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Anne Franks tragische Lebensgeschichte ist der Welt bekannt. Aber was wurde aus den Kindern, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit ihr das Jüdische Gymnasium in Amsterdam besuchten? Theo Coster, ein ehemaliger Mitschüler und Überlebender des Holocaust, begibt sich auf die Suche nach seinen Schulfreunden. Wer hat den Krieg überlebt, wie sind sie der erbarmungslosen Judenverfolgung durch die Nazis entkommen und was können sie von Anne Frank erzählen? Aus allen Teilen der Welt kommen sie zu einem späten Klassentreffen in Amsterdam zusammen und lassen die Erinnerung an eine dramatisch-grausame Zeit lebendig werden. Unprätentiös, anrührend, eindringlich.
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Seitenzahl: 213
Inhalt
PrologDas »Joods Lyceum«Klassentreffen in AmsterdamNeuanfang nach dem KriegEpilogAnhangLesetippDas Jahr, in dem ich, Maurice Coster, vierzehn war und mit Klassenkameraden wie Anne Frank spielte, schiebt sich in meiner Erinnerung immer weiter nach hinten. Es ist jetzt mehr als 65 Jahre her, dass die Deutschen alle jüdischen Kinder in Amsterdam in eine jüdische Schule schickten. Meine Eltern wählten, wie Annes Eltern, das »Joods Lyceum«, das Jüdische Lyzeum. Alle Juden wurden verfolgt und immer mehr Kinder aus der Klasse verschwanden. Sie waren festgenommen worden oder untergetaucht.
Dank des rechtzeitigen Eingreifens meines Vaters konnten wir untertauchen, bevor die Deutschen an unsere Tür klopften. Meine drei Jahre ältere Schwester Freddy war einige Monate zuvor auf ein katholisches Mädcheninternat in Belgien geschickt worden. Mein Vater, meine Mutter und ich wurden an verschiedenen Orten in den Niederlanden vor den Deutschen versteckt. Ich wohnte in Vaassen bei einer kinderlosen Familie und spielte den Neffen aus Amsterdam, der zu Besuch gekommen war. Wegen meiner neuen Identität musste ich mir einen anderen Vornamen ausdenken. Ich wählte Theo, Theo Coster, einen Namen, den ich bis zum heutigen Tag trage.
Im Nachhinein stellte ich fest, dass ich den Krieg relativ heil überstanden hatte. Auch der Rest unserer Familie überlebte, und als wir wieder in Amsterdam waren, konnten wir einfach in unser Haus zurückkehren; es stand noch unbeschädigt da, als wäre nichts gewesen.
Nach dem Krieg wollte ich nichts lieber, als mich in die Arbeit zu stürzen. Als ich 1948 Het Achterhuis, Das Tagebuch der Anne Frank, las, beeindruckten mich die Entbehrungen, unter denen meine ehemalige Klassenkameradin gelitten hatte, sehr. Die erwachsene Art, wie sie schrieb, dachte und handelte, war außergewöhnlich für ein Mädchen ihres Alters, wie ich fand.
Nach meinem Studium in Nijenrode musste ich erst einmal drei Jahre in der Druckerei meines Vaters arbeiten. Dann erfuhr ich, welche Möglichkeiten gut ausgebildete Jungen wie ich in Israel hatten. Ich kaufte in Friesland ein Moped und machte mich auf den Weg, quer durch Europa, das sich noch immer vom Krieg erholte und sich auf den nächsten vorbereitete: auf den Kalten Krieg.
Ich ließ den Krieg hinter mir. In Israel fand ich schon bald eine interessante Arbeit und dort traf ich auch meine zukünftige Frau Ora. Meine Frau und ich sind beide jüdisch und Tel Aviv – wo wir wohnten und immer noch wohnen – wurde ein sicherer Hafen für viele Juden, dennoch beruhte meine Wahl nicht auf dem jüdischen Staat Israel; ich suchte einen Ort zum Wohnen und Arbeiten, einen Ort, an dem ich kreativ sein konnte.
Hier konnte ich es. Ora und ich hatten schon bald die fantastischsten Ideen. Unseren großen Durchbruch hatten wir 1979, als wir das Spiel Wer ist es? erfanden. Der Spiele-Hersteller MB war ebenso begeistert wie wir und brachte es unter dem Namen Guess Who? in Großbritannien auf den Markt. Das Spiel wurde ein großer Erfolg. 1982 kam es in den Vereinigten Staaten auf den Markt und seither ist Wer ist es? praktisch in jedem Land erschienen.
Ich hatte den Krieg nie ganz aus meiner Erinnerung verdrängt, aber ich wurde erst sehr viel später gezwungen, mich erneut mit ihm zu beschäftigen. 2001 erschien Absent von Dienke Hondius. Das Buch enthält eine interessante Studie zu den Ereignissen während der Jahre 1941–1943, den Jahren, in denen Jacques Presser und Jaap Meijer als Lehrer am Jüdischen Lyzeum tätig waren.
Anlässlich der Präsentation des Buches waren möglichst viele Ehemalige des Jüdischen Lyzeums eingeladen worden. Ungefähr die Hälfte der 110 Ehemaligen, die noch am Leben waren, würden anwesend sein. Selbstverständlich habe ich die Einladung angenommen. Wegen unserer Arbeit waren Ora und ich durch die ganze Welt gereist und wir hatten oft unsere Verwandten in Amsterdam besucht.
Die Buchpräsentation hatte noch nicht angefangen, aber wir saßen alle schon eine Weile im Gemeindesaal und warteten. Kurz darauf wurde das Gymnasium vorgestellt, auf das ich in Amsterdam gegangen war, das Jüdische Lyzeum. Ich hatte es nur in den ersten beiden Klassen besucht. Was aus meinen ehemaligen Klassenkameraden geworden war, wusste ich nicht. Ich schaute mich aufmerksam um und versuchte, in den alten Gesichtern die Kinder zu erkennen, mit denen ich damals die Klasse besucht hatte. Es gelang mir kaum, jemanden zu erkennen. Nachdem alle Reden vorbei waren, schaute ich eine Weile in Gedanken versunken vor mich hin. Auf einmal war ich wieder im Sommer 1944.
Es ist ein schöner Tag, das Ried an den Ufern des Apeldoorns Kanal bewegt sich im Wind. Das herrlich aufregende Gefühl, etwas Verbotenes vorzuhaben, kann ich kaum verbergen. Dem Mann, der mich mitgenommen hat, habe ich versprechen müssen, unseren Angelausflug nie zu erwähnen.
»Schmeiß die Angelrute ruhig weg«, sagt er. Er wirft mir einen verschwörerischen Blick zu, Männer unter sich, obwohl ich noch keine 15 bin. »Ich habe was Besseres.«
Vor unseren Füßen strömt der Kanal.
»Geh einen Schritt zurück«, sagt der Mann, während er etwas aus seiner Schultertasche herausholt. »Bist du bereit?«
Erwartungsvoll stehe ich da, mit den Händen an den Ohren, und schaue ihm zu. Ich habe das Gefühl, dass mich seit Langem wieder einmal eine richtige Überraschung erwartet. Ich sehe an seinem Mund, dass der Mann irgendwas wie »Los geht’s« sagt, gefolgt von meinem Namen – oder zumindest von dem, was er für meinen Namen hält. Mit einem heftigen Ruck zieht er einen Stift aus der Handgranate, wirft das Ding ein Stück von uns entfernt in den Kanal und eine Sekunde später erscheint mit einem gedämpften, aber kräftigen Knall eine Wassersäule, die in alle Richtungen auseinanderfällt.
Freudestrahlend schaut er mich an, mich zerreißt es fast vor Lachen. Sind das die Nerven? Schau, wie er da steht mit seinen nassen Ärmeln, mit dem Netz voller Fische in den Händen, die wir heute Abend essen werden. Die Fische glänzen im Sonnenlicht, genau wie seine Stiefel, von denen das Flusswasser heruntertropft. Sogar an einem Tag wie heute sind die Stiefel mit absoluter Präzision gewichst, bereit für die erstbeste Parade. Der Koppelriemen teilt seine Uniform in zwei Teile.
Während er sich bückt, um die Fische in seine Tasche zu stecken, scheint die Sonne genau auf die zwei kleinen Blitzzeichen an seinem Kragen. Zweimal derselbe Buchstabe, eine Abkürzung, die in den kommenden Jahrzehnten nichts von ihrer Widerwärtigkeit verlieren wird.
»Kommst du mit?«
Ora legte eine Hand auf meine Schulter. Langsam schüttelte ich die 57 Jahre alte Erinnerung ab. Alle standen vorsichtig auf – so ist das in unserem herbstlichen Alter – oder schlurften bereits auf den Tisch mit Kaffee und Kuchen zu. Ich erkannte immer noch nicht alle, obwohl bestimmt Gesichter darunter waren, die ich tagtäglich gesehen hatte, Kinder, mit denen ich dieselbe Klasse besucht hatte, mit denen ich zur Schule geradelt war, mit denen ich Geburtstage gefeiert und Eis gegessen hatte. Genau wie ich werden sie sich während der Präsentation an den Krieg zurückerinnert haben. Mir wurde langsam klar, dass wir mit einer einmaligen Gruppe Überlebender zusammensaßen. Ein paar Klassen voller Erinnerungen. Außerdem wurde mir bewusst, dass wir alle schon an die 80 waren.
Seit der Geburt meiner Enkelkinder stand ich in Israel regelmäßig vor Schulklassen, um meine Geschichte zu erzählen. Israel war gegründet worden, um nach den schrecklichen Ereignissen während des Zweiten Weltkriegs einen Zufluchtsort für das jüdische Volk zu schaffen. Das Aufschreiben und Weitererzählen der schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit hat dort selbstverständlich einen großen Stellenwert. 1951 wurde deshalb im Frühjahr der Yom HaShoah ins Leben gerufen, der jährliche Holocaust-Gedenktag, an dem der sechs Millionen Juden gedacht wird, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden.
Meinen beiden Söhnen hatte ich natürlich erzählt, wie ich den Krieg überlebt hatte und dass ich ein Klassenkamerad von Anne Frank gewesen war. Meine Erlebnisse wurden schon bald in den Klassen meiner Enkelkinder weitererzählt und ich wurde gebeten, am Yom HaShoah in ihre Schule zu kommen und von meinen Erfahrungen zu berichten und davon, wie es war, ein Freund Anne Franks gewesen zu sein.
Die Kinder reagierten darauf sehr positiv, sie fanden es interessant, etwas über ein Leben zu erfahren, das sie überhaupt nicht kannten. Ein Jahr darauf wurde ich von einer anderen Schule erneut eingeladen, im folgenden Jahr wieder, bis es etwas Selbstverständliches geworden war.
Im Jahr 2007 kam ich nach Hause und sagte zu meiner Frau, die Lesungen würden allmählich eine Last für mich.
»Logisch«, sagte Ora, »du bist fast 80!«
»Trotzdem empfinde ich es als meine Pflicht, meine Geschichte zu erzählen«, antwortete ich.
Wir setzten uns an die kleine Bar in unserem Haus, wie wir das in solchen Situationen immer taten. Wir schwiegen eine Weile, bis Ora plötzlich sagte: »Warum machst du nicht einen Film über deine Geschichte?«
Ich sah sie erstaunt an. »Was meinst du?«
»Wir können deine Geschichte doch verfilmen«, sagte sie. »Vielleicht könnten wir sogar ein Projekt daraus machen und einen Interviewer und einen Kameramann hinzuziehen.«
Ich dachte nach. Das war eine interessante Option. Meine Geschichte würde aufgezeichnet werden und womöglich viel mehr Menschen erreichen als die Klassen, die ich nur einmal im Jahr besuchte.
»Wäre es möglich, noch weitere Klassenkameraden von damals zu erreichen?«, fragte Ora. »Vielleicht möchten sie mitmachen und ihre Geschichte ebenfalls erzählen.«
»Die Klassenkameraden von Anne Frank«, antwortete ich.
Wir dachten weiter darüber nach. Bei der Präsentation von Absent, sechs Jahre zuvor, hatte ich Nanette Blitz Konig wiedergetroffen und seither waren wir über E-Mail in Kontakt. Sie hatte gesagt, sie stehe noch mit anderen Ehemaligen in Verbindung. Ich könnte ihr schreiben und sie fragen, was sie von dieser Idee hielt.
Ich sah Ora an. Wir hatten uns seit den 1960er-Jahren alle möglichen Projekte gemeinsam ausgedacht: Wir hatten Spiele erfunden und Kunstwerke gemacht, wir hatten Bücher geschrieben, Spiele als Prototypen entworfen, gemalt und mit Ton gearbeitet. Warum sollten wir nicht einen Film machen können, einen Film über die Klassenkameraden von Anne Frank?
Die Idee, so stellte sich heraus, war sehr fruchtbar. Über Skype sprach ich lange mit Nanette. Obwohl sie sich in São Paulo befand und ich in Tel Aviv lebte, kam es mir vor, als würde ich mit einer Nachbarin plaudern. Wir sprachen Niederländisch und wunderten uns, dass wir nach all den Jahren im Ausland die Sprache noch immer so gut beherrschten. Nanette war begeistert von Oras Idee und berichtete, sie verfüge über die Kontaktdaten von vier unserer Klassenkameraden: Jacqueline van Maarsen, Lenie Duyzend, Albert Gomes de Mesquita und Hannah Goslar. Letztere, erzählte Nanette, wohne in Jerusalem. Es sei wohl am einfachsten, mit ihr anzufangen.
Ein Profi-Filmemacher war in der Person eines alten Bekannten der Familie schnell gefunden: Eyal Boers, ein talentierter Regisseur, der außerdem drei Sprachen beherrschte. Die Wahl lag auf der Hand. Eyals Urgroßmutter und meine Großmutter hatten als kleine Mädchen 1872 in der Weesperstraat in Amsterdam zusammen gespielt und die Familien waren während der ganzen Jahre befreundet geblieben.
In den darauffolgenden Monaten überlegte ich mit Ora, wie die Dokumentation inhaltlich aussehen sollte. Anne Frank hat ihre Geschichte bis zum Verrat genau und brillant aufgeschrieben. Ihre Geschichte ist etwas Besonderes, doch zugleich ist sie nur die Geschichte von einem jüdischen Mädchen, das untertauchen musste und auf so verhängnisvolle Art endete. All die anderen Klassenkameraden hatten natürlich ihre eigenen Geschichten. Jeder von uns hatte Unterschiedliches erlebt, während der Ausgangspunkt, das Jüdische Lyzeum, für alle gleich war. Es schien Ora und mir eine gute Idee zu sein, alle Klassenkameraden, die mitmachen wollten, aufzusuchen und sie möglichst in Amsterdam zusammenkommen zu lassen.
Wir könnten uns gegenseitig von unseren persönlichen Erfahrungen berichten und auf diese Art die Geschichte einer Gruppe von Schülern erzählen, deren Leben durch den Krieg komplett umgekrempelt worden war. Wir könnten zeigen, wie Pech und Glück manchmal unerträglich dicht nebeneinanderliegen, vor allem in schweren Zeiten. Wir könnten unsere Geschichte, wie Anne Frank das getan hatte, für künftige Generationen aufzeichnen. In unserem Alter geht es schnell; die Zahl der Augenzeugen nimmt immer mehr ab. Ein Grund mehr, das Erfassen unserer Erfahrungen ernsthaft voranzutreiben, denn es gibt zu viele Menschen, die behaupten, es sei doch alles nicht so gravierend gewesen oder, weitaus schlimmer: der Holocaust hätte nie stattgefunden.
Im September 1941 gaben die Deutschen eine Verordnung heraus, in der stand, dass jüdische Kinder nicht länger zusammen mit nicht jüdischen Kindern in dieselbe Schule gehen durften. Obwohl ich die Prüfung für das Gymnasium schon bestanden hatte, musste ich also in ein jüdisches Gymnasium. Die Wahl fiel auf das »Joods Lyceum«.
Das Jüdische Lyzeum befand sich am ehemaligen Stadstimmertuin, einer schmalen Straße in der Nähe des Carré-Theaters. Es war ein Gymnasium mit ausschließlich jüdischen Lehrkräften, das nur von jüdischen Kindern besucht wurde. Heute ist in dem Gebäude eine Friseurschule untergebracht, aber von außen sieht es noch ungefähr so aus wie damals. Eine Gedenkplatte aus Glas erinnert an die Geschichte des Gebäudes, ebenso der verbogene Davidstern aus Metall über dem Eingang.
Die Schule war nur wenige Jahre in Betrieb. Irgendwann gab es einfach keine Lehrer und keine Schüler mehr. Ich war einer der Schüler, die gezwungenermaßen frühzeitig ausgeschieden waren.
Es war während der Buchpräsentation von Absent gut zu sehen, dass glücklicherweise noch relativ viele Menschen am Leben waren. 50 Prozent der Schüler des Jüdischen Lyzeums hatten den Krieg überlebt, während in den ganzen Niederlanden nur etwa 20 Prozent der Juden überlebt hatten. Wie dieser Unterschied zu erklären ist, weiß niemand mit Sicherheit zu sagen. Es wurde (noch) nicht systematisch erforscht. Man vermutet, dass ziemlich viele Lehrer und Schüler überleben konnten, indem sie untertauchten (und sich das oft auch leisten konnten) und indem sie dank persönlicher Kontakte zum Judenrat ihre Deportation bis in das Jahr 1943 hinauszögern konnten. Gesellschaftliche Schicht, Geld, soziale Netzwerke: Diese Gegebenheiten könnten eine Rolle gespielt haben. Wer weiß, was ich alles der Briefmarkensammlung meines Vaters zu verdanken habe, einer Sammlung, die er damals Stück für Stück verkaufte. Oder den Juwelen meiner Mutter, die sie irgendwann heimlich zu Geld machte. Inwieweit eigenes Vermögen oder ein Netzwerk von Freunden helfen konnte, ist jedoch nicht ganz klar.
Dass wir in das Jüdische Lyzeum gingen, gab uns das Gefühl, zu einer besonderen Gruppe zu gehören, und das war schön und spannend, zugleich aber auch beängstigend. Wir wussten, dass wir für eine spezielle Behandlung »auserwählt« waren, ohne eine Idee davon zu haben, worin diese spezielle Behandlung bestehen sollte. Möglicherweise hatten manche Schülereltern konkretere Vermutungen, aber ich habe den Eindruck, dass man sich hütete, die Kinder unnötig zu beunruhigen. Niemand von uns hatte auch nur die geringste Ahnung, was uns erwartete.
Kurz bevor das Schuljahr anfing, im September 1941, war ich Bar Mizwa geworden. Bar Mizwa wird man, wenn man als jüdischer Junge mit dem 13. Geburtstag offiziell »religionsmündig« wird. Dies bekräftigt man oft durch eine feierliche Zeremonie in der Synagoge. Das Gebäude, in dem ich Bar Mizwa wurde, eine Synagoge in der Lekstraat, steht zwar immer noch, fungiert aber nicht mehr als Synagoge. Damals gab es für uns Juden noch keine großen Probleme, jedenfalls nicht solche, die uns davon abgehalten hätten, ein Fest aus meiner Bar Mizwa zu machen. Um das Erreichen meiner religiösen Mündigkeit zu feiern, hatten wir etwa 20 Gäste eingeladen. Ich bekam Chemiebücher (meine große Leidenschaft) und meine Mutter hatte einen Kuchen gebacken.
Im Jüdischen Lyzeum waren die Lehrer nicht nur fachlich sehr gut, sondern sie waren auch sehr nett. Jaap Meijer, mein Geschichtslehrer, wurde später Redakteur der Zeitschrift De Joodse Wachter. Auch Jacques Presser war ein beliebter Lehrer. Besondere Lieblingsfächer hatte ich nicht, aber die naturwissenschaftlichen Fächer fielen mir auffallend leicht: Chemie, Physik, Geometrie und Algebra.
Ich betrachte das Jüdische Lyzeum nicht so sehr als eine jüdische Schule, sondern eher als eine normale Schule für Juden. Dem jüdischen Glauben wurde keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt oder falls es doch so war, geschah es so unauffällig, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Ich entsinne mich nicht, dass wir Religionsunterricht hatten oder dass wir bestimmte jüdische Rituale durchführten. Da ich selbst nicht strenggläubig erzogen worden war, vermisste ich auch nichts.
Ebenso wenig erinnere ich mich, dass wir Schüler uns untereinander viel über den Glauben oder über unsere jüdische Herkunft ausgetauscht hätten, obwohl doch gerade das der Grund war, warum wir alle dieses Lyzeum besuchten. Wahrscheinlich redeten wir in der Schule nicht darüber, weil diese Themen schon bei jedem zu Hause besprochen wurden. Nicht nur die Diskussionen über das Judentum waren ein Thema, sondern vor allem die Probleme, die durch die Einschränkungen entstanden, die uns von den Deutschen auferlegt wurden. Hauptsächlich zu Hause und außerhalb der Schule belästigten uns die Deutschen, also führten wir Gespräche darüber innerhalb der Familie.
Eines Tages waren ein paar Kinder nicht zum Unterricht erschienen. So einfach fing es an. Am Tag darauf fehlte wieder jemand. Die Klassen wurden allmählich immer leerer. Kinder wechselten die Plätze, um näher beieinanderzusitzen. Niemand wagte, offen zu fragen, wo diese Kinder geblieben waren – irgendwie wussten wir, dass dieses Thema in der Klasse tabu war. Sie waren nicht da und mehr wollten wir nicht wissen – oder vielleicht sollte ich sagen, trauten wir uns nicht zu wissen. Festgenommen oder untergetaucht, wer konnte das sagen? Ich selbst hatte noch nie eine Razzia erlebt, aber ich wusste, dass es Razzien gab. Das Einzige, was wir sicher wussten, war, dass die Schüler nicht aus Krankheitsgründen fehlten. Und dieses womöglich etwas mit den Arbeitslagern in Deutschland zu tun hatte. Manche erwachsene Juden wurden dazu aufgerufen und ab dem Frühjahr 1942 auch Jugendliche ab 16. So bekam die 16-jährige Margot Frank einen Aufruf, was die Familie Frank zum Anlass nahm unterzutauchen.
Soweit ich mich erinnern kann, fassten in dieser Periode auch meine Eltern denselben Entschluss. Ich musste mich also verstecken und konnte nicht mehr zur Schule gehen. So landete auch ich im Absentenheft, ohne dass jemand wusste, was mit mir geschehen war oder wo ich mich aufhielt.
Insgesamt haben 490 Mädchen und Jungen das Jüdische Lyzeum besucht. Nach dem Krieg kehrte nur die Hälfte aller Schüler zurück. In meiner Klasse, der 1L2, hatte es 30 Schüler gegeben. 17 von ihnen kamen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis ums Leben.
Ich musste vor Anne Frank die Klasse verlassen. Anne war für mich damals eine von vielen Klassenkameraden; sie war mir nicht besonders aufgefallen, obwohl ich sie mochte. Nichts Romantisches, denn an Liebeleien dachte ich damals noch nicht und ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand in unserer Klasse an so etwas dachte. Vielleicht ein bisschen Händchen halten, aber keine ernsthaften Sachen wie öffentliche Verlobungen, Küsse oder weitergehende amouröse Unternehmungen. Damals war es schon viel, wenn man nur Hand in Hand ging.
Es fällt mir immer noch schwer, sie Anne Frank zu nennen. Bei uns in der Klasse hieß sie einfach Annelies. So wurde sie genannt, immer und von jedem. Ich vermute, dass sie selbst »Anne« schöner fand. Mit diesem Namen hat sie ihre Tagebucheinträge unterschrieben und dieser Name steht auch auf ihrem Buch Het Achterhuis (Tagebuch der Anne Frank). Wie auch immer, in der Klasse hieß sie »Annelies« und so habe ich sie also immer genannt. Sie hätte ihrerseits nicht wissen können, dass ich später »Theo« heißen würde. Für sie war ich Maurice.
Die erste Ehemalige, die ich aufsuchen werde, ist Hannah Pick Goslar, die wie ich in Israel wohnt. Es ist eine Reise von noch nicht einmal 60 Kilometern zu ihrem Haus in Jerusalem. Normalerweise ist man mit dem Auto innerhalb von einer Stunde in Jerusalem, aber es ist ein entsetzlich heißer Tag und der Verkehr stockt. Mit dem Regisseur versuche ich, trotz der Aufmerksamkeit, die der Verkehr erfordert, Hannahs Geschichte durchzugehen.
Ich weiß, dass sie mit ihren Eltern von Berlin nach Amsterdam umgezogen war, bevor der Krieg ausbrach. Während der großen Razzia vom 20. Juni 1943 in Amsterdam-Süd wurde sie mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester festgenommen. Einige Monate zuvor waren Hannahs Mutter und ein weiteres Geschwisterchen bei dessen Geburt gestorben. Hannah landete im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort hat sie einige Male kurz mit Anne Frank gesprochen, durch den Maschendrahtzaun.
Sie verdankte das erste Treffen einer gewissen Frau Daan, die mit der Familie Frank befreundet war. Frau Daan befand sich auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns und erzählte Hannah, dass Anne bei ihr sei. Hannah, die damals fest glaubte, dass Anne mit ihrer Familie in der Schweiz und in Sicherheit wäre, war entsetzt. Nicht viel später hörte sie Annes Stimme. Weil der Maschendrahtzaun mit Stroh ausgestopft war, konnten sie sich nicht sehen. Nachdem sie kurz miteinander gesprochen hatten, versprach Hannah, ihr ein Päckchen des Roten Kreuzes über den Zaun zu werfen. Auf ihrer Seite des Zauns, der Seite der Austauschgefangenen, bekamen die Häftlinge nämlich kleine Hilfspakete. Am nächsten Abend warf sie das Päckchen über den Zaun, doch es wurde von einer anderen Frau aufgefangen, die sich damit schnell aus dem Staub machte. Bei einem zweiten Versuch ein paar Tage später klappte es.
Heute möchte ich mit Hannah nicht über die Zeit im Lager, sondern über die kleinen Dinge sprechen. Über die Dinge, die wir taten genau wie andere Kinder auch. Außerdem bin ich gespannt, wie sie unsere Zeit am Jüdischen Lyzeum sieht.
Nachdem wir bei ihr angekommen sind, lässt der Stress, den die Fahrt verursacht hat, schnell nach. Hannah ist eine aufgeweckte Frau mit rot gefärbten Lippen, einer roten Bluse und einem charmanten weißen Hütchen auf dem Kopf. Ihr voller Bücherschrank und ihr ebenso helles wie farbenfrohes Appartement erwecken den Eindruck, dass sie auch in diesem Alter das Leben noch in vollen Zügen genießt. Die Sonnenstrahlen werfen ein grelles Licht auf die Fenster; sogar mit geschlossenen Gardinen badet das Wohnzimmer im Licht. Als hätte Hannah die Idee gehabt, es könnte uns beim Erinnern helfen, essen wir Kekse und trinken Limonade.
In ihrem Bücherschrank finde ich eine alte Ausgabe von Das Tagebuch der Anne Frank. Ich nehme es heraus und öffne es. »Weißt du, was hier drinsteht?«, frage ich.
Ich suche das kurze Kapitel, in dem Anne ihre Erinnerungen an die Zeit im Jüdischen Lyzeum beschreibt, und lese die Stelle vor, an der ich erwähnt werde. Hannah lacht überrascht, das wusste sie nicht. Natürlich hat jeder, der mit Anne Frank in derselben Klasse war und den Krieg überlebt hat, alles von ihr im Regal stehen. Und hat es mindestens einmal gelesen. Doch das bedeutet nicht, dass wir alles auswendig wissen.
Hannah schiebt mit ihrem Zeigefinger ihre Lesebrille in die richtige Position und liest mir eine andere Textstelle aus Annes Tagebuch vor. Die Zeilen gehören zu den Tagebuchaufzeichnungen vom Samstag, dem 27. November 1943. Anne träumt von Hannah, die sie Hanneli nannte; es ist ein Albtraum. »Ich sah sie vor mir, in Lumpen gekleidet, mit einem eingefallenen und abgemagerten Gesicht. Ihre Augen waren sehr groß und sie sah mich so traurig und vorwurfsvoll an, dass ich in ihren Augen lesen konnte: ›Oh, Anne, warum hast du mich verlassen?‹«
Hannah sieht einen Moment lang angespannt aus, liest dann aber weiter. Anne beschreibt, wie sie sich gegenüber ihrer guten Freundin schuldig fühlt und hofft, dass Gott sie unterstützen werde. Wo Hannah sich in jenem Moment befindet, kann Anne nicht wissen, denn Nachrichten über ihre Klassenkameraden dringen nicht bis ins Achterhaus durch. »Ich darf nicht weiter denken«, schreibt Anne, »denn ich komme nicht davon los. Ich sehe immer wieder ihre großen Augen, die mich nicht loslassen.«
Gefasst schließt Hannah ihr Exemplar des Tagebuchs. Sie scheint zu zögern, ob sie es direkt in das Regal zurückstellen soll, und legt das Buch dann zwischen uns auf den Tisch. Die Kekse und die Limonade machen auf einmal einen etwas weniger festlichen Eindruck.
Ich erinnere mich, dass ich in der Volksschule meine Mutter um Erlaubnis bitten musste, ob Anne zu uns nach Hause kommen dürfe. Bei Kindern in diesem Alter ist das natürlich nicht ungewöhnlich, aber was bei uns zusätzlich eine Rolle spielte, war der Unterschied zwischen niederländischen Juden und Juden, die aus dem Osten kamen, zum Beispiel aus Deutschland oder Polen.