die Vergewaltigungs-Teams, die Gewaltpräventions-Teams, die Häusliche-Gewalt-Teams, die Drogenteams, die Einbruchteams und was weiß ich noch für Teams.« Er zuckte mit den Achseln. »Dem CID bleibt nur noch der stinklangweilige Kram, den niemand sonst erledigen will.«

Rechts ab in die Seafield Street. Es ging wieder bergauf, im Rückspiegel glitzerte die Banff Bay. Der Himmel über ihnen war blau wie eine Schottlandfahne, ungetrübt von Wolken oder Kondensstreifen.

»Das hat Sie aber nicht daran gehindert, Graham Stirling zu schnappen, oder?«

Auch wahr.

Logan lächelte. »Vergessen Sie das CID, Janet. Bei den Uniformierten, da sind die ganzen coolen Jungs und Mädels.«

Sie ließ die Schultern ein wenig sacken.

Die Häuser zur Rechten waren riesig. Er drehte den Kopf, um sie vorbeiziehen zu sehen. »Was glauben Sie, was eins von denen da kostet?« Alles edler Granit mit Gesimsen und Erkerfenstern und diesen erhabenen Einfassungen an den Türen, Fenstern und Giebeln. Graue Schieferdächer und manikürte Gärten mit dem einen oder anderen Gartenzwerg drin.

Nicholson seufzte. »Mehr, als wir je verdienen werden.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Das Sergeant’s Hoose wird bestimmt ganz hübsch, wenn es mal fertig ist, aber ich bin es satt, aus Umzugskisten zu leben.«

Es knackte im Funkgerät, und eine Stimme sagte: »Leitstelle an Bravo India, hallo?«

»Hört, hört.« Logan drehte die Lautstärke auf. »Muss ja was Wichtiges sein, wenn sie die Chefin damit behelligen.«

»Kommen Sie schon, Sarge, ich will nicht zu den Polizisten gehören, die ihr ganzes Dienstleben an einem Ort verbringen. Ich will durch die gläserne Decke brechen.«

Eine Frauenstimme tönte aus den Lautsprechern, tief und samtig. »Bravo India an Leitstelle, sprechbereit.«

»Aye, Chefin, wir haben schon wieder ’nen Geldautomaten, der Beine gekriegt hat. Der Eigentümer sagt, sie haben auch Waren im Wert von siebenundzwanzigtausend Pfund mitgenommen. Broch Braw Buys, Gallowhill Road in Fraserburgh.«

Nicht schon wieder.

»Siebenundzwanzigtausend Pfund? Will der uns veräppeln?«

»Also, das hat er jedenfalls gesagt.«

»Sarge?«

Am Bowlingrasen vorbei, und jetzt sahen die Gebäude schon eher nach sozialem Wohnungsbau aus. Doppelhäuser mit schmutzigem Rauputz und rostigen Satellitenschüsseln.

»Wahrscheinlich ist er auf eine fette Versicherungssumme aus. Lassen Sie den Tatort sichern, ich komme, so schnell ich kann …«

Logan stellte den Funk wieder leiser. Er würde nachher mal bei Broch Braw Buys vorbeischauen müssen, um zu sehen, was da los war. Aber mit ein bisschen Glück wäre es bis dahin das Problem von jemand anderem.

»Sarge, sind Sie …«

»Wie wär’s damit: Ich muss morgen ins Gericht zu diesem Prozess. Möchten Sie so lange das Kommando übernehmen? Ich meine, ich kann Sie zwar nicht als diensthabende Sergeant einsetzen, aber Sie könnten das Team leiten.«

Nicholson kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum.

»Es würde sich gut in Ihrem Lebenslauf machen. Und Sie können auch schon mal die eine oder andere Einsatzbesprechung leiten. Das ist alles hilfreich.«

»Abgemacht.« Sie beugte sich vor und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen, während sie die entgegenkommenden Autos musterte. »Der Knabe da, der mit seinem Handy telefoniert?«

Logan schirmte seine Augen mit der Hand ab. »Der Hässliche in dem blauen Fiesta?«

Der Fiesta rumpelte vorbei, gefolgt von drei weiteren Fahrzeugen. Dann eine kleine Lücke … Dann ein Passat.

Nicholson drückte auf einen der Knöpfe in der Mitte des Armaturenbretts, und das Blaulicht auf dem Dach erwachte zum Leben. Noch ein Knopf, und die Sirene quäkte kurz auf.

Der Fahrer des Passat stieg auf die Bremse und kam ungefähr zwei Meter vor ihnen schlitternd zum Stehen. Ein altes Männlein glotzte sie durch seine dicke Brille an, das Lenkrad mit beiden Händen umklammert, die karierte Schiebermütze schief auf dem Kopf.

Sie nickte ihm zu und wendete auf der Fahrbahn. Dann trat sie das Gaspedal durch. Die Beschleunigung drückte Logan in den Sitz und vereinte ihre Kräfte mit denen der Stichschutzweste, um ihm den Brustkorb zu zerquetschen.

Der Verkehr teilte sich vor ihnen und machte den Weg frei zu dem blauen Fiesta mit dem hässlichen Fahrer. Der Wagen war blitzsauber und glänzte wie fabrikneu. Nicholson rückte ihm auf die Pelle und drückte kurz auf die Hupe. Der Ton der Sirene änderte sich, wurde beharrlicher, drängender.

Mr Hässlich blickte sich zu ihnen um. Kurz sahen sie sein käsiges Gesicht im Heckfenster aufblitzen. Eine Pause … dann fuhr er an den Randstein und hielt an.

Nicholson parkte hinter ihm. Sie hantierte an dem Airwave herum, das vorne an ihrer Schutzweste eingehängt war. »Leitstelle, eine Fahrzeugüberprüfung: blauer Fiesta, Kennzeichen …«

Logan fischte seine Mütze vom Rücksitz und stieg hinaus in den Sonnenschein. Dann schüttelte er ein Bein wie ein Hund, dem man den Bauch krault. Diese blöden Polizeihosen waren anscheinend aus glühenden Ameisen und Schmirgelpapier gemacht. Er ging langsam um den Fiesta herum zum Fahrerfenster und klopfte an die Scheibe.

Sie wurde heruntergefahren, und Mr Hässlich funkelte ihn wütend an. »Was is’?« Die Worte troffen wie ein Batzen Schleim aus einem schiefen Mund voller schiefer Zähne. Eindeutig Birmingham-Akzent. Dichte Augenbrauen, breites Gesicht, Grübchen im Kinn, die Kieferpartie mit entzündeten roten Pickeln gesprenkelt.

Okay. Das schien mal wieder einer von diesen Fällen zu werden.

Logan hakte das Gummiband aus, das den Deckel seiner Bodycam geschlossen hielt, und schaltete sie damit auf Aufnahme. »Sie wissen, dass Sie eine Straftat begehen, wenn Sie Ihr Mobiltelefon während der Fahrt benutzen, nicht wahr, Sir?«

Er verzog das Gesicht. »Ich hab kein Handy nich’ benutzt.«

»Wir haben Sie gesehen, Sir.«

Er blickte wieder nach vorne. Machte mahlende Bewegungen mit dem Unterkiefer, was die Verwerfungslinie aus Pickeln in wellenförmige Bewegungen versetzte. Der eine oder andere Vulkan in der Kette schien kurz vor dem Ausbruch zu stehen. »Beweisen Sie’s.«

»Name?«

Schweigen. Noch mehr tektonische Aktivität. Und dann: »Martyn Baker, mit y. Sechzehnter Dezember neunzehnhundertdreiundneunzig. Dresden Road Nummer achtunddreißig, Sparkbrook, Birmingham.«

Name, Geburtsdatum und Adresse. Die Ganoven-Variante von Name, Dienstgrad und Dienstnummer. Einfach so. Es war also sicher nicht das erste Mal, dass er bei der Polizei seine Personalien angeben musste. Logan schrieb alles in Druckbuchstaben in sein Notizbuch. »Bleiben Sie im Wagen, Sir.« Dann trat er hinter das Auto und rief die Leitstelle an, um eine Personenüberprüfung anzufordern.

Nicholson setzte ihre Schirmmütze auf und kam herbeigeschlendert, die Daumen in die Armlöcher ihrer Schutzweste gesteckt, wie Rumpole von Old Bailey. Sie nickte ihm zu. »Sarge? Der Wagen ist auf einen Martyn Baker zugelassen …«

»Geboren dreiundneunzig, Dresden Road achtunddreißig, Birmingham?«

»Genau der. Alias Paul Butcher alias Dave Brooks. Seine Vorstrafenliste ist zwei Meilen lang: Einbruchdiebstahl, schwere Körperverletzung, Besitz von Drogen der Klasse A, Drogenbesitz mit Verkaufsabsicht, und er hat sowohl seine Freundin als auch seine Mutter krankenhausreif geprügelt … Ein ganz besonders charmanter Zeitgenosse, wie’s aussieht.«

»Bei der Benimm-Prüfung ist er jedenfalls durchgefallen.« Logan blickte sich zum Wagen um. Bakers schmale Augen starrten ihn aus dem Rückspiegel an. »Irgendwelche offenen Haftbefehle?«

»Nicht mal eine überfällige Ausleihe aus der Bücherei.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen. »Wollen Sie ihn wegen des Handys verknacken?«

»Er leugnet es.«

Sie schnaubte. »Ach ja? So ein gesetzestreuer Bürger wie er?«

Das Airwave an Logans Brust piepste viermal: eine Direktverbindung. Er warf einen Blick darauf und sah PC Scotts Schulternummer auf dem Display aufscheinen. Seine Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher. »Shire Uniform Sieben, hier Dean, sind Sie sprechbereit?«

Er schob eine Schulter vor und neigte den Kopf zur Seite, drückte die Taste und sprach ins Mikrofon. »Schießen Sie los, Deano.«

»Wir haben einen Fall von Körperverletzung in Whitehills. Das Drookit Haddie in Harbour Place. Ein paar Hooligans haben einen alten Knacker vermöbelt. Tufty und ich warten noch auf den Krankenwagen.«

»Verdächtige?«

»Fehlanzeige. Sämtliche Gäste im Pub leiden plötzlich unter Gedächtnisschwund. Und Maggie hat mich angefunkt – auf der B9031 bei Gamrie läuft ’ne Kuh frei rum.«

»Okay, wir kümmern uns drum. Und denken Sie dran, sich die Aufnahmen der Überwachungskameras vom Pub geben zu lassen.«

Nicholson machte ein langes Gesicht. »Eine entlaufene Kuh auf der Landstraße. Nicht gerade Das Schweigen der Lämmer, wie?«

»Passen Sie auf, was Sie sich wünschen – es könnte in Erfüllung gehen.« Logan ließ den Apparat los und wandte sich wieder zu Mr Hässlichs Fiesta um. »Sie machen sich da falsche Vorstellungen.«

»Also … was machen wir jetzt mit unserem Pickelgesicht?«

Aber Logan ging schon auf das Fahrerfenster zu. »Sagen Sie mal, Martyn mit y, was führt Sie eigentlich von der Dresden Road Nummer achtunddreißig in Birmingham hierher ins sonnige Banff?«

Damit erntete er wieder einen bösen Blick. »Persönliche Gründe. Also, sind wir jetzt fertig? Weil, Sie schränken mich nämlich in meinem Recht auf Bewegungsfreiheit ein, nicht wahr?«

»Aha …« Logan trommelte mit den Fingern auf das Autodach. »Wissen Sie was, Mr Baker, eigentlich wollte ich Sie mit einer Verwarnung davonkommen lassen, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie dem keine Beachtung schenken würden. Und deshalb konfisziere ich Ihr Mobiltelefon als Beweisstück …«

»Ach, Mann, ich glaub’s nicht!« Die Pickelreihe brodelte. »Sie können mir doch nicht mein Scheißhandy wegnehmen!«

»Nach dem schottischen Common Law bin ich befugt, sämtliche Gegenstände zu konfiszieren, von denen ich vermute, dass sie bei der Durchführung einer Straftat verwendet wurden. Oder wäre es Ihnen lieber, ich würde Sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festnehmen?« Logan schüttelte das Handgelenk und sah auf seine Uhr. »Ich hätte gerade ein paar Stunden Zeit. Steigen Sie aus, Mr Baker.«

Baker klappte den Oberkörper nach vorne, bis seine Stirn das Lenkrad berührte. »Na schön.« Er griff in die Tasche und fischte ein großes Samsung-Teil heraus. Das Gehäuse war ganz verschrammt und zerkratzt, das Display mit einem Netz von Rissen überzogen, die von der unteren linken Ecke ausgingen. Er drückte es Logan in die Hand. »Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Überglücklich, Sir. Ich stelle Ihnen eine Quittung für das Telefon aus.« Aber er ließ sich Zeit damit. »Fahren Sie vorsichtig, Mr Baker.« Er lächelte. »Wir werden ein Auge drauf haben, dass Ihnen nichts passiert.«

Nicholson starrte dem davonfahrenden Fiesta nach. »Meinen Sie, dass er dealt? Vielleicht fährt er gerade eine Lieferung aus? Oder ist er auf der Flucht vor jemandem?«

»Oder D: alles zusammen …« Logan ließ das Mobiltelefon in eine Beweismitteltüte aus braunem Papier gleiten und beschriftete sie. »Aber wer weiß, vielleicht ist er auch auf dem Weg zu einem romantischen Tête-à-tête mit einem Schaf?« Er warf die Tüte in den Kofferraum des Streifenwagens. »Und wo wir gerade beim Thema Viehwirtschaft sind – diese Kuh wird sich nicht selbst wieder einfangen.«

5

»… soll ich Sie daran erinnern, dass Sie Ihre Beurteilungen nicht vergessen sollen.«

Logan drückte die Sprechtaste an seinem Airwave. »Hängt davon ab, wie sich die Dinge hier entwickeln. Janet und ich sind vollauf damit beschäftigt, die braven Bürger von Aberdeenshire North vor Schurken und Schlingeln zu schützen.«

Wiesen zogen an den Autofenstern vorüber, glänzend und grün, mit dunklen Grenzwällen aus Stechginster, gekrönt von sattgelben Blüten. Vorne, in einer Lücke zwischen den Hügeln, fielen die Klippen zur Nordsee ab.

Maggie senkte die Stimme zu einem eindringlichen Flüstern: »Sergeant McRae, Sie werden ihr doch sagen, dass ich eine kleine Gehaltserhöhung brauche, nicht wahr? Ich meine, seit Bill es so mit dem Rücken hat, sind wir …«

»Versprechen kann ich nichts, aber ich werd’s versuchen. Vorausgesetzt, wir werden hier rechtzeitig fertig.« Logan rutschte auf seinem Sitz hin und her. Er wies auf die Straße vor ihnen, als sie über die nächste Kuppe fuhren. »Da wären wir.«

Ein großer brauner Ochse zockelte mitten auf der Straße dahin. Breitschultrig, mit ausladendem Hinterteil. Sein Schwanz zuckte hin und her, die Hörner wippten im Takt seiner Schritte auf und ab.

»Die Chefin sagt, Sie sollen es nicht noch einmal aufschieben. Die Beurteilungen müssen bis Mittwoch vorliegen.«

Nicholson drückte auf die Hupe. Tröööööööööööööt.

Der Ochse zeigte keine Reaktion.

»Sie hat wirklich darauf bestanden.«

»Okay, okay. Sagen Sie ihr, wir sind um vier zurück auf dem Revier.« Logan sah auf seine Uhr. »Oder sagen wir lieber halb fünf. Na, eher zwanzig vor. Ungefähr.«

»Alles klar.« Maggie legte auf.

Nicholson versuchte es noch einmal mit der Hupe. Tröööööööööööööt. Nichts. »Hab ich dafür die Polizeischule absolviert? Monatelang in Tulliallan die Schulbank gedrückt. Zwei Jahre Probezeit …« Tröööööööööt. Sie ließ ihr Fenster herunter. »Nun mach schon, du haariges Mistviech, runter von der Straße!«

Logan drehte sich auf seinem Sitz um. Ringsum leere Weiden, nicht ein einziges Stück Vieh weit und breit – nur dieses eine, das in der Mitte der Straße entlangtrottete. »Keine Ahnung, wo der hergekommen ist.« Zur Linken lag eine Wiese, die mit großen, runden, in schwarze Plastikfolie gehüllten Heuballen gesprenkelt war. »Wir tun ihn da rein.« Logan schnallte sich ab. »Kommen Sie.«

Nicholson zog ein Gesicht. »Und das alles nur, weil sie uns keine Taser tragen lassen.«

»Uaah …« Nicholson schob das Gatter zu, zog den Bolzen zurück, bis die Feder quietschte, und ließ ihn zurückschnellen. Sie spuckte zweimal aus, dann noch ein drittes Mal, und wischte mit einer Hand durch den Schlamm, mit dem ihr Gesicht von einem Ohr zum anderen beschmiert war. Auch die Vorderseite ihrer Warnweste war total verdreckt, und Matschklumpen steckten in den Armlöchern ihrer Schutzweste. Noch einmal spuckte sie einen erdbraunen Rotzklumpen aus, dann schoss sie einen bösen Blick auf Logan ab. »Von wegen, hier sind die ganzen coolen Jungs und Mädels.«

Logan zuckte mit den Achseln. »Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn Sie mit neunzig Sachen um die Kurve schießen und auf den Burschen da knallen?« Er deutete auf das bullige braune Rindvieh, das um einiges sauberer aussah als Nicholson. »Da müsste man Ihre Überreste in einen Leichensack schaufeln wie siebzig Kilo Hackfleisch.«

Sie wischte sich die Hände an ihrer Weste ab und verteilte den Dreck damit gleichmäßig. »Soll das etwa heißen, ich bin dick?«

»Bleib stehen, du kleiner Mistkerl!« Logan setzte über die niedrige Gartenmauer hinweg und sprintete über den Rasen, dass die Knie nur so flogen. Mit einer Hand hielt er die Schirmmütze auf dem Kopf fest, mit der anderen umklammerte er den Teleskopschlagstock in seinem Futteral, um zu verhindern, dass er ihm bei jedem Schritt wackelte wie ein Kuhschwanz.

Der als kleiner Mistkerl Bezeichnete rannte weiter. Die weißen Sohlen seiner Turnschuhe blitzten abwechselnd auf, seine Arme und Beine pumpten wie Kolben, während die Kapuze hinterherflatterte wie eine freche rosa Zunge.

Weiter in den nächsten Garten.

Und quer durch ein Beet mit Kapuzinerkresse und Stiefmütterchen. Die Besitzer, die auf einer Bank am Haus saßen und Wein tranken, sprangen auf und schwenkten wütend die Fäuste, als der kleine Mistkerl vorbeistürmte.

Eine Hecke trennte den Garten vom Nachbargrundstück. Er sprang darüber hinweg und verlor bei der Landung beinahe das Gleichgewicht. Seine Schultertasche rutschte ab und plumpste auf den Rasen. Dosen mit Sprühfarbe rollten scheppernd über das Gras wie Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg.

»Stehen bleiben, hab ich gesagt!«

Der kleine Mistkerl riskierte einen grinsenden Blick über die Schulter. Sommersprossen im Gesicht, kaum älter als zwölf. Vielleicht dreizehn. Lockige rote Haare und Grübchen in den Wangen.

Und dann – RUMMS. Nicholson rammte ihn von der Seite mit einem Rugby-Tackling, das eines Länderspiels im Murrayfield-Stadion würdig gewesen wäre.

Mit verknoteten Armen und Beinen rollten sie über den Rasen, warfen Blumentöpfe und Gartenzwerge um und blieben inmitten der Scherben liegen.

Logan verfiel in einen lockeren Trab und blieb schließlich stehen, während Nicholson sich aufrappelte und dann den kleinen Mistkerl an seiner Kapuze hochzog.

Sie spuckte einen Grashalm aus. »Wenn jemand ruft ›Stehen bleiben, Polizei!‹, dann bleibst du verdammt noch mal stehen!«

Er zappelte noch ein wenig, merkte, dass es nichts brachte, und erschlaffte.

»Na?« Sie schüttelte ihn. »Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

Er biss sich auf die Oberlippe. Dann zuckte er mit den Achseln. »Es ist ein Kommentar zu unserer politischen Elite und der Entrechtung und Entfremdung der breiten Masse.« Seine Stimme lotete in dem einen Satz volle drei Oktaven aus.

»Schwänze auf ein Wahlplakat der Conservative Party zu sprühen zählt nicht als politische Meinungsäußerung.«

»Doch, tut es.«

Sie schubste ihn auf Logan zu und zog ihr Notizbuch aus der Tasche. »Name?«

Er spannte sich an, als ob er gleich wieder wegrennen wollte, doch Logan packte ihn an den Schultern. »Willst du lieber, dass wir dir Handschellen anlegen? Das lässt sich einrichten.«

Er hob den Kopf, sah sich verstohlen um. Die blasse Haut zwischen seinen Sommersprossen lief rot an. »Sie sagen meiner Mum nichts davon, ja?«

Nicholson stupste ihn mit ihrem Stift. »Name?«

»Ich meine, die hocken da in Edinburgh und bestimmen über uns, ist doch wahr, oder? Unsere Herren Politiker. Was wir denken, interessiert doch kein Schwein mehr. Wir sind für die nur Arbeitsbienen, aber anstatt vom Honig werden sie von unseren Steuern fett.«

Logan zog das Kinn zurück. »Unsere Steuern? Wie alt bist du – dreizehn? Wann hast du zuletzt Steuern bezahlt?«

»Die Produktionsmittel liegen in den Händen der Arbeiterklasse.«

Nicholson stupste ihn noch einmal. »Ich geb dir noch eine Chance, dann bist du dran wegen Verweigerung von Angaben zur Person. Also: Name?«

Er holte tief Luft. Starrte auf seine Turnschuhe. »Geoffrey Lovejoy.« Dann ein Schniefen, er hob wieder den Kopf, und seine Augen blitzten. »Ich bin ein politischer Gefangener. Ich verlange, dass Sie die Vereinten Nationen einschalten. Alle Macht dem Volk!«

Logan sah von seinem Notizbuch auf. »Und Sie sind sicher, dass Sie die Frau wiedererkennen würden?«

Der Ladeninhaber nickte, was eine La-Ola-Bewegung in seinem Mehrfachkinn auslöste. »Hundertprozentig. Sie hatte ein halbes Dutzend Flaschen Chanel N° 5, eine Handvoll Concealer von Touche Éclat, etwas von Elizabeth Arden und sämtliche Paco-Rabanne-Artikel, die wir in der Auslage hatten!« Er deutete mit einer ausladenden Armbewegung zur anderen Seite der Drogerie, wo eine kleine alte Dame mit einem Plastik-Kopftuch die Tür offen hielt. »Hat alles zusammengerafft und ist auf und davon, ohne auch nur rot zu werden. Unsere Stacey ist ihr noch nachgelaufen, aber …« Er zuckte mit den Achseln.

Nicholsons Schutzweste sah allmählich aus, als hätte sie sie mit Tarnfarbe beschmiert – grüne Grasflecken mischten sich mit dem Matsch von ihrer Begegnung mit dem ausgebrochenen Ochsen. Es sah nicht sehr attraktiv aus. Sie deutete auf die Überwachungskamera, die an der Wand hinter der Kasse befestigt war. »Haben Sie es auf Video?«

Die Pausbacken liefen rot an. »Das ist eine Attrappe. Hab ich für fünf Pfund auf eBay gekauft.«

»Ist das nicht Liam Barden?«

Nicholson deutete auf einen pummeligen Mann in einem FC-Aberdeen-Trikot, der gerade den Co-op auf der anderen Straßenseite betrat.

Logan runzelte die Stirn, während die Automatiktür sich hinter dem Mann in dem knallroten Glanzoptik-Shirt schloss. »Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.« Sie parkte vor dem Laden. »Na ja … achtzig Prozent. Haben Sie die Personenbeschreibung?«

Er kramte im Handschuhfach und fischte vier zerknitterte, zusammengeheftete A4-Bögen heraus. Zwei Fotos auf jedem Blatt, dazu Namen und Angaben zur Person sowie zu Ort und Zeitpunkt des Verschwindens. Liam war auf der dritten Seite – das Foto zeigte ihn grinsend bei einem Fußballspiel von Caley Thistle, beide Daumen gereckt, mit einem Soßenfleck auf dem blau-roten Trikot mit dem Orion-Group-Logo. Eine kleine goldene Distel funkelte an einer goldenen Kette um Liams Hals. Sehr stilvoll. Sicher ein Original-Imitat.

Neben Liams Foto prangte das von Jack Simpson, einem wahren Prachtexemplar von einem Drogendealer-Kotzbrocken – wilde Tribal-Tattoos am Hals, eingefallene Wangen, Nase und Ohren gepierct.

Außerdem hatte er noch einen Hitler-Schnurrbart, eine Brille, ein paar Muttern und Schrauben à la Frankensteins Monster und einen geschwärzten Zahn. Und als Krönung eine Sprechblase mit den Worten »I Has A Sexy!!!«

»Herrgott noch mal.« Logan hielt Nicholson den Ausdruck hin. »Wie oft muss ich den Leuten noch sagen, dass sie keine Sachen auf die Fotos von vermissten Personen kritzeln sollen?«

»Schauen Sie nicht mich an – ich habe gar keinen blauen Kuli.«

»Wie würden Sie sich fühlen, wenn einer Ihrer Verwandten vermisst würde und jemand das Foto so vollkritzeln würde? Jack Simpson ist ein mieses Dreckstück, aber er verdient die gleiche Behandlung wie jeder andere.«

»Ich war es nicht!«

»Manchmal komme ich mir vor wie in einem Kindergarten …«

Trotzdem – es war nicht zu leugnen, dass das Foto von Liam Barden eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Typen hatte, der gerade den Laden betreten hatte. Korpulent, kahle Stelle am Hinterkopf, breites Grinsen. »Das einzige Problem ist: Was ist aus seinem Schnurrbart geworden?«

»Vielleicht hat er ihn abrasiert?« Nicholson schnallte sich ab, stieg aus und setzte ihre Mütze auf. »Kommen Sie?«

»Und warum ist er von Inverness Caley Thistle zum FC Aberdeen gewechselt?« Logan trat zu ihr auf den Gehsteig und hielt ihr noch einmal den Ausdruck hin. »Sehen Sie?«

Sie betrachtete das Foto. »Ist ja nicht verboten, Fan von mehr als einem Verein zu sein. Und außerdem, überlegen Sie nur mal, wie überglücklich seine Frau und seine Kinder sein werden, wenn wir ihn finden.«

Was man von Jack Simpson nicht gerade behaupten konnte. Er war jetzt schon zehn Tage verschwunden, und nicht mal seine Mutter wollte ihn wiederhaben. Wenn er nicht seiner Oma Geld geschuldet hätte, wäre er wahrscheinlich gar nicht als vermisst gemeldet worden.

Logan blätterte um. »Und wieso aktualisiert niemand diese Dinger?« Er kramte in den Reißverschlusstaschen seiner Stichschutzweste. Runzelte die Stirn. Zog sein Notizbuch heraus. Steckte es wieder ein. »Dieser verdammte Hector …« Er streckte eine Hand aus. »Leihen Sie mir mal einen Stift?«

Sie reichte ihm einen, und Logan malte ein dickes X über das Gesicht eines kleinen Jungen auf Seite vier. »Wir haben Ian Dickinson vor vier Tagen gefunden.«

»Verlassen Sie sich drauf – der Nächste, den wir streichen können, ist Liam Barden.« Nicholson rückte ihre Mütze gerade und marschierte in den Co-op.

Logan leckte an seinem Eis am Stiel und arbeitete sich durch den Himbeer-Überzug zu dem billigen Vanilleeis darunter durch. Die Sonne schien ihm warm in den Nacken. »Na ja, einen Versuch war’s wert.«

»Hätte schwören können, dass er es war.« Nicholson ließ den linken Arm kreisen, während sie den Berg hinuntergingen und die Schokolade von ihrem Cornetto ihr auf die andere Hand tropfte.

»Was macht die Schulter?«

»Geht schon. Aber ich finde trotzdem, dass wir den miesen kleinen Vandalen hätten festnehmen sollen.«

»Dann müssten wir ihn für die erkennungsdienstliche Behandlung nach Fraserburgh karren, und damit wären wir beide für mindestens zwei Stunden von der Straße. Und da Deano und Tufty immer noch drüben im Krankenhaus sind, wer soll dann in der Zeit auf die braven Leutchen von Banff und Macduff aufpassen?«

»Darum geht es nicht, er hat …«

»Der Junge hat nichts weiter getan, als einen großen Pimmel auf eine Plakatwand zu sprühen. Manch einer dürfte der Meinung sein, dass unser konservativer Kandidat für das Schottische Parlament mit einem großen Pimmel im Gesicht eher besser aussieht. Unser Genosse Geoffrey interessiert sich wenigstens noch für Politik.«

Sein Airwave piepste viermal. »Sergeant McRae?«

Noch einmal am Eis geleckt. »Schießen Sie los, Maggie, bin sprechbereit.«

»Haben Sie nicht jemanden vergessen?«

Sie überquerten die Straße. »Habe ich das?«

Die Antwort war ein empörtes Zischen. »Inspector McGregor! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie Ihre Beurteilungen braucht.«

Verdammt. »Wie sauer ist sie?«

Ein kleiner Hund bellte sich die Seele aus dem Leib, als sie vorbeigingen, und hüpfte hinter einem kleinen schmiedeeisernen Gartentor auf und ab wie ein Gummiball.

»Sie haben gesagt, Sie wären um zwanzig vor zurück. Und jetzt ist es fast fünf.«

»Wir sind …« Er leckte noch mal an seinem Eis und fing einen Tropfen mit der Zunge auf. »Wir sind gerade beschäftigt, Maggie. Können wir das nicht auf morgen verschieben?«

Schweigen.

Um die Ecke in die Low Street mit ihren Bars und Läden und Cafés.

»Maggie?«

»Erwarten Sie darauf wirklich eine Antwort? Und Sie sollten ein gutes Wort für mich einlegen – wie wollen Sie das machen, wenn sie in so mieser Stimmung ist?«

»Okay, okay. Sagen Sie ihr … halb sechs.«

Vorbei am Katzenschutzverein und dem Whiskyladen.

»Okay. Ich werd’s versuchen. Aber seien Sie dann wenigstens pünktlich.« Maggie meldete sich ab.

Der Geschenkeladen nebenan verkaufte neuerdings offenbar auch Zeitungen, denn auf dem Gehsteig davor war ein kleiner Plakatständer aufgestellt: »Schießerei in Liverpool – exklusive Bilder«.

Er hatte das Airwave kaum wieder in der verdrehten Halterung verstaut, als es erneut piepste. »Sarge? Hier ist Deano. Sind Sie sprechbereit?«

»Deano. Sind Sie und Tufty endlich fertig im Krankenhaus, oder haben Sie vor, die komplette Schicht zu schwänzen?«

»Wir sind immer noch da, Sarge. Und wir haben eine vermisste Person für Sie.«