In Den Fesseln der Liebe - Barbara Cartland - E-Book

In Den Fesseln der Liebe E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

In einer mondhellen Januarnacht kommt es für Marquis von Broome, den Freund und Vertrauten des Prinzregenten, zu einer schicksalhaften Begegnung. In seiner Reisekutsche befindet sich ein blinder Passagier! Doch damit nicht genug: Unter der Männerkleidung steckt eine schöne junge Dame. Diese Entdeckung hat weitreichende Folgen, die das Leben des Marquis schlagartig verändern. Denn die junge Unbekannte bewahrt nicht nur den Marquis, sondern die gesamte britische Regierung vor einem grauenhaften Anschlag. Ein hochspannender Liebesroman mit politischen Intrigen und Verschwörungen.

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In den Fesseln der Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1990

Gestaltung M-Y Books

Zur Autorin

Barbara Cartland wurde 1901 geboren und stammt mütterlicherseits aus einem alten englischen Adelsgeschlecht. Nach dem Tod des Vaters und Großvaters ernährte ihre Mutter die Familie allein.  Sie war zweimal verheiratet und hatte drei Kinder. Ihre Tochter Raine war die Stiefmutter von Prinzessin Diana von Wales. Sie schrieb über 700 Romane, die ein Millionenpublikum ansprechen. Barbara Cartland starb im Jahr 2000.

1820

Der Marquis von Broome unterdrückte ein Gähnen.

Er fand die überhitzte, stickige Luft von Carlton House noch unerträglicher als gewöhnlich und fragte sich, wie lange es noch dauern werde, bis er endlich gehen könne. Obwohl er den Prinzregenten aus mannigfachen Gründen schätzte und bewunderte, langweilten ihn dessen nicht enden wollende Partys, die in letzter Zeit immer häufiger und gleichzeitig immer eintöniger wurden, von Mal zu Mal mehr.

Veranstaltungen ohne Abwechslung. Immer dieselben Leute, dieselben Gesichter, dieselben Gespräche.

Ermüdend!

Es gab nur eins, was sich auf Carlton House änderte und einem ständigen Wechsel unterworfen war: der Sinn des Prinzregenten.

Im Augenblick war der Stern Lady Hertfords im Sinken begriffen. In absehbarer Zeit würde wohl die Marchioness von Conyingham den Platz der königlichen Favoritin einnehmen.

Doch wer immer die große, korpulente ältere Lady sein mochte, die jeweils die Gunst des Herrn von Carlton House genoß, die Gespräche blieben die gleichen, die Gedanken und Gefühle der Menschen im Land, sobald sie auch nur den Mund auftat.

Das einzige, was dem Marquis auf Carlton House Freude bereitete, war die Gemäldesammlung, welcher der Prinzregent fast wöchentlich eine Neuerwerbung hinzufügte, und die zusammen mit den kostbaren Möbelstücken, Skulpturen und sonstigen Kunstgegenständen die königliche Residenz immer mehr in ein Museum verwandelten.

Wieder gähnte der Marquis, und einer seiner Freunde, der gerade an ihm vorbeikam, blieb vor ihm stehen und meinte: »Langweilst du dich, Ivo, oder bist du noch müde von den Exzessen der vergangenen Nacht?«

»Ich langweile mich«, gab der Marquis, nicht sehr gesprächig, zur Antwort.

»Dabei dachte ich, du hättest heute abend den Vogel abgeschossen«, fuhr Henry Hansketh fort. »Meine Thusnelda jedenfalls redet zu viel. Und wenn es etwas gibt, was ich bei einer Frau hasse, dann ist es ihr Geplapper, sobald es Tag geworden ist.«

Der Marquis schwieg, und Lord Hansketh nickte, er wußte, daß sein Freund es sich zur Regel gemacht hatte, niemals über Frauen zu reden, an denen er interessiert war - gleichgültig, ob es sich dabei um eine Lady oder eine Halbweltdame handelte.

»Ich hab' das Gefühl, Prinny zieht sich bald zurück«, sagte Henry Hansketh und wechselte das Thema. »Ein Segen, daß er älter wird und nicht mehr so lange aufbleiben kann wie früher.«

»Da sagst du was«, erwiderte der Marquis. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten, in denen der Prinz von Wales keine Nacht in die Federn kroch, bevor der Morgen graute.«

Lord Hansketh lachte.

»In die Federn kriechen? Muß ich mir merken!«

Er nickte erneut.

»Obwohl du schon bessere Bonmots von dir gegeben hast.«

»Ich schenke es dir«, seufzte der Marquis. »Du wirst zweifellos Gelegenheit haben, es oft genug an den Mann zu bringen.«

Sein Freund grinste.

»Natürlich. Du bist eben der Geistreichere von uns, und deine Bonmots gehören nun mal zu den Dingen, die wir dir ungestraft entwenden können.«

Der Marquis hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er sah zum Prinzregenten hin, der in diesem Moment Lady Hertford den Arm bot, um sie aus dem chinesischen Salon zu geleiten.

Er schätzte, daß er Carlton House mit etwas Glück in den nächsten zehn Minuten verlassen konnte.

Als könnte er Gedanken lesen sagte Lord Hansketh: »Und wie sieht deine nächste Verabredung aus, Ivo? Möchte nur zu gerne wissen, ob ich mit meiner Vermutung, wer wohl heute abend die Glückliche ist, richtig liege.«

»Deine taktlosen Andeutungen kannst du für jemanden anders aufbewahren«, erwiderte der Marquis. »Aber ich kann dich beruhigen. Zufällig werde ich nach meinem Aufbruch von hier auf dem nächsten Weg nach Broome fahren!«

»Was, jetzt mitten in der Nacht?« rief Henry Hansketh erstaunt.

Der Marquis nickte.

»Ich habe da ein bestimmtes Pferd, das ich vor dem Hindernisrennen am kommenden Samstag unbedingt noch ein wenig trainieren möchte.«

»Und dieses Rennen möchtest du natürlich unbedingt gewinnen.«

»Das hängt ganz davon ab, wie gut dieses bestimmte Pferd ist!«

Sekundenlang herrschte Schweigen zwischen ihnen.

Dann rief Lord Hansketh: »Natürlich, jetzt weiß ich, wovon du sprichst. Du hast auf der Versteigerung des armen D'Arcy eine Anzahl neuer Pferde erstanden. Ich nehme an, das Tier, von dem du sprichst, stammt daher.«

»Deine Annahme ist korrekt«, erklärte der Marquis trocken. »Und zufällig war ich sehr verärgert, als D'Arcy mir bei Tattersall's Agamemnon vor der Nase wegschnappte, nur weil ich ausgerechnet an dem Tag, an dem er zum Verkauf stand, verhindert war.«

»Agamemnon«, wiederholte Lord Hansketh. »Ich erinnere mich an den Namen! Ein prächtiges Tier - und ein Biest dazu. Mein Gott, war das ein Aufruhr, als man es in die Arena brachte! Drei Männer reichten kaum, den Hengst zu bändigen!« .

Er bemerkte das schwache Lächeln auf den Lippen des Marquis, bevor dieser sagte: »Man hat mir erzählt, wie wild er sich gebärdete. Und obwohl ich D'Arcy ein Kaufangebot machte, lehnte er ab. Natürlich nur, um den Preis in die Höhe zu treiben. Er selbst war nie in der Lage, mit dem Tier zurechtzukommen;«

»Was dir nicht die geringste Mühe bereiten wird, nicht wahr?« versetzte Hansketh augenzwinkernd.

»Ich hoffe es zumindest«, antwortete der Marquis gelassen.

Seine Stimme verriet Selbstbewußtsein und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, was charakteristisch für ihn war.

Ungewöhnlich gutaussehend, überragte er die meisten der anwesenden Herren um Haupteslänge. Und an seinem schlanken, athletischen Körper gab es keine Unze überflüssigen Fetts.

Der Marquis von Broome galt in der Sportwelt als sehr erfolgreich. In der Tat besaß er eine begeisterte Anhängerschaft unter den Reitsportfans, und sein Erscheinen auf den bekannten Rennplätzen löste wahre Beifallsstürme aus.

Gleichzeitig jedoch hielten ihn diejenigen, die sich seine Freunde nannten, für unberechenbar und in gewisser Weise für undurchschaubar und rätselhaft.

Obwohl es kaum eine schöne Frau gab, die ihm nicht bereitwillig ihr Herz zu Füßen gelegt hätte, war sein Interesse am weiblichen Geschlecht von sehr wählerischer Natur. Er hatte sich den Ruf erworben, herzlos, ja oft sogar völlig abgestumpft gegenüber den Damen zu sein.

»Er ist hartherzig und grausam«, hatte eine der Schönen seufzend allen geklagt, die es hören wollten.

Dies war um so befremdlicher, da der Marquis als leidenschaftlicher Gegner jeder Art von Tierschinderei und Brutalität im Reitsport galt.

Ihm war es zu verdanken, daß man in der eleganten Welt Stierkämpfe aufs äußerste verpönte. Und man wußte von ihm, daß er einen Mann mit dessen eigener Peitsche traktiert hatte, als er Zeuge wurde, wie dieser sein Pferd mißhandelte.

Die Tränen der Damen dagegen ließen den Marquis kalt, gleichgültig wie mitleiderregend sie wirkten und wie reizvoll ihnen die Tränen auch zu Gesicht stehen mochten.

Dem Zeitgeist entsprechend hielt sich der Marquis allerdings wie alle seine adligen Zeitgenossen regelmäßig eine Mätresse, der er seine besondere Gunst schenkte.

Bei einer solchen Mätresse handelte es sich immer um eine gefeierte Halbweltschönheit, die von sämtlichen Beaus der St. James' Street umschwärmt wurde, und die er diesen Gentlemen zu deren Verdruß vor der Nase weggeschnappt hatte.

»Wenn du mich fragst«, hatte Lord Hansketh einmal einem Freund anvertraut, »ich glaube nicht, daß Broome auch nur das leiseste Interesse an diesen Frauen hat, die er da der Reihe nach in feinem Haus in Chelsea einquartiert und mit Pelzen und Geschmeide behängt. Im Grunde geht es ihm nur darum, uns, die wir uns derartige Eskapaden nicht leisten können, zu ärgern und neidisch zu machen.«

»Falls du damit sagen willst, daß Broome an Linette in Wirklichkeit nichts liegt, dauert es nicht mehr lange, bis ich ihm ein Stück Blei in den Kopf jage«, erwiderte derjenige, mit dem Henry Hansketh sprach.

Dieser lachte schallend.

»Das wird dir weniger gelingen als ein Flug zum Mond, Charlie. Hast du vergessen, wie schnell und zielsicher Ivo mit einer Pistole ist? Bisher hat noch nie jemand im Duell eine Chance gegen ihn gehabt.«

»Zum Teufel mit ihm! Warum macht immer er das Rennen - egal, ob mit Pferden oder bei den Frauen?«

Wieder lachte Henry Hansketh.

»Du bist nur neidisch auf ihn, Mann. Genau das ist es, was mit dir nicht stimmt. Aber tröste dich: Ich kenne Ivo so gut, daß ich weiß, er ist trotz all der Dinge, um die wir ihn beneiden, nicht wirklich glücklich.«

»Nicht glücklich?« rief Charlie ungläubig. »Natürlich ist er das! Wie sollte ein Mann nicht glücklich sein bei diesem Reichtum und mit all den Häusern und Landgütern, die er besitzt.«

»Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, daß Ivo etwas fehlt«, beharrte Henry Hansketh auf seiner Meinung.

Doch während ihre Kameraden sich aus lauter Verliebtheit und Liebeskummer fast umbrachten, behielt Ivo immer einen klaren Kopf. Und wenn er jemals in eine Frau verknallt gewesen war, mußte es ihm gelungen sein, dies selbst vor seinen engsten Freunden zu verbergen.

Ivo schien auf diesem Gebiet das Gemüt eines Eisberges zu haben.

Umgekehrt die Damen. Sie schmolzen dahin bei seinem Anblick, verliebten sich rettungslos in ihn.

Lord Hansketh, der ununterbrochen mit dem Marquis zusammen gewesen war, konnte ein Lied davon singen. Die Ladys hätten Ivo am liebsten gefressen vor Liebe, und die Zahl der dezent nach Parfüm duftenden Billets, die täglich vom frühen Morgen bis zum späten Abend in seinem Stadthaus auf dem Beverly Square eintrudelten, waren Legende.

Ob er sie jemals öffnete und las, ob er auch nur ein einziges davon beantwortete, blieb ein Geheimnis.

Der Marquis war also in diesem Punkt eine Enttäuschung für seine Zeitgenossen.

Der Klatsch kam bei ihm nicht auf seine Kosten. Das endlose Getuschel speiste sich aus Vermutungen. Nur eins stand wirklich fest: Nichts im Leben des begehrten Junggesellen deutete auch nur vage auf eine Eheschließung hin.

Henry Hansketh überlegte im Augenblick, ob der Marquis allein nach Broome fahren wollte, oder ob er lieber Gesellschaft hätte und er ihm vorschlagen sollte, ihn zu begleiten.

Wenn es etwas gab, was den Lord begeisterte, dann war es der Umgang mit den unübertrefflichen Pferden, die sein Freund besaß. Ein Ritt auf einem dieser Tiere war für Henry Hansketh gewissermaßen die Spitze der Fahnenstange.

Zudem währte ihre Freundschaft nun schon so lange, daß sie immer etwas zu bereden hatten, und die Stunden, die sie miteinander verbrachten, waren nicht nur ein intellektueller Genuß, sondern rundherum vergnüglich.

Dann erinnerte sich Henry Hansketh, daß er dem Prinzregenten versprochen hatte, ihn am nächsten Morgen in den Buckingham-Palast zu begleiten.

Er mochte sich von seiner Teilnahme an den Carlton-House-Gesellschaften entziehen können, während er es bei den Pflichtbesuchen im Buckingham-Palast nie fertigbringen würde.

Der Regent näherte sich nun endgültig der Saaltür. Sämtliche Ladys, an denen er vorbeischritt, sanken knicksend zu Boden, und die Gentlemen beugten ruckartig die Kopfe.

Beleibt, rosig und doch mit einem unerklärlichen Charme, entschwand der Prinz - Lady Hertford am Arm - dann endlich den Blicken der Gäste, und der Marquis sagte erleichtert: »Jetzt aber nichts wie weg! Kann ich dich irgendwo absetzen, Henry?«

»Nein, besten Dank«, erwiderte sein Freund. »Ich muß noch mit einigen Leuten reden, bevor ich aufbreche. Bleib nicht zu lange auf Broome. Obwohl ich nicht umhinkann, dich zu beneiden um die frische Landluft und das Kräftemessen mit Agamemnon. Du wirst es sicher genießen.«

Das schwache Lächeln, das die Lippen des Marquis umspielte, verriet ihm, daß es genau das war, worauf der Freund sich freute.

»Ich glaube, du kommst am besten am Donnerstagabend oder Freitag im Laufe des Tages«, sagte der Marquis nach einer kurzen Pause. »Bis Montag nächster Woche wird uns hier voraussichtlich niemand mehr brauchen.«

»All right, Ivo. Ich hatte zwar einer sehr attraktiven Lady versprochen, sie am Freitagabend zum Dinner auszuführen, aber ich werde mir schon eine Entschuldigung ausdenken und zu dir nach Broome rauskommen.«

Der Marquis hatte die Zustimmung seines Freundes nicht abgewartet, sondern sich zum Gehen gewandt.

Mit raschen Schritten verließ er den chinesischen Salon, nachdem er geschickt der Prinzessin von Lieven, der Gemahlin des russischen Botschafters, ausgewichen war.

Sie galt als sehr geistreich und scharfzüngig und war schon seit geraumer Zeit hinter dem Marquis her - allerdings ohne Erfolg.

Er eilte die kunstvolle Doppeltreppe hinunter, die nach Fertigstellung des Hauses überall große Bewunderung gefunden hatte, und durchquerte die prächtige Halle mit den hohen jonischen Säulen aus braunem Siena-Marmor.

Nachdem ein Diener ihm den pelzgefütterten Umhang um die Schultern gelegt hatte, trat er durch das Portal auf den korinthischen Säulenvorbau hinaus.

Augenblicklich erschien Linkman und rief: »Der Wagen des hochwohlgeborenen Marquis von Broome!«

Der Marquis hatte seinem Diener gesagt, daß er die Party des Prinzregenten so früh wie möglich verlassen werde, und als sein Wagen Sekunden später vorfuhr, richteten sich sämtliche Augenpaare auf die sechs rassigen Rapphengste, die ihn zogen.

Es war ein neues Gefährt, das der Marquis nach eigenen Angaben hatte anfertigen lassen, und es war erst wenige Tage in seinem Besitz. Ungewöhnlich leicht gebaut und so hervorragend gefedert, konnte man glauben, die leuchtend gelb lackierten Räder berührten während der Fahrt kaum die Fahrbahn.

Der Marquis stieg ein. Der Diener legte ihm eine Zobeldecke über die dunklen Kniehosen, und kaum hatte er den Wagenschlag, auf dem das prächtig verzierte Wappen der Broomes prangte, geschlossen und auf dem Kutschbock Platz genommen, als die Pferde sich auch schon in Bewegung setzten.

Wenn der Marquis etwas nicht mochte, dann waren es Verzögerungen bei der Abfahrt und Schneckentempo während der Reise.

Er war es gewohnt, daß sein Kutscher ein Gespann mit derselben Geschicklichkeit lenkte wie er selbst, und daher verlangte er immer eine Fahrgeschwindigkeit die eventuelle Mitreisende in Angst und Schrecken versetzte und ihnen die Haare zu Berge stehen ließ. Meist saßen sie stumm und in verkrampfter Haltung auf der Sitzbank, und auf ihren angstbleichen Gesichtern stand die bange Frage, ob sie ihr Reiseziel überhaupt lebend erreichen würden.

Derartige Ängste kannte der Marquis nicht. Im Gegensatz zu vielen Männern von Welt, die es ablehnten, sich kutschieren zu lassen, weil sie selbst hervorragend mit einem schnellen Gespann umzugehen vermochten, überließ er die Zügel gern seinem Driver. Er vertraute dessen Fahrkünsten hundertprozentig, denn der Mann stand bereits seit vielen Jahren in seinen Diensten.

Sobald sie den dichten Verkehr in der Pall Mall hinter sich gelassen hatten und in die St James' Street und anschließend in den Piccadilly eingebogen waren, lehnte sich der Marquis behaglich in die Polster zurück, hob die seidenbestrumpften Beine und legte die Füße auf die gegenüberliegende Sitzbank.

Auch sie war dick gepolstert, denn sie diente nicht nur als Sitzgelegenheit, sondern auch als eine Art Safe, der mit einem Spezialschloß versehen war und der Unterbringung von Wertgegenständen während der Reise diente.

Wegelagerer, die es wagten, die Kutsche zum Halten zu bringen, hatten keine Ahnung von der Existenz eines solchen Safes.

Es war eine Erfindung des Marquis selbst, und es gab noch einige andere Besonderheiten, die sein Gefährt zu einer Einmaligkeit machten.

Doch die Einmaligkeit seines schnellen Reisewagens und die wohlgesicherte und geräumige Unterbringungsmöglichkeit für Wertgegenstände darin, waren im Augenblick nicht das, womit sich ihr Besitzer beschäftigte. Seine Gedanken waren bei Agamemnon und dem Genuß, den der erste Ritt auf dem neu erworbenen Hengst ihm bereiten würde.

Er freute sich auf die Herausforderung, die auf ihn zukam, denn er würde all sein Können und seinen ganzen Mut brauchen, um mit diesem wilden, ungestümen Tier fertig zu werden.

Außerdem war der Marquis, wie Lord Hansketh bereits vermutet hatte, müde.

Und Müdigkeit war etwas, was der Marquis normalerweise nicht kannte. Aber in der Nacht zuvor war es ungewöhnlich spät geworden – und das nach einer Reihe vorausgegangener Nächste, die er in der gleichen Weise zugebracht hatte.

Doch wie spät es auch in der Nacht zuvor geworden war, es führte nie dazu, dass der Marquis auf seine morgendlichen Ausritte in den Park verzichtete, solange er sich in London aufhielt.

Er benutzte dazu immer die ersten Stunden des Tages, da er dann meist allein war und auf andere Reiter keine Rücksicht nehmen musste. Er konnte genau das tun, was ihm Freude machte.

An diesem Morgen hatte er außerdem nach dem Frühstück noch einen Boxkampf in Wimbledon besucht. Einer der beiden Kämpfer stand unter dem Patronat des Marquis und hatte selbstverständlich gewonnen.

Dem Besuch der Boxkampfarena war ein Mittagessen mit dem Premier und einem Mitglied des Parlaments gefolgt, und bei dieser Zusammenkunft waren Probleme zur Sprache gekommen, die den Marquis sehr interessierten.

Er machte sich nämlich ernsthafte Sorgen wegen der Gewaltausbrüche, den revolutionsartigen Aufständen und Bedrohungen der gesellschaftlichen Ordnung, die das Jahr 1815 entscheidend geprägt hatten und nun erneut aufzuflammen schienen.

Eine Anzahl eher optimistischer Politiker hielt dies für ein unnötiges Aufbauschen der Lage.

Doch Lord Sidmouth unterstützte die Linie des Marquis und teilte seine Einschätzung der Ereignisse. Er hatte erklärt, die dunklen Wolken im Norden kündeten seiner Überzeugung nach ein schweres Unwetter an, und dem Lordkanzler hatte er in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, daß er sowohl die gesetzlichen Handhaben als auch die polizeilichen Mittel für nicht ausreichend halte, um die aufrührerischen Kräfte zu bändigen.

Nur wenige Freunde des Marquis, Lord Hansketh ausgenommen, hatten eine Ahnung davon, welchen Wert die Teilnehmer solcher privater Treffen auf die Meinung des Marquis legten und wie aufmerksam sie seinen Darlegungen zu diesem Thema lauschten.

»Es muß etwas unternommen werden - und das unverzüglich«, sagte er jetzt halblaut vor sich hin. »Andernfalls wird es riesigen Ärger geben, denn Reformen sind schon lange überfällig.«

Er begann im Geiste die Maßnahmen aufzuzählen, die er ergreifen würde, wenn er Premierminister wäre.

Unterdessen hatte die Kutsche die Vorstädte hinter sich gelassen und das offene Land erreicht. In schwindelerregendem Tempo ging es über Straßen, die hart und trocken waren nach einer langen Periode ohne Niederschlag und mit nur leichtem Frost in den Nächten.

Wie der Marquis bei der Planung seiner Reise vorausgesehen hatte, schien ein voller Mond vom sternenübersäten Himmel, und der Kutscher war nicht auf den kläglichen Lichtschein der Wagenlaterne angewiesen.

Deutlich sichtbar lag die Fahrbahn vor ihm, von den Sternen am Himmel fast taghell erleuchtet.

Länger als zwei Stunden würden sie für die Fahrt nach Broome, das mitten in den Surrey-Hügeln lag, nicht benötigen.

Er war dabei, ein wenig einzunicken, als ihn plötzlich etwas hellwach werden ließ. Es waren nicht die Bewegungen der Kutsche, die Schuld daran hatten, sondern die Tatsache, daß etwas seine Füße aus einem ihm völlig unerklärlichen Grund nach oben drückte.

Am Anfang war er sich dieser Tatsache nur schwach bewußt geworden. Doch nun gab es keinen Zweifel mehr: die Sitzbank, auf der seine Füße lagen, bewegte sich! Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, das Schloß des Safes könnte nicht sorgfältig versperrt sein.

Ein Gefühl des Unwillens stieg in ihm auf, denn er war ein Mann, der auf äußerste Perfektion in seiner Umgebung Wert legte.

Ärgerlich nahm er die Füße von der Sitzbank, schleuderte die Pelzdecke von den Knien und beugte sich vor, um das Schloß zu prüfen.

In diesem Moment wurde zu seiner maßlosen Überraschung die Sitzbank, die gleichzeitig Safedeckel war, von innen hochgeklappt, und gähnendes Dunkel tat sich vor ihm auf.

»Was, zum Teufel...«, begann er leise, verstummte dann jedoch jäh.

Seine Rechte stieß in die dunkle Öffnung, um das mit stählernem Griff zu umspannen, was sich unter dem Kastendeckel verborgen hatte.

Ein heller Schmerzensschrei ertönte, und zwischen seinen kräftigen Fingern fühlte er etwas Warmes, Weiches.

Im Schein des Mondlichts sah er das Gesicht eines jungen Burschen, der auf dem Boden des Kastens kniete und mit vorwurfsvoller Stimme ausrief: »Sie tun mir weh!«

»Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?« fragte der Marquis wütend.

»Ich habe mich versteckt.«

Der Junge rieb sich den Nacken, während er sprach.

Er war sehr zierlich, schlank, was die Tatsache erklärte, daß er sich in dem leeren Safe überhaupt hatte verstecken können. Das Gesicht wirkte bleich und war umrahmt von einem dichten Helm blonder Locken.

»Ich nehme eher an, du wolltest mich berauben«, sagte der Marquis barsch. »Leider konntest du nicht mehr fliehen, ehe sich die Kutsche in Bewegung setzte, wie?«

Der Junge gab keine Antwort, sondern fuhr fort, seinen Nacken zu massieren.

Nach einer kurzen Pause sagte der Marquis: »Was ich wissen möchte, ist eins: Woher wußtest du, daß es unter diesem Sitz ein Versteck für dich gab? Und wie hast du das Schloß aufbekommen? Ich gehe nämlich davon aus, daß es abgeschlossen war.«

Der Junge blickte zu ihm auf, und der Marquis sah jetzt die untere Partie seines Gesichts. Es war herzförmig mit einer schönen, oval geformten Stirn und Augen, die groß und ausdrucksvoll wirkten.

Wieder herrschte Schweigen, bis der Marquis sagte: »Ich warte auf eine Antwort, und ich rate dir, die Wahrheit zu sagen, bevor ich dich meinen Dienern übergebe. Du bist dir doch darüber klar, daß du eine angemessene Strafe verdient hast, nicht wahr?«

»Ich habe Sie nicht bestohlen«, erwiderte der Junge. »Wie ich schon sagte, ich habe mich in Ihrer Kutsche nur versteckt.«

»Vor wem? Und weshalb ausgerechnet in meinem Wagen?«

»Weil er von sechs Pferden gezogen wird.«

Dem Marquis wurde plötzlich bewußt, daß der Junge eine sehr kultivierte und melodische Stimme besaß.

Außerdem erstaunte es ihn, daß der blinde Passagier keinerlei Anzeichen von Furcht verriet.

Der Marquis betrachtete den Jungen genauer. Das Jackett, das erkannte er auf den ersten Blick, war von der gleichen Art, wie er es selbst einmal in Eton getragen hatte. Doch anstatt des üblichen weißen Kragens, hatte sich das Bürschlein einen dunklen Seidenschal um den Hals geschlungen und vor der Brust zu einer Schleife gebunden.

»Ich nehme an, du hast eine Erklärung für dein seltsames Verhalten«, sagte der Marquis streng. »Ich habe doch sicherlich ein Recht darauf!«

»Ich habe nichts Böses getan«, erwiderte der Junge. »Na gut, ich habe mich ein Stück in Ihrer Kutsche mitnehmen lassen, ohne Sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Aber sobald wir London hinter uns haben, werde ich verschwinden, und Sie sind mich wieder los. Keine Angst also, ich könnte Sie noch länger belästigen!«

Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Mit etwas Glück würden Sie von meiner Anwesenheit überhaupt nichts bemerkt haben. Leider hab' ich mich drinnen schrecklich verbogen, und die Luft war so verbraucht, daß ich fast erstickt wäre.«

»Verdient hättest du es«, erklärte der Marquis ingrimmig. »Aber bevor dir dies oder etwas anderes zustößt, möchte ich doch noch gerne wissen, wie du in meine Kutsche gekommen bist und woher du dieses Versteck kennst?«

Zu seiner Überraschung überzog ein Lächeln das Gesicht des Jungen, ehe er antwortete: »Zufällig hat sich mein Onkel den gleichen Safe zum Schutz gegen Wegelagerer in seinen Reisewagen einbauen lassen, den er erst kürzlich gekauft hat.«

Die Haltung des Marquis versteifte sich.

»Das glaube ich nicht. Es war meine Erfindung, und die Wagenhersteller haben mir hoch und heilig versprochen, die Idee unter keinen Umständen beim Bau einer anderen Kutsche zu verwenden!«

Der Junge lachte, und der Marquis glaubte, einen leisen Spott in seiner Stimme zu erkennen.

»Sie müssen sehr vertrauensselig sein. Es gibt Leute, die würden die Schätze des Towers von London verkaufen, wenn man ihnen genug dafür zählt.«

»Verdammt, diese Firma wird nie wieder einen Auftrag von mir erhalten«, rief der Marquis wütend.

»Zufällig war es nicht die Firma, sondern einer Ihrer Angestellten. Und soviel ich weiß, wurde der Mann bald darauf gefeuert, weil er Schmiergelder angenommen hatte.«

Der Marquis grub seine Zähne in die Unterlippe, bevor er sagte: »Das, was du mir von diesem Angestellten gesagt hast, finde ich genauso tadelnswert wie die Tatsache deines Hierseins. Wer bist du also, und wie ist dein Name?«

»Auf diese Frage brauche ich nicht zu antworten«, erwiderte der Junge mit unerwarteter Würde. »Alles, um was ich Sie bitte, ist, mich bis in die nächste Stadt mitzunehmen, durch die Sie fahren, bevor Sie am Ziel sind. Dann können Sie vergessen, mich jemals gesehen zu haben.«

»Eine sehr seltsame Bitte«, erwiderte der Marquis. »Aber es ist doch wohl verständlich, daß ich etwas mehr über dich wissen möchte, bevor ich mich bereit erkläre, auf dein Ansinnen einzugehen, nicht wahr?«

»Ich sehe keinen Grund, weshalb Sie sich für mich interessieren sollten«, erklärte der Junge. »Wie gesagt. Sie hätten von meiner Anwesenheit nicht das geringste erfahren, wenn ich nicht befürchtet hätte, bei dem Luftmangel, der in dem Kasten herrschte, in Ohnmacht zufallen.«

»Im Augenblick besteht dazu wohl kaum noch eine Gefahr«, versetzte der Marquis tadelnd. »Ich schlage also vor, du stehst endlich auf, setzt dich mir gegenüber auf die Sitzbank, damit ich dich besser sehen kann und erzählst mir die Wahrheit über dich!«

Der Junge ließ ein Lachen hören. Es klang hell und impulsiv.

»Ich bezweifle stark, daß. Sie mir glauben werden«, sagte er dann. Und mit ernstem Unterton in der Stimme setzte er hinzu: »Aber lassen Sie mich Eurer Lordschaft versichern, daß es ungefährlicher für Sie wäre, wenn Sie, was mich betrifft, völlig ahnungslos und unwissend blieben. Vor allem den Grund, weshalb ich für eine kurze Strecke auf Ihre Gastfreundschaft angewiesen bin, sollten Sie am besten niemals erfahren.«

Die Art, wie er sprach, amüsierte den Marquis.

Er verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln und sagte: »Ich nehme an, du bist in der Schule durchgebrannt. Laß dir von mir sagen, daß dies nicht nur höchst unklug ist, sondern auch äußerst gefährlich für dich werden könnte.«

»Das ist allein mein Problem.«

Bei diesen Worten veränderte der Junge seine Stellung, in der er verharrt hatte, seit der Marquis ihn aus seinem Versteck herausgeholt hatte.

Während er sich nun auf der Sitzbank niederließ, massierte er sein linkes Bein, das ihn offensichtlich zu schmerzen schien.

»Falls du Schmerzen hast, solltest du niemanden außer dir einen Vorwurf machen!« sagte der Marquis kühl.

»Ich weiß«, war die Antwort. »Jetzt, wo das Blut wieder richtig zirkuliert, habe ich das Gefühl, es steckten tausend Nadeln in meinem Bein. Und das ist verflixt unangenehm.«

Er verzog das Gesicht und stellte den Fuß auf die Kante der Sitzbank, auf der er saß. Dann zog er das Hosenbein hoch und begann den Fußknöchel zu reiben.

»Schmerzt ganz höllisch«, verkündete er. »Das Bein ist so taub, daß ich zuerst überhaupt kein Gefühl darin hatte.«

»Von mir kannst du kein Mitleid erwarten«, erwiderte der Marquis immer noch verärgert. »Je früher du wieder nach Hause zurückgehst, um so besser für dich.«

»Wieder nach Hause? Ich denke nicht daran!«

Die Stimme des Jungen verriet Bestimmtheit.

»Und weder Sie noch sonst jemand auf dieser Welt können mich dazu bewegen.«

Trotz des Mondscheins vermochte der Marquis das Gesicht des Jungen nicht ganz deutlich zu sehen. Doch aus dessen Stimme sprachen Entschlossenheit und ungebrochener Mut.

Eine gewisse Anerkennung konnte der Marquis seinem Gegenüber nicht versagen, denn die feingliedrigen Hände und die zierliche Silhouette ließen darauf schließen, daß der mutige Ausreißer noch sehr jung sein mußte.

»Nun hör mir mal zu!« sagte er in verändertem Tonfall. »Jeder Junge hat in seinem Leben einmal den Wunsch, seinen Eltern davonzulaufen und die Schule loszuwerden. Doch du hast keine Vorstellung von den Schwierigkeiten, die draußen in der Welt, außerhalb des behüteten Daseins im Schoß deiner Familie, auf dich warten. Kehr also um, und sei kein Dummkopf!«

»Nein!« stieß der Junge trotzig hervor.