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Genau 40 Jahre ist es her, als Ada im Anwesen der Holts als Kindermädchen arbeitete und nicht verhindern konnte, dass der ihr anvertraute Junge hinter den Wänden des Hauses verschwand. Da verschwindet in besagtem Herrenhaus erneut ein kleiner Junge unter ihrer Obhut. Ada ist fest entschlossen, wenigstens dieses Kind zu retten und dem unheimlichen Treiben zwischen den Wänden ein Ende zu bereiten. Dass sie dadurch von den anderen Beteiligten nicht nur für verrückt, sondern sogar für die eigentlich Schuldige gehalten wird, stört sie nicht. Denn schließlich haben all diese Menschen nicht die geringste Ahnung von dem, was in den Wänden des alten Gemäuers tatsächlich geschieht.
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Seitenzahl: 344
Miriam Rademacher
IN DEN WÄNDEN
August 2012
In dem langen Flur stank es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel. Grelles Neonlicht ließ den weiß gefliesten Boden glänzen. Ebenso weiß waren die Wände und die Gardinen vor den vergitterten Fenstern. Nie zuvor war sie an einem so weißen Ort gewesen. Es war unheimlich.
Zwei paar Hände umklammerten ihre Arme. Das eine sanft, aber bestimmt, das andere mit unfreundlicher Härte. Die Menschen, zu denen diese Hände gehörten, liefen einen halben Schritt hinter ihr, sie konnte ihre Gesichter nicht sehen. Sie wusste genau, dass diese Leute nur ihren Job machten, aber der Griff des einen schmerzte zunehmend. Sie würde an dem Oberarm mit blauen Flecken rechnen müssen. Doch das war nicht wichtig. Sie hatten das Kind. Und irgendetwas musste unternommen werden.
Hinter sich hörte sie Stimmengewirr. Aufgeregte Stimmen, zornige Stimmen. Eine davon gehörte dem kettenrauchenden Polizisten, der in der vergangenen Stunde unentwegt auf sie eingeredet hatte. Sie konnte ihn nicht leiden. Er war dumm, und Dummheit konnte so gefährlich sein.
»Sie können sie jetzt nicht einfach schlafen schicken! Ein Kind ist verschwunden! Es schwebt vielleicht in Lebensgefahr! Und diese alte Schachtel ist der einzige Mensch, der uns etwas darüber sagen kann!«
Alte Schachtel.
Er war ein so grober und unerzogener Mann, dieser Polizist. Aber in diesem einen Punkt hatte er Recht: Das Kind befand sich in Gefahr. Nur würde er ihm wohl nicht helfen können.
»Jetzt hören Sie mir mal zu, Herr Inspektor: Diese Dame ist eine Patientin! Es geht ihr nicht gut. Und deswegen ist Ihr Verhör jetzt beendet!«
Ein netter Mann, dieser Doktor. Groß, hager, kurzsichtig und fast so alt wie sie selbst. Auch dumm, aber nett.
»Das Kind könnte sterben, bevor die Alte ihr Nickerchen beendet hat! Wollen Sie diese Schuld auf sich laden?«
»Dieses Gespräch ist hiermit beendet, Inspektor! Und hätte schon vor Stunden beendet sein sollen! Sie weiß nichts! Und sie weigert sich, mit Ihnen zu sprechen.«
Ein empörter Wutschrei hinter ihr ließ sie lächeln, während sie in einen Raum mit vergitterten Fenstern und einem schlichten Krankenhausbett geführt wurde. Es war ein guter Raum. Sie fühlte es. Die Wände waren allesamt in Ordnung.
»Sie weiß nichts? Wie können Sie nur so einen Unsinn faseln? Sie ist die einzige Person, die uns sagen kann, wo das Kind ist! Hören Sie, dieser Junge ist erst anderthalb Jahre alt. Anderthalb Jahre! Wissen Sie, was seine Eltern gerade durchmachen?«
Das sanfte Händepaar drückte sie auf das Bett und zog ihr die Pantoffeln von den Füßen, während das brutale stramme Lederriemen um ihre Handgelenke schnallte. Sie waren viel zu stramm, doch sie beklagte sich nicht. Für den Moment konnte sie nichts tun.
Eine flüsternde Frauenstimme drang an ihr rechtes Ohr: »Ada? Können Sie mich hören?«
Sie reagierte nicht. Sie verspürte eine bleierne Müdigkeit, die ganz und gar von ihr Besitz ergreifen wollte. Das hing sicher mit dieser kleinen, gelben Spritze zusammen, die der dumme, freundliche Arzt ihr vorhin gegeben hatte. Sie wehrte sich nicht. Ein wenig Schlaf würde ihr gut tun.
»Ada, neben Ihrer rechten Hand liegt ein Klingelknopf an einer Schnur. Wenn Sie Hilfe brauchen, drücken Sie einmal kräftig drauf, ja?«
Ada versuchte zu nicken, doch ihr Körper gehorchte ihren Befehlen nicht.
Sie hörte noch, wie die Frauenstimme sagte: »Glauben Sie denn wirklich, dass die Riemen nötig sind? Sie ist doch nicht gefährlich.«
Nein, Ada hielt sich nicht für gefährlich. Die Riemen an ihren Handgelenken waren völlig überflüssig. Doch ob die freundliche Frau auf ihre Frage eine Antwort erhielt, hörte Ada nicht mehr. Eine schwarze Woge spülte ihr Bewusstsein davon.
August 1972
»Sind Sie mein neues Kindermädchen?«
Ada blickte sich suchend um, konnte aber nicht ausmachen, woher die helle Mädchenstimme gekommen war. Das Büro, in welchem sie auf ihren neuen Arbeitgeber wartete, schien menschenleer zu sein.
»Mir gefällt Ihr Hut.«
Ada fasste sich instinktiv an das kecke, blaue Hütchen auf ihrem Scheitel. Noch immer wusste sie nicht, woher die Stimme kam, aber nach dem Ausschlussprinzip bot der Raum, dessen Wände mit mannshohen Regalen zugestellt waren, nur eine einzige Versteckmöglichkeit. Ada überlegte nur einen kurzen Moment lang, dann ließ sie sich vom Stuhl gleiten, kniete in ihrem neuen, blauen Kostüm und den teuren Seidenstrümpfen auf dem orientalischen Teppich und spähte unter den Schreibtisch.
Der Schreibtisch war ein spät-viktorianisches Monstrum, welches das ganze Zimmer beherrschte. Er sah aus, als wären schon literarische Werke von großer Bedeutung an ihm verfasst worden, doch das zarte Geschöpf, welches Ada nun unter der Tischplatte erspähte, hatte nichts Nobles oder Bedeutsames an sich.
Es war ein Mädchen von etwa fünf Jahren. Die Knie der Kleinen waren zerschrammt, das kurze Kleidchen verdreckt und ihre schwarzen Zöpfe in Auflösung begriffen. Als sie lachte, sah Ada, dass der Kleinen beide Schneidezähne fehlten.
Ada versuchte eine würdevollere Position einzunehmen und hockte sich auf ihre Unterschenkel, ihre neue Handtasche mit beiden Händen fest in den Schoß gepresst. »Guten Tag. Mein Name ist Ada, und wenn du willst, werde ich deine Erzieherin sein. Ich könnte aber auch deine Lehrerin sein, aber noch viel lieber wäre ich deine Freundin.«
Die Kleine musterte sie aus großen, grünen Augen. Dabei legte sie den Kopf schief und kaute mit den Eckzähnen auf ihrer Unterlippe. »Du kannst nicht meine Lehrerin sein, du bist viel zu jung.«
Das hatte Ada befürchtet. Allerdings war sie davon ausgegangen, diese Worte von dem Vater des Kindes gesagt zu bekommen.
Ada war in der Tat noch sehr jung. Erst zweiundzwanzig. Doch sie war schon immer schlau gewesen und wie ein Wirbelwind durch ihre eigene Schul- und Studienzeit gefegt. Sie war jetzt eine Lehrerin. Und auch eine Erzieherin, wenn das von ihr erwartet wurde. Sie fühlte sich der Aufgabe gewachsen.
Während Ada sich noch einmal selbst Mut zusprach und ihren Rücken straffte, bemerkte die Kleine: »Du hast ein lustiges Gesicht.«
Das stimmte. Adas Nase war kurz, sie schielte ein wenig, und Wangen und Stirn waren über und über mit Sommersprossen bedeckt. Ihr schicker Kurzhaarschnitt strahlte in einem feurigen Rot.
»Ich finde dein Gesicht auch lustig. Besonders wenn du lachst.«
Die Kleine zog beleidigt die Lippen zusammen, um ihre Zahnlücke zu verbergen. »Ich bekomme bald neue Zähne«, presste sie hervor.
»Und es werden die Allerschönsten sein«, beteuerte Ada, was die Kleine noch einmal strahlen ließ, bevor sie den Mund hastig wieder schloss.
Als Ada ein Räuspern hinter sich vernahm, sprang sie auf, als wäre ein Schuss gefallen. Sie wirbelte herum und verstellte mit ihrer zarten Gestalt einem schlanken Mann im Rollkragenpullover mit Halbglatze und Hornbrille den Blick auf das Mädchen.
»Ich habe bloß ... also, ich wollte nachsehen, ob … mir ist ein Ring heruntergefallen.« Es war ein schwacher Versuch, dem Mann, der sie fragend musterte, zu erklären, was sie auf dem Teppich gesucht hatte, aber Ada beschloss instinktiv, die Anwesenheit des Kindes zu verheimlichen. Sie konnte nicht sagen, warum, aber sie fühlte, dass das Versteck unter dem Schreibtisch nicht ihretwegen gewählt worden war.
»Oh, das ist natürlich nicht so schön. Soll ich Ihnen bei der Suche helfen?«
Als der Rollkragenpulloverträger Anstalten machte, sich auf den Teppich zu knien, rief Ada hastig: »Ich habe ihn wieder. Sehen Sie? Hier ist er.« Dabei streckte sie ihm ihren Aquamarinring entgegen.
Er richtete sich wieder auf und besah sich Adas ausgestreckte Hand. »Ein schönes Stück. Ein Jammer, wenn Sie ihn verlieren würden. Sie sollten ihn enger machen lassen, damit so etwas nicht wieder vorkommt.« Mit diesen Worten umrundete er den Schreibtisch und ließ sich in den klobigen Ledersessel dahinter sinken.
Ada atmete auf. Fast hätte er das Mädchen unter dem Tisch entdeckt.
Mit einer Handbewegung gab der Mann ihr zu verstehen, sich ebenfalls zu setzen. Ada nahm erneut auf dem zierlichen Stühlchen Platz, von welchem sie nur Minuten zuvor zu Boden geglitten war.
»Sie sind also Miss Ada Lippnik?«
Ada nickte.
»Ich habe Ihre Unterlagen hier vor mir liegen, Miss Lippnik. Sie bringen hervorragende Zeugnisse mit und scheinen in jeder Hinsicht qualifiziert zu sein, meine Tochter zu erziehen und zu unterrichten.«
»Danke, Mr Holt«, antwortete Ada und wartete auf das große Aber. Und da kam es auch schon.
»Aber Sie sind noch sehr jung, und jetzt, da Sie hier vor mir sitzen, darf ich Ihnen sagen, Sie sehen wirklich noch jünger aus, als Sie tatsächlich sind.«
Ada wusste, dass es nicht als Kompliment gemeint gewesen war. »Mr Holt, ich habe, wie Sie bereits bemerkt haben, hervorragende Zeugnisse und bin bestens auf meine Aufgabe vorbereitet. Ich werde auch in fünf Jahren noch klein und zierlich sein, denn ich wachse nicht mehr. Doch wenn Sie mir eine Chance geben, könnte ich vielleicht an Erfahrung wachsen, meinen Sie nicht?«
»Zweifellos.« Er schien amüsiert und lehnte sich entspannt zurück.
Ada atmete noch einmal auf. Die erste Hürde war genommen. Sie war ihm sympathisch. Jetzt war sie dicht dran. Jetzt durfte sie es nicht vermasseln. Dies konnte ihre erste Anstellung werden. »Haben Sie schon einmal mit kleinen Kindern gearbeitet, Miss Lippnik?«
»Ich habe vier jüngere Schwestern«, gab sie zur Antwort.
Schon wieder gepunktet. Ihr Gegenüber blickte zufrieden drein.
»Meine Tochter wächst ohne Mutter auf, Miss Lippnik. Ich bin Witwer.«
Ada murmelte ein paar Worte des Bedauerns, wie man es zweifellos von ihr erwartete.
»Ich erzähle Ihnen das, damit Ihnen bewusst wird, dass das Kind eine große Anhänglichkeit entwickeln könnte. Ich würde es also begrüßen, wenn Sie sich für länger vertraglich binden würden. Wenn Sie allerdings planen, in Kürze eine eigene Familie zu gründen, was Ihnen natürlich freisteht, dann wäre diese Arbeit wohl nicht die richtige für Sie.«
Ada schüttelte hastig den Kopf. »Derartige Pläne existieren nicht, Mr Holt. Wenn wir uns einig werden, brauchen Sie nicht zu fürchten, mich bald wieder zu verlieren.«
Ihr Gegenüber blickte zweifelnd. Das war irgendwie nicht gut. Ada biss sich auf die Lippen. Vielleicht hätte sie den letzten Satz lieber nicht sagen sollen.
Dankbar lächelte sie ihn an, als Mr Holt nun das Thema wechselte. »Meine Tochter, Valerie, ist fünf Jahre alt. Ich würde sie ja auf eine staatliche Schule schicken, wenn ich der Meinung wäre, das Kind sei reif dafür. Aber Valerie hat den Tod ihrer Mutter nicht gut verkraftet. Ihre Fantasie, Miss Lippnik, schlägt Purzelbäume. Sie erfindet ständig Sachen, die es nicht gibt, spielt ihren Mitmenschen hässliche Streiche und beschuldigt hinterher Fantasiewesen dieser Vergehen. Sie werden Geduld mit ihr haben müssen. Die Kleine schleicht überall herum, steckt ihre Nase in alles und ja, ich kann es nicht anders sagen, sie lügt, dass sich die Balken biegen.«
Unter dem Schreibtisch erklang ein leises Schnauben.
Ada täuschte hastig ein Hüsteln vor und fragte dann: »Wie können Sie bezüglich des Lügens so sicher sein?«
Mr Holt lächelte gnädig und faltete die Hände über dem Bauch. »Glauben Sie mir, Miss Lippnik. Valerie lügt so unglaublich schlecht, dass einfach jeder Erwachsene es bemerkt.«
Wieder schnaubte es leise unter dem Schreibtisch.
Ada klatschte laut in die Hände und rief: »Mr Holt, Sie haben hier ein so traumhaft schönes Anwesen! Es fiel mir gleich auf, als ich durch Ihre Pforte trat. Wollen Sie mir nicht bei einem Spaziergang durch Ihren Garten mehr von Valerie erzählen?«
August 2012
»Ada? Ada, sind Sie wach?«
Ada war sich nicht sicher, ob sie wach war. Sie fühlte sich seltsam träge, so als ob ihr Körper nicht ihr eigener wäre. Doch dann spürte sie, wie jemand ihren Arm schüttelte. Nur mit Mühe konnte sie die Lider anheben. Der weiße Raum wurde nun vom Tageslicht und nicht mehr von Neonröhren erhellt.
»Ada, Sie müssen aufwachen. Da sind eine Menge Leute, die mit Ihnen sprechen wollen. Es geht um das Kind, Ada.«
Die Stimme sprach ruhig und eindringlich. Ada erkannte sie als die Stimme wieder, die sie kurz zuvor auf den Klingelknopf für Notfälle aufmerksam gemacht hatte. Kurz zuvor? Ada wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Der Junge würde zweifellos Hunger haben, denn dort, wo er sich befand, gab es kaum Essbares. Der arme Kleine. Hoffentlich kümmerten sie sich gut um ihn.
»Ada?«
Ada seufzte und schluckte einige Male trocken. Ihr Hals fühlte sich rau und entzündet an. Das kam natürlich vom vielen Staub. In der vergangenen Nacht hatte sie eine Menge Staub geschluckt.
»Ich bin wach, Kindchen«, murmelte sie heiser und räusperte sich. »Wie kann ich helfen?«***Im Büro des Psychiaters Dr. Warning war es an diesem Augustmorgen sehr eng geworden. Der penetrante Kommissar war wieder da und hatte nicht nur zwei Assistenten sondern auch die Eltern des vermissten Jungen im Schlepptau.
Der Vater des Kindes, ein rotgesichtiger Riese mit unfreundlichen Schweinsaugen, lief unruhig im Zimmer auf und ab und unterbrach Warnings Ausführungen immer wieder mit lauten Zwischenrufen.
Die Mutter hingegen saß still und blass in ihrem Stuhl und sprach von sich aus kein Wort. Sie mochte bereits Mitte vierzig sein, kleidete sich aber nach der neuesten Mode und war sogar an einem Morgen wie diesem sorgfältig frisiert. Eine späte Mutter, die nun ihr einziges Kind vermisste. Warning tat sie leid.
Der Kommissar, der gemeinsam mit seinen Assistenten an der Wand nahe der Zimmertür lehnte, war eine echte Plage. Er kommentierte die Zwischenrufe des Vaters, was es für Warning nicht leichter machte, mit irgendeinem der Anwesenden ein vernünftiges Gespräch zu führen.
Am liebsten hätte er den Vater und die Polizisten vor die Tür gesetzt und sich nur mit der Mutter unterhalten. Die schien gewillt zu sein, ihm zuzuhören.
»Miss Ada Lippnik, Alter zweiundsechzig Jahre, wurde gestern Abend in meine Klinik eingeliefert, nachdem es an ihrem Arbeitsplatz zu merkwürdigen Vorkommnissen gekommen war«, versuchte er es noch einmal.
Doch schon wieder meldete sich der Vater zu Wort. »Merkwürdige Vorkommnisse? Meine Frau und ich waren nur für ein paar Stunden ins Theater gegangen, und als wir wiederkamen, war der Garten verwüstet und ein Großteil der Einrichtung zertrümmert! Und dann ist auch noch unser Sohn verschwunden! Und das Kindermädchen steht völlig verdreckt und mit debilem Lächeln im Garten und spricht nicht mehr! Und da reden Sie von merkwürdigen Vorkommnissen? Sie haben vielleicht Nerven!«
Warning seufzte und fixierte die stumme Mutter auf ihrem Stuhl: »Ada Lippnik kam vor zwei Jahren als Kindermädchen zu Ihnen, ist das richtig?«
Die Frau nickte kurz.
»Sie wurde auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin eingestellt, obwohl Ihr Mann hinsichtlich Miss Lippniks Alter Bedenken hatte, ist das auch richtig?«
Die Frau nickte erneut.
»Ich habe ja gleich gesagt, die Alte hat nicht mehr alle Tassen im Schrank! Senil ist die! So was merkt ein vernünftiger Mensch doch!«, fuhr der Ehemann wieder dazwischen und wischte sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.
Warning ignorierte ihn. »Mrs Dreyer, können Sie mir sagen, was Sie dazu veranlasst hat, Miss Lippnik trotz der Abneigung Ihres Mannes einzustellen?«
Die Frau hob den Kopf und fixierte Warning mit ihren großen, grünen Augen. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie antwortete: »Ich habe ihr vertraut. Sie ist doch auch mein Kindermädchen gewesen.«
August 1972
»Aufstehen, Valerie! Es ist ein herrlicher Morgen, die Vögel singen und auf dich wartet das ABC und ein bisschen Pflanzenkunde.«
Valerie zog sich die Bettdecke über den Kopf. Sie gab sich redliche Mühe, Ada weder zu sehen noch zu hören, doch im Grunde wusste sie, dass das sinnlos war. Ada konnte außerordentlich penetrant sein.
Wenn ihr Vater sie morgens wecken wollte, verließ er meist nach ein paar Minuten resigniert das Kinderzimmer, kehrte nach einer Weile laut rufend zurück, nur um sie gleich wieder zu verlassen. Vor Ablauf einer halben Stunde brauchte Valerie nicht einmal einen Fuß aus der Bettdecke herauszuhalten.
Doch seit Ada da war, war alles anders. Ada blieb auf ihre Bettkante sitzen, erst streichelnd, dann schubsend und wenn Valerie dann immer noch nicht reagierte, holte Ada einen nassen Waschlappen.
Ada war anstrengend.
Ada war Valeries einzige Freundin.
Von jenem Moment unter der Schreibtischplatte an, als Ada ihre Anwesenheit gedeckt hatte, war sie in Valeries Augen eine Freundin geworden. Und eine Freundin, fand Valerie, brauchte sie weit nötiger als eine Erzieherin oder Lehrerin.
Hatte Ada sie nach dem Aufstehen erfolgreich ins Badezimmer getrieben, dauerte es meist nicht lang, bis Ada an die Tür polterte und Valerie aufforderte, sich zu beeilen.
Auch am Frühstückstisch ließ sie Valerie nicht trödeln. Wann immer sie Gabel oder Augenlider sinken ließ, pikste Ada ihr mit dem Zeigefinger in die Seite.
In solchen Augenblicken konnte Valerie Ada nicht besonders gut leiden. Erst wenn sie gemeinsam den ersten Spaziergang durch den großen Garten machten, erwachten Valeries Lebensgeister.***Der Garten des alten Hauses hatte fast parkähnliche Dimensionen, einen alten Baumbestand, gepflegte Kieswege und hübsch angelegte Ecken und Winkel. Er hatte es Ada vom ersten Moment an angetan. Ganz anders als das Haus. Das finstere, dreistöckige Gemäuer aus dunklem Backstein war so ziemlich der hässlichste Klotz, den Ada je gesehen hatte. Es schien ihr unbegreiflich, wie jemand ein solch dunkles Spukhaus inso einen bunten Garten setzen konnte. Wäre es nach Ada gegangen, sie wäre dem Kasten mit einem Vorschlaghammer zu Leibe gerückt und hätte mit einem Dutzend neuer Fenster dem Haus zu mehr Luft und Licht verholfen.
Doch hier regierte Mr Holt. Ein vielbeschäftigter Witwer, der sich nur selten außerhalb seines Büros zeigte und sehr glücklich war, wenn er seine fünfjährige Tochter in guter Obhut wusste. Ein tieferes Interesse an dem Mädchen hatte Ada in den vergangenen Tagen an Mr Holt nicht feststellen können. So etwas wie Vatergefühle schien ihm die Natur vorenthalten zu haben.
***
»Warum bist du jeden Morgen so müde, Valerie?«, wollte Ada wissen. »Schläfst du schlecht? Kannst du nicht einschlafen? Hast du Kummer?«
Valerie, die neben ihr über den Gartenweg lief, wand sich wie ein Aal. Nur zu gern hätte sie ihrer neuen Freundin die Wahrheit erzählt, doch Erwachsene, nicht nur ihr Vater sondern einfach alle Erwachsenen, glaubten ihr nicht, wenn sie von diesen Dingen sprach. Valerie wollte nicht auch von Ada für eine Lügnerin gehalten werden. Deshalb, und nur deshalb, zog sie es vor, bei der Antwort auf diese Frage tatsächlich zu lügen.
»Ich habe Angst im Dunkeln. Es dauert oft Stunden, bis ich einschlafe.« Diese Lüge, fand Valerie, war sehr dicht an der Wahrheit. Die konnte der liebe Gott ihr durchgehen lassen.
Ada lächelte nachsichtig. »Wenn du möchtest, kann ich abends bei dir im Zimmer warten, bis du eingeschlafen bist.«
»Das würdest du tun?« Valerie war überrascht und sehr glücklich. Ada des Nachts bei sich zu haben, würde alles einfacher machen. Ada war zwar zart und klein, doch sie war erwachsen und willensstark. Wenn Ada wollte, dass Valerie ihr Abendbrot aufaß, dann schob ihr neues Kindermädchen das Kinn energisch nach vorn, verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte Valerie mit einem Blick, der Felsen erzittern lassen konnte. Mit Ada an ihrer Seite würde sie sich des Nachts stärker fühlen. Ada war eine Geheimwaffe.
»Aber sicher«, beantwortete Ada Valeries Frage. »Ich werde gut auf dich aufpassen, wenn du die Augen schließt. Doch jetzt wollen wir uns wieder der Botanik zuwenden.«
***
Ada wusste viel über die heimischen Pflanzen und konnte auch interessant erzählen. »In diesem Teil Englands gedeiht Rhododendron ausgesprochen gut. Weißt du, was man sich über diesen Busch erzählt?«
Valerie schüttelte den Kopf.
»Sein Name bedeutet übersetzt Rosenbaum, doch hinter einem geschenkten Rhododendron steht die Frage: Wann sehen wir uns wieder? Unter Freunden ist er so etwas wie ein Abschiedsgeschenk mit Wiedersehensversprechen. Außerdem hilft er bei Gicht und Rheumabeschwerden. Aber vor allem ist er hübsch, nicht wahr?«
Valerie nickte. Ihr Blick war bereits weiter geschweift und an einer niedrigen, blassrosa Blüte hängengeblieben. »Was ist denn das, Ada?«
Ada betrachtete das unscheinbare Gewächs mit seinen zu Rosetten aufgefächerten Blättern. »Das ist ein Dachwurz, Valerie. Aufs Dach gepflanzt, soll er vor Blitzschlag schützen.«
»Was macht er dann hier unten im Garten?«, wollte Valerie wissen.
»Er wurde vermutlich gepflanzt, um das Böse zu vertreiben. Pflanzen werden oft magische Kräfte angedichtet«, antwortete Ada leichthin und betrachtete den hübschen Dachwurz mit einem Lächeln auf ihren Lippen.
Auch Valerie besah sich die Pflanze einen Augenblick nachdenklich. Langsam legte sie ihre kleine Hand um den Stängel der blassrosa Blüte, dann grub sie plötzlich ihre Finger in die Rosettenblätter und riss den Dachwurz aus der Erde.
Einen Moment lang betrachtete sie den Strunk in ihrer Hand mit finsterem Blick. Dann ließ sie ihn auf den Gartenweg fallen.
»Valerie!«, rief Ada schockiert. »Warum hast du das gemacht?«
Valerie zuckte die Achseln. »Er taugt nichts.«
Sie drehte sich um und rannte den Gartenweg hinab.
Ada sah ihr fassungslos nach. Mit wehendem Kleidchen und fliegenden, schwarzen Haaren verschwand sie hinter einer Gruppe Rosenbüsche.
August 2012
Die blonde Schwester mit der sanften Stimme hieß Irmgard, das hatte Ada bereits herausgefunden. Ein sehr hübscher, aber auch ausgesprochen altmodischer Name für einen jungen Menschen, fand Ada.
Irmgard hatte ihr Frühstück gebracht und auf Adas Nachfrage hin auch eine Zahnbürste und ein Stück Seife dazugelegt. In der durch einen Vorhang abgegrenzten Waschecke richtete Ada sich, so gut es ging, wieder her.
Der Blick in den Spiegel erinnerte sie daran, dass die Zeit nicht freundlich mit ihr umgegangen war. Das einst rote Haar war grau geworden, sie trug es kinnlang und eine einfache Klammer hielt es ihr aus dem Gesicht, das noch immer sommersprossig, noch immer keck, doch schon recht faltig war.
Ada hatte in den vergangenen Jahren eine Vorliebe für Schokolade entwickelt, die sich denkbar ungünstig auf ihre einst drahtige Figur ausgewirkt hatte. Doch sie trug das Doppelkinn und den Hüftspeck mit Fassung.
Sie war jetzt über sechzig und sie hatte nicht vor, noch eine Modelkarriere zu starten. Und jemandem, der so viel erlebt hatte wie sie, dem mussten doch auch ein paar Schwächen gestattet sein.
Sie beendete die Morgentoilette und trat hinter dem Vorhang hervor, zurück ins Zimmer, wo Irmgard auf sie wartete. Trotz ihres fleckigen Morgenmantels und der ungebürsteten Haare fühlte Ada sich nun schon viel wohler.
Ihrer Meinung nach war es an der Zeit, diesen Blödsinn hier zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Der Junge brauchte sie. Möglicherweise würde es noch mal recht ungemütlich werden, wenn sie versuchte, ihn zurückzuholen. Die vergangene Nacht war nur der Auftakt gewesen. Man musste sich ja nur mal ihren Morgenrock ansehen! Voller Flecken, Risse und Brandlöcher!
»Irmgard, hätten Sie wohl Nadel und Faden für mich?«
Irmgard schüttelte den Kopf mit dem praktischen Pottschnitt. »Auf dieser Station bekommen Sie weder Nadeln noch Fäden, Ada. Außerdem gibt es jetzt Wichtigeres für Sie zu tun. Da sind noch all die Menschen, die Sie sprechen wollen.«
***
»Und in all den Jahren, in denen Ada Lippnik Ihnen Lehrerin, Erzieherin und Freundin war, kam es niemals zu außergewöhnlichen Ereignissen oder Zwischenfällen?«, fragte Dr. Warning und sah Valerie Dreyer aufmerksam an.
Die Frau strich sich über das kurze, schwarze Haar und schien sehr ernsthaft nachzudenken, schüttelte aber dann den Kopf.
Warning hob irritiert die Augenbrauen. Damit hatte er nicht gerechnet. Diese Antwort war für ihn überraschend, weil er die Zeitungsberichte über die Ereignisse vor vierzig Jahren kannte. Damals war er zwar fast selbst noch ein Kind gewesen, doch das Medienereignis des Sommers 1972 hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.
»Ist es nicht so, dass Ihr Stiefbruder eines Tages verschwand, Mrs Dreyer?«
Valerie Dreyer wirkte einen Augenblick verwirrt. Unsicher blickte sie sich im Raum um, so als könne ihr irgendwer auf die Sprünge helfen, schien sich aber dann plötzlich zu erinnern. »Ach, Sie meinen Sebastian? Also, der war eigentlich nicht mal mein Stiefbruder, wissen Sie? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob mein Vater sich ernsthaft für seine Mutter interessiert hat. Mein Vater interessiert sich eigentlich überhaupt nicht für andere Menschen.«
»Aber der Junge verschwand eines Tages aus Ihrem Haus«, beharrte Warning.
»Wie bitte?«, ließ sich jetzt der Vater vernehmen. »Da ist schon mal ein Kind verschwunden?«
»Aber das hatte doch nicht das Geringste mit Ada zu tun«, verteidigte Valerie Dreyer ihr einstiges Kindermädchen und fuhr sich hastig mit den Fingern durch die Frisur.
Es stimmte. Warning wusste, dass damals niemand das Kindermädchen Ada Lippnik verdächtigt hatte, doch natürlich war auch ihr Name gefallen. Die Zeitungen hatten sich voller Begeisterung auf die Tragödie in einem südenglischen Kaff nahe der Küste gestürzt undimmer wieder über all jene berichtet, die in dem Haushalt des Wissenschaftlers Martin Holt gelebt und gearbeitet hatten.
Warning erinnerte sich an die grobkörnigen Zeitungsfotos von der kleinen Rothaarigen mit dem energischen Zug um den Mund. Am vorherigen Abend hatte er eine Weile gebraucht, um in der älteren Dame im Morgenmantel eben jene Ada Lippnik wiederzuerkennen. Dann aber, nachdem der Bezug hergestellt war, war er gleich an seinen Laptop geeilt und hatte Nachforschungen angestellt.
»Der Junge ist nie wieder aufgetaucht, nicht wahr?«, stellte er fest und behielt Valerie Dreyer genau im Auge.
»Ich glaube nicht, nein«, war die vage Antwort. Sie machte einen zunehmend verunsicherten Eindruck auf Warning.
»Sie wissen es nicht? Wie können Sie denn das nicht wissen?«
Valerie Dreyer, geborene Holt, blickte Doktor Warning unverwandt mit ihren grünen Augen an: »Ich weiß es nicht, weil es mich nicht sonderlich interessiert hat. Ich war damals fünf Jahre alt, Doktor Warning. Miss Ada war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie hat gut für mich gesorgt, auch noch lange nach Sebastians Verschwinden. Sie blieb in unserem Haushalt, bis ich alt genug war, um ein Internat zu besuchen. Als ich zu meinen ersten Weihnachtsferien nach Hause zurückkehrte, war sie fort. Danach habe ich jahrzehntelang nichts von ihr gehört. Und als sie sich im vergangenen Jahr auf die Stelle des Kindermädchens meines Sohnes bewarb, habe ich nicht einen Moment gezögert, sie ins Haus zurückzuholen.«
»Sie wohnen noch immer in dem Haus, in welchem sie aufgewachsen sind?« Warning warf einen Blick auf den rotgesichtigen Mr Dreyer, der mit seinen Wurstfingern auf seinem Kugelbauch trommelte.
Dieser zögerte kurz, beantwortete aber dann die im Raum schwebende Frage. »Mein Schwiegervater, Martin Holt, lebt nicht mehr in England. Er hat meiner Frau und mir das Haus vermacht und ist nach Australien ausgewandert. Es ist ein schönes, altes Anwesen mit großem Garten, und wir leben sehr gerne dort.«
Warning blickte zurück zu Valerie Dreyer und eine innere Stimme sagte ihm, dass das so nicht stimmte. Valerie hatte bei der Erwähnung des Hauses das Gesicht verzogen. Mochte ihr überfütterter Gatte das Anwesen auch als sein Heim betrachten, so galt dies sicher nicht vorbehaltlos für seine Frau.
»Mrs Dreyer ...« Warning wandte sich wieder Valerie zu. »Hat Miss Ada Lippnik Ihnen Zeugnisse vorgelegt? Zeugnisse ihrer Arbeitgeber aus den letzten vierzig Jahren, in denen Sie keinen Kontakt miteinander hatten?«
Valerie Dreyer nickte zögernd.
»Haben Sie diese Zeugnisse gelesen oder mit einer der Personen darüber gesprochen?«
Valerie schüttelte den Kopf und antwortete rasch: »Das war nicht nötig! Ich kenne Ada. Sie war mein Kindermädchen, das sagte ich doch bereits. Ich wusste, dass sie absolut vertrauenswürdig ist.«
Warning seufzte. »Ist Ihnen denn nie der Gedanke gekommen, Ihr ehemaliges Kindermädchen könnte sich weiterentwickelt haben? Und das vielleicht nicht in einem positiven Sinn? Es sind immerhin fast vierzig Jahre vergangen!«
August 1972
Langsam und ohne jede Hast schlenderte Ada zurück durch den Garten, auf das dunkle Haus zu. Nach dem Zwischenfall mit dem Dachwurz wollte sie Valerie die Chance geben, erst einmal selbst zur Ruhe zu kommen.
Fast eine Woche lebte Ada jetzt im Haushalt der Holts. Man hatte ihr ein hübsches Gästezimmer überlassen, das ganz in Grün- und Brauntönen gehalten war. Ada besaß kaum eigene Möbel und war sehr froh über dieses Angebot gewesen.
Ada war die einzige Angestellte, die auch im Haus wohnte. Das Zimmermädchen lebte in der Nachbarschaft und sorgte an drei Tagen in der Woche für Ordnung und Sauberkeit. Die Köchin kam jeden Tag für ein paar Stunden, bereitete ein warmes Mittagessen zu und ließ ein paar kalte Speisen für das Dinner im Kühlschrank zurück. Gelegentlich brachte sie einen Kuchen für die Teezeit mit ins Haus. Ein Gärtner kam zwei Mal pro Woche.
Spätestens um fünf Uhr waren alle dienstbaren Geister verschwunden und Ada mit Valerie und ihrem Vater allein. Wenn sie Valerie dann gegen acht in ihr Bett geschickt hatte, hatte Ada frei und konnte tun und lassen, was immer sie wollte. Meistens lag sie dann auf ihrem Bett und las. Manchmal setzte sie sich auch zu Martin Holt an den Kamin und erzählte ihm von Valeries Fortschritten, doch der Wissenschaftler schien ihr nie richtig zuzuhören.
Schon nach wenigen Lerneinheiten mit Valerie hatte Ada dem Vater Recht geben müssen: Valerie war noch nicht bereit für eine öffentliche Schule.
Zu Beginn des Unterrichts war sie müde, unkonzentriert und mürrisch, was Ada auf die Schlafstörungen der Kleinen schob. Nach einer Weile wich die Müdigkeit einer Unruhe und einer Rastlosigkeit, wie sie Ada noch nie an einem Kind gesehen hatte.
Gegen Mittag fiel Valerie dann in eine seltsame Lethargie, wurde wortkarg, gab kryptische Antworten auf simple Fragen und wich Adas Blick immer häufiger aus. Manchmal tat sie dann seltsame Dinge wie gerade mit dem Dachwurz, und je näher der Abend kam, desto unruhiger wurde sie wieder.
Ada hatte mit Martin Holt über Valeries Mutter gesprochen. Sie hatte herausfinden wollen, ob eine Art Trauma vorlag, ob Valerie den Tod ihrer Mutter vielleicht beobachtet hatte. Doch Silvia Holt war im Krankenhaus an einer Lungenentzündung gestorben, und Valerie hatte man in ihren letzten Tagen nicht mehr zu ihr gelassen.
Ada rätselte weiter, warum Valerie so seltsame Verhaltensweisen an den Tag legte, und inzwischen zog sie die mangelnde Nachtruhe des Kindes als Ursache in Betracht. Vielleicht würden die Dinge einfacher werden, wenn Valerie wieder lernte, entspannt einzuschlafen.
In Gedanken vertieft hatte Ada inzwischen das finstere Gebäude erreicht und bog um eine Hausecke in Richtung Hintertür.
Ada war davon ausgegangen, dass Valerie sich nach ihrem Ärger über den Dachwurz in ihr Kinderzimmer geflüchtet hatte. Umso erstaunter war sie, als sie die Kleine an der Hintertür ihres Elternhauses einholte.
Valerie stand stocksteif auf dem Kiesweg, die Hände in die Seiten gestemmt, und blickte auf einen etwa dreijährigen Jungen herunter, der auf der Türschwelle hockte und fasziniert den Ameisen beim Abtransport eines Brotkrümels zusah.
Ada trat näher und legte Valerie einen Arm um die Schultern, worauf das Mädchen leicht zusammenzuckte. Ada ignorierte ihre Schreckhaftigkeit und sagte in einem sanften Plauderton: »Haben wir Besuch bekommen?«
Der Junge hob den Kopf. Ada blinzelte überrascht. Unter einem dichten, schwarzen Haarschopf blickten sie zwei hellwache, blaue Augen aus einem pausbäckigen Gesicht an. Der Kleine grinste und wischte sich die drallen Fäuste an seiner kurzen Cordhose ab.
Ada hatte schon viele kleine Kinder gesehen. Ihr war bewusst, dass diese kleinen Menschen einen seltsamen Zauber auf alle Erwachsenen in ihrer Nähe ausübten. Es war der »Ach!«- und »Wie süß«-Zauber, doch Ada erlag ihm nur sehr selten. Doch von diesem kleinen Burschen war sie augenblicklich hingerissen. Verzückt lächelte sie den Jungen an.
»Na, kleiner Mann, wie heißt du denn?«, fragte sie und sank in die Hocke, um nicht länger auf ihn herabzustarren, was den Jungen vielleicht verängstigt hätte.
»Das ist Sebastian«, antwortete Valerie an seiner Stelle. »Seine Mom schreibt für Daddy. Manchmal findet sie keinen Aufpasser und bringt ihn mit her.«
»Das ist ja wundervoll, Valerie!«, rief Ada aus und ignorierte absichtlich den geringschätzigen Tonfall ihres Schützlings. »Da hast du einen Spielgefährten.«
Valerie drehte sich zu ihr um und sah Ada mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Bist du verrückt geworden? Erstens ist er ein Junge und zweitens noch ein Baby.«
»Bin kein Baby!«, antwortete der Kleine prompt und krauste die Stirn.
In diesem Moment erschienen neben ihm auf der Türschwelle zwei dunkelrote Riemchensandaletten. Ada hob den Kopf. Die Dame auf der Schwelle sah ein bisschen aus wie sie selbst. Ihr Haar war rot, das Gesicht sommersprossig, die Figur in dem geblümten Sommerkleid zierlich. Doch die Gesichtszüge der Fremden waren ebenmäßiger als Adas und sie war hochgewachsen.
Ada richtete sich zu ihren vollen einszweiundfünfzig auf und reichte der Fremden die Hand. »Mein Name ist Ada Lippnik, ich bin Valeries neue Lehrerin.«
Valeries Ellenbogen bohrte sich in ihre Seite. »Und Freundin. Und manchmal auch Erzieherin.«
»Lisa Small«, erwiderte die andere lächelnd. »Ich helfe Mr Holt bei den Aufzeichnungen seiner wissenschaftlichen Arbeit. Und das hier«, sie deutete auf den kleinen Ameisenforscher, »ist mein Sohn Sebastian.«
Sebastian schob sich seine rechte Faust zwischen die Milchzähne und sabberte freundlich.
Ada war hingerissen.
»Er ist gerade drei geworden und sehr neugierig auf die ganze Welt. Ständig büchst mir der kleine Racker aus und ich muss ihn dann suchen. Jetzt hat er wahrhaftig die Ameisen gefüttert! Hoffentlich hat er ihnen keine Spur bis in die Speisekammer gelegt.«
Sebastian lutschte hingebungsvoll an seinen Fingerchen und enthielt sich jeden Kommentars. Er starrte Valerie an, die mit vorgeschobener Unterlippe zurück starrte.
Lisa Small seufzte. »Mein Kindermädchen ist leider nicht sehr zuverlässig. Aber immer noch zuverlässiger als Sebastians Vater. Von dem haben wir schon seit Monaten nichts mehr gehört.« Sie lächelte schwach und zuckte hilflos die Achseln.
Da fiel Ada auf, dass Lisa Small nicht zierlich sondern dünn war und wie dunkel die Ringe unter ihren Augen schimmerten. Sie fasste einen spontanen Entschluss: »Machen Sie sich keine Gedanken, Mrs Small. Valerie und ich werden auf Sebastian Acht geben, solange Sie und Mr Holt bei der Arbeit sind. Ich bin sicher, wir werden eine angemessene Beschäftigung für den Kleinen finden.«
»Miss Small heißt es, aber sagen Sie doch einfach Lisa zu mir. Meinen Sie das im Ernst? Würden Sie ein Auge auf meinen kleinen Schatz haben?«
Wieder bohrte sich Valeries Ellenbogen in Adas Seite, doch sie ging nicht darauf ein. »Aber natürlich. Arbeiten Sie ruhig weiter, wenn es Probleme geben sollte, sage ich Ihnen sofort Bescheid. Doch ich denke, wir werden gut zurechtkommen.«
»Oh vielen, vielen Dank!« Lisa schenkte Ada ein glückliches Lächeln. Sie wirbelte herum und lief zurück ins Haus.
Ada blickte ihr lächelnd nach, bis Valerie ihr vorwurfsvoll in die Seite stupste. »Warum hast du das gemacht? Jetzt werden wir dieses Baby nie mehr los!«
Ada sah Valerie streng an. »Manche Dinge muss man tun, weil sie richtig sind. Das wirst du noch lernen müssen, Valerie. Und wir werden den kleinen Sebastian sehr wohl wieder los, denn seine Mutter wird ihn irgendwann wiederhaben wollen.«
»Hoffen wir‘s«, murrte Valerie.
August 2012
»Ada! Endlich! Wo ist mein Sohn? Ada, wo ist Paul? Du weißt es doch, du musst es mir sagen!«
Kaum dass Ada Lippnik in ihrem angesengten Morgenmantel von einer Schwester in das Büro Doktor Warnings geschoben worden war, war Valerie Dreyer von ihrem Stuhl aufgesprungen. Die schlanken Hände um ihr teures Handtäschchen gekrampft, das kinnlange Haar hinter die Ohren geschoben, die Lippen weiß, die Augen weit aufgerissen bot Valerie Dreyer ein Bild des Jammers. Die letzten Minuten in Warnings Büro hatten ihr sehr zugesetzt. Sie schien selbst überrascht davon, wie wenig sie sich an ihre Kindheit, an Sebastian Small und an die junge Ada Lippnik erinnern konnte.
Warning hatte sich bemüht, Details aus ihrer Erinnerung abzurufen, war aber nur auf Leere gestoßen. Mrs Valerie Dreyer wusste nur, dass sie Ada Lippnik seit vierzig Jahren kannte und ihr vertraute. Warum sie ihr auch jetzt noch vertraute, wo ihr eigenes Kind vermisst wurde, konnte sie selbst nicht hinreichend begründen.
Auch Ada Lippnik war nicht in bester Verfassung. Der rundliche, kleine Körper in dem einst rosa Flanellmantel erbebte, als Valerie nun auf sie zueilte. Die Unterlippe in Adas trotz zahlreicher Sommersprossen bleichem Gesicht zitterte leicht.
Ada Lippniks Blick glitt durch den Raum, fixierte kurz den rotgesichtigen Dreyer, dann die finster dreinblickenden Polizisten. Der Rücken der kleinen, alten Dame straffte sich sichtbar. Die zitternden Lippen wurden energisch aufeinander gepresst.
Innerhalb von Sekunden erkannte Warning, dass Ada Lippnik in dieser Runde nicht sprechen würde. Zumindest über nichts, was den Verbleib von Paul Dreyer erklärt hätte.
Warning folgte seiner Intuition. Das tat er meistens und gerade das hatte ihm zu seinem Ruf als guter Nervenarzt verholfen. So klatschte er jetzt laut in die Hände, stand auf und rief: »Ich bitte die anwesenden Herren, den Raum für einen Augenblick zu verlassen! Geben wir den beiden Damen doch Gelegenheit, ganz in Ruhe miteinander zu sprechen.«
Mr Dreyer und auch die Polizisten widersprachen ihm augenblicklich, doch Warning schob einen nach dem anderen zur Tür hinaus, lächelte Ada Lippnik und Valerie Dreyer noch einmal aufmunternd zu und schloss die Tür.
Im Büro wurde es still.
***
Valerie sank in ihren Stuhl zurück.
Ada blieb unschlüssig neben ihr stehen und und sah auf sie herab.
»Was ist passiert, Ada? So sag es mir doch endlich!«
Valerie glaubte, so etwas wie Mitgefühl in Adas Blick zu sehen, als diese antwortete: »Aber das musst du doch wissen, Valerie! Du warst es doch, die mir alles beigebracht hat, erinnerst du dich nicht?«
Valerie Dreyer blieb der Mund offen stehen. Zum wiederholten Male hatte sie heute das Gefühl, ganz entscheidende Informationen verdrängt zu haben! So als säße sie am Spieltisch, die altvertrauten Karten in der Hand, doch ohne die Regeln zu kennen! Und so sehr sie sich auch bemühte, sie wollten ihr nicht mehr einfallen. Sie hatte keine Ahnung, wovon Ada sprach, und wusste auch nicht, worauf Warning sie stoßen wollte, als er von Sebastian gesprochen hatte. Sie verstand nicht, was hier vorging, und das machte ihr Angst. Fast glaubte sie, dass sie selbst noch viel mehr als Ada in diese Klinik gehörte.
»Valerie! Kleines, du musst dich erinnern! Ich weiß, das ist nicht leicht, weil dich die Winkelnatter gebissen hat, aber in deinem Unterbewusstsein, Valerie, da muss es noch sein! Alles! Das Gift wirkt nicht bis ins Unterbewusstsein. Träumst du denn nie von damals?«
Valerie blickte Ada ratlos an? Winkelnatter? Träume? Wovon redete Ada da bloß? Natürlich träumte Valerie. Ziemlich heftig sogar. Aber meist völlig verrücktes Zeug! »Was habe ich dir beigebracht? Und was ist, bitte sehr, eine Winkelnatter? Ada, spiel hier nicht die Verrückte, ja? Ich will meinen Jungen zurück und war sofort!«
Ada Lippnik ließ sich vor Valeries Stuhl auf die Knie sinken und sah ihr traurig in die Augen. »Immer habe ich in deinem Blick, in deinem Verhalten nach Anzeichen des Erinnerns gesucht! Ich wollte nicht glauben, dass alles fort war. Alles was wir erlebt hatten. Gut, im ersten Moment war ich erleichtert. Ich dachte, es würde die Dinge für dich einfacher machen. Ich dachte, du würdest schneller wieder in ein normales Leben zurückfinden, wenn du dich nicht erinnerst. Aber jetzt bist du erwachsen, Valerie! Und Paul wird deine Hilfe brauchen. Weißt du denn wirklich gar nichts mehr, meine kleine Torfinderin?«
Irgendwo tief in ihrem Inneren hörte Valerie bei diesen Worten ein silberhelles Glockenläuten. Kleine Torfinderin?
Wann war sie das letzte Mal so genannt worden?
Und von wem?
Und weswegen?
August 1972
»Zeit zum Schlafen, Valerie! Es ist bereits nach zehn!« Ada hatte es mit viel Geduld versucht. In Valeries Kinderzimmer, im zweiten Stock, hatte sie es sich in einem Schaukelstuhl nahe am Fenster gemütlich gemacht. Ein Kissen im Rücken, die warme Decke über den Beinen, das Märchenbuch auf dem Schoß hatte sie Valerie vorgelesen, vorgesungen und vorgebetet. Jetzt, zwei Stunden nach dem Schlafengehen, lag Valerie hellwach und mit weit aufgerissenen Augen in ihrem weißen Kinderbett und starrte an die Decke, an der ein albernes Vogelmobile baumelte. »Valerie, niemand kann einschlafen, wenn er die Augen offen hat!«
Valerie schloss die Augen. Für exakt zwei Sekunden.
»Valerie!« Ada wurde ungeduldig. Sie selbst sehnte sich immer mehr nach ihrem Bett, ihrem Roman und einer Tasse Tee, doch der Versuch, Valerie zum Einschlafen zu bewegen, entpuppte sich als äußerst schwieriges Unterfangen.
»Wie wäre es, wenn du jetzt mal mit geschlossenen Augen an etwas richtig Schönes denkst?«, schlug Ada vor.
Valeries Augendeckel klappten zu. »Eiscreme«, sagte sie und zupfte an der Bettdecke.
»Schön. Dann stell dir jetzt mal eine riesige Waffel vor. Du darfst dir zwanzig verschiedene Kugeln aussuchen.«
»Ich will nur Erdbeereis. Geht zwanzig Mal Erdbeereis?«
»Nein. Verschiedene Eissorten, Valerie.«
»Wie viel genau sind zwanzig?«
Ada seufzte. »Fang einfach an, Valerie. Nenne mir alle Eissorten, die du kennst. Vielleicht kriegen wir die Waffel voll.«
»Nuss, Schokolade, Vanille …«
Keine Spur von Müdigkeit in der Stimme des Kindes. Ada konnte es einfach nicht glauben.
»Zitrone, Kirsche, Heidelbeere ...«
Ada spürte, wie ihr selbst die Lider zufielen. Einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick.
»Banane, Waldmeister, Lakritze … Gibt es Lakritzeis, Ada?«
»Bestimmt«, antwortete Ada und riss die Augen auf. Beinahe wäre sie eingeschlafen.
»Minze, Melone, Zimt ...«
Wieder fielen Ada die Augen zu. Die Bewegungen des Schaukelstuhls ließen sie sanft hinüber ins Traumland gleiten.
Da klopfte es.
Ada öffnete die Augen, doch Valerie schoss wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett heraus und rief: »Ich bin wach! Ich bin hellwach! Ihr dürft nicht kommen!«
Ada betrachtete das kleine Mädchen im Nachthemd mit seinen wirren Locken misstrauisch. »Wer darf nicht kommen, Valerie?«
»Hast du etwa geschlafen, Ada? Du hast mir doch versprochen, dass du wach bleibst!« Valerie stemmte entrüstet die Fäuste in die Seiten.
Doch Ada ließ sich nicht beirren. »Wer darf nicht kommen, Valerie?«
Die Kleine schlug die Augen nieder und schwieg.
»Meinst du vielleicht Geister?«
Valerie schielte zu ihr hoch. »So etwas Ähnliches, ja.«
»Es gibt keine Geister, Valerie«, sagte Ada in einem, wie sie fand, beruhigenden Tonfall.
»Hat es gerade geklopft oder nicht?«, fragte Valerie mürrisch und schob die Unterlippe vor.
Ada zögerte. Es hatte ganz eindeutig geklopft. Oder hatte sie das nur geträumt? Doch wie konnte Valerie dann davon wissen? »Das Haus ist alt. Es ist voller Geräusche. Balken knarren, Türen quietschen –«
»Und was klopft?«, fragte Valerie mit skeptischem Blick.
Ada überlegte. »Heizungsrohre.«
»Heizungsrohre?«, fragte Valerie gedehnt und blickte noch skeptischer als vorher drein.
»Jawohl, Heizungsrohre können klopfen. Richtig laut bullern oder knacken können die«, sagte Ada bestimmt und stand auf, um Valerie zurück in ihr Bett zu verfrachten.
»Glaubst du das im Ernst?«, fragte die Kleine, als Ada ihr das Kissen aufschüttelte und einen Stoffteddy in die Hand drückte.
»Ja, sicher. In alten Häusern kannst du die seltsamsten Dinge hören.«
»Und auch sehen?«