In der Stille der Zeit - Christine Eickenboom - E-Book

In der Stille der Zeit E-Book

Christine Eickenboom

0,0

Beschreibung

"Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Und wir waren nie die, die wir gewesen sein wollen." In einer deutschen Kleinstadt, gezeichnet von der Stille der beginnenden Corona-Pandemie, kreuzen sich die Wege von Agnes, Sabine und Elisabeth erneut. Drei Frauen, drei Lebensentwürfe, ein gemeinsames Geheimnis. Anlässlich einer Hochzeit zusammengeführt, konfrontiert sie die Vergangenheit mit ungelösten Fragen und dem Echo einer Tragödie. Rückblenden in ihre Jugend enthüllen, wie Erinnerungen die Gegenwart formen - und wie unzuverlässig sie doch sein können. Während Agnes in ihrer stillen Welt lebt, Elisabeth den Druck der Perfektion spürt und Sabine an alten Träumen festhält, entfaltet sich eine Geschichte von Schuld und Selbstfindung. Sind sie noch die, die sie einst waren, oder waren sie nie die, die sie sein wollten? Ein Roman, der zeigt: Erinnerungen sind so facettenreich wie das Leben selbst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 349

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

EINS

DIE SCHLANGE DER WARTENDEN HATTE SICH NUR LANGSAM VORWÄRTSBEWEGT. Sie erinnerte sich, dass sie auf den Boden gesehen hatte, während sie gingen, einen Fuß vor den anderen schiebend, auf das Grau des Asphalts.

Oder war ihr das mit der Langsamkeit nur so vorgekommen, war das eher sie selbst gewesen, die auf Zeitlupe gestellt gewesen war, auf langsames Denken, Fühlen, die Realität aufnehmen?

Es war warm gewesen, die Sonne hatte geschienen. In diesen Tagen war das Wetter überhaupt gut gewesen, Sommer eben, Schwimmbadwetter, Gartenpartywetter.

Sie konnte sich allerdings an keine danach erinnern.

In ihrer Nähe hatte sich keine der anderen befunden. Konnte das sein? Sie war doch nicht allein dagewesen. Wahrscheinlich hatten sie sich in der Menge verteilt, es war gut möglich, dass sie nicht zusammen losgezogen waren, dass jede allein diese Blume getragen hatte, die sie jetzt, in dieser Erinnerung, in ihrer Hand sah. Eine weiße Gerbera, sie erinnerte sich genau.

Ja, wahrscheinlich waren sie in der Menge verteilt gewesen, die Gesichter rechts und links von ihr hatten ihr nichts gesagt.

Sie waren sich aus dem Weg gegangen.

Das Sprechen hatte aufgehört in diesen Tagen.

Und das hatten sie in all den folgenden Jahren auch so beibehalten.

ZWEI

JETZT UND HIER WAR SIE SICH SICHER, dass das Ganze keine gute Idee war. Seit dem Anruf hatte sie Zweifel gehabt, nein, schon seit die Karte gekommen war. Auf die Karte hatte sie noch nicht unmittelbar reagieren müssen, eine Karte konnte man lesen, betrachten und zur Seite legen, ohne sich zu positionieren, niemand sah einen, niemand drängte. Der Raum zwischen der, die geschrieben hatte und der, die nun las, war erst einmal gefüllt mit erwartungsvollem Schweigen.

Agnes kratzte sich am Kopf. Sie war müde, das Autofahren strengte sie an. Inzwischen war es so dunkel, dass das Nass der Straße nur noch im Licht der Scheinwerfer glänzte. Lediglich an ein paar wenigen kleinen Stellen oberhalb und am Rand des Horizonts sah man noch ein Hell, das kein Hell mehr war. Die untergegangene Sonne hatte da ein fahles Licht übriggelassen, blasser Rest an einem Himmel aus schwarzen Regenwolken, der nur durch diesen Kontrast überhaupt zur Geltung kam. Ein interessantes Schauspiel, das das Oben zu einem unheimlichen, bedrohlich wirkenden Raum machte, einem Raum, in dem sich Regenmassen und genauso gut zornige Götter vermuten ließen, und das schnelle Verlöschen der Lichtreste konnte gleichermaßen beruhigende wie beängstigende Wirkung entfalten, je nachdem, wie intensiv die Fantasie eingriff.

Ein großes Bild. Agnes kramte in ihrer Handtasche nach einem Bonbon. Reichlich kitschige Gedanken. Die Tasche lag auf dem Beifahrersitz neben ihr. Zum Glück fuhr sie über die Autobahn und war daher nicht dem Licht Entgegenkommender ausgesetzt. Ohnehin herrschte nicht viel Verkehr. Agnes war schon längere Zeit nicht mehr selbst Auto gefahren, etwa ein Jahr lang, überlegte sie, vielleicht sogar länger. Jetzt machte sie die hektische Bewegung des Scheibenwischers, dessen Geschwindigkeit sich selbst regulierte, nervös. Agnes hatte sich nicht über diese Kleinigkeiten informiert, bevor sie losgefahren war, automatische Einstellung des Scheibenwischers, Schalter für die Nebelschlussleuchte, solche Sachen, diese Unkenntnis war ein Nachteil, wenn man fremde Fahrzeuge fuhr. Als sie in ihre jetzige Wohnung umgezogen war, hatte sie sich dazu entschieden, sich auf das öffentliche Nahverkehrsnetz zu beschränken und in Ausnahmefällen einen Wagen anzumieten, ein Zugeständnis, das ihr die Entscheidung für eine eigentlich zu große Wohnung leichter gemacht hatte. Außerdem gab es keine dazugehörige Garage, und die Stellplätze waren den einzelnen Wohnungen nicht durch eine Markierung zugeordnet, was im Ernstfall ständige Diskussionen mit Nachbarn oder deren Besuchern bedeutet hätte. Aber das war ja einer der Vorzüge des Lebens in der Stadt: U-Bahnen, S-Bahnen, Busse.

Agnes hatte sich allerdings schnell eingestehen müssen, dass sie sich das gelegentliche Anmieten und Nutzen eines ihr völlig fremden Fahrzeuges zu einfach vorgestellt hatte. Tatsächlich schien es fast unmöglich zu sein, ein oder zwei Mal im Jahr auf diese Art einige hundert Kilometer zurückzulegen, ohne die Reise vollkommen gestresst abzuschließen. Da Agnes diese Erfahrung schon bei ihren letzten Besuchsfahrten zu den Eltern gemacht hatte, hatte sie nun eigentlich vorgestern in die Bahn steigen wollen, ihr Bruder, wegen dessen Familie die Eltern in diese Gegend gezogen waren, hatte sie am Bahnhof abholen sollen.

Aber dann war die Verunsicherung wegen der Pandemie-Situation groß gewesen, dieser Heimsuchung des laufenden Jahres. Überall war die Rede von den Gefahren des Reiseverkehrs gewesen, dazu kamen die Herbstferien, deren Anfang zeitgleich mit ihrem Besuch bei den Eltern lag, und die nicht länger als ein Symbol für späte Sonne und Erholung zu dienen schienen, sondern als eines für Krankheit und Tod.

In ihrem Alltag nutzte Agnes in der Regel die S-Bahn, sie fuhr damit kurze Strecken und hielt sich möglichst am Eingang auf oder achtete zumindest darauf, in der Nähe von Menschen mit Maske zu stehen. Fahrkartenkontrollen waren ohnehin selten, und die von der Regierung zusammen mit den Verkehrsbetrieben propagierte Idee, maskenlose Mitreisende im Rahmen einer sozialen Kontrolle anzusprechen, war völlig absurd: Entweder lachten die nur oder aber waren vollkommen genervt, weil sie ein entsprechendes Attest hatten und sich nicht andauernd rechtfertigen wollten.

Was aber die Fernzüge anging, so war überall in den sozialen und den übrigen Medien zu lesen gewesen, dass hier jede und jeder mache, was er oder sie wolle, einschließlich der Zugbegleitung. Agnes konnte sich nicht vorstellen, dass das der Realität entsprach, aber es war doch ein Punkt, den sie angesichts der Lage nicht unbeachtet hatte lassen können, und auch, wenn es angeblich keine Nachweise von Ansteckung im Fernverkehr gab, hatte sie ein schlechtes Gefühl bei dem Gedanken an eine solche Fahrt gehabt.

Deshalb also hatte sie sich trotz der ernüchternden Erkenntnisse der letzten Male dazu durchgerungen, wieder ein Auto anzumieten, in dem sie jetzt über die Autobahn zurückfuhr. Das Vorbeischnellen des Mittelstreifens hatte etwas Meditatives an sich, dieser sich ständig und im gleichen Tempo wiederholende Wechsel von Auftauchen und Verschwinden der Markierung in ihrem Augenwinkel, ebenso wie das gleichmäßige Geräusch, das die Reifen auf der Fahrbahn machten, und Agnes musste aufpassen, davon nicht zu schläfrig zu werden. Beides erinnerte sie an andere Fahrten in der Nacht, die sie als Kind und später als Erwachsene erlebt hatte, an Reisen in einem anderen Land, in dem das Licht von Straßenlaternen auf der unbelebten, weil zahlungspflichtigen Straße unheimlich auf sie gewirkt hatte, geisterhaft in der leeren Landschaft. Wie in einem Film, in dem Maschinen die Macht übernommen hatten oder etwas Derartiges, überhaupt an Filme, in denen ähnliche Szenen eine Rolle spielten, oder an Musik, die solche Fahrten begleitet hatte. Sie hatte das Gefühl, dieses Auf- und wieder Wegtauchen des weißen Strichs in ihrem Kopf gleichzeitig in mehreren verschiedenen Einstellungen zu sehen, die sie wohl aus solchen Filmaufnahmen haben musste, oder aus Buchszenen, die in ihrem Kopf Gestalt angenommen hatten, und sie fragte sich, ob dieses besondere Gefühl, das sie gerade empfand, diese Mischung aus Verlorenheit und leichter Schwermut, vielleicht weniger auf dem Anblick des mittlerweile völlig düsteren Himmels beruhte, als vielmehr das Produkt der offenbar vermischten Erinnerungen an Erlebtes wie Erdachtes war.

Und nicht nur Reisen betraf.

Diese verflixte Karte.

Erlebtes und Erdachtes. Verschwimmende Grenzen.

Die Unsicherheit aufgrund der langen Pausen im Fahren und das damit verbundene Bedürfnis nach ausreichender Knautschzone hatten dazu geführt, dass sie sich bei der Auswahl über die Homepage des Anbieters nicht für das kleinste, für sie ausreichende Mietwagenmodell entschieden hatte, ein Umstand, den ihr Vater entsprechend kommentiert hatte, und zwar in einer Art und Weise, die anerkennend dahergekommen war, von der sie, die Tochter, aber genau wusste, dass es sich um einen Vorwurf, mindestens aber um Unverständnis gehandelt hatte. Einen Vorwurf über die Geldverschwendung, die er hinter der Anmietung eines solchen Wagens sah, aber auch ein Vorwurf darüber, dass sie kein eigenes Auto besaß. In der Generation ihrer Eltern war ein Auto immer noch ein Zeichen von bürgerlichem Wohlstand, der mit Sicherheit und mit Bodenständigkeit verbunden war.

Es war schon interessant, wie ein Gegenstand sich in seiner Bedeutung über die Jahre wandeln konnte, dachte Agnes. In ihrer eigenen Generation hatte ein Auto als Symbol für Unabhängigkeit gegolten, jedenfalls in den eher ländlichen Teilen, da, wo regelmäßiger Nahverkehr eine ferne Vorstellung von Großstadt gewesen war. Für die heutige Jugend bedeutete ein Auto wohl eher einen Mangel an Umweltbewusstsein, jedenfalls nahm Agnes das an. Andererseits war das vielleicht ein Klischee, es waren sicher nicht alle Jugendlichen Anhänger von Greta Thunberg.

Agnes seufzte, sie hatte keine Ahnung.

Die Reaktion ihres Vaters stand jedenfalls gleichzeitig auch stellvertretend für ein grundsätzliches Kopfschütteln über Agnes´ Lebensweise, die ihre Eltern als großspurig empfanden, als eben nicht bodenständig. In deren Augen, da war sie sich sicher, war sie Mitglied einer Generation, die immer latent über ihren Verhältnissen lebte, vor allem aber vielfach den Bezug zu den wirklich wichtigen Dingen verloren hatte und in der Folge in unverständlichen Formen lebte. Dass Agnes alleinstehend war, unverheiratet, familienlos, und damit nicht zu hadern schien, war eine davon.

Da die Eltern sich allerdings schon vor Jahren, als klar zu sein schien, dass Agnes sich nicht mehr fortpflanzen würde, entschieden hatten, in die Wahlheimat ihres Bruders und dessen Familie zu ziehen, gab es selten Gelegenheit, derartiges zu besprechen. Umso mehr befand Agnes sich bei ihren Besuchen in einer Habachtstellung: Man wollte alles richtig machen, Erwartungen nicht enttäuschen, sich aber auch nicht rechtfertigen und so weiter.

Entsprechend anstrengend waren die drei Tage gewesen, die sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder sowie dessen Familie verbracht hatte, das spürte sie deutlich an der Art der Müdigkeit, die sich in ihr ausbreitete. Keine Müdigkeit wie nach einem langen Spaziergang oder nach einer sportlichen Aktivität, die wohltuend sein konnte, weil man etwas geleistet hatte, stattdessen ein Gefühl, das zum Rückzug aufforderte und bei dem man nur nach Hause kommen, die Schlüssel in die Schale werfen und ins Bett gehen wollte.

Ein paar Mal hatte sie mit dem Gedanken gespielt, den Eltern von der Post zu erzählen und von Elisabeths Anruf. Ihre Eltern kannten diese Freundin aus früheren Tagen, zumindest hatten sie das mal, das Ganze hätte also wirklich ein Thema sein können, ein interessantes sogar, oder einfach eine Abwechslung vom sonst üblichen Gerede. Agnes selbst hatte ohnehin kaum an etwas anderes gedacht.

Warum sie es dann aber doch nicht angesprochen hatte, wusste Agnes selbst nicht. Insgesamt waren es auch nicht wirklich drei Tage gewesen. Bereits am Donnerstag war sie nach der Arbeit aufgebrochen, weil sie schon heute, am Samstag, hatte zurückfahren wollen. Als Begründung hatte sie angegeben, den ferienbedingten Urlaubsreisenden am Sonntag aus dem Weg gehen zu wollen. Das war in zweierlei Hinsicht Unsinn, denn erstens konnten die ihr genauso gut schon am Samstag begegnen, und dann sollte es ja eigentlich kaum Reisende geben in diesem Jahr.

Tatsächlich hatte Agnes einfach gern den Sonntag zuhause verbringen wollen ehe die neue Woche startete, und offenbar war sie noch immer nicht alt genug, um das auszusprechen. Wie lange blieb man ein Kind?

Im Rückspiegel erschien sehr schnell ein Wagen, blendete sie kurz und scherte dann aus, um zu überholen. Agnes sah zur Seite, konnte aber aufgrund der Dunkelheit und wohl auch der Geschwindigkeit des anderen Fahrzeugs nicht sehen, wer am Steuer saß, ein Mann oder eine Frau, alt oder jung. Das Auto entfernte sich so schnell von ihr, wie es aufgetaucht war, und Agnes war wieder allein mit der Dunkelheit und der Fahrbahn. Es hatte aufgehört zu regnen, immerhin, aber der Himmel war nach wie vor finster, kein Stern und kein Mond waren zu sehen, sie fuhr wie in einem Tunnel. Eine Reihe von vier LKW tauchte vor ihr auf, die sie zwang, die Spur zu wechseln. Eine Stunde noch, dann würde sie zuhause sein. Seit ein paar hundert Metern fuhr sie über einen Abschnitt mit Bodenschwellen, das gleichmäßig wiederkehrende Geräusch setzte sich schnell in ihrem Kopf fest und der eintönige Rhythmus kaperte schließlich ihre Gedanken, die sich auf einzelne, wiederkehrende Worte reduzierten.

Eltern - Wochenende - Corona.

Eltern - Wochenende - Corona.

Eltern - Wochenende - Corona.

Eltern - Wochenende - Corona.

Elisabeth - Melanie - Sabine.

Elisabeth - Melanie - Sabine.

Natürlich hatte Melanie zuerst Elisabeth kontaktiert, um erst die und über die dann Sabine und Agnes, über ihre Pläne zu informieren. Wohl eher über ihre Erwartungen, dachte Agnes, und löste sich aus der Klammer, die die Bodenschwellen in ihrem Gehirn erzeugt hatten. Aber das war doch sehr negativ gedacht, man könnte auch sagen, über ihre Wünsche, das klang freundlicher.

Die Einladung zur Hochzeit war schon vorher gekommen, zwei Tage früher, besagte Karte. Eine dezent feierliche, cremefarbenes Papier, fest, ohne zu viel Schnörkel, eine leichte Prägung auf der Frontseite. Keine Seidenpapiereinlage, innen links ein Foto von Melanie und einem Mann, den Agnes nicht kannte und der laut Text Torben hieß: Einladung zur Hochzeit von Melanie und Torben am 7. Dezember in Aschaffenburg.

Agnes war ein bisschen erstaunt gewesen, eine Hochzeit mit 50, na gut. Außerdem war ihr die Einladung ein wenig kurzfristig erschienen und sie hatte sich gefragt, ob die Planung insgesamt das auch war. Das Datum sprach ohnehin für eine Heirat aus steuerlichen Gründen hatte sie gedacht und war sofort verärgert über sich selbst gewesen, darüber, dass ihr so ein stereotyper Unsinn in den Kopf kam, den sie gar nicht denken wollte. Selbst wenn das die Begründung war, so war daran schließlich nichts Verwerfliches. Vielleicht waren der Termin und die damit verbundene Kurzfristigkeit einfach der aktuellen Situation geschuldet, vielleicht waren Standesamtstermine wie alles andere knapp und die Zeit drängte, weil Melanie und dieser Mann das Fest hinter sich bringen wollten, bevor wieder bis März oder April gar nichts mehr möglich war. Schließlich war schon seit dem Frühjahr immer wieder die Rede davon, dass es am Ende des Jahres nochmal hart werden würde.

O nein, hoffentlich kam es nicht so weit. Die Kontaktbeschränkungen hatten Agnes im Frühjahr nicht so viel ausgemacht, sie verbrachte die Abende ohnehin meistens allein zuhause und war nicht unzufrieden damit, aber dann war sie normalerweise vorher den ganzen Tag im Büro gewesen. Als sie angehalten gewesen war, an den meisten Tagen von zuhause aus zu arbeiten, hatte sie feststellen müssen, dass es doch irgendwann unbefriedigend war, am Abend nur das Zimmer zu wechseln, nicht aber den Ort und die Gesellschaft. Immerhin war es hilfreich, gut mit sich selbst auszukommen, sich zu genügen, und nicht auf die Gesellschaft anderer angewiesen zu sein, eine Eigenschaft, die sie sich zum Glück schon früh angeeignet hatte und die in vielerlei Hinsicht Vorteile brachte. Man war weniger anfällig für Verletzbarkeiten, fühlte sich weniger von Verantwortlichkeiten gedrängt, all sowas.

Die Karte passte gut zu Melanie, dachte Agnes, nicht zu schlicht, nicht zu aufdringlich, so hatte sie sie in Erinnerung. Oder verwechselte sie da jetzt etwas, Melanies Eigenschaften und Elisabeths vielleicht? Sie war nicht sicher. Erlebtes und Erdachtes.

Eine Hochzeitsreise würden Melanie und Torben aber wohl nicht machen können überlegte Agnes, am Morgen hatte sie in den Nachrichten gehört, dass inzwischen mehr als die Hälfte aller Länder der Welt von der Bundesregierung zum Risikogebiet erklärt worden seien, was ein denkbar schlechter Start auch für die Herbstferien war.

Außerdem war die Rede gewesen von innerdeutschen Risikogebieten und damit verbundenen Einschränkungen im eigenen Land, aber da war Agnes nicht sicher, ob sie das tatsächlich richtig verstanden hatte, sie hatte nur mit einem Ohr zugehört und mit dem anderen an der Unterhaltung ihrer Eltern teilgenommen. ‚Innerdeutsche Risikogebiete‘ klang jedenfalls befremdlich, irgendwie apokalyptisch und gleichzeitig vollkommen fiktiv, wie ein ausgedachter Begriff aus einer ausgedachten Wirklichkeit. Nach Meinung von Pater Paneloux hat Gott die Pest geschickt, kam es Agnes in den Sinn. Das Stück von Camus war wahrscheinlich ein Renner auf allen Bühnen der Welt, die im Moment spielfähig waren, das konnte sie sich jedenfalls gut vorstellen. Sie könnte es mal wieder lesen, dachte sie. Vielleicht besser aber doch nicht, wahrscheinlich wäre ein anderes Thema aktuell geeigneter für ihr Gemüt.

Jedenfalls war Agnes erstaunt gewesen, als die Einladungskarte gekommen war, sowohl darüber, dass sie eingeladen wurde, als auch über die Hochzeit an sich. Dabei hatte es sich nicht um wertendes Erstaunen gehandelt, das nicht, eigentlich hatte sie das Ganze relativ emotionslos zur Kenntnis genommen stellte sie rückblickend fest, und weitere Überlegungen hatte sie zunächst in die Zukunft verschoben. Erwartungsvolles Schweigen.

Zwei Tage später hatte Elisabeth sich per WhatsApp gemeldet und mitgeteilt, Melanie habe auch sie - davon war auszugehen gewesen – und außerdem Sabine eingeladen - das hatte Agnes überrascht, mehr noch als ihre eigene Einladung.

Ausgerechnet Sabine, das hatte Elisabeth sicher nicht gefallen.

Vielleicht war das zu hart.

Und außerdem: Was wusste sie, Agnes, schon darüber, welche Kontakte die Jahre überdauert hatten, was überhaupt möglich gewesen war. Möglich gewesen wäre.

Und auch das war ein emotionsloser Gedanke gewesen.

Elisabeth hatte außerdem geschrieben, Melanie wünsche sich eine Art Beteiligung an der Feier von ihnen, so etwas wie einen Auftritt, einen Vortrag oder ein Lied, etwas Derartiges. Wahrscheinlich, weil Agnes nicht gleich geantwortet hatte (ein Auftritt war in Agnes´ Augen eine völlig absurde Idee), hatte Elisabeth am Abend angerufen.

Diese Stimme. Wie lange hatte sie die nicht gehört? Das war tatsächlich schön gewesen, doch.

Pragmatisch wie immer hatte Elisabeth sich nicht lange mit Smalltalk aufgehalten, sondern war gleich zum Thema gekommen. Sehr glücklich hatte sie dabei nicht geklungen: Melanie habe sie persönlich, in einem Telefonat, darum gebeten, mit Agnes und Sabine Kontakt aufzunehmen und die Idee zu besprechen. Zeitlich passe ihr das gerade gar nicht, hatte Elisabeth gesagt, sie habe im Moment sehr viel zu tun, die Baustellen und das jahreszeitlich anstehende schlechte Wetter, das ja unvermeidbar kommen würde, der Oktober sei immer schlecht bei ihr, um andere Dinge zu planen, aber es sei Melanie halt so wichtig. Die habe gemeint, es sei doch außerdem eine schöne Gelegenheit, wieder etwas von Früher aufzufrischen, Gefühle, Erinnerungen, Freundschaften.

Agnes hatte in sich gehorcht, ob es da ein derartiges Bedürfnis gab. Wenn dem so war, war es jedenfalls gut versteckt, aber das hatte sie nicht ausgesprochen. Sie verspürte auch nichts Gegenteiliges, konnte also nicht sagen, dass sie etwas dagegen hatte, die anderen zu treffen, daher hatte sie nicht grundsätzlich ablehnend klingen wollen, oder desinteressiert.

Wäre das ein Unterschied?

Scheinbar war es ihr nur einfach nicht wichtig.

War das merkwürdig?

Unsinn.

Sie war eben einfach zufrieden damit, dass die Zeit weitergegangen war, das Leben, man konnte ja nicht immer bei allem Vergangenen, das wiederbegegnete, mit intensiven Emotionen reagieren, das war doch schließlich normal, beziehungsweise anders viel zu anstrengend, wie sollte das ertragen werden? Die kleinen Verletzbarkeiten, oder die Verletzbarkeiten, die einen klein machten.

Offensichtlich war sie inzwischen sehr müde, sonst würde ihr nicht so ein Blödsinn durch den Kopf gehen. Sie sah auf die Uhr. Noch etwa eine halbe Stunde.

Mit Sabine hatte Elisabeth zu dem Zeitpunkt ihres Telefonats noch nicht gesprochen, der aber ebenfalls eine Nachricht über WhatsApp geschickt, die die gelesen, aber nicht beantwortet habe. Vielleicht würde Elisabeth sie am nächsten Tag ebenfalls einfach mal anrufen. Kurz war Agnes der Gedanke gekommen, sich dafür anzubieten, wäre das rückblickend nicht naheliegend gewesen? Erwartete Elisabeth vielleicht genau das von ihr? Aber die hatte einfach weitergesprochen und Agnes hatte nicht eingehakt, teils froh darüber, sich nicht einbringen zu müssen, teils unsicher bezüglich der Zuverlässigkeit ihrer jetzt, während eines unerwarteten Telefonats, hervorgerufenen Erinnerungsfragmente. Auch hier: Erlebtes und Erdachtes?

Jedenfalls hatte Melanie sie alle scheinbar als einen engen Kreis in Erinnerung, eine verschworene Gemeinschaft wie man das in Filmen sah oder über die man in Romanen las, wie sonst käme sie auf solche Ideen?

Aber ja, so in etwa war das wohl gewesen, damals. Mit Abstrichen natürlich, einzelne waren enger gewesen, mit denen hatte man besser gekonnt, andere waren Begleitung gewesen, insgesamt hatte man viel Zeit zusammen verbracht, wie das eben so war in Jugendcliquen, im Nachhinein nichts Besonderes eigentlich, jedenfalls in der Hauptsache. Dass Elisabeths Begeisterung sich in Grenzen zu halten schien, überraschte Agnes nicht, sie erinnerte sich gut daran, dass Sabine und Elisabeth sich eher distanziert begegnet waren mit ihren sehr unterschiedlichen Charakteren. Der gemeinsame Nenner ihrer Gruppe war das Alter gewesen, die gleiche Schulzugehörigkeit, und Elisabeth und Melanie hatten, ebenso wie Sabine und Rebekka, so etwas wie eine eigene Einheit gebildet.

Letztere waren außerdem speziell gewesen irgendwie, in ihrer Art und auch sonst, und zusammen sowieso.

Agnes spürte gleichzeitig sowohl einen Anflug von Erheiterung, leichter Verärgerung und auch von Trauer, und das Ganze verursachte ein merkwürdiges Gefühl, so merkwürdig, wie es das eigentlich doch nur in der Jugendzeit gab.

Liebe, Tod und Abenteuer, wer konnte schon von sich behaupten, all das erlebt zu haben?

Was war das denn für eine Aufzählung, soap opera at it’s best, das war gar nicht ihr Metier, dachte sie, beinahe hätte sie gelacht, und außerdem, Abenteuer müsste man vielleicht nochmal definieren.

Oder es war eben alles Abenteuer in dieser Zeit. Ja, so war es wohl.

Aber die anderen beiden Begriffe waren jedenfalls nicht Auslegungssache.

Nein, das stimmte so nicht, gerade die Liebe, wer was wann als solche empfand, war ein unsicheres Terrain, ein heikles Thema, war dünnes Eis, Gefahrenzone.

Gut, dass man nicht ewig jung war, so jung jedenfalls, soviel stand fest. Agnes schlug mit der rechten Hand auf das Lenkrad, als wolle sie einen Punkt setzen, denn am liebsten würde sie schon jetzt die Beschäftigung mit diesen Überlegungen endgültig beenden, bevor sie alle zusammen damit anfingen.

Eigentlich hätte es also gereicht, wenn Melanie Elisabeth eingeladen hätte, oder nicht? Und sie selbst? Sie war immer mit allen gut ausgekommen, ohne, dass das eine tiefere Bedeutung gehabt hätte. Agnes fand selbst, dass das merkwürdig klang, sehr distanziert, und sie schüttelte den Kopf, während sie eine weitere LKW-Kette überholte. Natürlich war auch ihr die Gruppe, waren ihr einzelne wichtig gewesen, sehr wichtig, aber als die Zeit es eingefordert hatte, hatte sie den inneren Absprung geschafft, und so löste bei ihr heute der Gedanke an die anderen keine emotionalen Tiefgänge aus. Und damit war sie durchaus zufrieden, ja doch, so konnte man das sagen. Den kurzen Moment jetzt eben mal ausgenommen.

Melanies Meinung nach sei das außerdem eine gute Gelegenheit, ihr halbes Jahrhundert zu feiern, und gerade deshalb sei ein Beitrag über Früher total witzig. Agnes hätte nicht sagen können, ob Elisabeth unsicher, genervt oder gelangweilt klang. Hatte sie das früher einschätzen können? Sie selbst hatte jedenfalls von Beginn an starke Zweifel daran gehabt, dass das wirklich ein guter Einfall war, hatte es aber bei ihren stillen Überlegungen belassen und einem Treffen am 6. Oktober zugestimmt, um Melanies Idee wenigstens zu besprechen. Das war der kommende Dienstag, und schließlich hatte Agnes noch eine WhatsApp bekommen mit der Nachricht, dass Sabine zugestimmt habe und sie sich also am Sechsten und wegen der allgemein guten Erreichbarkeit in deren Wohnung treffen würden.

Jetzt, hier in ihrer Dunkelheit, überlegte Agnes zum wiederholten Male, ob es nicht eigentlich frech, sogar übergriffig von Melanie war, von ihnen einen Auftritt auf einer imaginären Bühne zu erwarten, vor Menschen, die sie nicht oder zumindest in der Hauptsache nicht kannten, und die ihre gemeinsame Vergangenheit weder etwas anging noch interessierte, wahrscheinlich jedenfalls nicht. Dass sie sich also vor denen zum sprichwörtlichen Affen machen sollten, und das mit 50, oder ob sie Melanies Wunsch verstehen konnte.

Wahrscheinlich war dieses Phänomen, sich an Schule und Jugend erinnern zu wollen, untrennbar an die Zahl 50 geknüpft, dieses Rückschau-halten, irgendwann musste wohl so ein Zeitpunkt kommen, man kam nicht drumherum, und die 50 bot sich einfach an, unvermeidbares Innehalten in der Lebensmitte sozusagen. Wahrscheinlich musste man es einfach unter diesem Blickwinkel betrachten, es tatsächlich als eine gute Gelegenheit sehen, wieder enger mit den anderen in Kontakt zu kommen, mit denen, die wichtig gewesen waren in dieser entscheidenden Phase des Lebens wie sonst kaum etwas, einen geprägt hatten, wenigstens abklären, ob das dauerhaft eine wünschenswerte Option war. Schließlich war es ja nicht so, dass sie, Agnes, seit damals viele neue Freundschaften aufgebaut hatte, zumindest keine tiefgehenden, dauerhaften. Sie könnte einfach nachsehen, was übriggeblieben war, und dann entscheiden, ob es bei der Feierlichkeit als Anekdote bliebe.

Agnes seufzte. Sie selbst hatte die 50 schon erreicht, im März. Aufgrund der wegen Corona geltenden Verbote hatte sich die Frage nach einer Feier in größerem Ausmaß von selbst erledigt. Natürlich wäre eine solche in gewisser Hinsicht schön gewesen. Aber auch anstrengend, schon die Vorüberlegungen, wer wann wo wie viele und so weiter, welcher Rahmen, die Entscheidung, ob man im Hier und Jetzt blieb und also Kollegen und Bekanntschaften aus dem aktuellen Umfeld einlud, oder ob man die Vergangenheit zelebrierte und alle einbezog, mit denen man in den vergangenen 50 Jahren mal eng gewesen war. Letzteres schien die gängige Praxis zu sein, hatte aber Agnes´ Meinung nach eher etwas von einer Abschiedsfeier und sagte vor allem nichts aus über Qualität oder Intensität des aktuellen Lebens. Schnell hatte sie außerdem festgestellt, dass schon die Frage nach der Kombination von Kollegen, Freunden und Familie sie stresste.

Und zurück zu Sabine und Elisabeth: Sie hatten sich in den vergangenen Jahren regelmäßig zum Geburtstag gratuliert oder sich Weihnachtsgrüße geschickt, ohne sich je zu sehen oder zu sprechen, schnell und unkompliziert, WhatsApp sei Dank. Elisabeth stellte regelmäßig Bilder in ihrem Status ein, die offenbar Urlaubserlebnisse zeigten oder Sportliches, Kinder auf Pferden, mit Tennisschläger, in einem Pool. Ihr Profilbild zeigte sie mit ihrem Mann, dem Agnes vor vielen Jahren einmal begegnet war. Sabine stellte keine Bilder ein, von der wusste Agnes kaum etwas außer, dass sie nach wie vor für eine regionale Zeitung in der Gegend arbeitete. Diese Information sowie ihr freundliches, aber oberflächliches Interesse an Elisabeths Leben hatten Agnes vollkommen ausgereicht, lose Verbindungen in eine andere Zeit, ein anderes Leben, Akzeptanz einer abgeschlossenen Vergangenheit, die genau das war: vergangen.

Ob sie sich an der Raststätte einen Kaffee holen sollte? Agnes entschied sich dagegen, sie hatte keine Lust, auszusteigen und durch die Nacht und den einsetzenden Nieselregen zur Tankstelle zu laufen. Bis zur Wirkung des Coffeins bräuchte sie die ohnehin nicht mehr, wenn alles gut ging, müsste sie in etwa fünfzehn Minuten den Wagen abstellen können.

In dem Moment, in dem Agnes das Radio einschaltete, begannen die Nachrichten. Was auch sonst, dachte sie, ließ die Sendung aber laufen. Die Sprecherin erinnerte daran, dass heute der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung war. Diese Meldung hatte Agnes schon beim Frühstück daran erinnert, wieviel Zeit seit ihrem Abitur vergangen war, denn tatsächlich war der Fall der Mauer ja das Ereignis dieser Zeit gewesen, allerdings ohne, dass sie wirklich Anteil daran genommen hätten. Es hatte sich mehr um ein zwangsverordnetes Interesse gehandelt, da sie alle weder verwandtschaftliche noch räumlich bedingte Verknüpfungspunkte zu diesem Teil Deutschlands gehabt hatten, der sich seitdem abgehängt fühlte oder es tatsächlich war, jedenfalls sprach Herr Steinmeier in seiner durch die Medien zusammengefassten Rede davon. Wie schon am Morgen war Heiko Maas am Abend und noch bis einschließlich Sonntag in Quarantäne und Agnes beglückwünschte ihn im Stillen dazu, dass er sich so immerhin den Feierlichkeiten zum heutigen Tag hatte entziehen können. Die verschärfte Coronalage in Frankreich bedeute einen Rekordwert von 16972 Neufällen, teilte die Stimme mit. Auch in der Slowakei, in Polen und in Tschechien habe man Höchstwerte erreicht.

16972, konnte man sich das überhaupt vorstellen? Letztendlich war es eine Zahl, eine große, aber abstrakte Zahl ohne Gesichter und ohne Namen, vollkommen fern, und sie erschien Agnes so unwirklich, dass sie keinen angemessen beängstigenden Eindruck bei ihr hinterließ, sie konnte sich schon die zweieinhalbtausend neuen Kranken in Deutschland nicht vorstellen.

Donald Trump sei in ein Militärkrankenhaus eingeliefert worden, per Helikopter, aber ohne medizinische Dringlichkeit, als Vorsichtsmaßnahme. Vielleicht, um zu überwachen, wie er auf den Antikörpercocktail reagierte, den vor ihm noch niemand bekommen hatte. War der Mann verrückt oder mutig? Ob es stimmte, dass man für diesen Cocktail Zellen abgetriebener Föten verwendet hatte? So hatte es Agnes in den Sozialen Medien gelesen, eine gruselige Vorstellung, die sie schüttelte. Außerdem würde es sich dabei dann doch um einen eklatanten Widerspruch zur republikanischen Einstellung gegenüber dem Thema Abtreibung handeln, oder nicht? Wie immer empfand Agnes Empörung über das, was im Zusammenhang mit dem amerikanischen Präsidenten berichtet wurde, aber im Grunde langweilte sie auch das, die Empörung war mittlerweile eher Standard und eine automatisierte Reaktion. Zu viel war vorgefallen, was vor drei Jahren undenkbar gewesen war, um noch ehrliches Entsetzen hervorzurufen.

Sabine konnte sich bestimmt wunderbar über diese Dinge aufregen, dachte Agnes und musste lächeln bei der Vorstellung an einen Abend mit Rotwein, Zigaretten und politischer Diskussion, die hitzig werden könnte oder sarkastisch, oder beides. Liebe, Tod und Abenteuer. Agnes fiel niemand ein, der so wie Sabine und Rebekka zu emotionalen Reaktionen in gesellschaftlichen oder politischen Fragen in der Lage gewesen wäre, positiv wie negativ, bis heute nicht. Immer hatte sie sich gefragt, ob das zu bewundern oder abzulehnen war.

Liebe, Tod und Abenteuer. Erlebtes und Erdachtes.

Vielleicht aber war Sabine gar nicht mehr die, die sie gewesen war, die Erinnerung an solche Abende war alt und eben nichts weiter als eine Erinnerung, und doch merkte Agnes, wie sie der Gedanke erheiterte und sie jetzt überraschend fast so etwas wie Vorfreude empfand auf die andere, auf das Treffen.

Als Agnes die Abfahrt endlich erreichte, waren die Nachrichten vorbei. Ein Lied wurde gespielt, das Agnes nicht kannte. Sie schaltete das Radio wieder aus und überlegte, wann sie am anderen Tag den Wagen zurückbringen sollte. War die Agentur überhaupt geöffnet? Schließlich war Sonntag, aber dann fiel ihr ein, dass das gar keine Rolle spielte, sie musste ja nur den Schlüssel in den Briefkasten werfen. Der Regen war wieder stärker geworden.

DREI

FÜR DEN WEG VON IHRER WOHNUNG ZU DER VON SABINE BENÖTIGTE AGNES 17 MINUTEN, ohne sich zu beeilen. Unglaublich eigentlich, nur 17 Minuten. All diese Jahre schon hätte sie in 17 Minuten die andere besuchen können, zu Fuß, und hatte es nie getan, war nie in deren Wohnung gewesen. Es war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie so nah beieinander waren, Agnes hatte sich einfach keine Gedanken darüber gemacht. Eingeplant hatte sie eine halbe Stunde für den Weg, jetzt war sie also etwas zu früh, sollte sie draußen warten? Sie war ein bisschen aufgeregt stellte sie fest, war das normal oder nicht doch eher merkwürdig? Aber sie wusste ja nicht, was sie erwartete, wie oder wer Sabine war nach all den Jahren.

Agnes sah an der Hausfassade nach oben. Sie war hier schon vorbeigekommen, schon öfter, auf dem Weg in die Innenstadt. Es war kein allzu großes Haus, nicht neu, aber noch kein Altbau, ein unscheinbares Gebäude an einer der Haupteinfahrtsstraßen in die Kernstadt. An der Haustür zählte Agnes 15 Klingelknöpfe, nicht an allen standen Namen. Sabines Nachnamen entdeckte sie mittendrin, nur den Nachnamen, nicht einmal ein einzelner Buchstabe für den Vornamen. Dass der Klingelknopf mittig lag, bedeutete wohl eine Wohnung im dritten Stock. Wenn Sabine ihren Namen geändert hätte, hätte sie sie jetzt gar nicht gefunden schoss es Agnes durch den Kopf, auch in Agnes´ Smartphone war deren Nummer nur unter dem Vornamen gespeichert. Außerdem ließ die Nennung des Nachnamens allein nicht erkennen, ob Sabine allein lebte oder nicht. War Sabine liiert? Verheiratet? Gewesen?

Agnes entschied sich gegen das Warten. Die Sabine, die sie kannte, würde nicht für den Besuch die Tischdecke zurechtziehen und die Blumen arrangieren, also konnte sie auch schon hineingehen. Allerdings musste sie dann doch zweimal klingeln, ehe der Türöffner betätigt wurde, dabei las sie die Namen ein zweites Mal. In dem Haus, in dem sie selbst lebte, gab es neben ihr elf weitere Parteien, und das empfand sie bereits als mehr als ausreichend.

Im Treppenhaus stellte Agnes fest, dass es keinen Aufzug gab. Kein Ort also für ältere Menschen. Sie stieg die Treppe hinauf. Die letzte Renovierung war offenbar schon eine Weile her, aber was sie sah, wirkte nicht verwahrlost oder heruntergekommen, höchstens ein bisschen schäbig. Im ganzen Haus war es ruhig. Vor manchen Türen roch sie Essensduft: Bolognese, Pizza, und etwas Undefinierbares.

Eine Tür war nur angelehnt, das musste es dann wohl sein. Agnes klopfte und schob die Tür langsam auf. Sie sah links eine Garderobe und gegenüber einen Stuhl, daneben einen Stapel Altpapier, offenbar Zeitungen.

„Komm ruhig rein“, rief es von irgendwoher in der Wohnung, „ich hole nur die Gläser.“

Agnes schloss die Tür hinter sich und zog den Mantel aus. Das erste, was ihr auffiel, war der Geruch von Zigarettenrauch, der in der Wohnung hing. So etwas erlebte man nicht mehr oft, dachte sie widerwillig. Wenn sie bei Kollegen eingeladen war, die rauchten, taten die das in aller Regel auf einem Balkon oder vor der Tür. Agnes schloss daraus, dass Sabine entweder allein lebte oder aber zusammen mit einer Person, die ebenfalls rauchte.

Die Garderobe war mehr als voll und machte den Flur eng. Da sie keinen Platz für ihren Mantel fand, zögerte sie kurz, ehe sie ihn über den Stuhl legte. Sie zog die Schuhe aus und schob sie mit dem Fuß darunter. Hoffentlich war der Boden nicht so kalt oder es gab in der Wohnung Teppichboden, Agnes hatte nicht an dicke Socken gedacht. Der Flur war nur schwach beleuchtet und ohne Fenster. Auf der linken Seite sah Agnes zwei geschlossene Türen, eine weitere am hinteren Ende des Ganges und auf der rechten Seite zwei erleuchtete Vierecke, Einladungen in Sabines Reich. Am Ende, vor der hinteren Tür, stand außerdem links an der Wand ein Bücherregal und machte den Flur erneut sehr eng. Agnes tippte darauf, dass das die Schlafzimmertür war und die Enge möglichen Besuch daher nicht störte.

„So also sieht man sich wieder, wegen der Hochzeit alternder Mitmenschen!“ Sabine war im ersten erleuchteten Viereck aufgetaucht und lachte sie an. „Darf man dich umarmen oder lieber eher nicht?“

So genau wusste Agnes das auch nicht, aber sie lächelte und nickte. Sie hätte Sabine auf der Straße wiedererkannt, dachte sie dabei, auf jeden Fall, dieser Ausdruck im Gesicht, der war wie früher, neugierig, offen, selbstbewusst.

Sie umarmten sich, und zu Agnes´ Überraschung hielt Sabine sie länger fest, als es für eine Begrüßung nötig gewesen wäre, als freue sie sich wirklich darüber, sie jetzt hier in ihrer Wohnung zu begrüßen. Und warum nicht, auch sie freute sich, ja, sie freute sich tatsächlich. Sabine wirkte im Gesicht ein bisschen verlebter als Agnes sich selbst sah, was wahrscheinlich an den Zigaretten lag, oder am Lebenswandel, wer weiß? Aber sie war noch immer groß und schlank, Jeans und eine Hemdbluse unterstrichen das vorteilhaft, Sabine war immer sportlich gewesen, vielleicht half das, oder sie war es noch, schwer zu sagen. Die dunklen Haare fielen ihr bis auf die Schultern.

„Du bist zu Fuß? Hervorragend!“ Sabine drückte Agnes drei Gläser in die Hand und ging zurück in den Raum, aus dem sie gekommen war. Agnes folgte ihr zur Tür, es war die Küche. Sabine stand am Kühlschrank.

„Ich habe Rotwein, Weißwein, Sekt, aber den musst du dann allein trinken. Und zwei Flaschen Bier sind auch noch da.“ Sabines Blick glitt prüfend über den Inhalt der Fächer. „Oder was Härteres?“ Sie drehte sich zu Agnes um. „Oder Wasser.“ Noch während sie sprach, schloss sie den Kühlschrank wieder und griff sich ebenfalls drei Gläser, die sie in den Nachbarraum brachte.

Der war um einiges größer, als Agnes erwartet hatte, ein rechteckiger Raum mit einem Essbereich im vorderen Teil, in dem ein Tisch und vier Stühle sowie eine Stehlampe standen. Links davon am Ende des Raumes befand sich ein Sofa mit dazugehörigem niedrigem Tisch und gegenüber ein ziemlich großer Fernseher, deutlich größer als ihr eigener. Sabine, die Agnes´ Blick sah, lachte.

„Ich muss schließlich gut informiert sein, Berufsethos. Außerdem“, sie stellte die Gläser in die Mitte des Tischs und Agnes tat es ihr nach, so dass jetzt drei Wasser- und drei Weingläser auf die Erwartung eines geselligen Abends hindeuteten, „außerdem muss ich mich ja unterhalten lassen, es ist niemand sonst hier, wie du siehst.“ Sie breitete die Arme aus und deutete in alle Richtungen. Neben dem Fernseher an der Wand standen zwei Bücherregale, die ähnlich wie die Garderobe übervoll waren. Sabine machte sich wieder auf den Weg in die Küche.

„Und, was willst du?“ rief sie im Gehen. Diese schon beinahe unangenehme Betriebsamkeit, war das ein Zeichen dafür, dass Sabine ebenfalls aufgeregt war? Vielleicht eher aufgedreht, dachte Agnes, dass die andere nervös wäre konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

„Mir egal. Was du nimmst.“

Das Sofa sah aus, als habe es bessere Tage gesehen und erinnerte Agnes an das Treppenhaus - nicht heruntergekommen, aber leicht schäbig. An der hinteren Wand zwischen Ess- und Wohnbereich war ein Fenster. Agnes sah hinaus und erkannte die Straße, durch die sie gekommen war. Wahrscheinlich war es hier tagsüber ziemlich laut stellte sie fest und fragte sich, was sich hinter den geschlossenen Türen auf der anderen Seite des Flurs verbarg. Vermutlich ein Arbeitszimmer. Da Sabine schrieb, konnte sie sicher gut von zuhause aus arbeiten, vielleicht war es auf der Seite der Wohnung ruhiger. Vielleicht störte der Lärm Sabine aber auch einfach nicht.

„Mein Arbeitszimmer liegt auf der anderen Seite, zum Innenhof.“ Sabine trat neben Agnes und sah ebenfalls auf die Straße hinunter. Gegenüber konnte man eine Bushaltestelle sehen, unmittelbar vor dem Abgang zur S-Bahn. „Das kann ich dir allerdings nicht vorführen, es ist ziemlich chaotisch gerade. Naja, eigentlich immer.“ Sie seufzte, für Agnes war unklar, ob ernst oder gespielt. „Jedenfalls kann ich es dir nicht zeigen, so lange ich nicht weiß, wie sich dein Ordnungssinn entwickelt hat in all den Jahren, die vergangen sind. Rot oder weiß?“

„Wasser und weiß. Und mein Ordnungssinn war schon immer anders als deiner. Allerdings“, Agnes musterte skeptisch den Wohnzimmertisch, auf dem eine leere Kaffeetasse und eine ebenfalls leere Wasserflasche standen und unter dem das Zellophanpapier geöffneter Zigarettenschachteln lag, „mein Ordnungssinn war schon immer nichts gegen den von Elisabeth.“

Sabine stieß Agnes den Ellbogen in die Seite und lachte, ging aber gleichzeitig zum Tisch, um Tasse, Glas und Müll einzusammeln.

„Danke für den Hinweis.“ Sie knüllte das Papier zusammen und steckte es in die Hosentasche. „Hattest du mit der nochmal zu tun in den letzten Jahren? Oder mit Melanie?“ Agnes wartete darauf, dass Sabine die Sachen weggebracht hatte und zurückkam, sie hatte keine Lust, so laut zu reden und setzte sich an den großen Tisch. Auch, um etwas Ruhe in die Begegnung zu bringen, sie fühlte sich ein wenig überrollt. In der Zwischenzeit versuchte sie, aus dieser relativen Ferne die Titel der Bücher zu entziffern, die in dem neben dem Fernseher stehenden Regal vor den eigentlichen Buchreihen lagen, aber es gelang ihr nicht.

Als Sabine wieder im Wohnzimmer war, antwortete sie: „Nein, ewig nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich Melanie in den letzten zwanzig Jahren gesehen habe.“ Wieder fand sie es merkwürdig: so viel Zeit, und dann diese Einladung.

„Ich kann mich an die erste Hochzeit von Melanie erinnern“, sagte Sabine. Sie hatte eine Flasche Weißwein geöffnet und goss in zwei der Weingläser ein. „Da haben wir auch Weißwein getrunken.“

Melanies erste Hochzeit hatte hier in der Stadt stattgefunden, Agnes erinnerte sich. Melanie hatte ihren Freund aus der Schulzeit geheiratet, Frank, Mathe Leistungskurs.

„Kann nicht sein, ich war nicht da.“ Sie nahm einen Schluck von dem Wein. „Ich war krank.“

„Tatsächlich?“ Sabine sah sie erstaunt an. „Ich hätte schwören können, wir hätten zusammen gefeiert. Dann muss ich das mit einer anderen Feier verwechseln.“ Sie runzelte beim Nachdenken die Stirn. „Wo waren wir denn noch? Bist du eigentlich verheiratet?“

Es klingelte.

„Das wird dann wohl Elisabeth sein.“ Sabine stand auf und ging zur Tür, Agnes sah ihr nach. Dann griff sie zu dem Feuerzeug, das auf dem Tisch lag, und zündete die Kerzen an, die auf der Fensterbank standen, drei dicke weiße Kerzen, schon ziemlich heruntergebrannt. War das übergriffig? Früher hatten sie immer Kerzen angezündet, wenn sie sich getroffen hatten, aber sie selbst hatte in ihrer Wohnung keine. Irgendwann hatte sie mal gelesen, dass Kerzen ein Zimmer schneller renovierungsbedürftig machten, da hatte sie sie nicht mehr gekauft, auch wenn sie sie durchaus gemocht hatte, die Gemütlichkeit, die von den kleinen Feuern ausging. Jetzt fand sie den Anblick ebenfalls sofort angenehm, die davon ausgehende Stimmung, wie früher.

Diesmal schien Sabine zu warten, bis die andere an der Wohnungstür angekommen war, denn sie kam nicht gleich zurück. Agnes konnte hören, wie jemand die Treppenstufen nach oben ging, zügig, dynamischer als ich, dachte sie, und, dass das Haus relativ hellhörig zu sein schien. Auch Elisabeth hatte zu den sportlichen unter ihnen gezählt. Agnes erinnerte sich außerdem an ein entschiedenes Auftreten, tatkräftig nannte man das, nicht bestimmend oder aufdrängend, einfach wie eine, die wusste, was sie will. Bewundernswert. Die Schritte klangen, als habe Elisabeth sich das bewahrt. Draußen wurde es dunkel, die Kerzenflammen spiegelten sich in den Fensterscheiben, und über ihnen konnte Agnes durch das Fenster die Lichter des Fernsehturms sehen. Erneut sah sie sich um. Die Stehlampen beim Sofa und am Tisch tauchten den Raum in ein warmes Licht, das die Konturen von Möbeln und Gegenständen weichzeichnete. Da es tagsüber meist sonnig gewesen war, blieb es länger hell, aber es war inzwischen Anfang Oktober und natürlich, trotz der am Tag herrschenden Temperaturen, weitgehend vorbei mit langen Abenden.

Elisabeth war jetzt offenbar an der Wohnungstür angekommen. Die Frage nach der Umarmung blieb aus, stattdessen hörte Agnes Sabine „Tritt ein!“ sagen.

„Schön, dass es geklappt hat.“ Elisabeths Stimme klang anders als am Telefon gestern, heller, vielleicht war sie gestresst, oder aber ebenfalls ein bisschen aufgeregt? „Hier wohnst du also.“

Agnes stellte sich vor, wie Elisabeth sich in dem engen Bereich an der Tür umsah und einen Platz für ihre Jacke suchte, und wie Sabine danebenstand, aber beide betraten bereits das Wohnzimmer, Sabine voran und dann Elisabeth. Agnes wusste nicht, ob sie aufstehen oder sitzenbleiben sollte. Elisabeth nahm ihr die Entscheidung ab, in dem sie ohne Zögern zu dem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite ging und sich setzte. Sie lächelte ihr zu. Auch Elisabeth trug Jeans, dazu eine Bluse, das Haar war zu einem lockeren Zopf gebunden. Sie sah aus wie auf den Bildern, die Agnes kannte, nur das Lächeln war eine Spur anders als das auf den Fotos. Echter, hoffte Agnes.