In den Abgrund schauen - Herrad Schenk - E-Book

In den Abgrund schauen E-Book

Herrad Schenk

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Beschreibung

Eine Frau in den mittleren Jahren, Autorin, eine Liebesgeschichte, eine Trennung, die ohne ersichtlichen Grund in einen Zusammenbruch und eine hartnäckige Depression führt. Die damit verbundene Arbeitsunfähigkeit beschwört eine existenzielle Krise herauf. Die Erzählerin sucht kurzfristig professionelle Hilfe, aus der eine langjährige Psychoanalyse wird. Von der Couch aus erscheint ihre Lebensgeschichte in verändertem Licht. Nicht, was die Krise ursprünglich auslöste, sondern ganz andere Dämonen geraten in den Fokus. Der autofiktionale Roman zeigt am Beispiel eines Lebens, das vom Erbe der Nazizeit, von den 68ern und der Frauenbewegung geprägt wurde, wie Psychoanalyse funktioniert und welch heilsame Wirkung diese heute an den Rand geratene Therapie entfalten kann. So entsteht ein ungeschöntes Selfie, etwas, das Rousseau in seinen Bekenntnissen eine selbst entblößende Autobiografie nannte.

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Für Winfrid Trimborn

Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein.

Jean-Jacques Rousseau

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Der unbarmherzige Sommer

Trennung

Tutzinger Tagebuch

Die erste Stunde

Der Anfang einer alten Geschichte

Das schlaue Füchslein

Sommerloch

Teil II: Die Büchse der Pandora

Der Uferlose Strom

Jour fixe

Den Vater erlösen

Die Mutter und ihr fünftes Kind

Rückkehr in den Alltag

Wen wollen Sie schützen?

Die Stunde ist zu Ende

Weihnachten und Silvester

Teil III: Sich Fallen Lassen

Autobiografie und Psychoanalyse

Jahresanfang

Noras Kindheit

Das gespaltene Selbst

Noras Jugend

Die Angst vor dem Liegen

Alltag, Liebe und Tod

Teil IV: Die Dreiecke

Harry, Anton, Heinrich

Der Holzkasten

Konrad

Abhängigkeit

Udo

TagIch und NachtIch

Teil V: Das Große Sterben

Der Vater

Das Holzbein

Die Mutter

Trennungen

Ernst: Die Wilden Jahre

Allmähliches Verstehen

Ernst: Die späten Jahre

Teil VI: Das Ende

Vom Ende eines Wegs

Epilog

TEIL I: DER UNBARMHERZIGE SOMMER

Das Angenehme dieser Welt hab' ich genossen, Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, April und Mai und Julius sind ferne, Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

Friedrich Hölderlin

1. Trennung

Kein Protokoll der ersten Stunde. Das ist, als würde eine Geschichte ohne Anfangssatz, ein Roman ohne erstes Kapitel beginnen. Keine Aufzeichnungen in Noras Tagebuch über das Weichen stellende Erstgespräch. Warum? Vielleicht wollte sie dem einfach keine Wichtigkeit beimessen. Nichts erwarten, nichts hoffen, bloß nicht nach einem Strohhalm greifen. Vielleicht empfand sie die Katastrophe schon als unausweichlich und nahm dieses Gesprächsangebot, zehn Tage nachdem sie um den Termin gebeten hatte, nur pro forma wahr.

Dafür beschrieb sie ausführlich das Unwetter, das an jenem Junitag tobte, schlimmer als irgendeines, das sie in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte.

Tag 3 nach der Trennung. Eigentlich lebte sie ganz normal weiter. Sonderbarerweise spürte sie keinen Verlust, empfand keinen Schmerz. Quälend war nur die Schlaflosigkeit. Abend für Abend legte sie sich gegen elf Uhr ins Bett, schlief auch meist gleich ein, todmüde, war aber um halb eins wieder hellwach. Manchmal gelang es ihr, noch mal kurz wegzugleiten, bis gegen drei Uhr. Danach ging gar nichts mehr, insofern war es nicht verwunderlich, dass sie tagsüber herumlief wie ein Roboter. Die Freundin Tine, die am Wochenende, das der Trennung folgte, ihren lang verabredeten Sommerbesuch abstattete, war erschrocken über Noras Zustand. Sie drängte: „Du musst dir professionelle Hilfe suchen.“

„Was soll das bringen?“

Allerdings empfand sie den extremen Schlafmangel wie Folter. Höchstens zwei, drei Stunden in der Nacht, und anschließend lief das Gedankenkino bei überwachem Bewusstsein als Endlosschleife in ihrem Kopf. Nicht eigentlich Gedanken, es waren die Bilder ihrer letzten Begegnung mit Clemens, die sie immer wieder abklopfte auf versteckte, in der Situation selbst nicht wahrgenommene Signale. Und dann machten wir dies. Und dann machten wir das. Und dann sagte er. Und dann sagte ich. Wo war es gekippt? Warum hatte sie das Ende nicht kommen sehen? Sein Gesichtsausdruck, der Klang seiner Stimme. So ein Erdrutsch hätte sich doch irgendwie ankündigen müssen. Wie konnte das unverbrüchlich scheinende Gefühl der Geborgenheit von einem Augenblick auf den anderen wegbrechen? Solche schlaflosen Nächte mit überdimensionierten Bildern im Kopf hatte sie nur ein einziges Mal zuvor erlebt, in der Woche nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes.

Ich muss mir Schlaftabletten besorgen, dachte sie. Zu Tine sagte sie: „Was soll eine Psychotherapie ändern? Immer dieselben Schleifen im Leben. Man geht, glaubt sich eine Weile sicher, kriegt unversehens einen drüber, liegt am Boden, bekrabbelt sich, bis der nächste Schlag fällt. Ich habe keine Kraft mehr, mich aufzurappeln.“

Tine insistierte. „Manchmal braucht es einen fremden Blick von außen. Versuch es doch mal bei T., der ist gut, und er ist ganz in deiner Nähe. Ich kenne ihn von Kongressen.“

Sie hatte Tine an diesem Wochenende die ganze Geschichte erzählt, in einem einzigen atemlosen Fluss. Wie sie Clemens kennen gelernt hatte vor einem Jahr, das Wunder, sich noch einmal zu verlieben, sieben Jahre nach Ernsts Tod, und auf eine solche Gegenliebe zu stoßen. Tine hörte geduldig zu, fragte hier und da nach, sie war selber Psychotherapeutin. Vorübergehend brachte das Erzählen Nora eine gewisse Erleichterung. Doch dann wieder irritierte es sie, dass Tine die Trennung nicht für zwingend zu halten schien; es seien doch gute Entwicklungen gewesen in der Beziehung. Nicht nur das: Tine meinte, Nora habe da vielleicht vorschnell etwas abgebrochen. Und wieder drehte sich in der Nacht das Kopfkarussell. War ich zu ungeduldig? Hätte ich ihm mehr Zeit lassen müssen? Er befand sich in den letzten Wochen in einer schrecklichen Verfassung, ich habe miterlebt, wie es ihn verstörte und fast zerriss. Habe ich nur hingeschmissen, weil ich es nicht mehr aushielt? Hätte ich es nicht aushalten müssen, wenn ich ihn genug geliebt hätte? Aber warum hat er nicht protestiert, als ich verkündete: Dann ist das jetzt das Ende! Zuvor, beim Sex, hat er sich an mich geklammert wie ein Ertrinkender, als wolle er mich nie mehr loslassen.

Auch Marius, Noras langjähriger bester Freund, den sie um Schlaftabletten bat – er hatte als Arzt Zugang zu rezeptpflichtigen Medikamenten – gab zu bedenken: Ob die Trennung nicht eine Kurzschlusshandlung von ihr gewesen sei? Marius war in Eile, ihm gegenüber reichte es nur zu einer Kurzfassung der Geschichte; doch es tat Nora gut, dass er sie liebevoll in den Arm nahm. Anders als Tine kannte er ihren Freund Clemens, wenn auch nur flüchtig, von ein, zwei Begegnungen; er hatte ihn gemocht, sich ihm vielleicht sogar seelenverwandt gefühlt. Allerdings registrierte sie, kommentarlos, dass Marius ihr keine vollständige Packung Schlaftabletten mitbrachte, sondern nur ein Plastikkärtchen mit zehn Pillen. Sie seien sehr stark, vor allem für jemand, der so etwas nicht gewohnt sei. Sie solle es erst einmal mit einer halben probieren. Sicher sei der Bruch nicht irreparabel; ihm sei die Beziehung sehr verlässlich erschienen, es habe ihn so gefreut, wie Nora während des vergangenen Jahrs wieder aufgeblüht sei. Er riet ihr, doch noch zu der Tagung zu fahren, bei der sie und Clemens sich das nächste Mal hatten treffen wollen – fünf gemeinsame Tage, auf die sie sich lange gefreut hatten. „Dann sieht vielleicht alles wieder ganz anders aus.“

Die halbe Schlaftablette bewirkte gar nichts. Um halb eins saß Nora wieder aufrecht im Bett, Marius´ Worte hallten nach. Warst du nicht ein bisschen theatralisch? So ein Abgang mit Theaterdonner, meint man den wirklich? Sie hatte Clemens unter Druck gesetzt. Sag mir hier und jetzt: Ich will nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest - sag es! Und Clemens hatte herumgedruckst, bevor er erwiderte: Ich will nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest - aber ich weiß nicht, wie ich es leben soll. Dann ist es wohl besser, wenn wir uns trennen, sofort! Sie hatte ihre Siebensachen am Bachufer zusammengerafft, wo sie gelagert hatten, und war wortlos vorangestürmt zu dem Parkplatz, an dem ihrer beider Autos standen. Keine Umarmung mehr, nur ein kurzes Also dann, leb wohl!, nicht mal Blickkontakt, und sie war unverzüglich losgefahren, hatte noch, am Steuer endlich in Tränen ausbrechend, aus den Augenwinkeln gesehen, wie er im Zeitlupentempo in seinen Wagen stieg. Er musste nach Süden, sie nach Norden, sie hatten sich auf halber Strecke getroffen, gerechte hundert Kilometer für jeden. Durchkämmst du jetzt nicht, meinte Marius, euer letztes Treffen mit dem Suchscheinwerfer der Gekränkten? Nachts um drei schluckte Nora die zweite Hälfte der Tablette und konnte sich mit ihrer Hilfe bis immerhin sieben Uhr ins Nichts katapultieren.

Die morgendliche Teetasse neben sich mailte sie an Clemens: Ich habe nun doch vor, übermorgen zu der Tagung zu fahren. Ich hoffe, du fühlst dich nicht überrumpelt. Seine Antwort, wenige Minuten später: Er sei nicht überrumpelt, wohl aber überrascht. Er hoffe, Tutzing werde trotz aller Turbulenzen für sie beide ein guter Ort. Sie atmete tief durch. Hoffnung wider besseres Wissen.

Anschließend suchte sie die Telefonnummer des Psychoanalytikers heraus, den Tine ihr empfohlen hatte. Seine Stimme am Telefon klang neutral, nicht unfreundlich, doch sie meinte, einen angestrengten Unterton herauszuhören. Um was es gehe? „Ich habe mich getrennt und weiß nicht, ob es richtig ist.“ Eine kurze Pause, in der er seinen Terminkalender zu befragen schien. „Ich muss Ihnen aber gleich sagen, dass ich keine Therapieplätze frei habe.“ Tine hatte sie vorgewarnt, er sei sehr gefragt. „Vielleicht reichen ja die fünf Stunden auf Krankenschein“, sagte sie. Eine kurze Krisenintervention. Was sollte auch Neues dabei herauskommen. Womöglich, dachte Nora, brauche ich diesen Gesprächstermin bloß als Rückversicherung für Tutzing. Denn sie hatte Angst davor, auf der Tagung zusammenzubrechen oder, schlimmer noch, ganz auszurasten und das zu veranstalten, was ihr Vater „Schmierentheater“ zu nennen pflegte, einen billigen hysterischen Auftritt, für den sie sich ihr Leben lang schämen würde.

Doch was dann kam, war weitaus schwerer zu ertragen als die peinlichste nur denkbare Szene. Sie und Clemens benahmen sich während der fünf gemeinsamen Tage in wortloser Übereinkunft, als seien sie nach wie vor ein Liebespaar, und zwar ein ganz besonders harmonisches, zärtliches, symbiotisches. Nacht für Nacht kam er zu ihr, und sie liebten sich als sei nichts gewesen, dabei immer gewärtig, dass bereits unwiderruflich Schluss war. Das hatten sie während der Anreise ausdrücklich geklärt. „Wie ist es dir ergangen, in den letzten Tagen?“ (sie). „Es geht so, aber inzwischen glaube ich, es ist die richtige Entscheidung“ (er). Ihr wurde eiskalt bei seinen Worten, doch sie erwiderte heiter: „Du musst keine Angst haben, dass ich jetzt rumzicke und dir das Leben schwer mache; wir müssen beide funktionieren auf der Tagung, dein Programm ist noch fordernder als meines. Und schließlich ist es ist ja kein Fall von gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung.“ Er lachte herzlich, erleichtert, sie hatte ihn in letzter Zeit selten so unbeschwert lachen hören, und sie stimmte mit ein, obwohl sie plötzlich sehr fror, trotz der Hochsommertemperaturen.

Beim Eröffnungsvortrag sah sie ihn nur von weitem; er musste moderieren. Er machte seine Sache gut. Danach besuchten sie getrennte Workshops. Doch in der Nacht, sie hatte sich gerade ausgezogen, stand er vor ihrer Zimmertür. „Darf ich?“ Sie zog ihn an sich. „Ich bin froh, dass du gekommen bist.“ So ging es Abend für Abend, obwohl die ganze Zeit während der Tagung jemand neben ihr stand und schrie: Wach auf! Wach endlich auf! Dies ist nicht wirklich.

Übrigens stimmt es nicht, dass sie gar keine Aufzeichnungen zur ersten Therapiestunde gemacht hat. Die spärlichen Notizen gehen in ihrem Tagebuch nur unter zwischen den vielen, vielen Seiten, auf denen sie minutiös jeden Moment der letzten Begegnung mit Clemens festgehalten hat.

Zur Person des Therapeuten drei Stichworte: „Gutes Gefühl. Wirkt sympathisch und klug.“ Von ihm zitiert sie bloß eineinhalb Sätze. Der eine: „Sie haben Ihrem Freund etwas abgenommen. Erst war er depressiv und hat gelitten. Jetzt ist er erleichtert, und Ihnen geht es schlecht.“ Den anderen wichtigen Halbsatz hatte sie nicht ganz mitbekommen, etwas in der Richtung, dass für sie Clemens´ Depressivität wohl ein Teil seiner Attraktion gewesen sei.

Der nächste Termin erst in vierzehn Tagen.

Während Nora von der ersten Therapiestunde zurückkehrte, verdunkelte sich der Himmel zusehends. Sie bemerkte es kaum, sie fuhr wie eine Schlafwandlerin. Als sie an der Tür des Analytikers geklingelt hatte, schien noch die Sonne, allerdings verschwiemelt aus einem verquollenen Himmel, und es war drückend schwül. Wieder zu Hause angelangt sah sie vom Küchenfenster aus, wie eine schwarze Wolkenwand sich näherte. Nachtdunkel stülpte sich über den Hof, um vier Uhr nachmittags. Ihre Katze gab vor der Hintertür jammervolle Laute von sich, bis sie sie hereinließ. Der Apfelbaum stand regungslos, als hielte er den Atem an. Dann schlug ganz plötzlich Hagel los, prasselte mit solcher Wucht an die Fenster, dass sie für die Glasscheiben fürchtete. Der Sturm stieß wütend gegen das Haus, ließ nach, nahm neuen Anlauf und stieß wieder zu, nicht wie sonst nur von der Wetterseite her, sondern er heulte ringsum, presste von Süden und Westen Regenwasser auf der Unterseite der Fensterrahmen herein. Nora war aus der Erstarrung erwacht, sie rannte herum und verteilte Frottétücher auf den Fensterbänken, während die Katze ihr auf Schritt und Tritt folgte. Sie hielt sich vorzugsweise in der Zimmermitte auf und starrte auf die Fenster, angespannt mit dem erhobenen Schwanz rudernd, bereit zur Flucht, wohin auch immer. Die Regenrinnen konnten die Flut nicht halten. Wassermassen stürzten in einem breiten Vorhang vom steilen Dach herab, Wasserfälle auch die Kellertreppe herunter. Im Nu verwandelte sich der Rasen in einen See, in dem verloren der Tisch stak und zwei Holzstühle schwammen. Innerhalb einer knappen Stunde, hieß es später, seien vierzig Liter Regen gefallen. Zwischendurch war für etwa dreißig Minuten der Strom weg, im Haus wurde es so dunkel wie draußen, und Nora saß frierend, lethargisch in ihrem Lesesessel, die Katze auf dem Schoß, und schaute dem Weltuntergang zu. Das Unwetter schien ihr stimmig, längst fällig, ein Ausrufungszeichen hinter dem, was sie in den letzten beiden Wochen erlebt hatte. Schluss! Aus!, dick unterstrichen. Die Trennung war endgültig. Was ein Teil von ihr immer noch nicht glauben mochte. Warum war sie nicht auf seinen Vorschlag eingegangen, erst einmal eine Auszeit zu vereinbaren und dann weiterzusehen? Im November würde sie einen Vortrag ganz in seiner Nähe halten müssen, vielleicht könnten sie da noch einmal miteinander reden. Mach dir nichts vor, mach dir bloß nichts vor, vorbei ist vorbei. Erst einmal galt es, diesen Sommer zu überstehen. Diesen Tag und den nächsten und die endlose Folge sich anschließender Tage und Wochen. Später wurde im Radio von umgestürzten Bäumen, abgeschlagenen Ästen und kniehohem Schlammwasser auf den Fahrbahnen berichtet.

2. Tutzinger Tagebuch

Tagebuch, Tutzingen, 19. Juni 2003:

Noch einmal ist alles da, im Licht des Abschieds, bittersüß. Einigermaßen beruhigend, dass es wohl doch keine Schlammschlacht gibt. Im Gegenteil sieht es ganz so aus, als wäre es uns möglich, die Tage hier zu genießen, traurig, doch ohne Groll oder Bitterkeit. Schon dafür sollte ich dankbar sein.

Das Gespräch auf der Fahrt hierher war absolut desillusionierend. Die Trennung ging von mir aus, aber er hält sie jetzt auch für richtig. Ich kann ihm deswegen nicht böse sein. Wir saßen allein in einem leeren Zugabteil. Nach der Aussprache redeten wir nicht mehr viel. Ich versuchte vergebens zu schlafen, Kopf gegen das Fenster gelehnt, er streckte sich quer über die drei Sitze gegenüber, die Augen geschlossen. Dann noch ein Picknick, wie wir so viele hatten; wir tauschten Obst und Brote aus, nur wenige Sätze. Es gab nichts zu sagen. Allerdings fassten wir uns zwischendurch manchmal an, hielten Händchen. Als lebten wir teilweise noch in der schon abgeschlossenen Vergangenheit. Es ist ja nicht so, als wäre es ein Fall von tiefer, unüberwindbarer Abneigung, sagte ich, und er lachte laut heraus, anscheinend unbekümmert. Dieses Lachen zeigte mir, wie weit er sich schon von mir entfernt hat.

Es schmerzte mich, dass die Frau an der Rezeption uns für ein Paar hielt. Soll ich dich zum Vortrag abholen? fragte er. Nicht nötig, sagte ich. Danach, 22 Uhr, nahm ich eine von Marius´ Tabletten, den starken. Ich wollte nur einfach ein winziges bisschen schlafen, Abstand gewinnen. Ich war gerade fünf Minuten im Bett, als er klopfte. Wolltest du nicht mit den anderen Referenten ein Bier trinken gehen? Ich will lieber bei dir sein, sagte er und hockte sich auf das Kofferbänkchen, während ich zum Klo ging. Er schien auf meine Erlaubnis zu warten. Dann komm, sagte ich und klappte die Bettdecke auf. Es bedürfte keines Vorspiels; es war nur ein kurzes Gerammel, aber vertraut und tröstlich; ich schlief in seinen Armen ein. Wie ist das nach vollzogener Trennung möglich?

21. Juni

Auch in der vergangenen Nacht schlief ich, trotz der Tablette, nur ein paar kurze Sequenzen. Erwachte dreimal hintereinander mit alptraumartigen Bildern und grauenhaft schmerzendem Kiefer, vom Zähne zusammenbeißen oder knirschen. Ich lag neben ihm, der sonderbarerweise immer schlafen kann. Gegen drei Uhr versiegte der Lärm des Volksfestes, der in Wellen zu uns herübergeschwappt war, danach hörte ich ihm beim Atmen zu. Ganz ohne Aggressionen, das ist das Unheimliche: dass ich keine Wut ihm gegenüber verspüre. Noch immer beziehe ich jeden Vortrag über Paarbeziehungen, der hier gehalten wird, in plattester Weise auf uns: Hat er diesen Gedanken mitgekriegt? Ihm muss doch auch aufgefallen sein, dass das auf seine Ehe, auf uns beide, zutrifft! Aber es gibt kein Wir mehr. Gab es vielleicht ohnehin nur im irrealen Raum der Hotelzimmer, auf den Picknickdecken im Wald, aber eben seltsamerweise zwischendurch auch hier noch, in diesem Limbo, Zwischenreich zwischen dem Nichtmehr und Nochnicht.

Vielleicht fühlt er sich einem Leben mit mir im tiefsten Inneren nicht gewachsen. Auf jeden Fall kann er aus seiner Ehe ebenso wenig heraus wie aus seiner Haut. Er hat sich über die Jahrzehnte ein Leben nach passendem Zuschnitt gebastelt, in dem er viel berufliche Anerkennung genießt, mit der er kompensieren kann, was ihm bei seiner Frau fehlt. Er hat Angst davor, das Bekannte zu verlassen, auch wenn es noch so defizitär ist. Mehr Nähe kann er vielleicht auf Dauer überhaupt nicht ertragen Möglicherweise ist er gar nicht entwicklungs- und beziehungsfähig. Zwischendurch empfand ich in dieser Nacht sogar etwas wie Mitleid mit ihm: Mein armer verkrüppelter Vogel, der seine Flügel nie benutzen wird!

Aber ich muss ihn freigeben. Mich ganz von ihm ablösen. Es wird schrecklich wehtun. Erst einmal diese Tutzinger Tage bestehen, sie einfach nur überleben, ohne zusammenzukrachen. Wenn mir das gelingt, habe ich vielleicht schon das Schlimmste hinter mir.

Gestern habe ich meinen Vortrag gehalten, mich selber gewundert, dass ich das einigermaßen hinkriegte. Mich gewundert, dass er es schaffte, die anschließende Diskussion professionell zu moderieren, als wäre ich irgendwer. Tatsächlich stand ein Teil von mir neben mir und diese vollautomatisch funktionierende Person hielt den Vortrag für mich und beantwortete anschließend einigermaßen angemessen sämtliche Fragen. Wir bekamen viel Beifall. In der Nacht zuvor hatte ich ihn um Mitternacht weggeschickt. Nur diese Nacht, sagte ich, ich brauche den frühen Morgen noch zur Vorbereitung; wenn du hier bist, schaffe ich das nicht. Er verstand sofort. Wir haben uns immer komplikationslos verstanden.

Danach aßen wir zu Mittag mit der Psychologin aus München, die ausgerechnet zum Thema „Halt mich fest, aber komm mir nicht zu nah“ referiert hatte; wir füßelten unter dem Tisch. Ich die ganze Zeit über grauenvoll müde. Grauenvoll müde. Nie in meinem Leben so müde und dabei gleichzeitig schmerzhaft hellwach. Als der Mittagsschlaf nicht gelang, rief ich ihn an und er kam zu mir. Hielt mich erst ein bisschen im Arm, beruhigend, danach ergab sich aber doch noch ein wunderschöner runder Akt, von hinten, langsam und zärtlich anlaufend, wild und heftig endend.

22. Juni

Sommersonnenwende vorüber. Gestern schlug ich, nach Vorträgen und getrennten Workshops, noch einen Spaziergang am See vor. Beide hatten wir das Abendessen ausgelassen. Es war schon 22 Uhr, noch warm, fast dunkel, in der Dämmerung schimmerte blässlich der Kiesbelag der Promenade und wies uns den Weg. Hunderte von Glühwürmchen tanzten auf und ab, als wir in den stockdunklen Waldpfad einbogen, hintereinander, ich hatte schon jahrelang keine mehr gesehen. Er war besser orientiert im Dunkeln, ging voran, verschränkte seine Hände auf dem Rücken, so dass ich mich an ihnen festhalten konnte wie ein Kind. Ich starrte nur immerfort auf seine helle Hose, während ich in seine Fußstapfen trat. Manchmal stolperte er leicht und stabilisierte sich über meine Hände. Bert Hellinger hätte jetzt seine helle Freude an uns, sagte ich, wegen der männlichen Führung und der weiblichen Unterordnung. Ich meinte es ironisch, doch er antwortete ganz ernst, dass es ja manchmal stimmig sein könnte. Davon abgesehen redeten wir kaum. Hier und da schimmerten Mitternachtsfeuer am Seeufer durch das Laub. Zweimal standen wir eine Weile eng umschlungen, auf einer Lichtung, wortlos. Was gibt es zu sagen, wenn man eine so kurze Geschichte und keine Zukunft hat? In meinem Kopf war immerfort dieses: Nie mehr, nie wieder, nie mehr.

Gegen Mitternacht stiegen wir noch nackt in den See. Seine Idee. Ließen unsere Kleider auf einem Holzsteg zurück. Das Wasser umfing mich weich und ölig. Jetzt ganz weit hinausschwimmen und nie mehr ans Ufer zurück. Da war er schon wieder herausgeklettert und hielt mir sein T-Shirt zum Abtrocknen hin. Im Bett kuschelten wir nur. Unsere letzte Nacht. Nachdem ich zwei Stunden lang schlaflos neben ihm gelegen hatte, saß ich von drei Uhr ab im Morgenmantel im Bad, um ihn nicht zu stören, auf dem geschlossenen Klodeckel, in meine Bettdecke gewickelt, und schrieb Tagebuch. Hoffte, er müsse mal pinkeln gehen und würde mich so vorfinden. War aber nicht. Wie kann etwas, das zu Ende ist, noch so schmerzlich am Leben sein? Wie kann etwas zugleich lebendig und tot sein?

23. Juni

Vor einer halben Stunde ist er ausgestiegen. Aus dem Zug und aus meinem Leben. Ich muss noch etwa drei Stunden allein weiterfahren. Müde, abgrundtief müde, und um- und umgeschüttelt wie in den Nächten nach Ernsts Tod. Selten war ich einem Zusammenbruch so nah wie jetzt, dabei bin ich äußerlich ganz ruhig, ich akzeptiere alles. Es ist das schreckliche Auf und Ab der letzten Wochen, vor allem der letzten zehn Tage, verbunden mit diesem extremen Schlafmangel, was mich so zermürbt. Ich möchte schreiend meinen Kopf gegen eine Wand schlagen. Oder tot und begraben sein. Doch das Geheul findet nur innen statt. Äußerlich verharre ich bewegungslos. Wohin sollte ich auch rennen, von Abgründen umgeben.

Anfangs saßen wir im offenen Vierercoupé einander gegenüber, Beine hochgelegt. Ich sah aus dem Fenster. Dann setzte er sich auf einmal neben mich und begann mit leiser Stimme auf mich einzureden. Er wisse ja auch nicht, wie es mit ihm in den nächsten Tagen und Wochen weitergehen werde. Aber es fühle sich jetzt für ihn richtig an. Die Schwierigkeiten mit Gisela seien vielleicht doch nicht unüberwindbar. Sie rührten wohl daher, dass sie anfangs nicht viel Zeit füreinander gehabt hätten, immer hätten die Kinder im Mittelpunkt gestanden. Mit Geburt seiner Jüngsten hätte Gisela ihn beiseite geschoben, so dass er sich überwiegend auf den Beruf konzentriert habe. Nach der ersten großen Krise, als er schon mal auf dem Absprung war, seien Gisela und er sich wieder näher gekommen, um dann nach und nach erneut auseinander zu driften. Er hoffe jetzt, dass sie im Alter kein böses Paar würden, sondern sich immer weiter einander annäherten. Sex dürfe man nicht überbewerten, im letzten Lebensdrittel werde ohnehin die Spiritualität zum wichtigsten Thema. Wahrscheinlich passe Askese ohnehin besser zu ihm als die barocke Sinnlichkeit mit mir. Wenn er alt sei und nicht mehr berufstätig, würde er vielleicht in den Bergen Ziegen züchten.

An der Stelle hätte ich beinahe gelacht. Es wäre ein schauriges Lachen geworden. Stattdessen hörte ich mir sein Selbstgespräch an, sprachlos, mit wachsender Verblüffung. Die Biografie, die er da entwarf, stimmte nur in den Eckdaten mit der überein, die er mir in unseren Anfängen skizziert hatte. Dabei klang er auch jetzt schlicht und glaubwürdig. Ja, so ist mein Leben, endete er, stand auf und setzte sich wieder auf den Fensterplatz mir gegenüber. Er sah mich an als erwarte er Beifall.

Ich bekam keine Luft, wandte mich ab, drückte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und kniff die Augen zusammen. Ja, versuch ein bisschen zu schlafen, empfahl er mit sanfter Stimme. Das war zu viel. Ich zog mein Tuch um das Gesicht, scheinbar zum Schutz gegen die Sonne und heulte lautlos. Irgendwann hatte ich mich wieder unter Kontrolle und kam hinter meinem Vorhang hervor. Offenbar hatte er mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet. Willst du ein Taschentuch? Hätte ich dir das lieber nicht sagen sollen? Ich schüttelte den Kopf: Wenn du es so siehst, ist es richtig, dass du es mir erzählt hast.

Danach verstummte ich. Er ließ mich nicht aus den Augen, sagte noch: Das klingt jetzt so abgehoben, als hätte ich alles im Griff, aber so ist es ja gar nicht. Du und ich, wir haben immer richtig gut miteinander reden können. Ich habe mich von dir angenommen und bei dir aufgehoben gefühlt. Eine Zeitlang habe ich mir gut vorstellen können, mit dir in deinem Haus zu leben, aber irgendwann habe ich gemerkt, das sind nur Phantasien; es gibt keine Brücken zwischen diesen Bildern und meinem Alltag. Ich werde das zwischen uns aber immer als etwas ganz Kostbares in Erinnerung behalten.

Wie brutal er mich belauerte, während ich hinter meinem geblümten Seidentuch weinte. Er wirkte völlig einverstanden mit sich. Er hatte kein schlechtes Gewissen. Schließlich war er immer ehrlich gewesen, hatte nun zuguterletzt noch alle Karten offen auf den Tisch gelegt. Eine halbe Stunde, bevor er aussteigen und seines Wegs gehen würde, konnte er sich einigermaßen sicher sein, dass ich nicht mehr ausrasten würde.

Der Zug hielt pünktlich. Er stand auf, hob seinen Koffer aus der Ablage, drehte sich zögernd nach mir um, fragte sich wohl, ob er mich noch einmal küssen sollte. Ich wandte den Kopf ab.

3. Die erste Stunde

Weil sie anschließend keine Notizen gemacht hatte, konnte Nora sich später nur vage erinnern, wie diese erste Stunde verlaufen war. Sie war Treppen hochgestiegen, hatte die dunkle Diele einer Altbauwohnung betreten; die Zimmertür dem Eingang gegenüber stand offen. Aus der Tiefe des Raums kam ihr T. zwei Schritte entgegen und reichte ihr die Hand.

Er ließ sich auf einem breiten Bürostuhl nieder, neben seinem Schreibtisch, sie nahm ihm gegenüber auf einem etwas schmaleren Stuhl Platz.

„Was führt Sie zu mir?“

So eröffnen sie immer. Die Fenster links vor dem Schreibtisch gaben den Blick auf einen Balkon frei, üppiges Grün in Kübeln und bunt bepflanzte Blumenkästen, doch es ist wenig wahrscheinlich, dass sie das an diesem Tag überhaupt wahrnahm. Den Therapeuten schätzte sie unwesentlich älter ein als sie selbst; angenehme Stimme, distanziert, jedenfalls nicht übermäßig freundlich, seine Miene war ausdruckslos, aber aufmerksam. Es war lässig gekleidet, leichter Sommerpullover, sandfarben, wahrscheinlich Jeans, doch sie war auf sein Gesicht konzentriert, große nachdenkliche Augen, melancholisch, schien es ihr, hinter Brillengläsern, volles graues Haar, wirr gelockt. Das Zimmer registrierte sie nur als Kulisse. Es war auf altmodische Weise vertraut, ohne Schnickschnack, der ausladende Schreibtisch vor dem Fenster, die Couch geradeaus an der Längswand, ein wandfüllendes Bücherregal, in der Raummitte ein abgetretener Teppich.

„Was führt Sie zu mir?“

Sie wird gesagt haben: Ich habe mich vor einem Jahr verliebt, und jetzt habe ich mich getrennt. Als ich bei Ihnen nach einem Termin fragte, dachte ich noch, es wäre vielleicht rückgängig zu machen. Doch inzwischen ist es wohl endgültig.

Wahrscheinlich hat sie sich gleich danach ausführlicher vorgestellt: Ich lebe allein. Vor acht Jahren ist mein Mann gestorben. Danach ist es mir lange schlecht gegangen, nicht weiter verwunderlich, weil er ganz plötzlich starb, an einem Herzinfarkt, und weil wir vierundzwanzig Jahre zusammen waren. Es war eine gute Beziehung. Doch ich verstehe nicht, warum das mit Clemens jetzt so schlimm für mich ist, nach bloß einem knappen Jahr und nachdem ich selber einsehe, dass es keine Zukunft hat.

Aber es geht mir schlecht, wird sie wiederholt haben. Vielleicht redete sie während der gesamten fünfzig Minuten mit dieser flachen gepressten Stimme, die einigen Freunden in dieser Zeit wiederholt an ihr auffiel, eine Stimme ohne Modulation und Volumen. Sie wollte einen sachlichen Bericht geben, kein Theater machen. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich kann nicht mehr arbeiten. Ich laufe herum wie ein Zombie.

Bestimmt hat sie anschließend etwas ausführlicher erzählt: Als ich Clemens traf, hatte ich nicht mehr geglaubt, dass ich mich noch mal verlieben könnte, ich hatte mich inzwischen an das Alleinleben gewöhnt, ich fühlte mich ganz wohl damit. Es war wie ein Wunder. Clemens ist Journalist; wir sind uns beruflich begegnet. Er ist verheiratet, unglücklich in seiner Ehe, schon seit vielen Jahren, doch er hat mir gleich ehrlich gesagt, er wisse nicht, ob er es schaffe, sich von seiner Frau zu trennen. Ich kann ihm nichts vorwerfen, er hat mir nichts vorgemacht, mir sogar schon früh gestanden, dass er schon einmal vergeblich versucht hat, aus seiner Ehe auszubrechen, vor Jahren. Seine Frau schilderte er als kalt und ohne Empathie, er fühlte sich von ihr ständig abschätzig behandelt und vor allem physisch zurückgewiesen. Doch er hänge an seinen Kindern, ein Sohn, der gerade Abitur gemacht hat, eine sechzehnjährige Tochter, beide leben noch zu Hause. Ich habe ihm bedeutet, dass ich nicht von ihm erwarte, dass er eine Entscheidung trifft. In den ersten Monaten wirkte er sehr glücklich, befreit; er sei lange wie tot gewesen und durch mich und mit mir wieder lebendig, sagte er. Doch im Laufe dieses Jahres, während er immer gewagtere Schritte auf mich zumachte, von sich aus, ohne dass ich Druck ausgeübt hätte, ist es ihm dann zusehends schlechter gegangen. Bei unserem vorletzten Treffen war er aufgewühlt. Er müsse zu Hause ausziehen, rief er, er halte das Doppelleben nicht mehr aus. Er hatte begonnen, vorsichtige Sondierungsgespräche mit seiner Frau und den Kindern zu führen: wie es für sie wäre, wenn er eine eigene Wohnung nehme, aber nur als Gedankenexperiment, nichts Konkretes, ich wurde nicht explizit erwähnt. Dabei muss etwas in ihm gekippt sein. Denn als wir uns vierzehn Tage später wiedersahen, war er – nicht abweisend, aber abwesend, er agierte wie ein Automat. Ich konnte keine Nähe mehr zwischen uns fühlen; er war physisch präsent, aber nicht bei mir. In mir schrillten die Alarmglocken, als er wie beiläufig erzählte, er habe vor Kurzem mit einem guten Freund über uns und seine Zukunft gesprochen. Der habe gesagt: Du machst aber keinen sehr verliebten Eindruck auf mich. An dieser Stelle habe ich Clemens die Pistole auf die Brust gesetzt: Willst du, dass ich gehe, oder willst du, dass ich bleibe? Und als er herumdruckste, habe ich Schluss gemacht.

Wahrscheinlich hat sie es in dieser ersten Stunde so erzählt. So oder so ähnlich. Auf jeden Fall wird sie wiederholt haben: Ich begreife nicht, warum es mir dermaßen schlecht geht. Es war doch die richtige Entscheidung. Aber irgendetwas macht, dass ich nur noch zwei oder drei Stunden in der Nacht schlafen kann. Tagsüber laufe ich herum wie ein Automat. (Hat sie wirklich den gleichen Ausdruck verwendet wie zuvor bei der Beschreibung von Clemens?) Äußerlich funktioniere ich noch einigermaßen. Leute, die mich nicht näher kennen, merken nicht einmal, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist. Doch es kostet mich unsägliche Kraft, die Fassade aufrecht zu halten, und ich kann diese Kraft nicht mehr aufbringen. Ich nehme mir übel, dass ich wegen Clemens leide, nachdem ich mit dem viel schwereren Tod meines Mannes einigermaßen fertig geworden bin. Es hat zwar lange genug gedauert, doch es ging mir wieder gut, als ich Clemens traf. Warum jetzt dieses Drama, obwohl ich einsehe, dass es besser ist, wenn wir uns trennen?

Was hat T. gesagt? Er hörte zu. Sie hat nur diesen einen Satz von ihm im Tagebuch notiert. „Sie haben Ihrem Freund etwas abgenommen. Erst war er depressiv und hat gelitten, und jetzt, da sie sich getrennt haben, ist er erleichtert und Ihnen geht es schlecht.“

4. Der Anfang einer alten Geschichte

Begonnen hatte es wie eine alte Geschichte: Der Mann, der Nora am Bahnsteig erwartete, trug einen schwarzen Stockschirm am Arm, den er, weil es regnete, öffnen wollte, während er auf sie zuging, erst öffnete, dann gleich wieder zusammenklappte, unschlüssig, ob er seine Hände nicht besser freihalten sollte, um ihr zumindest die eine entgegenstrecken zu können, zumal es nur nieselte. Ein Mann, der sich dabei so liebenswürdig in seiner Körpersprache verhedderte, dass sie auf ihn zu eilte und von sich aus umarmte. Da ließ er den Schirm fallen und legte beide Arme um sie. Nora musste sich leicht auf die Zehenspitzen stellen, er war groß, vielleicht sogar noch ein paar Zentimeter größer als Ernst, schlank wie dieser, vielleicht sogar noch ein bisschen magerer. Sie küssten sich nachdrücklich auf den Mund.

Dann schwiegen sie beide einen Augenblick, atemlos. „Und was machen wir jetzt?“ „Gehen wir ein paar Schritte?“ Sie brachten ein paar läppische Halbsätze über Ort und Wetter hervor. „Ich war noch nie hier.“ „Ich auch nicht.“ Er war es, der sie von Anfang an duzte, leicht und locker, ohne Prolog. Er sprach sie auch als erster mit ihrem Vornamen an.

„Du weißt viel mehr von mir. Jetzt musst du mir von dir erzählen“, sagte Nora.

Er sei sehr aufgeregt gewesen, in den letzten paar Tagen, nach ihrem Telefongespräch. Er habe sich auf das Treffen gefreut, aber auch Angst gehabt. In der Tat hatte er seltsam verloren gewirkt, als er wartend auf dem Bahnsteig stand; sie hatte ihn schon im Vorüberfahren erspäht, während der Zug sich verlangsamte.

Zwar war sie es, die ihn angerufen und das Treffen vorgeschlagen hatte, doch der Auslöser war ein Satz von ihm. Knapp drei Wochen war das jetzt her: ihr Vortrag, das anschließende Interview mit ihm, das Abendessen mit den Veranstaltern. „Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder“, hatte sie beim Abschied leicht hingeworfen. So etwas sagt man schon mal. Nur dass sie es tatsächlich meinte, wegen des stillschweigenden Einvernehmens im Gespräch, der Blicke und des Lächelns wegen, die sie während des Essens getauscht hatten, in der Gesellschaft von vier oder fünf gleichgültigen Anderen, die nur zu Small talk taugten. „Ich auch“, hatte er ernsthaft erwidert, „und ich glaube, ich weiß auch schon wie und wo.“ Da hatte sie sich, mit einem Fuß schon auf der Treppe zu ihrem Hotelzimmer, verwundert noch einmal nach ihm umgedreht. Er stand im Foyer, bereit zum Aufbruch. Bevor sie fragen konnte, wie er das meine, sagte er: „Sie sind für mich eine ganz geheimnisvolle, attraktive Frau.“ Unwillkürlich hatte sie die Hand ausgestreckt, mit dem Finger seinen Arm nur eben berührt: „Umgekehrt auch!“. War dann in Windeseile die Treppe hinauf gesprungen. Um sich die halbe Nacht zu fragen: Warum bin ich weggelaufen? Warum haben wir uns nicht geküsst?

Sie war sich sicher gewesen, dass er anrufen werde, doch sie wartete zehn Tage vergebens. Dann sprach er in ihrer Abwesenheit auf den Anrufbeantworter, das Interview sei jetzt überarbeitet, fertig zum Gegenlesen; er werde es ihr mailen. Da ergriff sie die Initiative und rief zurück: Sie würde ihn gern wiedersehen. „Das wäre schön“, antwortete er sofort. Und sie hatten sich mit großer Leichtigkeit verabredet, in diesem kleinen Ort auf halber Strecke zwischen den Wohnsitzen, an einem Samstagnachmittag.

Jetzt gingen und gingen sie. Nora hatte sich gleich bei ihm untergehakt, weil er den aufgespannten Schirm hielt. „Darf ich?“ „Natürlich.“ Alles war ganz einfach. Sie gingen durch den Ort hindurch, am anderen Ende wieder hinaus, am Seeufer entlang, immer weiter, ziellos, zwei Stunden oder drei.

„Ich hätte dich von mir aus nicht angerufen“, bekannte er. „Ich dachte, ich hätte kein Recht dazu. Weil ich verheiratet bin.“

Also doch. Also soll es doch nicht sein. Ein plötzlicher Kloß in ihrem Hals. Ob er spürte, wie Nora den Atem anhielt? Sie liefen so dicht beieinander. Sie hatte gehofft, dass er allein lebte, geschieden oder getrennt; es hatte in ihren Augen vieles dafür gesprochen. Kein Ring am Finger – obwohl das heute nichts bedeuten musste. Mehr noch: weil er so verloren wirkte, wie ein im Regen stehen gelassenes Kind. Die Art, wie er sich anzog: als ob ihn sein Äußeres nicht interessiere, als ob da niemand sei, der ihm sagte: mit dem Teil solltest du nicht durch die Gegend laufen, kauf dir mal etwas Neues. Und natürlich die Tatsache, dass er samstagmittags Zeit hatte, sich zu verabreden.

Er wartete auf eine Reaktion von ihr, es kam keine. Es gelang ihr, die Enttäuschung erst einmal beiseite zu schieben. Also erzählte er von sich, seiner Frau, seinen Kindern. In diesem ersten Gespräch klagte er noch nicht so bitter über seine Ehe wie später, meinte nur, sie läppere so dahin, sie lebten schon lange nur noch nebeneinander. Das klang weniger nach Streit und Missachtung als nach Langeweile und Entfremdung. Erst beim nächsten Treffen vertraute er ihr an, dass Gisela und er seit über einem Jahrzehnt nicht mehr miteinander schliefen; nach der Geburt der beiden Kinder habe sie ihm wiederholt bedeutet, dass ihr körperlicher Kontakt zuwider sei.

Nora erzählte nicht viel von sich, er fragte auch nur sporadisch.

Ihr gefiel seine Offenheit, seine Bereitschaft, sich verletzlich zu zeigen. So vertraute er ihr gleich an, dass es schon einmal eine Situation gegeben hatte, in der er beinahe aus seiner nun zwanzig Jahre bestehenden Ehe ausgestiegen sei. Nur eine kurze Begegnung, eine Beziehung, die de facto wenige Tage gedauert, in ihm aber ein gewaltiges Erdbeben ausgelöst hatte. Danach war es ihm lange sehr schlecht gegangen. Schon wegen dieser Erfahrung, die lange zurückliege, habe er sich verboten, von sich aus auf Nora zuzugehen. Doch er habe sich so wohl gefühlt nach der Begegnung mit ihr, warm und lebendig. In den Tagen danach hatte er geglaubt, er habe sich das alles nur eingebildet.

Eine dieser alten Geschichten, deren Verlauf und Ausgang man, noch ehe sie richtig begonnen haben, voraussagen kann, hatte Nora schon damals, auf der Seepromenade gedacht. Dass man deswegen die Finger voneinander lassen sollte. Und trotzdem war sie glücklich gewesen, ein fast vergessenes Gefühl noch einmal zu erleben.

Indessen hatte der Regen aufgehört. Sie befanden sich auf dem Rückweg in Richtung Bahnhof, gingen inzwischen eng umschlungen; sie fanden fast mühelos in den Gleichschritt. Zwischendurch blieben sie ein paar Mal stehen und küssten sich. Nora hatte damit begonnen, doch später war er es, der sie alle paar Meter in eine Nische der Uferpromenade schob. Er erwies sich als begnadeter Küsser, das hatte sie gar nicht erwartet.

Er habe sich immer als Fremdling gefühlt, erzählte er dazwischen, anders als die anderen. Und er sei ein Mensch mit vielen Ängsten. Seine Kindheit, als mittleres von fünf Geschwistern. Der Vater Arbeiter, die Mutter früh gestorben Schon als kleiner Junge habe er sich lesend in andere Welten geträumt. Ein Lehrer habe sich für ihn eingesetzt: Der Bub ist klug, er muss studieren. Doch „Studierte“ sei in seiner Umgebung ein Schimpfwort gewesen. Vom Vater habe er nie anerkennende oder ermunternde Worte gehört. Durch Schule und Studium habe er sich immer mehr von seiner Herkunftsfamilie entfernt, in eine innere Heimatlosigkeit.

„Und was machen wir jetzt damit?“ fragten sie sich, als sie sich eine halbe Stunde vor Abfahrt von Noras Zug in einem Café am Fluss in den letzten Strahlen der Abendsonne wärmten.

„Ich will dir nicht wehtun“, sagte er, all das vorwegnehmend, was folgen könnte. Doch Nora fühlte sich obenauf; sie hatte schon einiges erlebt und ihre Risikobereitschaft langfristig nie bereut. „Wir können uns hier und jetzt Lebewohl sagen“, meinte sie, „nur werden wir dann nie wissen, wie es gewesen wäre, wenn wir dem eine Chance gegeben hätten. Oder wir können einfach von Mal zu Mal sehen, wie sich das weiterentwickelt zwischen uns. Mach dir um mich keine Sorgen“, fügte sie hinzu – saß sie vielleicht ein bisschen zu sehr auf dem hohen Ross? - „Ich bin schon groß, ich kann die Verantwortung für mich selbst übernehmen. Du musst nur für dich wissen, was du willst.“

In dieser letzten halben Stunde ging es immer hin und her, ja oder nein, her und hin, vielleicht lieber doch nicht oder doch, ja, unbedingt! – während sie unaufhörlich aneinander herumfummelten. „Du bist mir so vertraut, als kennten wir uns schon seit Ewigkeiten“, bekannte er, „die Leichtigkeit, mit der wir uns verstehen, der Klang deiner Stimme, wie du dich anfühlst, deine Haut.“

„Ich glaube, ich bin ein schwieriger Mensch“, gestand er, als wolle er sie vor sich warnen. „ich bin so in mir selber verknotet.“ Nora fühlte ein überwältigendes Bedürfnis, ihn an sich zu drücken. Gewiss – das sagte sie später auch dem Therapeuten, vielleicht schon in der ersten Stunde – gewiss konnte man nicht behaupten, dass Clemens sie im Unklaren über sich gelassen hatte. Sie war offenen Auges und erhobenen Hauptes in diese Affäre hineinmarschiert. Und anfangs hatte die sich gar nicht schlecht angelassen. Es war im Gegenteil immer besser geworden, ihre Beziehung hatte sich mit sozialer Wirklichkeit angefüttert, Nora hatte sich zunehmend aufgehoben und sicher gefühlt – bis nach einigen Monaten das Kippeln begann.

Nach diesem ersten Treffen, als noch alles offen schien, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich glaube, das wird ein Traum bleiben. Er hat sich sein Leben lang im selben Milieu bewegt. Wenn er den Absprung bisher nicht geschafft hat, wird er ihn auch jetzt nicht machen. Ein depressiver Einzelgänger, der sein Leben nach dem Muster eingerichtet hat, im Vertrauten ein Fremdling zu bleiben. Ich tue besser daran, ganz still zu halten. Und doch fühle ich diese starke Attraktion, auch physisch. Ich spüre, dass es ihm ernst ist. Er spielt nicht herum. Er zieht keine Show ab.“

Zwei Tage später rief Clemens an, mit kleiner Stimme. „Ich will die Türe nicht zuschlagen. Ich will dich wiedersehen.“

Nora glaubte sich innerlich schon fast von ihm verabschiedet zu haben.

„Ich habe nachgedacht“, verkündete er, „ist es nicht besser, wenn ich dieses Gefühl zulasse, als wenn ich erst durch eine Krankheit erfahre, dass ich noch lebe? Du hast doch gesagt, du hältst demnächst wieder einen Vortrag in meiner Nähe? Wo genau? Ich könnte“, sagte er, „dich am Nachmittag vorher dort treffen.“

Nora war verdutzt. Doch nach kurzer Überlegung lehnte sie ab. Nein, das wolle sie nicht. Es würde sie zu sehr durcheinander bringen, sie müsse sich in den Stunden vorher auf ihren Abendauftritt konzentrieren. Das war der letzte Stand, als sie zwei Tage später zu der Reise aufbrach, erleichtert, standhaft geblieben zu sein. Nur so hatte sie eine Chance, innerlich zur Ruhe zu kommen. Nach dem Vortrag fiel sie erschöpft in ihr Hotelbett. Doch am nächsten Morgen um neun Uhr kam ein Anruf von der Rezeption: da sei ein Herr, der sie sprechen wolle.

Ihr Herz hüpfte. „Schicken Sie ihn herauf“, sagte sie.

5. Das schlaue Füchslein

Nach der ersten Therapiestunde erwachte Nora gegen drei Uhr morgens in der festen Gewissheit, dass Clemens tot sei. Sie setzte sich abrupt im Bett auf, konnte aber den ganzen Traum nicht wieder herholen – außer einer schwarz gerahmten Todesanzeige, die sie noch deutlich vor sich sah: „Clemens“, darunter sein Geburtsjahr, nichts weiter, kein Nachname, kein Textzusatz. Name und Jahreszahl waren mit sehr dicken Balken sehr schwarz umrandet.

Sie wollte diese Botschaft nicht akzeptieren und schrieb Clemens einen Brief, über dem sie schon länger gebrütet hatte. Das sollte ihr über die zehn Tage bis zur zweiten Therapiestunde helfen und den unausbleiblichen Verrat aufhalten. Denn mit T. über Clemens zu reden, würde unweigerlich bedeuten, die Fäden zu kappen. Mit dem Brief versuchte sie, das jäh abgebrochene Gespräch fortzusetzen. Sie erinnerte ihn an all das, was sie miteinander verbunden hatte; sie beschwor ihn, ihrer Beziehung noch eine Chance zu geben. Sie mühte sich, ihn nicht anzuklagen, hielt ihm aber vor, dass er zugleich mit ihr den besten Teil seiner selbst aufgebe. Sie verbot sich zu jammern, musste ihm aber trotzdem ihr ganzes Elend vorführen. „Es ist wie nach Ernsts Tod. Manchmal liege ich morgens beim Aufwachen zusammengekrümmt im Bett, es tut einfach weh, so viel Körperoberfläche zu haben, die nicht mehr berührt und gestreichelt und dadurch wirklich wird.“ War das rührselig? Peinlich? Ja. Aber sie wollte ehrlich sein. Einen ganzen Nachmittag lang reihte sie wie getrieben Satz an Satz und fühlte sich ihm dabei noch einmal sehr nah. Entschloss sich dann, den handgeschriebenen Entwurf in den Computer zu tippen, er wurde darüber immer länger, drei Druckseiten, engzeilig; das kam ihr selber reichlich theatralisch vor. Sie wartete zwei Tage, bevor sie den Brief abschickte, ging ihn mehrfach durch, kürzte, musste dann aber doch diesen oder jenen Gedanken noch genauer ausführen, kürzte abermals. Es blieben drei Seiten.

In der zweiten Stunde kam T. ihr älter vor als beim ersten Mal, älter und müder. Er schien ihr manchmal fast ein bisschen ungeduldig, er redete merklich mehr. In einigen seiner Äußerungen schien Missbilligung mitzuschwingen, sie schloss daraus, dass er sie bald wieder loswerden wolle. Er machte sie darauf aufmerksam, dass sie sich mit einem verheirateten Mann eingelassen habe. Warum Clemens sie an ihren Vater erinnere? Wollte T. die alte Ödipusnummer in den Mittelpunkt rücken? Warum sie nicht wütend auf Clemens sei? Sie habe sich ihrem Geliebten gegenüber wie die Große Mutter aufgeführt. T. stellte heraus, dass die Initiative meist bei ihr gelegen habe, zumindest zu Beginn, dass sie sich offenbar mit der Passivität eben so schwer tue wie Clemens mit der Aktivität. Und wieder: Sie haben ihm seine Depression abgenommen, nun sei die Depression bei ihr. Warum sie ihr Leben vor Clemens für gut gehalten habe und jetzt fände, es sei alles nur auf Sand gebaut? Nora, verwirrt, konnte kein Muster in seinen erratischen Anmerkungen ausmachen. Warum sprang er so wild hin und her? Warum blieben sie nicht bei einem Thema?

Wie viele Stunden man denn einfach so, ohne Antrag, auf das Versicherungskärtchen nehmen könnte?, fragte sie gegen Ende ängstlich. Jetzt wird er mir drei Adressen nennen, bei denen ich es versuchen soll, weil er keinen Platz für mich hat. Stattdessen antwortete er: „Fünf Stunden, und dann müssen wir mal weiter sehen.“ Aber im August sei er in Urlaub. „Tut mir leid“, fügte er noch hinzu. Das klang fast freundlich. Und immerhin bot er ihr nach langem Starren in seinen Bürokalender einen dritten Termin schon in fünf Tagen an. Nora atmete erst einmal auf.

Nach dieser Stunde fuhr sie am Supermarkt vorbei, schon wieder hatte sich Durchreisebesuch angekündigt. Sie wollte keinen Besuch, sie wollte allein sein, mit niemandem reden müssen. Alles strengte sie übermäßig an – „die Hitze! Es ist diese bestialische Hitze!“, sagten die Leute um sie her. Doch Nora wusste, für sie war die anhaltende Hitzewelle eine Verbündete, Rechtfertigung dafür, tagein, tagaus nur im Garten zu sitzen und vor sich hin zu starren. An der Gemüseauslage traf sie zufällig auf die junge Frau Huber. „Wie geht´s?“, erkundigte sie sich im Vorübergehen, pro forma, nach einem Schwatz war ihr nicht zumute. „Schlecht!“, erwiderte die unerwartet heftig, „haben Sie etwa die Gerüchte noch nicht gehört? Das ganze Dorf redet doch davon. Der Johannes hat die Fliege gemacht.“ Johannes, ihr Mann, war der ortsansässige Installateur. Nora blieb erschrocken stehen und gab ein paar nichtssagende Sätze von sich. Maria Huber war klein, wirkte fast mädchenhaft in ihrem geblümten Sommerkleidchen, obwohl ihre beiden Jungs inzwischen um die zehn Jahre alt sein mussten. „Mit der Tussi aus der Bäckerei!“, stieß sie voll Gift hervor, „die kennen Sie sicher auch, neun Jahre älter als er, elf Jahre älter als ich, drei Kinder. Die machen zwei Familien kaputt.“ Sie wisse nicht, wie sie das überleben solle. „Der Johannes ist vollkommen verrückt. Niemand aus dem Dorf wird ihm mehr Aufträge geben. Er wird darüber noch bankrott gehen.“

Der Dämon der Leidenschaft. Es traf Nora wie ein Schlag in die Magengrube, die alte Geschichte so unvermittelt aus diametral entgegengesetzter Perspektive um die Ohren gehauen zu bekommen. Sie ertappte sich bei Sympathien für Johannes Huber, trotz des Mitgefühls für seine Frau, die sich entsetzlich fühlen musste, ausgestochen von einer obendrein viel älteren Konkurrentin. Was konnte die haben, das die Huber nicht hatte? Eine bildhübsche kleine Frau, die ihr allerdings immer ein bisschen verklemmt erschienen war. Johannes Huber hatte gewagt, wofür Clemens zu feige war. Er stand zu seiner Liebe, so abwegig die den anderen erscheinen mochte, er nahm für sie in Kauf, von seinem sozialen Umfeld geächtet zu werden.

Die letzten zwei, drei Vorträge waren absolviert, ihre Sommerpause begann. Sie müsste jetzt eigentlich über neue Schreibprojekte nachdenken. Ihr bescheidenes finanzielles Polster schmolz dahin. Sie sollte ein paar kleinere Aufträge zum Geldverdienen einholen und sich ein neues großes Thema für ein Buch suchen, das ihrem Leben wieder Inhalt und Sinn geben könnte. Täglich rief sie sich zu: Lass dich nicht so hängen! Es wird dir besser gehen, sobald du wieder arbeitest! Doch es half nichts. Sie konnte sich zu nichts aufraffen. Sie wartete auf Clemens´ Antwort. Er ließ sich Zeit.

Die dritte Therapiestunde kam erfreulich schnell. Doch nachträglich schien ihr, als habe sie sie schlecht genutzt, geradezu vertändelt. Was hatte sie nur geritten, ihr gesamtes Liebesleben vor T. auszubreiten, alle ihre Männer hintereinander weg, am Stück, im Schnelldurchgang, kaum zwischendurch Luft geholt. Der Auslöser war ein Halbsatz gewesen, von der Art „So etwas wie mit Clemens habe ich zuvor nie erlebt“, den sie dann selber relativierte: „Oder vielleicht schon einmal, etwas Ähnliches, ganz früher, ähnlich, aber doch irgendwie anders“. Noras Liebesleben als Kurzreferat. T. äußerte sich dazu kaum, hörte nur aufmerksam zu. Das sich wiederholende Muster der verheirateten Männer und der Dreiecke, von denen aber nur das allererste, noch vor Ernst, in eine vergleichbare Katastrophe gemündet war wie mit Clemens jetzt. Damals war sie erst Anfang zwanzig gewesen, naiv, unerfahren. Es erklärte, warum Antons Liebesverrat sie damals hart getroffen hatte, ließ es aber noch rätselhafter erscheinen, warum ihr die Trennung von Clemens heute dermaßen zu schaffen machte. Mit ihren anderen Dreiecken war sie dagegen nicht schlecht gefahren. Doch da war immer sie die Made im Speck gewesen, die Frau mit zwei Männern. Das hatte gut funktioniert, so lange Ernst lebte. Ernsts Tod war die größte Katastrophe ihres Lebens. Es konnte doch nicht sein, dass sie jetzt an Clemens, der Ernst nicht das Wasser reichen konnte, fast zugrunde ging.

T. kommentierte nüchtern: „Tod ist etwas anderes als Trennung.“ Dazu hätte Nora keinen Analytiker gebraucht. Doch dann kam noch ein anderer Satz, der sich, obwohl er eigentlich auch nichts Neues enthielt, in ihr Gedächtnis hakte: Dass sie ja wohl ein Problem mit Grenzen habe, wenn da öfter Beziehungen zu verheirateten Männern gewesen wären.

Endlich zog sie Clemens´ Antwortbrief aus dem Kasten. Er hatte sich acht Tage Zeit gelassen. Bevor sie die Bedeutung seiner Worte an sich heranließ, wunderte sie sich über die kindliche Handschrift, seine braven, fast nach Schablone gerundeten Buchstaben. Die war ihr früher nicht aufgefallen; meistens hatten sie ja gemailt. Er hatte sich sehr viel kürzer gefasst als sie, wenn auch sicher lange an seinen Sätzen gefeilt.