In der Erwachsenenbildung Niedersachsens 1960 bis 1993 - Heino Kebschull - E-Book

In der Erwachsenenbildung Niedersachsens 1960 bis 1993 E-Book

Heino Kebschull

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Beschreibung

In dem vorliegenden Buch beschreibt Heino Kebschull seinen Weg in die Erwachsenenbildung Niedersachsens. Ausgehend von seinen Erlebnissen nach 1945 beschreibt er eine Phase der Neuorientierung nach 1949 und seinen Weg zum Leiter einer Volkshochschule sowie schließlich die Arbeit des Landesverbandes der Volkshochschulen Niedersachsens, deren Leiter er zwischen 1970 und 1993 war. Der Band ist mit zahlreichen Dokumenten im Anhang auch dokumentarisch. Kebschull gibt hier nicht nur Einblick in seinen persönlichen Werdegang, sondern erläutert auch die Arbeit der Volkshochschule in Aurich, Leer und des Landesverbandes aus der Innenperspektive.

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Inhaltsübersicht

Vorwort

Kriegsende 1945 und erste Nachkriegsjahre

Neuorientierung für Erwerbstätigkeit und Weiterbildung 1949

Im Wunschberuf als Volkshochschulleiter 1962

Im Landesverband der Volkshochschulen Niedersachsens in Hannover 1970 bis 1993

Anhang

1. Heinrich Scharnberg erinnert sich an den Besuch der Heimvolkshochschule Dreißigacker 1920/21

1.1 Gebäude der HVHS Dreißigacker Anfang der Siebzigerjahre mit Beschilderung zu dessen Geschichte sowie Fotos zu Heinrich Scharnberg aus den Jahren 1995 und 1996

2.2 Meine Kontakte zu Heinrich Scharnberg

2. Aufstiegsschule für technische Berufe im Arbeitsplan der VHS Leer 2/1954

3. Eindruckplakate für Volkshochschulen um 1966

4. Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in der VHS Leer

4.1 OSTFRIESEN ZEITUNG vom 14.06.1969

4.2 Bürgerzeitung Leer 23.06.1969

4.3 In den VHS-Arbeitsplänen II/1969 und I/1970

5. Der Bildunghunger ist weiter ungebrochen – Bericht der OSTFRIESEN ZEITUNG vom 06.03.1970

6. Anmietung einer Etage im Hause Bödekerstraße 16 in Hannover am 01.01.1971 und Erwerb des Hauses im Oktober 1992 durch den Landesverband der Volkshochschulen Niedersachsens

7. Errichtung der Niedersächsischen Volkshochschule e. V. des Landesverbandes der Volkshochschulen Niedersachsens 1977

8. Zur Finanzierung der Erwachsenenbildung Niedersachsens 1977 nach dem Gesetz zur Förderung der Erwachsenenbildung (EBG)

9. Errichtung der Prüfungszentrale des Landesverbandes der Volkshochschulen 1980

10. Anmietung, Einrichtung und Betrieb des Volkshochschulheimes des Landesverbandes der Volkshochschulen Niedersachsens im Behrendtschen Haus in Norden in einem Faltblatt von 1981

11. Gründung der Gesellschaft für Bildungsforschung und Erwachsenenbildung e.V. mit dem Archiv für Erwachsenenbildung in Niedersachsen im Wolfgang-Schulenberg-Institut an der Uni Oldenburg – Inhaltsübersicht einer Broschüre aus dem Jahre 1986 –

12. Initiativen zur Zusammenarbeit der Volkshochschulen in beiden Teilen Deutschlands ab 1989

Nachwort zur Genese dieses Buches

Register

Im angehängten Register befinden sich Querverweise auf Orte, Institutionen, Personen und Begriffe, sofern diese nicht als Fußnoten erläutert worden sind. Sie sind im Text mit einem Sternchen* gekennzeichnet. Wenn nicht anders angegeben, ist deren Quelle Wikipedia.

Über den Autor

Bibliographie

Vorwort

100 Jahre nach der Aufnahme des Artikels 148 in die Weimarer Verfassung, der alle staatlichen Ebenen dazu aufforderte, das Volksbildungswesen einschließlich der Volkshochschulen zu fördern, legte der ehemalige Direktor des Landesverbandes der Volkshochschulen Niedersachsens, Heino Kebschull, seine berufliche Lebensbilanz vor.

Die Weiter- und Erwachsenenbildung erhielt also bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1919 Verfassungsrang und blieb – allerdings unterbrochen von der Nazi-Herrschaft 1933 bis 1945– später immerhin integraler Bestandteil des öffentlichen Bildungssystems.

Heino Kebschull, 1930 als Sohn eines Landarbeiters geboren, befand sich als noch 14-jähriger im Internat der Lehrerbildungsanstalt Köslin, als die Rote Armee von Süden zur Ostsee vorstieß und die gesamte Anstalt am 2. März im Fußmarsch nach Westen flüchtete, während seine Familie aus dem Kreis Stolp am 7. März mit einem Treck in Richtung Osten aufbrach, um von Danzig oder Gotenhafen per Schiff der Roten Armee zu entkommen.

Mit der Flucht war Heino Kebschull plötzlich auf einen komplizierten Lebens- und Bildungsweg geraten, der dem Jugendlichen und jungen Erwachsenen neue Sichtweisen auf die Welt und Lebens- und Berufserfahrungen abverlangte – und ihn schließlich befähigten, als Besucher einer Volkshochschule von 1949 bis 1955, Lehrer einer Heimvolkshochschule von 1960 bis 1962, Leiter einer Volkshochschule von 1962 bis 1970 sowie als Direktor des Landesverbandes der Volkshochschulen Niedersachsens den „Bildungsweg für alle entlang der Lebensbiografie“, wie wir ihn heute kennen, auszubauen und zu befestigen.

Dieses Buch ist nicht nur ein Buch über die Entwicklung der Erwachsenen- und Weiterbildung im niedersächsischen Teil der Bundesrepublik, sondern auch ein nachdrücklicher Hinweis darauf, dass Wissensdurst, Neugierde und Erkenntnisinteresse auch im digitalen Zeitalter voraussetzen, sich selbst zu entwickeln, um die Welt verantwortlich gestalten zu können. Auch heute entstehen Bildungswege von und für Jugendliche und Erwachsene „nur dadurch, dass man sie geht“. Heino Kebschull hat es uns allen vorgemacht.

Günter Kania

Kriegsende 1945 und erste Nachkriegsjahre

Das Ende des Zweiten Weltkrieges war für den noch nicht 15-Jährigen auch das urplötzliche Ende der auf der nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt (LBA)* Köslin in Pommern 1944 begonnenen Ausbildung zum Lehrer. Vor den aus südlicher Richtung zur Ostsee vorstoßenden sowjetischen Verbänden flüchteten die Jungmannen der LBA mit ihren hier als Erzieher fungierenden Lehrern am 2. März 1945 morgens um halb sieben. Bepackt mit den Winter- und Sommeruniformen der Hitlerjugend*, einer um den Tornister gewickelten Wolldecke und mit Brotbeutel und Feldflasche behangen ging es zunächst in geordneter Marschkolonne über die Dörfer in Richtung Kolberg*. In einer Hand zusätzlich meinen Geigenkasten.

Den prall gepackten „Affen“* warf ich am Morgen des 5. März nahe Kolberg auf einen im Stau stehenden Flüchtlingswagen, als wir während eines Beschusses durch Stalinorgeln* in alle Richtungen um unser Leben rannten. Von der Geige trennte ich mich unbegreiflicherweise erst am nächsten Tag nach einem längeren Fußmarsch entlang des Ostseestrandes in der Nähe von Hoff, als uns versprengte Soldaten informierten, dass die Kampflinie nur sehr wenige Kilometer landeinwärts verliefe und wir uns sputen sollten, um noch über eine notdürftig hergerichtete Pontonbrücke über die Dievenow auf die Insel Wollin zu gelangen. Das glückte mir gemeinsam mit einer größeren Zahl der Kameraden. Wir schafften es am nächsten Tage nach Heringsdorf auf Usedom* als dem verabredeten Etappenziel. Nach einer hier verbrachten Nacht ging es dann per Bahn zu dem verkündeten Marschziel der LBA in Pasewalk und von hier nach einigen Tagen weiter zur LBA in Celle, wo die Lehrerbildungsanstalt vor den heranrückenden englischen Truppenverbänden am 8. April 1945 aufgelöst wurde und wir nun uns selbst überlassen fernab von unseren hinterpommerschen Heimatdörfern und Familien an der Allerbrücke auf der Straße in Richtung Uelzen standen.

Zu dritt machten wir uns von hier aus zu Fuß in Richtung Eschede und ab Eschede per Bahn auf den Weg nach Stralsund in Vorpommern. Wir hofften, in einer angeblich hier vorhandenen Auskunftsstelle etwas über das Schicksal unserer Familien aus Hinterpommern zu erfahren und auf dem Bahnhof vom Roten Kreuz wieder gut geschmierte und belegte Brote zu erhalten, wie sie uns hier am 14. oder 15. März während der Bahnfahrt von Pasewalk nach Celle in den Zug gereicht wurden. Als wir tatsächlich an einem sonnigen Nachmittag in Stralsund ankamen, fanden wir auf dem Bahnhof aber weder die erinnerte Rote-Kreuz-Station mit den tollen Stullen noch die in der Stadt erhoffte Auskunftsstelle für Flüchtlinge aus Hinterpommern. Bevor es Abend und dunkel wurde, verdingten wir uns deshalb als Meldegänger bei einer Einheit der Organisation Todt (TODT)*, die im Stadtgebiet nahe des Bahnhofs mit Schanzarbeiten zur Herstellung von Verteidigungsgräben beschäftigt war. Mit dieser Einheit gelangte ich Ende April 1945 per LKW nach Schleswig und erlebte hier am 3. Mai 1945 das Ende des Krieges* mit dem Einmarsch englischer Verbände, vor denen wir uns aus Celle abgesetzt hatten. Wann und wo es zur Trennung von meinen beiden Kösliner Kameraden gekommen war, erinnere ich nicht mehr.

*

Heimweh trieb mich am 24. Mai von Schleswig auf den Marsch in Richtung Hinterpommern zu unserer Familie in den Heimatort Klein Nossin im Kreis Stolp. Zunächst bis Bad Schwartau, wo sich nach einer bei seinen Verwandten verbrachten Nacht der schwer kriegsbeschädigte und um 12 Jahre ältere Gerhard Hingst aus dem Klein Nossiner Nachbarort Budow mir auf meinem Wanderwege anschloss. In einem kleinen Ort in der Nähe von Bad Kleinen (in Bantorf?) verließ uns angesichts zahlreicher sowjetischer Soldaten an einem mit roten Fahnen geschmückten Schlagbaum an der damaligen Grenze zwischen Britischer und Sowjetischer Besatzungszone (SBZ)* jedoch spontan die Courage zur Fortsetzung unseres Weges. Als diese Zonengrenze dann nach einigen Wochen in Richtung Westen verlegt wurde und wir ohne Grenzübertritt in die SBZ gelangt waren, begann nach einer auf einem Bauernhof in Bantof verlebten mehrwöchigen Pause von hier aus nun ein langer Fußmarsch in Richtung Stettin. Allerdings wurde mein neuer Weggefährte kurz nach überschreiten der ehemaligen Zonengrenze gleich von sowjetischem Militär in Gewahrsam genommen, sodass ich wieder allein auf meinem Wege nach Hinterpommern war. Da traf ich am Ortseingang von Rostock plötzlich auf zwei Kösliner Kameraden, die den Versuch, in ihre hinterpommerschen Heimatorte zu gelangen, nahe Stettin aus Furcht vor unkalkulierbaren Repressalien polnischer Staatsangehöriger aufgegeben hatten. Nach einigen Gesprächen und Überlegungen am Straßenrand über unsere Wege und Erlebnisse seit Auflösung der LBA in Celle schlossen sie sich mir dann auf dem Wege in Richtung Stettin aber wieder an, von wo sie seit mehreren Tagen in umgekehrter Richtung bis Rostock gewandert waren. Ich war froh, nach dem Verlust von Gerhard Hingst durch den Zugriff eines sowjetischen Soldaten in einem kleinen Waldstück nun nicht mehr allein auf der Straße zu sein. Bald darauf sind wir dann noch tagelang in Gemeinschaft mit einigen entlassenen Soldaten gelaufen, die uns bei der Beschaffung von Lebensmitteln behilflich waren. Die bereits vor dem Ort Scheune nahe Stettin in der Nacht vernehmbaren drastischen Übergriffe polnischer Zuwanderer* gegenüber Deutschen, die hier auf dem Bahnhof lagerten und auf Züge zur Reise gen Westen hofften, führten jedoch zur – für meine beiden Kameraden erneuten – Aufgabe unseres gemeinsamen Marschziels. Zu Fuß entlang der Bahnstrecke und mit der Bahn ging es dann etappenweise nach Berlin, wo wir alle drei Verwandte hatten und ich Onkel Emil, Tante Grete und meine Cousine Ruth Mischke im Stadtteil Schöneberg zu finden hoffte.

*

Als Folge des Entzugs von Lebensmittelmarken für alle, die zu einem bestimmten Datum vor 1945 nicht in Berlin sesshaft gewesen waren, musste ich aber auch die aufgefundenen Berliner Verwandten wieder verlassen und überlebte die Zeit bis zur Flucht aus der SBZ* im Januar 1946 bei der Bauernfamilie Willi Stoof in Groß Kreutz im Kreis Zauch-Belzig*. In dem 2009 erschienenen Taschenbuch „Von Hinterpommern nach irgendwo“* wurde diese Nachkriegsphase ausführlicher beschrieben.

*

Die Flucht aus der SBZ endete mit einem in einer größeren Gruppe unternommenen nächtlichen Grenzübertritt nahe Walkenried. Nach der Registrierung im Grenzdurchgangslager Friedland* wurden Kiefen und Klein-Gaddau im Kreis Lüchow-Dannenberg nun meine Zufluchtsorte, bis eine Vereinigung mit der aus Hinterpommern ausgewiesenen Restfamilie im Oktober 1947 im Durchgangslager für Vertriebene in Uelzen-Bohldamm* erfolgte und wir Anfang Dezember nach Pevestorf an der Elbe im Landkreis Lüchow-Dannenberg zwangseingewiesen wurden.

Neuorientierung für Erwerbstätigkeit und Weiterbildung 1949

In dem zum benachbarten Brünkendorf über der Elbe – als damaliger Grenze zwischen Britischer und Sowjetischer Besatzungszone – gelegenen Ortsteil Höhbeck lernte ich im Frühjahr 1948 bei einem Waldspaziergang Heinrich Scharnberg kennen. Scharnberg hatte als Lebensreformer und Vegetarier in den Zwanzigerjahren hier mit anderen Anhängern der Jugendbewegung in der heutigen Gemeinde Gartow gesiedelt. Er war 1920/1921 Teilnehmer des ersten Lehrgangs der ersten Heimvolkshochschule* Deutschlands in Dreißigacker* bei Meiningen in Thüringen und ein Kenner der Volkshochschulbewegung jener Zeit. Er erzählte mir in unseren wiederholten Kontaktgesprächen stets lebhaft davon und versorgte mich mit Literatur dazu, deren wegweisender Charakter sich mir damals aber noch nicht erschloss. Als ich mich im Herbst 1949 entschied, aus der Landwirtschaft in den Bergbau zu wechseln, empfahl Heinrich Scharnberg, mich nach Gelsenkirchen wegen der dort vorhandenen gut entwickelten städtischen Volkshochschule zu bewerben. Kenntnis darüber habe er von seinem Freund Heiner Lotze* erhalten, mit dem er zusammen 1920/21 den ersten Heimvolkshochschullehrgang in Dreißigacker besucht hatte, und der jetzt unter dem Niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme* Referent für Erwachsenenbildung war.1

*

Gleich nach der ersten Schicht unter Tage im November 1949 war ich denn auch schon Besucher der Volkshochschule Gelsenkirchen* in einer Veranstaltung zur Kulturellen Bergmannsbetreuung2, die damals in den Wohnheimbaracken für Bergleute in der Achternbergstraße 48 stattfand. Sofern die Schichtarbeit es erlaubte, war ich zunächst häufiger Besucher von damals recht oft stattfindenden abendlichen Vorträgen in der Aula des Grillo Gymnasiums zu unterschiedlichen Themen. In den mich ebenso interessierenden anschließenden Diskussionsrunden lernte ich, mich daran entlang eines Themas zu beteiligen. Weil Radios noch kaum vorhanden waren, Fernsehen noch nicht existierte, Zeitungen und Zeitschriften von Bergleuten in Wohnheimen mit Mehrbettzimmern nicht gehalten wurden, waren diese Vortragsabende der Volkshochschule von herausragender allgemeiner Bedeutung für Bildung und Kultur im sozialen Alltag der Nachkriegszeit und kontrastierten das Leben unter und über Tage erlebnisreich; unter Tage bei kleinen Lichtkegeln einzelner Grubenlampen im Geknatter der Abbauhämmer und Getöse der Schüttelrutschen im dichten Kohlenstaub des Strebs statt eines Gespräches sprachlich arg verknappte Sequenzen wie auch laute Zurufe und Fragen aus rabenschwarzen Gestalten zu: Anschlagtafel – Kaue – Einfahren – Ausfahren – Fahrkorb – Fahrmarke – Strecke – Kumpel – Helm – Lampe – Mottek – Pin – Schweinepriester – Gezähe – Gedingeschlepper – Hauer – Fahrhauer – Lehrhauer – Steiger – Kropp – Maloche – Stempel – Hering – Hund – Beile – Luftschlauch – Schüttelrutsche – Mitnehmer – Scheißeimer – Klopfzeichen – Buttern – Butterzeit – Kaffeepulle – Sohle – Strecke – Hangendes – Eisenstempel – Hering – Flaschenzug – Steiger – Toter Mann, die den erforderlichen sprachlichen Horizont der Arbeit vor Ort weitgehend abdeckten; über Tage die hell erleuchtete Aula des Grillo Gymnasiums mit sauber gekleideten Menschen und erkennbar unterschiedlichen Gesichtern, die mucksmäuschenstill ihre Blicke auf den Vortragenden der Volkshochschule richten, mit dem sie sich fernab dieser Arbeitswelt nur einige hundert Meter über ihr lediglich gedanklich und wechselweise einem Thema widmen.

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Bald nach der ersten Schicht unter Tage ein Gesprächstermin beim Betriebsrat der Zeche Alma in Gelsenkirchen-Ückendorf*. August hieß wohl der Betriebsratsvorsitzende mit Vornamen. Er war von vertrauenerweckender gewichtiger Erscheinung und Mitglied der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands, die in der Zeit des Nationalsozialismus verboten war und 1957 wieder verboten wurde). In dieses Gespräch kam ich bereits mit einem Mitgliedsausweis der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft und erklärte erwartungsgemäß meinen Wechsel in die IG Bergbau. Die mir bald danach gestellte Frage, ob ich mir vorstellen könne, in die Funktion eines Jugendsprechers einzutreten, mag ursächlich auf dem ungewöhnlichen Umstand beruht haben, dass ich 1949 im Alter von 19 Jahren bereits als Gewerkschaftsmitglied in den Bergbau gekommen war. Ich erinnere aber den weiteren Verlauf dieses Vorgangs nicht, zumal meine Kenntnisse des Erwerbslebens ja auch auf bäuerliche Betriebe mit bis zu drei Gehilfen begrenzt waren und ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht die geringste Ahnung von den Aufgaben und erforderlichen Kenntnissen eines Jugendsprechers hatte. August und anderen Mitgliedern des Betriebsrates bin ich später immer wieder mal bei Konzert- und Theaterbesuchen begegnet. Sie dürften aktive Mitglieder der Volksbühne gewesen sein, einer Besucherorganisation zur Förderung der Arbeiterkultur.

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Englischkurse der VHS erweiterten im Laufe der Zeit die auf der LBA gewonnenen sprachlichen Anfangskenntnisse ein wenig. Kurse zur Kunstgeschichte und zur Betrachtung von Werken der Bildenden Kunst, ein mehrsemestriges Lehrgangsangebot mit Dozenten der Dortmunder Sozialakademie* sowie der Besuch von Veranstaltungen in Verbindung mit der Stadtbücherei u. a. kamen hinzu. Ich abonnierte den ersten Großen Brockhaus* in einer Buchhandlung nahe der zu Beginn der Fünfzigerjahre neu erbauten Stadtbibliothek, erwarb neue Literatur zu fernöstlichen Philosophien und Religionen, der Lebensreform, allerlei Antiquarisches zur Naturheilkunde. Und ich genoss die auch mal nach Veranstaltungen stattfindenden Spaziergänge und Gespräche bei einem Bier mit anderen Besuchern und Dozenten der Volkshochschule, von denen mir die mehrfachen mit Prof. Leo Kofler* und dem Städtischen Kunstwart Bernd Lasch* in deutlicher Erinnerung geblieben sind.

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Eifrige Besuche des Zeitungslesesaals des in Gelsenkirchen wie in andern größeren Städten seit 1946 in der Britischen Besatzungszone eingerichteten britischen Kultur- und Informationszentrums „Die Brücke“3, des damaligen Theaters in Bahnhofsnähe, von Sinfoniekonzerten und Matineen im Hans-Sachs-Haus sowie mit Orchestermitgliedern nach den Konzerten im Restaurant „Die Kupferkanne“ in der Arminstraße verbrachte gesellige Runden bereicherten das Leben in Gelsenkirchen zusätzlich. Namentlich sind mir aus diesen Runden aber nur noch der Bassist Emil Ott und dessen Ehefrau Edith in Erinnerung. Aus dem Besuch des Zeitungslesesaals Die Brücke ist mir noch konkret in Erinnerung, dass ich dort parallel zu im Radio abgehörten Übertragungen von Bundestagsdebatten Das Parlament* las und insbesondere an allen Beiträgen zur Erörterung des KPD-Verbots* interessiert war. Daraus ist mir aus einer Rede(?) des damaligen Außenministers Gerhard Schröder (CDU)* dieses Zitat als eine aus Fremdwörtern gebildete Wortreihe dieser Satz in Erinnerung geblieben: „Die Infiltration subversiver Kräfte konstatiert ein Ferment permanenter Dekomposition.“

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Bald stand ich auch im Kontakt zu den damaligen Einrichtungen und Kreisen der Lebensreform, zu einer von den Mittelschullehrerinnen Herter und Linne` geleiteten Studiengruppe der Theosophischen Gesellschaft* in Gelsenkirchen, zu einem Freundeskreis der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell* und zu einer gemischten Loge des Ordens Le Droit Humain* in Dortmund.

Über die Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft war ich oft in der Familie Ott in Gelsenkirchen zu Gast, über die Mitgliedschaft in der Loge bei der Familie Lange in der Schulstraße 48 von Dortmund-Aplerbeck wohl nur an Wochenenden. 1961 besuchte uns ––meine Frau und ich hatten 1960 geheiratet – das Ehepaar Lange in Aurich, als ich dort bereits seit einem Jahr an der Deutsch-Niederländischen Heimvolkshochschule (DNVHS)* tätig war.

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Und was war das Leben in diesen Nachkriegsjahren ohne den 1950 von einem Schneider nach mehreren Anproben gefertigten schwarzen Anzug für den Besuch der Tanzsäle und Tanzcafés? Sie ließen die Erinnerung an die 1946/47 im wendländischen Heidekrug von Waddeweitz besuchten Tanzvergnügen in Sandalen aus alten Autoreifen und zusammengestoppelten „guten Klamotten“ von damals im Wendland noch allenthalben aufgestellten Vogelscheuchen verblassen.

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Ebenso unvergesslich die meistens reichlich aus besten Bratenresten4 im Hans-Sachs-Haus-Eck zu einem stets gut gezapften DAB – ein Pils der Dortmunder-Actien-Brauerei – umgangssprachlich Dortmunder Arbeiter Bier – servierte Gulaschsuppe, die gute Küche des Altdeutschen Restaurants Kupferkanne und die Besuche des unvergesslichen Jugendstilrestaurants im damaligen Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Alle, ebenso wie der Stadtpark, das Theater, die Stadtbücherei, die VHS-Angebote im Grillo- Gymnasium, das Hans-Sachs-Haus mit seinen Sälen für Sinfoniekonzerte und Matineen bequem und fußläufig aus der Schwanenstraße 3 erreichbar, wo mir ein Bergmann im Hinterhof seines Hauses ein möbliertes Zimmer mit einem großen mit Holz und Briketts zu befeuernden alten Küppersbusch-Herd vermietet hatte. Ich lebte zeitweise als Vegetarier und kochte mit einem dreistufigen Dampfkochtopf.

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Der Kontakt mit Heinrich Scharnberg ging auch nicht verloren, als ich im Juni 1955 hauptsächlich als intensiver Nutzer der Volkshochschule Gelsenkirchen die mehrtägige Aufnahmeprüfung zum Propädeutikum an der Hochschule für Arbeit, Wirtschaft und Politik* – 1956 in Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven umbenannt – meiner Erinnerung nach mit 12 weiteren von 79 Teilnehmern bestand und nach dessen dreisemestrigem Besuch und einem eingelegten studentenpolitischen Freisemester an die Hochschule für Wirtschaft und Politik* in Hamburg wechselte. Mehr und mehr hatten die postalischen Kontakte mit Heinrich Scharnberg nun jedoch Ratschläge für gesundheitliche und allgemeine lebensreformerische Themen sowie Hinweise auf entsprechende Literatur und Zeitschriften zum Inhalt. Diese im Laufe der Zeit sehr umfangreich angewachsenen Schreiben und Fotokopien übergab ich in den späten 80er-Jahren meiner daran insgesamt interessierten Hausärztin in Wennigsen am Deister. Meine Skepsis bezüglich vieler schulmedizinischer Leistungen und mein ständiges Bemühen, gesundheitlichen Problemen eigenverantwortlich beizukommen und sich dazu auf allen zur Verfügung stehenden Wegen zu informieren, mag vielleicht auf diese unentwegten langjährigen Interventionen Scharnbergs für eine gesunde Lebensweise zurückzuführen sein.

*

In Gelsenkirchen hatte ich sechs Jahre gelebt und war hier nach Kriegsende als Nutzer von Angeboten der Volkshochschule und anderen Einrichtungen des sozialen und vielfältigen kulturellen Lebens der Stadt verwurzelt gewesen. In Wilhelmshaven hatte ich ebenfalls sehr schnell den Kontakt zur von Dr. Alfred Franz geleiteten Volkshochschule und Stadtbibliothek* gefunden, auch zur Stadt und ihren Menschen, da ich ab 21. Dezember 1955 während der Weihnachtsferien ganztags und während des Semesters morgens von fünf Uhr bis halb acht bei den Stadtwerken einen Job als Busschaffner hatte, um damit meine Existenz im Hochschuldorf Rüstersiel5 zu finanzieren. Wie in Gelsenkirchen war ich auch in Wilhelmshaven bald zu Kontakten mit Bediensteten der Stadtverwaltung und Repräsentanten der Kommunalpolitik gelangt. In beiden Städten schienen mir auf diese Weise nach Flucht und Vertreibung spürbar wieder heimatliche Wurzeln gewachsen zu sein, die zumindest flüchtiges Nachdenken über eine künftige Tätigkeit in der Volkshochschule aufkommen ließ. Da aber die Stellen der Volkshochschulleiter in beiden Städten besetzt waren und Kontakte zu zentralen Einrichtungen der Erwachsenenbildung Niedersachsens erfolglos verliefen, bewarb ich mich nach Abschluss des Studiums an der Hochschule für Wirtschaft und Politik nach einem kurzen Zwischenspiel in der Personalabteilung eines Produktionsbetriebes für Autoteile in Barsinghausen Ende 1959 um die Stelle eines Mitarbeiters bei der Deutsch-Niederländischen Heimvolkshochschule (DNVHS)* Aurich und konnte hier als Dozent für politische Bildung und Lehrgangsleiter in Kursen mit deutschen und niederländischen Jugendlichen und Erwachsenen vieler Berufe und Schulgattungen ab März 1960 meine ersten beruflichen Erfahrungen in der Erwachsenenbildung sammeln. Damit verbunden waren auch Aufgaben, die Finanzierung, Programmgestaltung und Organisation von Veranstaltungen eigenständig zu planen und durchzuführen, an der Aufstellung und Kontrolle des Wirtschaftsplanes mitzuwirken, Informationsbroschüren zu entwickeln, sich in der Zusammenarbeit mit Presse und Rundfunk zu erproben und in der Gestaltung der Räume für Unterricht, Wohnen, Verwaltung und der Bibliothek tätig zu werden sowie eigene Ideen für den Inhalt der Bildungsarbeit beizusteuern und zu realisieren. Der kollegiale Arbeitsstil der Heimvolkshochschule erwies sich in dieser Einarbeitungsphase als besonders hilfreich und förderlich, denn eine unterrichtspraktische Anleitungsphase zum Lehren und Lernen mit Erwachsenen fand ja nicht statt.

*