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Kyra führt ein angenehmes Leben, bis ein mysteriöser Meteoritenschauer alles verändert. Die daraus resultierende Naturkatastrophe fegt die Sicherheit der modernen Zivilisation im Handumdrehen weg und das Recht des Stärkeren wird zum einzigen Gesetz. Sie begibt sich auf eine gefährliche Reise. Isoliert und ohne Zukunftsperspektive kämpft sie sich durch die unerbittliche Natur. Das Schicksal führt die junge Frau zu Tim und Christian, deren Lebenswege enger an ihren eigenen geknüpft sind, als sie ahnt.
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In einer Welt gleich nebenan
ISBN Ebook 978-3-96741-031-0
Hybrid Verlag
© by Hybrid Verlag,
Westring 1
66424 Homburg
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
1.Auflage 2020
Autor: Liliana Wildling
Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design, Homburg
Lektorat: Paul Lung und Nadine Neu
Korrektorat und Buchsatz: Petra Schütze
Autorenfoto: privat
Coverbilder von ›Eibe‹, ›Inepu‹, ›Zeitloswelt‹
und ›Die Rückkehr des Raben‹
© by Creativ Work Design, Homburg
Coverbild ›Ich rette die Welt, aber erst mal eine rauchen‹
Umschlaggestaltung: © by Creativ Work Design, Homburg
Artwork Cover © 2019 by Christoph Gey
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Liliana Wildling
In einer Welt gleich nebenan
Dystopie
Prolog5
Meteoriten6
~ Kyra ~6
Grüne Hölle13
~ Kyra ~13
~ Christian ~23
~ Tim ~33
Auf der Flucht38
~ Kyra ~38
~ Christian ~48
~ Kyra ~50
~ Tim ~59
Das Recht des Stärkeren62
~ Kyra ~62
~ Christian ~66
~ Kyra ~68
Allein in der Wildnis71
~ Christian ~71
~ Kyra ~73
~ Christian ~82
Ein Schuss im Morgengrauen87
~ Kyra ~87
Ein neues Zuhause91
~ Christian ~91
~ Kyra ~94
~ Christian ~97
Anna und Darius104
~ Kyra ~104
Ernste Gespräche108
~ Tim ~108
~ Kyra ~110
~ Christian ~118
Spuren121
~ Kyra ~121
~ Christian ~128
Sturm131
~ Kyra ~131
Bitteres Erwachen133
~ Kyra ~133
Seelenschmerz140
~ Kyra ~140
Danksagung143
DIE AUTORIN144
Weitere Bücher der Autorin im Hybrid Verlag145
Eine warme Wand aus Regen peitschte seitlich gegen meinen Körper und brachte mich vom Kurs ab. Der Sturm, in dem ich mich mit einem Mal befand, zerrte an mir und erschwerte jeden weiteren Schritt. Kräftiger Seitenwind wehte mir einen Teil meiner Locken vor das Gesicht. Die schwarzen Strähnen nahmen mir die Sicht. Unwillkürlich driftete ich nach links, stemmte mich erfolglos gegen die unsichtbare Kraft. Nur schemenhaft erkannte ich die rückwärtige Seite des Hauses durch die dichten Schauer. »Pass auf!«, hörte ich Christian schreien.
»Nicht!«, brüllte Tim.
Die Warnung der Männer erreichte mich einen Sekundenbruchteil zu spät. Als der zwei Meter hohe Sonnentau zu meiner Rechten einen Fangarm um meine Beine schlang und mich zu Fall brachte, traf mich das völlig unvorbereitet. Ich ließ die Äpfel fallen, knallte der Länge nach hin und schlug hart auf. Meine Knöchel fühlten sich an, als hätte jemand ein glühend heißes Eisenband darum gelegt, das sich blitzschnell in meine Haut fraß.
Die Pflanze schlang einen weiteren Arm um meine Taille. Spitze Stacheln bohrten sich in mein Fleisch. Das sofort einsetzende Stechen ließ sich mit keiner Qual vergleichen, die ich je zuvor ertragen musste.
»Hilfe!«, schrie ich aus Leibeskräften und krallte meine Finger in die Erde. Vergebens. Die Fangarme wickelten meinen Körper ein und wirbelten ihn um die eigene Achse. Für einen Moment drehte sich alles. Die langen, kräftigen Blätter umfassten mich und pressten mir die Luft aus den Lungen. Brennender Schmerz überzog meinen Körper.
»Nein!«, donnerte Christians Stimme. Sie klang sehr nahe. Er hatte den schützenden Dachvorsprung des Hauses verlassen und rannte auf mich zu. Tim tat es ihm gleich. Die beiden hasteten durch den strömenden Regen, doch es war zu spät. Erste Blitze gingen nieder und erhellten mein Umfeld für einen Augenblick. Mit schreckgeweiteten Augen in den aschfahlen Gesichtern starrten mich die beiden an. Ich wollte schreien, doch es gelang mir nicht, Luft zu holen. Mein Brustkorb fühlte sich an wie in einem nadelbewährten Schraubstock. Der metallene Geruch von Blut stach mir in die Nase. Überlaut ertönte eine grässliche Abfolge von Knacklauten, als Schultern, Becken und Wirbelsäule unter dem mächtigen Druck der kräftigen Fangarme nacheinander brachen.
Der Schmerz explodierte.
Mein Spiegelbild zeigte mir die Auswirkungen des langen, nassen Winters. Meine blasse Haut ließ mich ungesund aussehen, trotz regelmäßigen Sports an der frischen Luft und ausgewogener Ernährung. Meine schwarzen Locken hingen stumpf und spannungslos herab.
Seufzend zuckte ich die Schultern und ging zur Haustür. Im Briefkasten lag sicher schon die sehnsüchtig erwartete Karte meiner Mutter.
Die massive Holztür schwang mit lautem Knarzen auf. Die goldenen Strahlen der kräftiger werdenden Märzsonne trafen mein Gesicht. An der Türschwelle verharrte ich einen Moment und genoss die angenehme Wärme auf meiner Haut. Der helle Schein hob im Nu meine Laune. Meine verkrampften Schultern senkten sich und die Anspannung, derer ich mir jetzt erst bewusst wurde, fiel von mir ab. Mit geschlossenen Augen setzte ich mich auf die Stufen vor dem Haus und ließ Helligkeit und Wärme auf mich wirken. Geistesabwesend schob ich die Ärmel meines Pullovers hoch. Ich hatte den Frühling so sehr herbeigesehnt, mir an jedem Tag der kalten Jahreszeit gewünscht, ich könnte in einen Winterschlaf fallen wie manche Tiere, und erst wieder aufwachen, wenn das nasse Grau frischem Grün wich. Ein leichter Druck an meinem Arm holte mich aus meinen Gedanken. Mein Kater Max strich mit seiner Nase meine Hände entlang und stupste meinen Unterarm an. Da ich seiner Aufforderung nach Streicheleinheiten nicht sofort nachkam, machte er es sich ungefragt auf meinem Schoß bequem. Ich kraulte das seidenweiche Fell in seinem Nacken und erntete prompt ein lautes, vibrierendes Schnurren.
So hätte ich ewig verweilen können, aber die Neugier siegte. Behutsam nahm ich den Kater von meinem Schoß. Er protestierte und versenkte seine Krallen in meinen Jeans, daher setzte ich den grauen Stubentiger auf der Türschwelle ab, steuerte zielstrebig das Gartentor an und stürmte zum Briefkasten. Die Klappe sprang mir beim Öffnen regelrecht entgegen, so sehr quoll er vor Reklame über. Die vielen Zettel waren fest ineinander verkeilt. Der Postbote musste sie mit Gewalt hineingedrückt haben. Ich ging zurück zur Treppe vor dem Haus und setzte mich auf die Stufen mit dem dicken Packen. Er bestand zum Großteil aus diversen Flyern für Frühjahrsschnäppchen. Zwischen den vielen unnötigen Broschüren fand ich endlich die Karte.
Meine Mutter fertigte ihre Kunstwerke zumeist aus bunten Aquarellfarben an. Sobald sie etwas Besonderes entdeckte und folgerte, ich würde es auch toll finden, griff sie zu Pinsel und Farbe. Das war ihre Art, mich an ihren Reisen teilhaben zu lassen. Auf der Rückseite der Karte war lediglich der Ort vermerkt.
Toskana, in Liebe, deine Mutter.
Die Vorderseite zeigte einen in schwarz-weiß gehaltenen Friedhof. In Erwartung eines Strandbildes oder der Zeichnung eines blühenden Lavendelfeldes machte mich das seltsame Motiv stutzig. Die vereinzelten, farbigen Grabblumen konnten die bedrohliche Ausstrahlung der Kirche im Hintergrund nicht ausgleichen. Wenngleich ich viele Friedhöfe schön und sehenswert fand, flößte mir dieser Unbehagen ein. Das Bild mutete faszinierend und abstoßend zugleich an. Warum unterschied sich diese Karte so sehr von den bisherigen?
Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich einen versteckten Hinweis. Meine Mutter hatte die Grabinschriften detailgetreu mit ihrem feinsten Bleistift gezeichnet, jedes Wort deutlich herausgearbeitet. Die Vornamen der Menschen, die dort ruhten, kamen mir nicht bekannt vor, allerdings trug der letzte Stein in der ersten Reihe unseren Familiennamen. Diese gruselige Entdeckung bescherte mir Gänsehaut auf den Armen.
Grübelnd begab ich mich ins Wohnzimmer und pinnte die neue Postkarte an die Holzvertäfelung hinter der Couch. Die Karten hingen mittlerweile überall, denn die anfangs ausgewählte Nische hatte sich rasch als zu klein erwiesen. Die freien Flächen an den Wänden boten kaum genug Platz für die wöchentlich eingehenden Miniaturgemälde. Mein Blick fiel auf den Kalender. Morgen jährte sich der Todestag meines Vaters. Das war Mamas Art, mich daran zu erinnern, ans Grab zu gehen, die Blumen zu erneuern und für ihn zu beten. Sein Tod lag schon ein paar Jahre zurück, doch noch immer fehlte er uns schrecklich. Er war begeisterter Motorradfahrer gewesen und hatte bei einer seiner vielen Ausfahrten eine Kurve zu eng genommen. Der entgegenkommende Laster konnte nicht rechtzeitig bremsen, und …
Das schrille Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Erinnerungen. Das Display zeigte Susanna, meine beste Freundin.
»Hi, Kyra. Du glaubst ja nicht, wie toll meine Verabredung am Wochenende war. Der Mann ist genial! Nicht einer von den schmierigen Typen, die nichts im Kopf haben und nur ein braves Hausmädchen suchen, das ihnen die Wäsche macht und kocht. Er ist belesen und eloquent und charmant. Ein absoluter Traummann. Das ist jetzt der Richtige, diesmal wird es klappen.«
Den letzten Satz hatte ich schon so oft von ihr gehört, dass ich mich manchmal fragte, ob sie ihre verflossenen Traummänner nach der Trennung sofort vergaß, oder ob sie jeden ›Fehltritt‹, wie sie ihre Exfreunde im Nachhinein immer nannte, einfach verdrängte. »So wie Giovanni?«, hakte ich nach. Ihr letzter Verflossener.
Sie ignorierte meine Worte und versprach feierlich: »Diesmal werde ich nicht Aurora fragen, wie unsere gemeinsame Zukunft aussieht. Ihre letzte Weissagung war ja mal kompletter Mumpitz. Roman ist ganz anders. Der hat’s echt drauf. Ich spüre tief drinnen, dass er mich sehr glücklich machen wird. Dazu brauche ich keine Wahrsagerin.«
Ihre aufgesetzte Zuversicht entlockte mir ein Schmunzeln. Man konnte Susanna mit einem einzigen unbedachten Wort verunsichern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder irgendwelche Karten oder Orakel um Rat fragte.
Ich sagte mit gespielter Ernsthaftigkeit: »Na, hoffentlich lässt du wirklich die Finger davon. Sonst kommt es noch so weit, dass du morgens die Runen auslegst, die dir sagen, was du anziehen sollst!«
Sie ignorierte diesen Seitenhieb und wechselte das Thema. »Du hast doch bestimmt Lust auf eine Tasse heißen, frisch aufgebrühten Kaffee? Heute ist mein freier Tag und wir haben uns schon lange nicht mehr zum Plaudern getroffen.«
»Wir haben doch eben gequatscht! Oder kommt da etwa noch mehr?«, stieß ich mit einem Lachen hervor.
Die Aussicht auf einen echten Espresso und Susannas bequemes Sofa ließ weitere, stundenlange Ausführungen zum Thema Männer unbedeutend wirken.
»Och, komm schon, ich hab auch Erdbeertorte im Kühlschrank«, säuselte sie mit zuckersüßer Stimme.
»Bin schon unterwegs.« Innerlich jauchzend legte ich auf.
Gedanklich bereits in Susannas Wohnzimmer sitzend machte ich mich schnell zurecht, warf einen letzten Blick auf die Postkarte und schüttelte mich, als könnte ich dadurch das flaue Gefühl im Magen loswerden, das sie in mir hervorrief.
Die schwarzhaarige Schönheit riss die Türe auf und grinste von einem Ohr zum anderen. Bei meinem Anblick verschwand die Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht.
»Du siehst schrecklich aus. Was ist los?« Sie nahm mich in den Arm und strich mir in kleinen Kreisen über den Rücken.
Ich atmete tief durch. »Der blöde Winter und die Albträume. Außerdem kam heute eine Karte von meiner Mutter.«
Susanna führte mich zu ihrer Couch. Dankbar ließ ich mich in die dicken Kissen sinken.
»Aber du liebst die Karten deiner Mutter. Du hast dir die Wohnung damit tapeziert.« Lachend huschte meine Freundin aus dem Wohnraum, um gleich darauf wieder mit einem Tablett zurückzukehren. Eine dampfende Kanne und zwei Tassen waren darauf angerichtet. Kein Stück passte zum anderen, was Susannas gemütlichem, doch chaotischem Stil entsprach.
Ich nahm mir eine Tasse vom Tablett.
»Sie hat einen Friedhof gemalt. Schwarzweiß und düster. Sie scheint wieder eine ihrer Phasen zu haben.«
Susanna wechselte geschickt das Thema.
»Wir müssen uns unbedingt ›Bad Neighbors‹ ansehen. Heißer Tipp von Anna. Da sollen jede Menge schnuckelige Typen mitspielen.«
Meine Freundin plapperte einfach weiter und ich lauschte eine Weile ihrem Monolog.
Wir lümmelten den ganzen Nachmittag auf der Couch und plauderten über die neuesten Kinofilme, wobei ich – wie üblich – die Zeit komplett vergaß. Zum Schluss gab es ein schnelles Küsschen und eine Umarmung, ehe ich den Heimweg antrat.
Zu Hause angekommen, machte ich mich schnell bettfertig und ging ins Schlafzimmer. Plötzlich beschlich mich ein unheimliches Gefühl. Als wäre da jemand im Raum.
Mein Puls beschleunigte sich und die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Die Stille in meinen vier Wänden löste Beklemmung in mir aus. Das schummrige Licht und die tiefen Schatten erinnerten mich an meine Albträume.
In letzter Zeit kamen sie sehr häufig und fielen äußerst brutal aus. Ein kurzer Gedanke an die vergangene Nacht reichte aus, um mir einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen. Als stünde der Verfolger von letzter Nacht direkt hinter mir. Ein hastiger Blick in den Flur zerstreute meine Befürchtung gleich wieder. Da war niemand. Natürlich nicht.
***
Am nächsten Tag erwachte ich ausgeruht und erfrischt. Von meiner abendlichen Beklemmung fehlte jede Spur. Auch die düstere Stimmung wegen der Karte meiner Mutter war verflogen. Mit zusammengekniffenen Augen stieg ich auf dem Pendlerparkplatz aus dem Auto und ärgerte mich, meine Sonnenbrille vergessen zu haben. Trotzdem setzte ich mich in der U-Bahn auf einen sonnigen Platz und schirmte mit der Handfläche blendende Sonnenstrahlen ab. Es war ein herrlicher Tag.
Das letzte Stück musste ich zu Fuß gehen und eine Straße überqueren. Auf dem Weg zu meiner Arbeitsstätte war ich so sehr in Gedanken an das gestrige Gespräch mit Susanna vertieft, dass ich die blaue Motorhaube eines heranbrausenden Autos erst bemerkte, als es fast zu spät war. Es gelang mir im letzten Moment, zur Seite zu springen. Das vorbeirasende Auto verfehlte mich um wenige Zentimeter, doch ich spürte einen heftigen Stich am Ellbogen, als mich der Seitenspiegel erfasste. Der Aufprall schleuderte mich zu Boden und ich landete verdreht auf der rechten Körperseite. Vor meinen Augen tanzten plötzlich schwarze Sternchen, Hüfte und Ellbogen pochten rhythmisch im Takt meines aufgeregt schlagenden Herzens. Verschwommen nahm ich die Umrisse eines Gesichtes über mir wahr.
»Geht es Ihnen gut? Haben Sie Schmerzen?«, hörte ich eine männliche Stimme fragen. Allmählich normalisierte sich meine Sicht und ich konnte die kantigen Züge eines alten Mannes erkennen. Das betagte Gesicht war mir unbekannt. Sorgenfalten lagen auf der wettergegerbten Stirn des Fremden.
»Nein … ja … nur am Ellbogen. Dieses dumme Arschloch hat mich mit dem Spiegel gestreift und ist noch nicht mal stehengeblieben!«
Der Mann half mir hoch. Während ich mich aufrappelte, ebbte der Zorn auf den Autofahrer bereits wieder ab, und ich klopfte mir wortlos den Straßenstaub von der Hose. Vorsichtig bewegte ich den rechten Arm auf und ab und spürte einen schmerzhaften Druck beim Beugen. Um einen blauen Fleck kam ich wohl nicht drum herum, ansonsten fehlte mir nichts. Nur meinen Pullover verunzierte jetzt ein Loch. Ich dankte meinem Schutzengel in Gedanken – der Zusammenstoß hätte wesentlich schlimmer ausgehen können.
»Geht es Ihnen auch wirklich gut? Wenn man unter Schock steht, spürt man nicht immer gleich, wenn etwas geprellt oder gebrochen ist.« Die trüben Augen des alten Mannes fixierten mein Gesicht.
»Alles okay«, wiegelte ich ab. »Falls ich doch Schmerzen bekommen sollte, gehe ich zum Arzt. Vielen Dank für Ihre Hilfe, ich muss jetzt los.«
Schnurstracks machte ich mich auf den Weg zur Arbeit und drehte mich nicht mehr nach meinem Helfer um. Er fasste das hoffentlich nicht als Unhöflichkeit auf, aber ich war echt spät dran. Mein Weg führte mich zuerst ins Chefbüro, wo ich meinem Vorgesetzten in kurzen Worten meinen Beinahe-Unfall schilderte.
Ich versuchte, mich nicht allzu sehr über den Vorfall zu ärgern und machte mich sofort an die Arbeit. Dieses Vorgehen entpuppte sich als gutes Mittel zur Ablenkung und das Chaos auf meinem winzigen Schreibtisch bedurfte ohnehin dringend meiner Aufmerksamkeit.
Beim Aufräumen positionierte ich den Kalender neu. Ein Blick auf einen gelben Eintrag steigerte meine Laune erheblich: Heute Abend war ich mit Freunden zum Bogenschießen verabredet. Seit ich vor vielen Jahren bei einem Schnupperkurs auf den Geschmack gekommen war, trainierte ich zweimal die Woche. Einmal hatte ich im Teamwettbewerb sogar den vierten Platz errungen und die Urkunde hing gleich neben dem Bogen an der Wand im Flur.
Meine gute Laune über das abendliche Treffen verpuffte angesichts des riesigen Stapels an Ausgangsbelegen, den ich noch bearbeiten musste. Rechnungslegung war eine öde Angelegenheit, aber es gab Schlimmeres.
Nur ungern dachte ich an meine Zeit als Arbeitslose zurück. Einer langen Phase, in der ich fast täglich Bewerbungsgespräche absolviert hatte, war eine Flut an Absagen gefolgt. Es war zermürbend gewesen. Schließlich zwang mich Geldmangel dazu, richtig miese Jobs anzunehmen. Dieser schlimme Abschnitt meines Lebens lag zum Glück hinter mir und hatte mich Dankbarkeit gelehrt. So übel war mein Job gar nicht. Vertieft in eine komplizierte Reklamation bemerkte ich Davids Eintreten erst, als er sich räusperte. Wie jeden Tag trug mein Kollege eine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd, das sich über seinen beachtlichen Bauch spannte. Ein leichter Schweißfilm lag auf seinem pausbäckigen Gesicht, als er mir das Schnurlostelefon reichte und kaum hörbar flüsterte: »Ex.«
Tief ein- und ausatmend nahm ich das Telefon entgegen. »Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?«, sagte ich trotzig, als wüsste ich nicht, wer dran war.
»Ich bin’s, Vik. Ich bin grad in der Nähe und dachte mir, ich schau mal vorbei, wenn’s dir recht ist.«
Nervös am Ärmel meines roten Pullovers zupfend, bemühte ich mich, die mitleidheischende Art meines Ex zu überhören. Es kostete mich einiges an Kraft, nicht mit den Zähnen zu knirschen. »Es ist grad stressig, vielleicht ein andermal.«
Das irritierte ihn offensichtlich, eine Pause entstand. War unser Status für ihn noch nicht geklärt?
»Ähm … okay, dann ein andermal.« Seine Stimme klang unsicher.
Ich legte ohne weiteren Kommentar auf, atmete erleichtert durch. David lehnte im Türrahmen und wackelte ungeduldig mit dem Kopf.
»Was wollte der nun schon wieder?«
»Er will nicht verstehen, dass es vorbei ist.«
Wir gingen in den Pausenraum. Einige Kollegen saßen bereits hier und aßen zu den Klängen des Radios. David steuerte den Tisch an, an dem wir immer saßen. Die vielen weißen Pappkartons in den dünnen Plastiksäckchen sahen wenig einladend aus, aber der unwiderstehliche Duft des chinesischen To-Go-Futters ließ meinen leeren Magen jubilieren.
»Wollte Vik wieder seinen letzten Cent für eine romantische Reise nach Dubai verplempern?«, fragte mein Kollege herablassend und suchte in einem der Plastiksäckchen nach seiner Mahlzeit.
»Er meint es ja nur gut …«
David zog die Augenbrauen hoch und bedachte mich mit einem fragenden Blick.
»Ja, stimmt, ich nehme ihn wieder in Schutz.« Betreten sah ich zu Boden.
David reichte mir meine Portion ›Acht Schätze‹ und setzte sich neben mich.
»Nach allem, was du mir bisher erzählt hast, wundert es mich ja schon ein bisschen, dass …« Er strich sich durch sein raspelkurzes, karottenrotes Haar und holte tief Luft, sagte jedoch nichts mehr. Ein Stups mit dem Ellbogen entlockte ihm den Rest des Satzes.
»… dass du die Kraft hattest, die rosarote Brille abzunehmen und eure Beziehung ganz nüchtern und ohne Romantik zu betrachten.«
»Wir haben in etwa so gut zusammengepasst wie eine Dogge und ein Rehpinscher. Beide haben dieselben Vorfahren, beide stammen von Wölfen ab, sind aber trotzdem durch die enormen Unterschiede nicht zum Zusammenleben geeignet.«
David prustete los und ich stimmte nach wenigen Augenblicken mit ein.
Den letzten Bissen meiner Mahlzeit kauend, vernahm ich das nervige Quietschen hastig weggeschobener Stühle. Stimmengewirr setzte ein. David und ich sahen zeitgleich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Mehrere Leute standen mit gespitzten Ohren dicht beim Radio, das am hinteren Ende des langgezogenen Pausenraumes auf der Fensterbank stand. Ein paar meiner Kollegen diskutierten wild gestikulierend. Alle Umstehenden liefen zu dem Gerät, um zu lauschen. Sie umzingelten das verstaubte alte Ding regelrecht. Auch wir erhoben uns und gesellten uns rasch zu den anderen. Jemand drehte die Lautstärke hoch. Der Reporter brüllte in voller Lautstärke, doch seine Stimme überschlug sich dermaßen, dass seine Worte ineinanderflossen und unverständlich wurden. Lief ein wichtiges Fußballmatch? Vielleicht hatte einer der Spieler ein besonderes Kunststück vollbracht. Solche Highlights brachten die Moderatoren erfahrungsgemäß dazu, aus Leibeskräften zu brüllen. Meine Vermutung bestätigte sich leider nicht.
»…, dass die unzähligen Bruchstücke überall auf der Erde einschlagen werden, aber es besteht keine Gefahr für die Menschen, wenn sie nur in ihren Häusern bleiben. Der massive Kern des Meteoriten wird die Erde verfehlen, aber dessen Schweif ist der Anziehungskraft unseres Planeten ausgesetzt. Beim Eintritt in die Atmosphäre haben manche Stücke noch die Ausmaße von Häusern, doch beim Kontakt mit der Luft verringert sich ihre Masse enorm, weshalb sie gelbe Rauchfahnen hinter sich herziehend auf der Oberfläche landen. Die meisten Brocken sind kurz vor dem Aufprall nur noch faustgroß und richten keinen nennenswerten Schaden an. Statt mit Wucht herunter zu donnern und Krater zu erzeugen, fallen sie wie Steine vom Himmel. Da sich im Flug ihre Größe drastisch reduziert, gehen Forscher davon aus, dass das Material unglaublich porös ist. Es konnte noch nicht geklärt werden, worum es sich bei der Substanz aus dem All handelt. Der gelbe Nebel …«
Der Mann sprach sehr schnell und verschluckte dauernd die letzten Silben. Es gestaltete sich mühsam, ihm zu folgen.
»… die bislang aufgeprallten Stücke sind zum Großteil bereits zu Staub zerfallen. Ich stehe vor einem Überbleibsel, das vor einer guten Stunde mit der Größe einer Melone neben mir aufgeschlagen ist. Jetzt ist es bereits auf Tomatengröße geschrumpft und wird immer kleiner, der Wind verteilt den feinen Nebel in alle Richtungen. Ersten Berechnungen zufolge wird sich dieses Phänomen überall auf der Erde zutragen.«
Eine kurze Pause entstand, gefolgt von einem undefinierbaren Krachen.
»Wow, soeben konnten wir live erleben, wie eines dieser Dinger gut zweihundert Meter entfernt ein Autodach zerfetzt hat. Wir werden jetzt reingehen, bevor noch jemand getroffen wird, und uns dieses Spektakel von drinnen ansehen, solange es überhaupt noch etwas zu sehen gibt. Der Himmel ist bereits dunkelgelb und die Sonne kommt nicht mehr durch, ich schalte jetzt zurück ins Studio, das war Johann Weiler live aus Dubai …«
Die nachfolgende fröhliche Werbung für einen neuen Schokoriegel klang deplatziert angesichts der Horrormeldung, die unser sorgloses Leben in seinen Grundfesten erschütterte. Ich zwängte mich zwischen den Kollegen durch und machte das Radio leiser. Mein Blick traf auf die entgleisten Gesichtszüge der umherstehenden Leute. Gänsehaut überzog meinen Körper und unzählige Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Passierte das auch bei uns? War das so eine Art Armageddon? Was sollten wir jetzt tun? Mein Herz hämmerte schnell und hart gegen meine Rippen, mein Atem ging abgehackt. David fasste mich am Arm und sah mich aus schock geweiteten Augen an. Meine Kollegin Sara schlug die Hände vor ihren Mund und schluchzte.
Wir alle hatten im Fernsehen unzählige Male Katastrophenberichte aus anderen Ländern gesehen, aber erst jetzt, wo es auch uns in Kürze treffen würde, erfassten wir das ganze Ausmaß dieser grauenhaften Meldung. Die wachsende Angst und Unsicherheit aller im Raum war fast greifbar. Ich strich mir nervös über die Oberarme. Unser Boss, sonst immer Herr der Lage, stand mit weit aufgerissenen Augen da und starrte eine Weile nach Luft japsend ins Leere. Er zupfte gedankenverloren an seiner bunten Krawatte herum und glättete mehrmals sein makelloses blaues Sakko mit den Händen.
Als er seine Fassung einigermaßen zurückerlangte, verkündete er mit hörbarer Panik in der Stimme: »Sie sollten sich in ihre Wohnungen begeben, bevor dieses Phänomen auch bei uns auftritt. Möchte jemand hierbleiben?« Keine Antwort. Er sah uns der Reihe nach an und nickte schließlich.
»Alles klar, kommen Sie alle gut nach Hause! Ich informiere Sie per Mail, sobald hier wieder alles seinen Gang geht.«
Alle stoben daraufhin auseinander, schlüpften in ihre Jacken und tuschelten aufgeregt. Der Boss verschwand umgehend in seinem Büro, schloss die Glastür, und griff zu seinem Telefon. Wie ferngesteuert schnappte ich mir meine Handtasche, und klemmte meine dicke Weste unter den Arm. David wartete bereits an der Eingangstür auf mich.
»Meine Frau hebt nicht ab. Weder am Festnetz, noch am Handy«, jammerte er und sah mich mit sorgenvoll verzogenem Gesicht an. Ich tätschelte seinen Arm und zog ihn mit nach draußen.
»Weißt du denn wenigstens, wo sie ist?«
»Sie arbeitet in der Stadt-Bibliothek, aber es geht niemand ans Telefon.«
»Dann ist sie bestimmt auf dem Weg nach Hause.«
Seiner gerunzelten Stirn und den hängenden Schultern nach zu urteilen, beruhigte ihn dieser Beschwichtigungsversuch nicht sonderlich.
Wir hasteten Richtung U-Bahn.
»Mein Wagen steht in der Tiefgarage.« David deutete auf den hässlichen grauen Betonkasten zu unserer Linken.
»Ich nehme die U-Bahn. Bis dann!«
Wir verabschiedeten uns flüchtig voneinander und ich machte mich eilig auf den Weg nach Hause.
Die nächste U‐Bahn-Station lag nur zwei Querstraßen weiter. Normalerweise wimmelte es in dieser Gegend von Passanten, doch jetzt flitzte nur ein einzelner Mann über die Fahrbahn, die mit Autos vollgestopft war. Die Fahrzeuge standen Stoßstange an Stoßstange. Bis ich mein Ziel erreichte, hatte ich die Hupe sämtlicher Automarken mindestens einmal gehört. Ich machte mir große Sorgen um meine Liebsten und zückte mein Handy. Susanna, Ed oder Mama? Eine schwere Entscheidung. Nervös eilte ich die Treppe zum Bahnsteig hinunter. Unten angekommen, wählte ich die Nummer meiner Mutter, doch es blieb still in der Leitung. Kein Netz. Die nächste Bahn fuhr ein und ich stieg schnell zu. Hoffentlich ging es allen gut. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. Ein mulmiges Gefühl im Bauch gesellte sich schon bald dazu und machte mich unruhig. Nur mit Mühe gelang es mir, die plötzlich aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
In der U‐Bahn saß kaum eine Handvoll Leute. Alle guckten besorgt auf ihre Handys oder starrten ins Leere. Ohne Unmengen an Fahrgästen und das daraus resultierende Gezwitscher und Lachen fühlte ich mich unwohl. Als würde man mit einem Geisterzug fahren. Dazu kam die Angst vor dem gelben Zeug aus dem All. Wenigstens hatte ich mehr als genug Zeit, um nach Hause zu gelangen. Die Zeitverschiebung zwischen Dubai und Europa betrug immerhin drei Stunden. Hoffentlich krachte mir keines dieser Dinger auf’s Dach.
Zu Hause machte ich direkt den Fernseher an – der Bericht lief auf allen Sendern. Soweit die wenigen Anhaltspunkte für die ersten Berechnungen stimmten, zog ein riesiger Asteroid mit langem Schweif ganz nahe an der Erde vorbei. Zu nahe. Er bestreute die Erde mit gelben Brocken.
Ich warf einen Blick in meinen Kühlschrank. Gähnende Leere. Frustriert atmete ich tief durch. Auch mein Nudel- und Reisvorrat neigte sich dem Ende zu. Für einen Fall wie diesen war ich nicht gerüstet. Beim Googeln nach Anhaltspunkten, wie viel Zeit mir noch blieb, fand ich eine aussagekräftige Grafik. Der rot markierte Bereich, der den Niedergang der gelben Substanz markierte, schob sich um 17:00 Uhr gefährlich nahe an meinen Standort. Jetzt zeigte meine Armbanduhr 15:30 Uhr an. Neunzig Minuten. Das reichte allemal, um zu dem kleinen Laden zu fahren, der keine fünf Minuten von meinem Haus entfernt lag. Bewaffnet mit zwei Leinentaschen machte ich mich auf den Weg.
Das Geschäft war gerammelt voll, die Leute ungeduldig und fahrig. Ich wurde mehrfach angerempelt und geschubst. Mir wurde mulmig zumute und mein Magen rumorte.
Der Ladenbesitzer verkündete in gereiztem Tonfall: »Es ist genug für alle da. Also immer mit der Ruhe. Jeder kommt dran und wer sich nicht benehmen kann, den schmeiß ich eigenhändig raus!«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, warf er einen Blick aus wütend zusammengekniffenen Augen in die Runde. Es wurde sofort ruhiger und der Mann ergänzte: »Die Welt wird sich morgen auch noch drehen und der Lieferant bringt frühmorgens Nachschub! Ich mach sogar eine Stunde früher auf, wenn’s recht ist, aber ich möchte gleich schließen. Also stellen Sie sich bitte in eine Reihe und bewahren Sie Ruhe!« Die Schlange reichte bis auf die Straße hinaus und ich war mir nicht sicher, ob alle noch etwas kriegen würden. Der Anblick der vielen leeren Regale verunsicherte die Menschen und mich ebenfalls. Ungeduldig wippte ich auf und ab.
Mit einigermaßen gefüllten Taschen wieder in meinem Zuhause, versuchte ich mehrfach vergeblich, Ed, meinen besten Freund, zu erreichen. Wir kannten uns schon ewig und er stützte mich stets in schlechten Zeiten. Umgekehrt war ich für ihn da, wenn er mich brauchte. Auch wenn das um 03:00 Uhr morgens war und er betrunken vor irgendeiner Bar stand und nicht wusste, wie er nach Hause kommen sollte. Ich konnte nur hoffen, dass es ihm gutging und warten, bis er sich meldete. Die Angst, es könnte ihm etwas zugestoßen sein, ließ sich dennoch nicht ganz abschütteln. Mit zittrigen Fingern wählte ich erneut seine Nummer. Beim dritten Versuch hob er endlich ab.
»Hi, Kyra. Mein Akku ist fast leer, ich mach’s kurz: Momentan stecke ich am anderen Ende der Stadt fest. Feuerwehrleute haben mich und ein paar Leute aus der Umgebung in einer leerstehenden Schule untergebracht. Alles okay bei dir?«
»Mir geht es gut, ich bin zuhause.«
»Kannst du …«
Das nachfolgende Tuten trieb mir Tränen in die Augen. Hoffentlich konnte er sich von jemandem ein Handy ausleihen und zurückrufen. Ich tigerte nervös durch die Räume, doch der ersehnte Anruf blieb aus.
Um mich abzulenken, machte ich eine flüchtige Bestandsaufnahme und stellte zu meiner Zufriedenheit fest, dass ich Dank meines spontanen Einkaufs Vorräte und Wasserflaschen für mindestens zwei Wochen besaß, Holz um Feuer zu machen und Kerzen, falls der Strom ausfiel.
Gefühlt alle paar Sekunden überprüfte ich die Netzanzeige meines Handys, die weiterhin von einem fetten roten Strich durchkreuzt war.
»Mist.«
Was nun? Auf der Unterlippe kauend ging ich zum Fenster und musterte den Himmel. Er präsentierte sich in strahlendem Blau. Noch.
Mir blieb nichts anders übrig, als mich wieder vor den Fernseher zu hocken.
Die Bilder sahen überall auf der ganzen Welt gleich aus – gelbe Brocken, die vom Himmel fielen und dann im Wind zerbröselten. Die Luft hing in den betroffenen Gebieten voller feiner Mikropartikel. Dichte gelbe Schleier, die wie zäher Nebel zwischen Himmel und Erde waberten. Der Sprecher verkündete: »Von der Sonne werden wir laut Experten länger nichts sehen, da der leichte Staub nur bei Windstille liegenbleibt. Forscher aus aller Welt haben aber bereits Entwarnung gegeben. Die Messwerte der radioaktiven Strahlung liegen sehr niedrig. Vermeiden Sie dennoch Hautkontakt mit dem gelben Staub und waschen Sie nach Berührung kontaminierter Gegenstände sofort gründlich ihre Hände.«
Dass man einen Mundschutz und eine Taschenlampe benötigte, wenn man nach draußen gehen wollte, verstand sich von selbst.
Kurz nach 17:00 Uhr verdunkelte sich der Himmel – mehr als eine halbe Stunde vor Einsetzen der natürlichen Dämmerung. Vom Fenster aus beobachtete ich gebannt das Schauspiel. Tausende Bruchstücke des Asteroiden trudelten herab wie fallengelassene Steine. Das seltsame Material musste wirklich total leicht sein. Die Brocken durchzogen den Himmel senkrecht mit gelben Streifen, die Rauchfahnen ähnelten, und schrumpften während des Falls. Ein eigenartiger gelber Schein legte sich binnen weniger Augenblicke über alles. Ich wich instinktiv vom Fenster zurück. Ein urplötzlich einsetzendes Prasseln auf dem Dach ließ mich zusammenzucken. Mein Puls schnellte ruckartig hoch. Es klang wie Hagel. Statt großer Brocken regnete es tausende kleinere und größere Körnchen. Sie zerfielen rasch zu Staub, der den gesamten Vorgarten kniehoch in eine gelbe Wolke hüllte. Hier und da landete ein faustgroßes Stück auf der Erde zwischen meinen Sträuchern. Einer der Klumpen brach Zweige von meinem Rosenbusch ab. Windböen strichen über die Oberfläche der gefallenen Brocken und erzeugten weitere hauchfeine Schleier. Schon bald konnte ich meinen Garten nur noch schemenhaft erkennen. Letzten Endes verschlang die undurchdringliche gelbe Wolke den gesamten Bereich vor dem Fenster.
Bestürzt registrierte ich, dass Max nicht im Haus war. Hoffentlich hatte der Kater ein gutes Versteck gefunden. Und wenn nicht? Der Gedanke versetzte mir einen Stich. Ich schlurfte resigniert zum Couchtisch und warf mit wenig Hoffnung einen Blick auf das Display meines Handys. Kein Netz. Eine Welle aus purer Angst flutete mein Inneres. Kälte kroch mir in die Knochen und überzog meinen Körper mit Gänsehaut. Ich ließ mich mit einem unbehaglichen Seufzen auf der Couch nieder und starrte auf den Fernseher. Die ganze Nacht verfolgte ich aufmerksam die verstörenden Nachrichten.
***
Das erwartete, große Chaos blieb aus. Zumindest bis jetzt. Es gab natürlich reihenweise Unfälle, die Krankenhäuser platzten aus allen Nähten. Polizei und Feuerwehr standen rund um die Uhr im Einsatz. In einigen Stadtteilen kam es zu Plünderungen, Geschäfte wurden über Nacht komplett leergeräumt.
Die Bilder anzusehen fühlte sich schrecklich an, da es sich um Momentaufnahmen des echten Lebens, nicht um einen Film handelte. Schockiert und fasziniert zugleich sog ich die Aufnahmen von eingeschlagenen Schaufenstern, brennenden Autos und toten Menschen auf. Mein Magen zog sich unangenehm zusammen.
Das Bild veränderte sich, zoomte auf die Helfer. Es zeigte Polizisten am Rande der Erschöpfung und Rettungskräfte, die vor lauter Übermüdung nach 24‐stündigen Dauereinsätzen einfach da, wo sie gerade saßen, einschliefen. Ein kleines Mädchen mit tränenverschleiertem Blick kauerte auf dem Schoß eines Mannes, dessen mit gelbem Staub bedecktes Gesicht selbst im Schlaf angespannt wirkte. Die Kleine klammerte sich an ihn und heulte leise vor sich hin, bis eine Sanitäterin kam und sie zu einem Krankenwagen mitnahm. Der Mann bemerkte von alldem nichts und schlief vor Erschöpfung einfach weiter. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß.
Die nächsten Bilder zeigten einen bewaffneten, blutenden Mann, der einen anderen bedrohte und anschrie und schließlich auf ein vorbeifahrendes Polizeiauto schoss. Die Polizisten erwiderten das Feuer und der Mann brach zusammen. Ich erstarrte. Der sehr schnell größer werdenden Blutlache nach zu urteilen, würde er das nicht überleben.
Außer in einem Film hatte ich noch nie gesehen, wie jemand stirbt. Mir wurde speiübel und ich wandte hastig den Blick ab.
Im Gegensatz dazu, wie manche Menschen sich in einer solchen Situation aufführten, waren die angerichteten Schäden der Meteoriten halb so wild. Sobald der Staub sich verflüchtigt hatte, wurde überall mit dem Aufbau begonnen. Dächer konnte man reparieren und Straßenbeläge ausbessern. Alles in allem waren wir glimpflich davongekommen – dachten wir zumindest. Die Zerstörung, die uns noch bevorstand, konnten wir nicht erahnen.
Gegen Mitternacht flatterten meine Augenlider. Schläfrig tapste ich Richtung Schlafzimmer. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen gelben Film auf meinen blütenweißen Fensterbänken. Ein Teil des Staubs von draußen hatte wohl seinen Weg durch die undichten alten Holzfenster gefunden.
***
Am frühen Morgen wurde ich von einem lauten Knacken geweckt. Durch den Schlafentzug in den letzten drei Tagen brauchte ich eine Weile, um richtig in die Gänge zu kommen. Das Geräusch ertönte erneut. Als ob etwas zerbrach. Knack.
Diesmal noch lauter. Ich fuhr erschrocken zusammen und hielt Ausschau nach der Geräuschquelle, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Mein Blick schweifte über das Fensterbrett, als es wieder knackte. Die prächtigen, pinken Blüten und die fleischigen Blätter meiner Orchidee schienen über Nacht zu doppelter Größe angewachsen zu sein. Auch ihre Wurzeln, die normalerweise kaum den Durchmesser eines Strohhalmes hatten, waren nun daumendick und quollen oben aus dem gläsernen Topf heraus. Ein Riss teilte den Übertopf beinahe entzwei. Mit gerunzelter Stirn schüttelte ich ungläubig den Kopf. Das war unmöglich.
Bei einem Rundgang durch die Wohnung stellte ich bestürzt fest, dass der unglaubliche nächtliche Schub alle Grünpflanzen betraf. Der Anblick meiner Wasserlilien, die auf einem Holzboard auf Augenhöhe standen, trieb meinen Puls in die Höhe. Die zarten Pflänzchen hatten deutlich an Volumen zugelegt. Das dezente Grün, gestern noch aus dünnen Blättern bestehend, präsentierte sich nun ausladend und üppig. Mein Blick folgte den Spitzen der langen Ausläufer, die sonst an meiner Hüfte endeten – sie hingen bis zum Boden. Die Efeututen daneben wucherten halb in die Wasserlilien hinein. Ihre gewöhnlich handflächengroßen Blätter besaßen nun die Ausmaße von Tellern. Kopfschüttelnd fragte ich mich, ob ich womöglich gerade dabei war, durchzudrehen. In Gedanken versunken zog ich die Vorhänge beiseite. Es roch muffig hier drinnen. Kein Wunder – seit dem gelben Schauer hatte ich nicht mehr gelüftet. Mir blieb die Luft weg, als ich den Garten erblickte.
Jedes Fleckchen Erde war mit einer grünen Masse überzogen, die auf den ersten Blick nach Moos aussah. Der gelbe Staub war verschwunden. Alle Pflanzen waren zu unfassbarer Größe herangewachsen. Die Rosenbüsche, die ich auf Kniehöhe gekürzt hatte, ragten fast bis ans Fenster der Gartenhütte. Dichtes Blattwerk und frische Knospen bedeckten die kürzlich noch kahlen Büsche. Die violetten Krokusse besaßen fingerdicke Stängel und Kelche, so groß wie Weingläser. Die schmächtige Eibe, gestern noch ein kleines Bäumchen, das mir kaum bis an die Hüfte gereicht hatte, ragte nun bis zum Dach auf. Eine mächtige Krone zierte einen Stamm, den eine Person alleine nicht mehr umfassen konnte. Ihre mächtigen Wurzeln hatten schrittlange Risse in den Gehweg gebrochen. Die Hecke, die das Grundstück einsäumte, verschlang das eiserne Gartentor zur Hälfte und reichte fast bis zum höchsten Punkt der Laterne dahinter.
Ich schluckte trocken und ließ mich auf den nächstbesten Stuhl sinken. Wie konnte das sein? Träumte ich noch? Verunsichert schaltete ich den Fernseher wieder an. Dieses Phänomen betraf nicht nur meine Gegend. Die Kamera schwenkte soeben über einen Teil der Stadt, den ich sehr gut kannte. Die Straße unweit meines Arbeitsplatzes war kaum wiederzuerkennen. Es sah aus, als hätte sich viele Jahre lang niemand um die Instandhaltung und Reinigung gekümmert. Auch hier hatte wild wucherndes Grünzeug die gelbe Staubschicht abgelöst.
»… Menschen haben die Pflanzen einfach aus dem Fenster geworfen, sofern das noch möglich war. Wie Sie hier sehen können, ist dieser kleine Blumenladen über Nacht förmlich explodiert. Das Haus ist eingestürzt, nachdem die im Keller gelagerten Stauden das Fundament beschädigt hatten. Derzeit ist nicht bekannt, ob sich zum Zeitpunkt des Einsturzes Menschen im Gebäude aufgehalten haben …«
Oh Gott, der eben gezeigte Laden gehörte meiner Freundin Susanna! Das erkannte ich an der unverwechselbaren, farbenfrohen Wandmalerei rund um den zerstörten Eingang. Sie wohnte in dem Loft über den Geschäftsräumen. Mit zittrigen Fingern wählte ich ihre Nummer.
»Hi, Kyra. Tut verdammt gut, deine Stimme zu hören!«
»Hallo, Susanna. Alles in Ordnung? Ich hab’ im Fernsehen Bilder von deinem Laden gesehen. Das sieht ja schlimm aus.«
»Ich hatte solche Angst! Mitten in der Nacht kamen komische Geräusche aus dem Keller, da bin ich abgehauen … Hallo? … Bist du noch da?« Susanna klang atemlos, als würde sie laufen.
Die Verbindung war schlecht und es rauschte häufig in der Leitung.
»Ja, bin da, bei mir ist auch einiges kaputt, zum Glück nur ein paar Übertöpfe und der Gehweg im Garten«, rief ich laut, um das Rauschen zu übertönen.
»Da klopft jemand an, Moment.« Es raschelte einige Sekunden lang. »Es ist meine Mutter. Ich muss Schluss machen!«
Susanna legte auf, ohne meine Antwort abzuwarten, aber das störte mich nicht. Wir konnten später noch reden. Hoffentlich.
Die Lage spitzte sich in rasender Geschwindigkeit zu. Die Flut an schrecklichen Bildern im Fernsehen schnürte mir die Luft ab. Die Feuerwehr kam den vielen Anrufen von verzweifelten Menschen, die ihre Häuser nicht mehr betreten oder verlassen konnten, nicht mehr nach. Es waren einfach zu viele. Die Regierung bat in den Nachrichten all jene, die eine Kettensäge, Axt oder ähnliche Geräte besaßen, die Einsatzkräfte zu unterstützen. Aber welcher Stadtmensch besaß schon eine Säge? Vielerorts drückten die mächtigen Wurzeln umliegende Stromleitungen ab. Sie beschädigten Häuser und blockierten Gehwege. Die Stadtwerke kündigten die Sperrung des Gashaupthahnes im Werk an, da es vermehrt Lecks gab. Der Funkenschlag einstürzender Gebäude aus Stahl und Beton reichte aus, eine unkontrollierbare Feuersbrunst zu entfachen. Ein großer Teil der Stadt stand bereits in Flammen, konnte jedoch nicht gelöscht werden, da die Wasserleitungen kaum oder keinen Druck mehr zustande brachten. Die Bilder der Zerstörung trieben mir Tränen in die Augen.
Der Strom blieb manchmal stundenlang weg. Auch das Handynetz fiel immer häufiger aus. Ich bereute es, mich von meiner Freundin nicht richtig verabschiedet zu haben. Mein Herz fühlte sich wie ein scharfkantiger, kalter Stein an.
Ich ließ den Fernseher an. Die Stimmen der Nachrichtensprecher, die in unregelmäßigen Abständen die ungewohnte Stille durchbrachen, erschreckten mich jedes Mal, wenn das Stromnetz vorübergehend wieder funktionierte. Die Angst, bald völlig von anderen Menschen abgeschnitten zu sein, legte sich wie ein bleiernes Gewicht auf meinen Nacken und bescherte mir hämmernde Kopfschmerzen.
Mein grummelnder Magen machte am frühen Nachmittag auf sich aufmerksam und ich ging in die Küche, um alles Notwendige für eine Portion Spaghetti zu holen. Der kleine Holzofen im Wohnzimmer, den ich als Ersatz für die ausgefallene Heizung seit Tagen befeuerte, würde zwar ewig brauchen, um das Wasser zu erhitzen, aber eine Alternative gab es im Moment nicht.