Mamas Vermächtnis - Herrad Schenk - E-Book

Mamas Vermächtnis E-Book

Herrad Schenk

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von einer Tochter, die endlich selbstständig wird – mit fast siebzig Mama ist tot, Thea bleibt zurück. Für sie war Mamachen in den letzten Jahren alles – und nun soll nichts mehr kommen? Das kann nicht sein, denn Mamachen, als Oma Annerose später Star der Fernsehserie »Die Schmidts«, hinterlässt neben einer großen Lücke einen Haufen ungeordneter Papiere und Fotos. Und ein Testament, das sich für Thea, immerhin selbst schon fast siebzig, als große Überraschung entpuppt. So muss sie sich nach der Entrümpelung der Wohnung auf den Weg in das Doppelleben ihrer Mutter machen – mit reichlich überraschenden Funden. Fragwürdigen Trost spenden die Damen aus ihrem Literaturkreis, allesamt Originale mit ganz eigenen und im Zweifelsfall wichtigeren Problemchen, und einige Männerbekanntschaften aus dem Netz, denn Thea hat die Suche nach dem Richtigen noch nicht aufgegeben. Herrad Schenk gewinnt einer unangenehmen Situation höchst unterhaltsame Seiten ab. Mit großer Sympathie zeigt sie eine lebenslange Tochter auf dem späten Weg ins eigene Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 228

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herrad Schenk

Mamas Vermächtnis

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Herrad Schenk

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

1. Die Trauerfeier

2. Die letzten Wochen

3. Der 90. Geburtstag

4. Das Wohnstift

5. Tagebuch einer schönen Seele

6. Mamas Nachlass

7. Der Literaturkreis

8. Im Internet

9. Mamas Karriere

10. Im Park

11. Vergilbte Fotos

12. Kasimir

13. Männer

14. Noch mal das Liebe Tagebuch

15. Die Vettern

16. Norgard

17. Das Doppelleben der Aimée Maquardt

18. Albtraum

19. Grey Eye

20. Tschechow lesen

21. Der gütige Doktor Brock

22. Kein Frühling

23. Vom Verfassen eines Briefs

24. Im Bistro

25. Liebe Thea

26. Hinrich

27. Noch einmal die Literatur

Inhaltsverzeichnis

1.Die Trauerfeier

Mama ist tot.

Sie war doch immer da. Unvorstellbar, dass sie mal nicht mehr da sein könnte. Gar nicht auszudenken. Mamalein, Mamachen! Thea würgte an einem Schluchzen, es hörte sich wie ein trockenes Schlucken an.

Die Trauerfeier war ein groteskes surreales Theaterstück. Doch Mama war wirklich tot. Tot hatte sie auf ihrem Bett gelegen, das seltsam groß wirkte, viel zu hoch, sie schien noch mal geschrumpft, bis auf die riesigen leeren Augen, die starr ins Nichts schauten. Jetzt befand sie sich da im Sarg auf dem Katafalk, Eiche barock, keine zwei Meter entfernt, auch der Sarg war zu groß für sie, und Thea konnte durch das Holz hindurch ihren Gesichtsausdruck sehen. Kränze und Blumengebinde, alles Schnickschnack, versöhnten sie nicht. Jemand sprach feierlich am kleinen Rednerpult neben ihr. Jetzt sei Gelegenheit zu Nachrufen gegeben, hatte die Trauerrednerin verkündet. Einen Pfarrer hätte Mama nicht gewollt, kein religiöses Ritual. Jedwedes weihevolle Gesäusel, auch weltlicher Natur, war ihr zuwider. Thea, stocksteif, stellte sich vor, wie sie von innen gegen den Sargdeckel klopfte, ungehalten.

Glaub nicht, du wärst mich los, nur weil ich gestorben bin!

Eine beeindruckende Frau mit einer einzigartigen Ausstrahlung. Ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Eine großartige Persönlichkeit in einem zuletzt so fragilen Körper.

Und jetzt? Was jetzt? Die schwere Zeit war vorüber. Würde sie aufatmen, wieder leben können? Sie war so schrecklich allein. War sie doch immer schon gewesen. Und ihr eigenes Leben nun fast vorbei.

Der da gerade redete, musste wohl ein Schauspieler sein, ein ehemaliger Kollege. Thea bekam nicht viel mit. Alles zerfloss. Von Beileidsbezeugungen bitten wir abzusehen. Sie hatte »wir« auf die Todesanzeige setzen lassen, obwohl es doch nur sie allein gab, die Vettern Wolfgang und Ulrich samt Ehefrauen zählten nicht wirklich. Nichtsdestoweniger war sie heilfroh, dass die jetzt rechts und links neben ihr saßen. Jochens Schwester Marga zählte erst recht nicht, und Margas Kinder, Theas angeheiratete Neffen und Nichten, selbst die Kinder von Ulrich und Wolfgang, hatten Mamachen überhaupt nur von Weitem gekannt. Sehr anständig, dass sie trotzdem gekommen waren, sogar die behinderte Irene. Doch eigentlich hatte es seit Anbeginn der Zeiten nur Mama und Thea gegeben, sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum. Sodass durchaus Grund zu Zweifeln bestand, ob es sie überhaupt ohne Mama würde geben können. Wenn dies nur schon vorüber wäre. Ulrich schaute prüfend zur Seite und fasste freundlich ihren Unterarm. Er hatte Mundgeruch.

Aus den Augenwinkeln konnte sie auf der anderen Seite des Gangs, rechts schräg hinter sich, ein paar Frauen aus dem Literaturkreis sehen. Sie schienen alle da zu sein, und Thea konnte sie denken hören: Es war höchste Zeit, diese Mutter im Sarg war fast hundert, sie sollte erleichtert sein. Ihr selbst war mehr danach, sich gleich dazuzulegen. Zuletzt hatte sie wirklich geglaubt, dass Mama sie überleben würde. In einem halben Jahr würde sie siebzig sein.

Die Trauerfeier war Theater. Theater war Mamachens Metier. Wäre sie zufrieden gewesen mit dieser Aufführung, in der sie als Hauptperson nur eine stumme Nebenrolle spielte? Unsäglich jammerte das Saxofon, das sie sich ausdrücklich gewünscht hatte, ein völlig unpassendes Instrument für eine Beerdigung, fand Thea, genau deswegen passte es zu Mama. Vor Jahren hatte sie mal gesagt, dass sie sich einen blauen Sarg wünsche, aber so was gab es nicht im Sortiment der Bestattungsfirmen. Die Glastür an der Längswand glitt lautlos beiseite. Nachtblau sollte er sein, mit kleinen silbernen Sternen, wie sie es auf einem mittelalterlichen Bild gesehen hatte, typisch Mama. Vier livrierte Träger fassten den gediegenen Sarg, herkömmlich hellbraun. Tut mir leid, Mamachen!

Sie folgten zu dritt. Vetter Ulrich rechts, unangenehm wehte sein fauliger Atem um Theas Nase, Vetter Wolfgang links, mit entleerten feierlichen Mienen beide, hakten sie beruhigend unter, erst der eine, dann der andere. So viele Menschen. Sie hatte sich nicht klargemacht, dass ihre Mama vor wenigen Jahren noch eine öffentliche Person war. Sie sollte sich jetzt zusammennehmen, denn alle würden herschauen, sie musste noch eine halbe Stunde am offenen Grab die Stellung halten, dann war es endgültig vorüber, und das neue Leben begann. Sie brauchte einen Kaffee, vielleicht sogar einen Schnaps. Auch Ulrich sollte einen Schnaps nehmen, um den Mundgeruch zu überdecken.

Während der Trauerfeier hatte es geschneit. Thea konnte den sanften, weichen Flocken durch die große verglaste Seitenwand beim Fallen zuschauen, das war tröstlich, irgendwie beschwichtigend. Nun, da sie aus der Kapelle traten, brach die Sonne durch die Wolken, und auf einmal sah der alte Friedhof ringsum verklärt und feierlich und abermals ganz unwirklich aus, als sie sich um die schwarze Grube gruppierten. Abschiedsgala für Mama.

Sie registrierte aus den Augenwinkeln die Menschenmenge, die sich immer noch den Hang zum Grab hinaufschob, sogar mit Blumen in der Hand.

Was wollte dieser Mann von ihr? Dieser melancholisch blickende Hüne im schwarzen Hut, langem schwarzen Mantel, der, nachdem er sein Schäufelchen Erde auf den Sarg hatte rieseln lassen, nicht schweigend beiseitetrat, sondern auf sie zukam, ihre beiden Hände packte, wie im Schraubstock presste und sie dabei feuchten Auges fixierte? Sie hatten sich dergleichen doch ausdrücklich verbeten. »Ich bin Hinrich!«, murmelte er. Rat suchend blickte sie in die Gesichter der Vettern. Ulrich zuckte kaum merklich die Achseln, Wolfgang schüttelte sachte den Kopf, da war der zudringliche Mensch schon in der Menge verschwunden und tauchte auch später beim Mittagessen der geladenen Gäste nicht mehr auf.

»Sicher einer dieser unermüdlichen Verehrer deiner Mutter«, meinte Ulrich später. Er schien enttäuscht, dass das Fernsehen sich nicht mehr für Mamachens Beerdigung interessiert hatte.

Inhaltsverzeichnis

2.Die letzten Wochen

Mamachen hatte während des ganzen Winters an einer hartnäckigen Grippe laboriert. Nachdem die Lungenentzündung überstanden war, murmelte Dr. Rackermann etwas von spastischer Bronchitis. Waren es wirklich nur zwei, drei Wochen gewesen, in denen sie so verfiel? Kein wirkliches Gespräch war mehr möglich gewesen.

»Wie geht es dir?«

»Gut«, nur so dahingesagt. Oder: »Geht so.« Oder: »Siehst du ja selbst.« Was sonst hätte sie Thea auch antworten sollen.

»Was machst du heute?«

Nichts. Liegen, schlafen, dösen, ziellos herumlesen. Da bleibt man doch zwangsläufig dem Vegetativen verhaftet. Schlaf? Wieder lange wach gelegen. Appetit? Nein – wenig – gar nicht. Schmerzen? Immer Schmerzen, mal mehr – mal weniger.

Thea war jeden Tag, zuletzt auch während der Nächte, bei ihrer Mutter gewesen, die sich mit Riesenschritten entfernte. Jetzt war es also vorbei.

Manchmal waren bei Mamachen befremdliche Aggressionen aufgeflackert, die sich immer gegen Thea, nie gegen Frau B. richteten, der gegenüber sie stets gleichmäßig höflich blieb. Geschah das, weil sie sich von ihrer Tochter gegängelt, entmündigt fühlte? Auch Thea war dann nicht immer ruhig geblieben. Sie gifteten einander an, ein kurzer dramatischer Auftritt mit funkelnden Augen, gepressten Stimmen, um kurz darauf beide verstört innezuhalten. Thea schämte sich umso mehr, als der Kampf so ungleich war und sie spürte, dass Mamachens Wut nicht wirklich ihr galt. Sie wütete gegen die Hilflosigkeit. Nichts mehr allein machen zu können, sich immer helfen lassen zu müssen, dazu die Angst: Welche Schrecken warten noch? Wie wird das Ende sein?

Nach der Lungenentzündung, dem Krankenhausaufenthalt war sie nicht mehr richtig zu Kräften gekommen. Schlaff hing sie im Sessel, konnte sich kaum aufrecht halten und starrte das Telefon in ihrer Hand lange an, bevor sie sich aufraffen konnte, eine Nummer zu wählen. Manchmal vergaß sie darüber, wen sie hatte anrufen wollen. Sternstunden, wenn ein seltener Energieschub zum Verfassen einer Briefkarte ausreichte. Ihre früher so schön geschwungene, klare Handschrift jetzt krakelig, kaum zu entziffern, rauf und runter, gezickelt, gezackelt, klitzeklein.

Anfangs hangelte sie sich noch mühsam allein vom Sofa über den Sessel und die Stuhllehne zur Türklinke, von da am Fenstersims entlang zum Klo. Dann brauchte sie Hilfestellung und Stütze bei jeder dieser Etappen – nicht zuletzt, dachte Thea grimmig, weil sie sich hartnäckig weigerte, Stock oder Rollator zu benutzen. »Ich bin doch keine Krücken-Oma!«, empört. Inzwischen hätte ihr auch ein Stock keinen zuverlässigen Halt mehr gegeben.

Nach dem Sturz konnte sie sich ohne Hilfe kaum mehr durch die Wohnung bewegen, die Spaziergänge draußen hatten sie längst eingestellt. Am Ende verbrachte sie den größten Teil des Tages auf dem Sofa liegend. Von Zeit zu Zeit entglitt ihr das Buch, das sie in der Hand hielt. Dann schreckte sie hoch: »Denk nicht, ich hätte geschlafen! Ich habe nachgedacht.« Sie brauchte das wohl mehr für sich, als um Thea zu täuschen.

Kleinste Handreichungen erschöpften sie. Aus tiefen Sesseln konnte sie sich allein nicht mehr aufrichten. Manchmal staunte Thea darüber, wie lange sie es überhaupt noch ohne Hilfestellung in ihr Bett geschafft hatte. Sie war durch die Osteoporose so geschrumpft, dass sie sich qualvoll recken musste, um mit dem Po die Bettkante zu erreichen. Die Beine seitlich nachzuziehen, erwies sich als schwierigstes Unterfangen. War ihr das keuchend gelungen, blieb sie lange über der Bettkante hängen, zappelnd wie ein unglücklicher Käfer, eine gefährliche Balance, bis sie wieder genug Kräfte gesammelt hatte, sich vom Bettrand in die Mitte zu schieben. Thea lebte in beständiger Angst, sie könnte bei dieser Prozedur aus dem Bett kippen.

Mamachen mühte sich ab und kämpfte. Manchmal gab es noch kurze Augenblicke, in denen ihr alter Witz aufblitzte, ihre Fähigkeit zur Selbstdistanz. »Der Doktor denkt, sie ist perdü, aber nein, noch lebet sie«, begrüßte sie Dr. Rackermann bei seinem letzten Besuch und kicherte. Doch als er sich auf ihren Ton einließ – »Ich sehe, es geht Ihnen wieder besser, notieren Sie sich jetzt schon mal, dass ich zu Ihrem hundertsten Geburtstag eingeladen werden will« –, da verdüsterte sich ihr Gesicht. »Larifari, Firlefanz, Sie brauchen mir nichts vorzumachen.«

Gegen Abend bildeten sich hektische rote Flecken auf ihren Wangen und ihre Atemnot, das panische Keuchen, nahm zu. Wie fest sie Thea manchmal am Arm packte, Halt suchend! Als konzentrierte sich der ganze Rest ihrer Lebenskraft in diesem klammernden Griff. Was will sie mir noch sagen?, dachte Thea, und manchmal auch, mit schlechtem Gewissen: Warum lässt sie nicht einfach los? Wann geht sie endlich!

Es gab so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen. So vieles, das sie kaum zu denken wagte.

Wenn Mamachen eingeschlafen war und die Muskulatur um die Kiefer erschlaffte, lockerte sich unweigerlich der obere Teil der Vollprothese und rutschte ein bisschen nach vorn, dann bleckten sich im geöffneten Mund die künstlichen Zähne, viel zu lang und viel zu weiß für ihr kleines eingefallenes Gesicht. Ein Totenkopf, dachte Thea schaudernd. Diese tief in den riesigen Höhlen liegenden Augen, diese so hauchdünn gewordene papierene Haut, die den nackten Schädel überzog, seine Schutzlosigkeit betonend, und nur über den Wangengruben ziehharmonikaartige Falten warf. Was hält sie bloß noch hier? Sie zuckte schuldbewusst zusammen, wenn Mamachen ganz plötzlich die Augen aufriss, ihre sehr hellblauen Augen, und Thea fixierte mit einem Blick von weit her.

»Wie fühlst du dich heute?«

»Geht so. Aber es war eine grässliche Nacht. Ich liege wach und denke schlimme Dinge.«

»Was für Dinge?«

Mamachen holte tief Luft und sah Thea nur an.

Die ertrug das Schweigen nicht, wandte sich ab und trat ans Fenster, schaute hinaus, Januar, Februar, häufig ein hoher blauer Himmel, frostiges Hellblau, kleine weiße Wölkchen, die wacker über die kahlen Platanen dahinmarschierten. Nur Kulisse, denn eigentlich gab es keine Welt außerhalb dieses Zimmers mehr. Sie fühlte Mamachens Blick im Rücken und wusste nicht, was sie ihr sagen sollte. Du weißt doch selbst, dass du stirbst. Hast du Angst vor dem Sterben?

Mamachens Aktionsradius schrumpfte jetzt mit der gleichen unheimlichen Geschwindigkeit, mit der sie an Gewicht verlor – man konnte förmlich dabei zusehen. Thea ertappte sich dabei, wie sie ihre schlafende Mutter belauerte. Vielleicht wird sie ja ganz ruhig sterben, sie wird einfach so in sich selbst versinken. Sie wird immer müder und müder und durchscheinender und leiser und leiser werden, bis sie eines Tages nicht mehr da ist. Sagte man nicht »verlöschen«? Sie wird weniger und dann ganz unsichtbar werden und sich in nichts auflösen. Vielleicht war das ein Wunsch. Und dass es jetzt, am Ende, schnell gehen sollte.

Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus schien Mamachen zunächst einigermaßen ruhig. Dankbar, wieder in ihrem eigenen Umfeld zu sein und einigermaßen befriedet, als sei sie bereit, den Dingen ihren Lauf zu lassen, ohne sich aufzubäumen.

Der nächtliche Terror begann erst nach dem Sturz. Bis dahin hatte sie eigentlich gut geschlafen, mithilfe eines – wie Dr. Rackermann versicherte – relativ sanften Schlafmittels. Doch dann stürzte sie auf dem Weg zur Toilette – wieder hatte sie sich allein auf den Weg gemacht, statt Frau B. um Hilfestellung zu bitten! – und brach sich zwei Rippen. Die Frakturen drückten – so der Doktor – auf die Lunge und verursachten, im Verein mit der Bronchitis, Bedrängnis, Schmerzen, Atemnot. Er verschrieb Mamachen morphiumhaltige Schmerztabletten.

Sie zeigte kein Interesse mehr für politische Sendungen im Fernsehen und sie schrieb auch keine Briefe mehr. Thea wünschte sich fast, sie würde noch manchmal von ihren Liebesabenteuern und vergangenen Zeiten erzählen. Rede mit mir, dachte sie manchmal, so rede doch mit mir, irgendwas, wenn Mamachen nun fast den ganzen Tag apathisch auf dem Bett lag, vollständig angezogen, darauf legte Frau B. wert, ein Buch neben dem Kopfkissen.

»Soll ich dir was vorlesen?«

Mamachen sah mit einem abwesenden Blick durch Thea hindurch und schloss die Augen.

In den allerletzten Nächten war dann diese schreckliche Unruhe über sie gekommen. Thea übernahm die aufreibenden Nachtschichten, damit Frau B. sich tagsüber ausgeruht um Mamachen kümmern konnte.

Alle paar Augenblicke wurde sie von Mamachens Umtrieben geweckt. Nach dem ersten Gang aufs Klo, gegen elf Uhr, bei dem Thea sie stützte, fror sie und bat um eine zweite Decke. Um Mitternacht wollte sie sich das Hemd von der Brust reißen, weil es »zu eng« sei; wahrscheinlich war es das orthopädische Korsett darunter, das Beklemmungen verursachte. Dr. Rackermann riet daraufhin, es nachts wegzulassen – ohne es dürfe sie aber ganz bestimmt keinen Schritt allein tun, wegen der Gefahr eines neuerlichen Sturzes, schärfte er Thea ein, der unweigerlich weitere Knochenbrüche mit sich bringen würde. Wenn es gar nicht anders ginge, müssten sie Windeln benutzen. Die trug sie doch ohnehin schon. Um ein Uhr wollte sie schon wieder aufs Klo und auf dem Weg dahin sämtliche Fenster weit aufreißen. Um drei Uhr goss sie sich eine halbe Flasche Mineralwasser über das Bett – dabei war das Wasserglas auf dem Nachttisch noch gut gefüllt. Thea wurde vom Geräusch zersplitternden Glases aus dem Dämmern gerissen. Scherben zusammenkehren, Kissen austauschen, Deckbett neu beziehen und auf die andere Seite drehen, das Laken hatte glücklicherweise kaum etwas abbekommen, das Nachthemd wechseln. Um fünf Uhr musste Mamachen abermals zum Klo, wirkte danach aber ruhiger und fiel in einen tiefen Schlaf, während Thea wach lag, völlig ausgelaugt, wie durch den Wolf gedreht.

»Was war denn los in der Nacht?«

»Es war anarchisch«, nuschelte Mamachen. Vielleicht hieß es auch »archaisch«, man verstand sie so schlecht, wenn sie ihr Gebiss nicht trug. Jetzt beginnt sie, wirres Zeug zu reden, dachte Thea. Doch eigentlich trafen diese abstrusen Worte ziemlich genau die geisterhaften letzten Tage.

Trotz der wachsenden Belastung, trotz ständigen Schlafmangels hatte Thea bei Mamachen ausgeharrt, hatte sich immer wieder zur Geduld ermahnt, war nicht von ihrer Seite gewichen – bis auf ein paar Stunden zum Ausschlafen nach dieser einen besonders grauenhaften Nacht. Und genau diese kurze Zeit ihrer Abwesenheit hatte sich ihre Mutter ausgesucht, um zu sterben. Es fiel Thea schwer, dahinter keine Absicht zu vermuten.

Inhaltsverzeichnis

3.Der 90. Geburtstag

»Wie wir altern, ist das letzte große Abenteuer unseres Lebens«, hatte Mamachen an ihrem 90. Geburtstag verkündet. Das sprang Thea plötzlich wieder in den Sinn, während sie in der Küche angebrochene Lebensmittelpackungen, ohne sie einzeln näher zu besehen, in einen schwarzen Plastikmüllsack warf. Mit diesem Ausspruch war Mamachen anlässlich des runden Geburtstags in fast allen seriösen Blättern zitiert worden. Und eigentlich, dachte Thea, hat sie dieses Abenteuer, wenn man mal von der allerletzten Zeit absieht, ganz ordentlich bestanden.

»Die Schauspielerin Aimée Maquardt – mit bürgerlichem Namen Amalia Mackrodt – ist gestern 90 Jahre alt geworden. Die Geschichte dieser erstaunlichen Frau und beliebten Schauspielerin, bekannt geworden als Oma Annerose in der Fernsehserie ›Die Schmidts‹, deren eigentliche Karriere erst jenseits der 80 begann, ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts«, hieß es im Feuilleton einer überregionalen Zeitung.

Mamachen behauptete gern, dass ihr Leben zwei Weltkriege umspanne – etwas hochstaplerisch angesichts der Tatsache, dass sie kurz vor Ausbruch des ersten Kriegs geboren war und während ihrer ersten vier Lebensjahre wohl kaum viel von der Zeitgeschichte mitbekommen hatte. Bei ihrer ungewöhnlichen Vitalität werde sie wohl noch lange vor der Kamera stehen, prophezeiten wohlwollende Kritiker anlässlich des 90. Geburtstags. Damals war auch Thea geneigt, das anzunehmen.

Milchreis. Spaghetti. Kakaopulver. Sie hatte gleich nach Mamas Tod, schon vor der Beerdigung, mit den Aufräumarbeiten in der Wohnung begonnen, zunächst nur halbherzig. Jetzt spürte sie wachsenden Widerwillen, verbunden mit dem dringlichen Wunsch, es zügig hinter sich zu bringen. Erst die Küche, das schien am einfachsten. Puddingpulver. Tütensuppen. Eigentlich hätte sie einige der Vorräte selbst noch verwenden und aufbrauchen können, doch irgendwie ekelte sie sich davor.

»Wie wir altern, ist das letzte große Abenteuer unseres Lebens«, hatte Mamachen also den Journalisten verkündet. Sie formulierte es nachdenklich, ein wenig zögernd, in die Mikrofone, als sei ihr dieser Gedanke eben erst gekommen. Dabei hatte sie den Spruch schon öfter zum Besten gegeben, wenn ihr philosophisch zumute war.

Ein paar Stunden zuvor allerdings, als Thea zum Frühstück kam, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen – Besuch des Bürgermeisters, Anruf des Ministerpräsidenten, der Empfang, den der Sender für sie ausrichtete –, hatte Mamachen die Tür mit Leidensmiene geöffnet. Statt sich über die sündhaft teuren Rosen zu freuen, brach sie in Tränen aus. »Was soll Miss Sophie ohne James mit ihrem 90. Geburtstag?« Hatte sie dabei an ihren letzten Mann oder an einen ihrer Liebhaber gedacht? Sie schluchzte herzerweichend. »Mama«, mahnte Thea hilflos, »nun beruhige dich doch, Mamalein, jeden Augenblick wird der OB hier sein, und es warten schon Journalisten vor dem Haus.«

»Alle sind sie tot«, rief Mamachen schluchzend. »Ich weiß, ich sollte einfach nur dankbar sein, dass ich so alt geworden bin«, sagte sie und fügte rasch hinzu, »und natürlich auch darüber, dass es dich gibt.« Von einem Augenblick zum anderen gab sie sich einen sichtbaren Ruck, hörte zu weinen auf und redete ganz ruhig mit ihrer Fernsehstimme weiter: »Natürlich bin ich das auch. Ich habe viel Glück gehabt im Leben. Aber um meine Geburtstagstafel herum sitzen nur die Toten, und da ist niemand mehr, der mir hilft, sie in der Erinnerung lebendig zu halten.« Thea schien das ausnahmsweise keine Pose. Mamachen war tatsächlich Miss Sophie, hatte sie damals gedacht, und natürlich war sie, die einzige Tochter, kein annähernd tauglicher Ersatz für den treuen Butler James – obwohl sie doch auch immer ihr Bestes gegeben hatte. I’ll do my very best. Das schlagartig zu begreifen, machte sie traurig. Mamachen hatte die Bewunderung ihrer Männer gebraucht wie ein Lebenselixier. Die der Tochter reichte offensichtlich nicht. Horst, ihr letzter Gefährte, hatte ihren Triumph nicht mehr miterlebt.

»Ich hasse Selbstmitleid«, sagte Mama leise – mehr zu sich selbst oder mehr zu Thea, die für das Publikum stand? –, während draußen der dunkle Mercedes vorfuhr, der sie zum Empfang bringen sollte. »Und natürlich habe ich keinerlei Grund zum Jammern. Ich bin eine glückliche Frau.«

Wenig später erzählte sie draußen auf der Straße dem Oberbürgermeister lächelnd, nachdenklich leise, dass das Alter ihr willkommen sei als das letzte große Abenteuer eines jeden Lebens. Die Journalisten standen mit gereckten Mikrofonen um die beiden herum, sie hatte sich wieder gefangen, ihr Make-up zeigte keinerlei Spuren von Tränen, die Kameras klickten und surrten. »Die Liebe«, setzte sie dann hinzu und gab ihrer Stimme dieses gewisse Timbre, »ist sicher das andere große Abenteuer, so lange sie dauert, doch zurückblickend – und glauben Sie, ich weiß, wovon ich spreche, junger Mann – erscheint uns manche große Leidenschaft unseres Lebens banal, ja manchmal kindisch, wenn nicht gar überflüssig und wie nichts im Vergleich zu diesem letzten Abenteuer.«

Der Oberbürgermeister, der die sechzig sicher überschritten hatte, aber nicht den Eindruck erweckte, auf die andere Sorte Abenteuer bereits verzichten zu wollen, lächelte geschmeichelt über Mamachens Anrede. Er reichte ihr den Arm, öffnete ihr galant die Tür zum Fond seines Dienstwagens, den er dann selbst etwas kurzatmig auf der anderen Seite bestieg, schäkernd, während Thea neben dem Chauffeur Platz nahm. Für Mama waren inzwischen auch die jungen Alten nichts als junge Leute. »Den jungen Herrn Maier«, pflegte sie damals ihren 70-jährigen Wohnungsnachbarn zu titulieren. Um ihn vom alten Herrn Maier zu unterscheiden, erklärte sie Thea unwirsch. Der war ein großer Fan von ihr und gerade im gesegneten Alter von 93 verstorben.

Die Journalisten, die sie an diesem Tag interviewten, überboten sich in Lobeshymnen auf Mamachens Vitalität und Haltung – ihre Contenance, hier und da fiel das altmodische Wort – und es traf zu, dachte Thea, der Mamachens Verzweiflung vom Morgen nun selbst nur noch theatralisch erschien. Die alte Dame hielt sich bis zum Ende des Empfangs vorzüglich, obgleich es ein schwüler Julitag war, der auch Jüngeren sichtlich zu schaffen machte. Thea konnte sie jetzt noch vor sich sehen, als sei es gestern gewesen, wie erstaunlich aufrecht sie zu Beginn des Empfangs ging und stand. Später hatten der Programmdirektor und der Regisseur auf Stühlen beharrt, und sie saß da und lächelte wie Queen Mom in die sie umgebenden Gesichter und Kameras. Luise, ihre Friseuse und Kosmetikerin, war morgens bei ihr gewesen; ihre Frisur schimmerte silbrig-weiß und hielt gut; nur Thea und Luise wussten, wie schütter ihr Haar in Wirklichkeit war. Ganz Grande Dame badete sie in den Huldigungen, die man ihr darbrachte. Falten, natürlich, doch sie kleideten sie, ebenso wie die tief liegenden, brennenden Augen. Das taubenblaue Kostüm stand ihr vorzüglich. Nur ihr Hals – »wie eine Galapagos-Schildkröte!«, hatte sie sich kürzlich bei Thea beschwert –, jetzt sorgfältig mit einem eleganten Seidentuch kaschiert, und die von der Arthrose verdickten Fingerknöchel verrieten ihr hohes Alter. Durch die sehr dünne, papierene Haut ihrer Handrücken schimmerten die wie schutzlos liegenden Venen, trotz der dicken Schicht getönter Hautcreme. Wenn Thea diese Hände betrachtete, war Mamachen ihr ganz nah und vertraut, doch es war wie ein verbotener Blick in einen intimen Bereich.

Woher nimmt sie bloß diese Energie?, hatte sie damals gedacht, während Mamachen die vielen geladenen Gäste mit ihrer umwerfenden Präsenz, dem lebendigen Blitzen ihrer Augen, ihrem schnellen Mutterwitz bestrickte. Darf ich Sie mit meiner Tochter Thekla bekannt machen? Die fühlte sich grau und alt neben dieser Mutter, die meiste Zeit wie unsichtbar.

Doch abends dann, kaum dass Thea sie wieder nach Hause gebracht hatte, fiel Mamachen ganz plötzlich in sich zusammen. Klein und müde, um zwanzig Zentimeter geschrumpft, mit krummem Osteoporose-Rücken und erloschenem Blick hockte sie auf der Bettkante.

»Soll ich dir beim Ausziehen helfen?« Mamachen nickte, wortlos und ergeben.

»Ich hab so viel falsch gemacht im Leben«, murmelte sie kaum hörbar, als Thea sich verabschiedete.

»Was redest du, Mama?«, fragte Thea, die ebenfalls todmüde war und sich nach ihrem eigenen Bett sehnte. Mamachen reagierte nicht, sie hatte diesen nach innen gerichteten Blick, als ob sie Theas Anwesenheit gar nicht mehr bemerkte.

Als ob ich überhaupt nicht zählte, an diesem Abend, nach diesem Tag, hatte sie damals gedacht, sehr gekränkt. Sie warf Mamachens Lebensmittelvorräte in die schwarzen Restmüllsäcke, so schnell sie konnte. Sie wollte noch heute mit den Küchenregalen fertig werden.

Inhaltsverzeichnis

4.Das Wohnstift

Jetzt also den Nachlass angehen, am besten sofort, es gar nicht erst auf die lange Bank schieben, dadurch würde sie Abstand gewinnen, danach würde sie sich besser fühlen. Zwar war sie noch unschlüssig, ob sie die Wohnung verkaufen oder vermieten sollte – oder nicht überhaupt selbst hier einziehen?

Etwas länger als ein Jahrzehnt hatte Mamachen in der eleganten, hellen Dreizimmerwohnung gelebt, sie war nur ein wenig verwohnt, das kleine Arbeitszimmer hatten sie zuletzt zum Gästezimmer umfunktioniert, in dem die polnische Pflegerin wohnte. Es gab einen großen Balkon und, wichtiger noch, einen Aufzug im Treppenhaus.

Hier boten sich doch weitaus bessere Bedingungen für ihr eigenes Altern als in der dunklen Altbauwohnung, in der sie nach Jochens Tod allein zurückgeblieben war. So oder so, aufgeräumt werden musste, und Thea fühlte eine große Unruhe; sie konnte jetzt nicht tagelang beschäftigungslos zu Hause herumhocken. Wo beginnen?

»Dalli! Dalli!«, hörte sie Mamachen fröhlich rufen, »an die Gewehre, dawai, dawai! Sa rabotu!« – oder auch »Spude dich, Kronos!«, mit hessischem »t«, die ganze bunte Mischung.

Sichten und Ordnen. Die Beileidspost konnte warten, bis sie innerlich ruhiger geworden war. Wäre Mamachen noch beim Fernsehen gewesen, hätte sie sich bestimmt nicht retten können vor den mehr oder minder herzlichen Zeichen der Anteilnahme; sie brauchte nur an die Körbe von Post zu denken, die zu ihrem 90. Geburtstag eingetroffen waren. In den letzten Jahren war es merklich ruhiger um Aimée Maquardt geworden – ›Maquardt‹ bitte französisch auszusprechen, hörte sie Mamachens Stimme.

Ausmisten, Wegschenken, Wegwerfen. Frau Borodcziej hatte ihr, weil sie noch bis Ende des Monats bezahlt wurde, Hilfe beim Räumen angeboten, doch fremde Menschen waren das Letzte, was sie jetzt brauchte. Frau B. sollte am Ende gründlich putzen. Sie war rücksichtsvoll genug gewesen, noch am Tag von Mamas Tod aus dem Gästezimmer auszuziehen, und wollte bei einer Freundin wohnen, bis sie wieder nach Polen zurückmusste oder von der Agentur weitervermittelt wurde.

Im Wohnzimmer roch es nach Möbelpolitur und auch – ja, ein wenig modrig. Mamachen hatte schon länger nicht mehr in ihrem Lieblingssessel beim Fenster gesessen und »My home is my castle!« verkündet. Zuletzt war ihr Lieblingsspruch »Mein gutes Bett!«. Und ganz zuletzt hatte sie überhaupt nicht mehr viel gesagt.

Nachdem die Lebensmittel entsorgt waren, schien es am einfachsten, mit dem Bad weiterzumachen.

Eigentlich hatte sich Mamachen ja vor langen Jahren, mit 83, schon für ein Wohnstift entschieden. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes war sie allmählich zu der Einsicht gelangt, dass sie jetzt älter werde und deswegen ihre viel zu große und überaus unpraktische Wohnung aufgeben solle, in der sie mit Horst gelebt hatte, und dass, wenn schon Umzug, dabei auch einer sich möglicherweise irgendwann mal einstellenden Hilfsbedürftigkeit Rechnung getragen werden sollte. Das Augustinum, mit dem sie liebäugelte – »überwiegend kultivierte Menschen dort, auch erfreulich viele Männer« – war für ihre Verhältnisse eindeutig zu teuer. Nach längerer Zeit der Suche, mit der sie Thea beauftragt hatte, freundete sie sich mit dem Evangelischen Wohnstift an, das gut geschnittene Appartements anbot, einen geräumigen Wohnraum mit Kochnische, ein kleines Schlafzimmer samt behindertengerechtem Bad plus WC, eben noch bezahlbar. Auf Wunsch täglich eine warme Mahlzeit im hauseigenen Restaurant, bei Bedarf Essen auf Rädern, Putz- und Handwerkerservice – und ambulanter Pflegedienst bei niedrigster Pflegestufe, natürlich zusätzlich zu bezahlen.