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Ein verzaubertes Kloster, in dem seltsame Bewohner hausen.
Ein junger Mann, auf dem ein tödlicher Fluch liegt.
Ein uraltes Geheimnis, das nicht gelüftet werden sollte.
Als Nelly zu den Wortmagiern von Greenlake Hill stößt, kann sie endlich ihre besonderen Fähigkeiten nutzen, die sie bislang vor anderen Menschen verbergen musste. Ihre Freude darüber hält nicht lange an – schon bald muss sie sich gegen mächtige Feinde zur Wehr setzen, die das Kloster angreifen.
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Lucian packte Nelly am Handgelenk und zog sie in ein Gebüsch neben dem dicken Stamm einer großen Tanne. Der halbdurchsichtige Geist des Gärtners versteckte sich ebenfalls.
»Du bleibst hier«, wies er Nelly an. Sie nickte zustimmend. Was sollte sie sonst tun? Sie würde sich bestimmt nicht mit den Eindringlingen anlegen.
»Sei vorsichtig!«
Fremde Stimmen näherten sich. Nellys jagender Herzschlag legte noch einen Zahn zu.
»38, 39, 40 …«, zählte eine tiefe Stimme. Die drei duckten sich tief in das Gebüsch. Der Geist des Gärtners versank buchstäblich im Erdboden und verschwand. Nelly lugte durch ein Loch im Blattwerk. Zwei hagere Gestalten tauchten auf, in braune Kutten und Umhänge gekleidet. Einer hatte blondes Haar, der andere schwarzes. Auf den ersten Blick konnte man denken, es würde sich um zwei Mönche handeln. Der verschlagene Gesichtsausdruck passte jedoch nicht zu dieser Vorstellung. Zudem hielt der Blonde ein langes, scharf aussehendes Messer in der Hand. Er kratzte sich an seiner schiefen Hakennase und ging seinem Begleiter hinterher, der weiter die Reihen zählte.
»41, 42 … Da ist es!«
Die Männer machten Halt. Kaum eine Handbreit vor dem Gebüsch. Der Schwarzhaarige beäugte die Grabsteine zu seinen Füßen und zog eine weiße Karte aus seinem Ärmel hervor. Darauf standen einzelne Wörter in großen Buchstaben. Er berührte mit seinem Zeigefinger eines davon. Im selben Moment erzitterte die Erde unter Nellys Füßen. Der Boden bekam Risse und brach auf. Erdreich rutschte in den entstehenden Spalt. Unter dem Grabstein, den der Mann anvisierte, tat sich ein Loch auf und gab die Sicht auf einen halb vermoderten Sarg frei. Sie musste sich mächtig zusammenreißen, um nicht in kopfloser Panik wegzulaufen.
Lucian packte den Spaten mit beiden Händen und stürmte auf die Fremden zu. Er schlug dem Schwarzhaarigen mit der flachen Seite fest auf den Rücken. Der Mann gab einen unartikulierten Schrei von sich und fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Die weiße Karte landete neben seinem Kopf. Sein blonder Begleiter riss die Hand mit dem Messer hoch und attackierte Lucian damit. Nelly erschrak sich beinahe zu Tode und hielt vor Angst die Luft an.
Lucian wich behände aus, drehte den Spaten ein wenig und stieß dem Mann in einer raschen Abfolge von kurzen, harten Schlägen auf die Hand. Das Messer fiel ins Moos zwischen zwei Steine. Gleich darauf sprang Lucian nach links zu dem anderen Mann, der bereits am Boden lag. Er rollte ihn mit dem Fuß auf den Rücken und platzierte die Spitze des Spatens an seinem Hals.
»Stopp!« Seine Stimme klang eiskalt.
Nelly sah nur sein Profil. Sie konnte sich trotzdem lebhaft vorstellen, wie seine eisgrauen Augen unter den wütend zusammengezogenen Brauen blitzten. Er würde doch nicht wirklich …
Der blonde Mann, dem vor Schreck der Mund offenstand, blieb wie erstarrt stehen. Sein Blick schweifte rastlos hin und her. Er überschlug offenbar seine Möglichkeiten. Nelly wollte mehr sehen und schob den Kopf ein wenig aus dem dichten Grünzeug, in dem sie steckte. Der am Boden liegende Angreifer wurde weiterhin von Lucian mit dem Spaten bedroht und regte sich. Er griff nach der weißen Karte, die mithilfe einer Schnur an seinem Handgelenk befestigt war. Sie erhaschte ein paar Wörter. Sturm, Flut, Erdrutsch, Blitz, …
Er berührte das Wort Sturm. Kaum einen Wimpernschlag später wütete die Naturgewalt über ihnen und verfinsterte den Himmel. Sein blonder Begleiter gab seine Angriffshaltung mit angstvoll verzerrtem Gesicht auf, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Heftiger Wind pfiff lautstark durch die Bäume und rüttelte die Stämme durch. Schwerer Regen fiel unvermittelt herab. Das Prasseln vervollständigte die unheilvolle Melodie des Windes und der knarzenden Bäume. Donnergrollen ertönte in nächster Nähe. Als läge das Zentrum des Sturms direkt über dem Waldrand. Gleich darauf wirbelten abgerissene Blätter und kleine Zweige durch die Luft. Lucian hob eine Hand und schirmte seine Augen ab. Er sah nicht, dass der Finger des Schwarzhaarigen ein anderes Wort ansteuerte: Blitz. Es fehlten nur noch wenige Millimeter.
Nelly schrie gegen das Tosen des Windes:
»Pass auf!«
Als er das Vorhaben des am Boden Liegenden erkannte, ihn mit einem Blitz zu erschlagen, blieb keine Zeit zu überlegen. Während er zu einem Tritt ausholte, hätte der Mann das Wort längst erreicht. Lucian konnte die weit vom Körper gestreckte Hand unmöglich rechtzeitig erreichen.
Drei Tage zuvor.
Nelly stürmte mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn die Treppe zum Dachboden hoch. Oben angekommen schlüpfte sie schnell in den düsteren Raum, warf die massive Tür aus Eichenholz zu und schloss ab. Das leichte Tappen einer schlanken Person mit kleinen Füßen kam näher, die Treppe herauf. Dazu gesellte sich das Poltern schwerer Schritte.
Heftig atmend ließ sich Nelly mit dem Rücken zur Wand zu Boden sinken. Sie strich das kinnlange braune Haar zurück, fuhr sich über das tränennasse Gesicht und schlang die Arme um ihre Knie. Die Geräusche aus dem Treppenhaus verstummten. Das trübe Zwielicht der Abenddämmerung erzeugte in den Winkeln ihres Zufluchtsortes tiefe Schatten.
»Mensch Cornelia, du kannst dich nicht immer im Dachboden einschließen«, schallte es vom Treppenaufgang her durch die Tür. Der anklagende Tonfall ihrer Mutter schürte ihren Zorn. Zudem hasste sie es, wenn man sie Cornelia nannte.
»Ihr habt doch keine Ahnung!«, schrie die 16-Jährige trotzig. Sie hörte selbst, wie dünn und zerbrechlich ihre Stimme klang. »Ihr wollt mich von hier wegzerren. Von meinen Freunden, von … Mich braucht man ja nicht zu fragen.« Nur mühsam unterdrückte sie ein Schniefen.
»Nelly, bitte … «, setzte ihr Vater an. Bestimmt schloss er dabei wie üblich die Augen, um dem gebieterischen Ausdruck im Gesicht seiner perfekt gestylten Frau zu entgehen. Nelly konnte förmlich sehen, wie die ehemalige Schönheitskönigin ihre aufwendig lackierten Fingernägel betrachtete, ehe sie sich mit den Fingern durch die blonde Wallemähne fuhr und ihren Mann missmutig anguckte. Er ergänzte: »Das haben wir doch schon besprochen.«
In seinem tiefen Bass schwang kein Tadel mit, nur Resignation.
Nelly schnaubte und verschränkte die Arme.
»In der Stadt ist es hektisch und laut und es stinkt. Man kann nicht auf einen Baum klettern und in Ruhe lesen. Dort gibt es noch nicht mal ansatzweise sowas wie eine Wiese! Da wohnen Millionen Menschen und die meisten davon sind bis an die Zähne bewaffnet.« Sie fixierte das Fenster am anderen Ende des Raumes mit fest zusammengekniffenen Augen. »Laut Statistik ist die Wahrscheinlichkeit, dort erschossen zu werden, zehn Mal höher als hier.«
»Kann sie statt Statistiken nicht einfach mal Schminktipps googlen, wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter?«, ertönte die gereizte Stimme von Nellys Mutter. Ihr Mann antwortete nicht. Er wollte wohl keinen Streit vom Zaun brechen, der mit Gekreische und den Worten »Musst du mir in den Rücken fallen?« und knallenden Türen endete. Nelly ärgerte sich darüber, dass er nie seine Meinung sagte und immer nachgab. Nie ergriff er Partei für sie.
»Komm jetzt sofort raus!«, forderte ihre Mutter.
»Geht weg!«
»Lass sie«, beschwichtigte ihr Vater. »Sie wird schon kommen.« Seine Schritte entfernten sich langsam.
»Cornelia! Argh!« Der schrille Ton ließ Nelly zusammenzucken. Endlich gab auch ihre Mutter nach und schlurfte die Treppe hinab.
Nelly kannte das alles zur Genüge. Ihre Mutter wollte einfach nicht begreifen, dass sie Bücher nun mal liebte und ihre Schätze am liebsten unter freiem Himmel las. Und immer dieses abfällige Gerede von wegen vermasselter Zukunft – als wäre es eine Schande, wenn man Bibliothekarin in einem kleinen Ort wie Greenlake Hill werden wollte. Nicht jeder war zu Größerem geboren. In der Stadt wäre alles anders. Tränen bahnten sich ihren Weg und verschleierten ihren Blick.
Um sich abzulenken, stand sie auf und krabbelte im schwindenden Licht in den dick gepolsterten Ohrensessel, der früher ihrer Oma gehört hatte. Über der Lehne hing eine alte rosafarbene Decke. Sie verströmte immer noch einen Hauch von Maiglöckchen. Omas Lieblingsduft.
Auf dem kleinen Abstelltischchen daneben lag ein dickes Buch. Übernatürliche Wesen von A-Z.
Sie nahm den abgegriffenen Wälzer in die Hand. Den Streit in den Hintergrund rückend, wickelte sie sich in die flauschige Decke, die ihr schon häufig Aufmunterung und Wärme gespendet hatte. Der weiche Stoff eignete sich auch prima, um Tränen damit zu trocknen. Da es zu dunkel zum Lesen war, holte Nelly die Taschenlampe hervor, die in der Spalte zwischen Sitzfläche und Lehne klemmte.
Wie so oft versank sie völlig in den magischen Welten, die ihr Ablenkung von ihrer trostlosen Zukunft boten. Sie las eben die Beschreibung von Nixen, als das widerliche Kratzen von etwas Hartem auf Glas ihre Konzentration störte. Ein schnell vorbeihuschender Schatten vor dem Fenster riss sie vollends zurück in die Realität. Das Flattern von Schwingen ertönte, gleich darauf ein merkwürdiges Schaben. Sie schälte sich hastig aus der Decke, legte das Buch ab und huschte im hellen Kegel der Taschenlampe zum Fenster. Plötzlich prallte ein dunkler Schemen an die Scheibe. Nelly zuckte zurück und starrte für einen kurzen Augenblick in ein hellgrünes Auge, umrandet von einem schwarzen, schuppigen Gesicht. Die große, gedrungene Pupille verengte sich im hellen Schein zu einer schmalen aufrechtstehenden Sichel. Der drachenähnliche Kopf wich ruckartig zurück. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf spitze Zähne und scharfe Krallen. Die Taschenlampe entglitt ihren zittrigen Fingern und fiel zu Boden.
Das Licht erlosch.
Nelly stand wie angewurzelt zwei Schritte vor dem Fenster, unfähig sich zu rühren. Heftig atmend starrte sie weiter hinaus, während ihre Augen sich an das schummrige Dämmerlicht im Raum gewöhnten. Ihr Herz hämmerte so wild gegen ihre Rippen, als wollte es demnächst herausspringen. Das Tier schüttelte sich, drehte sich zur Seite und flog weg. Ein stachelbewehrter, langer Schwanz zog vor der Scheibe vorbei, dann verschwand das Ding im Baum gegenüber.
Ihr Blick glitt durch die ausladende Krone der großen Linde vor dem Haus. Schwaches Mondlicht leuchtete herab, doch der silberne Schein vermochte das dichte Blattwerk nicht zu durchdringen.
Nelly ließ die Taschenlampe einfach liegen und ging langsam rückwärts. Sie kannte den Dachboden wie ihre Westentasche und musste nicht fürchten, über irgendetwas zu stolpern. Das Wummern ihres Herzschlages dröhnte in der Stille. Sicheren Schrittes erreichte sie die Tür. Sie schloss schnell auf und schlich im Dunkeln die Treppe hinunter.
In ihrem Zimmer angekommen kroch sie mit zittrigen Gliedern ins Bett. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn und versuchte, ihre aufgewühlten Gedanken zu sortieren. Hatte sie eben tatsächlich gesehen, wie ein schwarzer Gargoyle am Fenstersims gelandet war? Oder hatte sie nur zu lange gelesen und ihre Sinne spielten ihr einen Streich?
Sie wusste es nicht.
***
Nelly machte in dieser Nacht kein Auge zu. Das Bild des Gargoyles vor dem Fenster blitzte immer wieder in ihren Gedanken auf und brachte ihr Herz vor Aufregung zum Stolpern. Sie wälzte sich stundenlang herum, fand jedoch keine Ruhe. Bestimmt musste sie nur einen Blick in den Baum und auf das leere Fenster werfen, um die Erinnerung abzuschütteln.
Völlig gerädert und hundemüde schlüpfte sie in Jeans, streifte ein lila T-Shirt über und schleppte sich nach oben. Dem heller werdenden Zwielicht nach zu urteilen, war es kurz vor Einbruch der Dämmerung. Die Tür zum Dachboden stand immer noch offen. Sie tapste schwerfällig hinein. Der rechteckige Raum, der in der Länge kaum zehn Schritte maß, lag still und verlassen da. Nelly schlurfte zum Fenster und hob die Taschenlampe auf.
Auf einem dicken Ast der Linde, der bis zur Hauswand reichte, regte sich etwas. Wie schon am Abend sah sie gebannt hinaus in das dichte Blattwerk. Die feinen Härchen an den Armen und im Nacken stellten sich furchtsam auf. Im Schatten unter den üppig belaubten Zweigen glaubte sie, eine schuppige Kreatur zu sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie trat näher ans Fenster und sah konzentriert auf den dunklen Fleck. Ihr Atem beschlug an der Scheibe.
Da! Eine krallenbewährte Tatze bewegte sich in ihre Richtung. Ein schwarzer Kopf mit gewundenen Hörnern fuhr wie in Zeitlupe zwischen den Blättern hervor. Angst und Neugier brandeten abwechselnd durch Nellys Inneres. Hin- und hergerissen, ob sie schnell weglaufen oder abwarten sollte, blieb sie letzten Endes an Ort und Stelle. Das drachenähnliche Wesen, kaum größer als ein durchschnittlicher Retriever, trat langsam aus seinem Versteck. Eindeutig ein Gargoyle. Sie hatte sich nicht getäuscht.
Sein schwarzer Kopf mit den großen hellgrünen Kulleraugen schwenkte nach rechts und fixierte etwas, das sie von ihrer Warte aus nicht sehen konnte. Dann guckte er direkt zum Dachfenster und ließ ein tiefes Wimmern hören. Noch ein Schwenk nach rechts. Und wieder zurück. Sein Blick glitt mehrmals hin und her. Als wüsste er nicht, was er jetzt tun sollte. Nelly hatte gelesen, dass seine Art sich nur in der Nacht herumtreiben konnte und sich in Stein verwandelte, sobald die Sonne sie berührte. Sie blickte Richtung Hügel, hinter dem der helle Himmelskörper in Kürze aufgehen würde. Der Gargoyle tat es ihr nach und gab erneut ein kehliges Wimmern von sich. Sie hob ihre rechte Hand an und drückte sie auf die Fensterscheibe. Ihr Besucher schlich tief geduckt zu ihr hin. Flügel und Schwanz eng an den schuppigen Körper gepresst, um sie nicht zu verschrecken. Er balancierte auf einem dicken Ast bis ans Fenster, hob dort seinen Kopf und den linken Vorderlauf zugleich an. Langsam, zaghaft. Nellys Herz geriet für einen Moment aus dem Takt. Weniger aus Angst, denn aus Aufregung. Er guckte sie direkt an und legte eine schwarze Tatze von außen genau an die menschliche Handfläche. Das entlockte ihr ein Lächeln. Der Gargoyle wollte diese Mimik offenbar nachmachen, aber das Ergebnis sah durch die spitzen Zähne eher furchteinflößend als freundlich aus.
»Was machst du da?«, schallte die genervte Stimme ihrer Mutter von der Treppe her. Nelly zog hastig ihre Hand weg und drehte sich zur Tür. »Nichts.«
»Nichts, so so.« Ihre Mutter stakste eilig durch den kleinen Raum und linste zum Fenster hinaus. Nelly erwartete einen Schrei, doch sie vernahm nur ein gereiztes Seufzen. War der Gargoyle weg? Sie drehte sich zum Fenster und sah wie zuvor sein schuppiges, schwarzes Gesicht. Natürlich. Abgestumpfte Erwachsene konnten übernatürliche Wesen nicht sehen. Erleichtert und auch belustigt grinste sie zum Fenster. Das Wesen legte den Kopf schief. Nelly interpretierte es als Geste für Ratlosigkeit.
Sie wandte sich wieder zu ihrer Mutter, die sich etwas pikiert in dem Raum umsah. Offensichtlich gefiel der modernen Karrierefrau das altbackene Interieur nicht. Nelly setzte eine unschuldige Miene auf und rieb sich die Unterarme. »Ich kann nicht schlafen.«
Der fleischgewordene Wasserspeier vor dem Fenster richtete sich auf und beäugte das verquollene Gesicht ihrer Mutter. Die dunklen und vor allem tiefen Augenringe vermochte der beste Abdeckstift der Welt nicht zu kaschieren.
»Ich kann auch nicht schlafen, deinetwegen«, antwortete sie mit eisigem Tonfall. Der Gargoyle brachte sein Gesicht draußen vor der Glasscheibe ganz nah an ihres. Er hockte sich auf die Hinterbeine und verschränkte die Vorderläufe vor der Brust. Dabei guckte er grimmig und bleckte die Zähne. Nelly sah ihm fasziniert zu.
Ihre Mutter fuhr fort: »Ist dir eigentlich klar, was du uns mit deinem Starrsinn antust?« Sie rollte genervt mit den Augen und seufzte tief.
Der Gargoyle äffte sie nach. Er plapperte erst lautlos vor sich hin, verdrehte dann die Augen nach oben und seufzte zum Schluss theatralisch. Naja, es klang eher wie Grunzen als Seufzen. Nelly unterdrückte ein Grinsen.
»Wir werden so oder so umziehen, ob du nun willst oder nicht.« Sie reckte das Kinn kampflustig vor und strich eine blonde Haarsträhne zurück. Der Gargoyle ahmte wieder Mimik und Gestik nach. Nelly spürte, wie ein Glucksen ihre Kehle hochstieg. Sie drehte sich weg, um nicht loszuprusten.
Ihre Mutter sah wohl trotzdem die zuckenden Mundwinkel. Ihre perfekt manikürten Fingernägel bohrten sich vor unterdrückter Wut tief in ihre Unterarme.
»Ich fasse es einfach nicht!«, fauchte sie und bedachte Nelly mit einem vernichtenden Blick. »Wir müssen jetzt los, den Kaufvertrag für das neue Haus unterzeichnen. Anschließend fahren wir in den Baumarkt und suchen die Bodenbeläge für Wohnzimmer und Küche aus. Danach …«, sie stockte und tippte ungehalten mit der Schuhspitze auf den Boden. »Hörst du mir überhaupt zu?« Ein wenig damenhaftes Grollen kam über ihre Lippen. »Es wird spät, dein Bruder passt auf dich auf«, zischte ihre Mutter und rauschte wutentbrannt aus dem Raum. Der Gargoyle streckte ihr die Zunge heraus. Dann ließ er bellendes Lachen hören, das wie das Husten eines Hundes klang. Nelly schlug die Hände vor den Mund, um ein Kichern zu dämpfen.
Plötzlich verrutschte sein Lachen und wich großem Kummer. Er blickte sorgenvoll zum Hügel, wo die Sonne demnächst aufgehen würde. Einen Moment später schlug er seine Flügel auf, stieß sich vom Ast ab und flog davon. Sie sah ihm hinterher. Er flatterte genau in die Richtung, in die er zuvor mehrmals gesehen hatte.
Was lag an diesem Ort?
Nelly lief zu den Sprossen am Kamin, die dem Schornsteinfeger als Aufstiegshilfe dienten. Sie hangelte sich hoch. Dort war sie schon mal raufgeklettert, daher wusste sie, wie man die Abdeckung am Dach entriegelte. Das runde Stück Blech ließ sich problemlos aufklappen. Es gab lediglich ein Quietschen von sich. Sie steckte den Kopf aus der Luke und schaute in die Richtung, in die ihr neuer Freund sich verdrückt hatte. Er flog zielgerichtet auf die alte Klosterruine zu, die auf einem Hügel mitten im Wald thronte. Das rußschwarze Gemäuer mit den leeren Fensterrahmen, die wie offene Mäuler klafften, schien sein Zuhause zu sein. Der Gargoyle steuerte die größte der Öffnungen an und verschwand darin.
Nelly überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sie brauchte Informationen. Die kleine Bibliothek in Greenlake Hill gab diesbezüglich sicher nichts her, deshalb holte sie fürs Erste den Laptop aus ihrem Zimmer und ging wieder nach oben. In den Ohrensessel geschmiegt, begann sie mit der Recherche. Sie suchte zuerst alles über Gargoyles heraus, und danach über das halb verfallene Kloster, hinter dem sich ein moosgrüner See bogenförmig an den Hügel schmiegte. Wenigstens waren ihre Eltern aus dem Haus. Ihr älterer Bruder Cameron würde sich wie üblich in seinem Zimmer verschanzen und für die Aufnahmeprüfung an der Uni lernen. Umso besser.
Über den schuppigen Besucher gab es eine Reihe an widersprüchlichen Informationen – in einem Artikel konnten sie fliegen, im nächsten nicht. Mal verwandelten sich ihre steinernen Leiber nachts in Fleisch und Blut, mal blieben sie aus Stein und knirschten bei jeder Bewegung. Einer Legende nach beschützten sie ein Gebäude und dessen Bewohner – eine andere Geschichte erzählte von einem Schatz. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Nelly gab trotzdem nicht auf und sammelte im Laufe des Tages Links zum Thema Gargoyles. Mittags machte sie sich ein paar Brote zurecht und suchte weiter, während sie aß.
Über das Kloster fand sie nur wenig. Es gab weder Aufzeichnungen das genaue Baujahr betreffend, noch Details zu den einstigen Besitzern. In einem Zeitungsartikel war von einer Reihe an Katastrophen die Rede. Beginnend im frühen 17. Jahrhundert bis zu einem verheerenden Brand 1892 hatte das aus Stein errichtete Bauwerk allen Bewohnern den Tod gebracht. Pest, Pocken und andere Seuchen hatten die Leute im Lauf der Zeit dahingerafft. Es hieß, das alte Gemäuer sei verflucht.
Als die Sonne unterging, fand sie endlich etwas Interessantes. In einem kurzen Artikel auf der Klatschseite des örtlichen Tagesblattes berichtete ein Mann von einem seltsamen gelben Licht in der Ruine des Klosters. Im letzten Satz stand, dass der Zeuge an schwerer Verwirrtheit leide, aber es hätte zuvor schon Berichte über das Licht gegeben. Von Kindern.
Das Zuknallen von Autotüren kündigte die Rückkehr ihrer Eltern an. Um nicht wieder mit ihnen streiten zu müssen, suchte Nelly in Windeseile die Toilette auf und begab sich danach mit einer Flasche Wasser und einer Packung Kekse sofort zurück auf den Dachboden.
Sie machte es sich im Ohrensessel bequem, platzierte den Laptop auf ihrem Schoß und durchforstete das Internet weiter nach Informationen. Die bisher entdeckten Texte ließen kaum weiterführende Schlüsse zu. Zudem blieb die Frage offen, wieso der Gargoyle nicht schon früher aufgetaucht war. Sie wohnte ihr ganzes Leben lang hier, hatte ihn aber nie zuvor gesehen.
Warum tauchte er ausgerechnet jetzt auf?
Sie überflog ihr liebstes eBook-Portal zu dem Thema und fand ein vielversprechend klingendes Buch: Die Gargoyles von Darkwood Castle. Eine Neuerscheinung, die es im Moment noch als Gratis-Download gab. Nelly lud es sogleich auf den Laptop und begann ohne Umschweife mit dem Lesen. Entgegen ihrer Erwartung wurde sie nicht von ihren Eltern gestört; jenseits der dicken Holztür blieb alles ruhig.
Leider handelte die Geschichte mehr von einem herrschsüchtigen Hexenmeister, der seinen schuppigen Begleiter zu einer Waffe formte, als von dem Gargoyle selbst. Es gab nichts Neues über die Wesen zu erfahren. Eine Enttäuschung auf der ganzen Linie. Nelly las dennoch weiter. Hauptsächlich, um das Warten bis zum Mondaufgang zu überbrücken. Sie ließ sich hinabziehen in epische Kämpfe um Land und Herrschaft in einer fremden Welt. Seite um Seite verschlang sie das Buch und merkte gar nicht, wie die Zeit verging.
Das Kratzen von spitzen Krallen auf Glas riss sie aus dem Lesefluss.
Silbern schimmerndes Mondlicht schien durchs Fenster. Der schwarze Gargoyle saß davor. Nelly legte den Laptop beiseite und ging zu ihm hin. Ihr Herz schlug nicht ganz so wild wie bei ihrer ersten Begegnung. Schließlich schien er recht freundlich zu sein.
Sie drückte das Schiebefenster hoch und sah ihn erwartungsvoll an. Sein Blick schweifte hin und her. Von ihrem Gesicht zur Ruine am Hügel und wieder zurück. Genau wie am Vortag. Er deutete ihr mit einem Nicken, ihm zu folgen und segelte ins hohe Gras unter der Linde. Nelly verharrte unentschlossen auf der Stelle. Ihre Neugier siegte letzten Endes. Wann bekam man schon die Möglichkeit, einen Ausflug mit einem echten Gargoyle zu machen? Angespannt lauschte sie ins Treppenhaus. Alles ruhig. Mit klopfendem Herzen streckte sie ihren Kopf aus dem Fenster und sah nach unten.
»Und wie soll ich da runterkommen?«, flüsterte sie. Mehr zu sich selbst als zu ihrem Besucher. Dieser schien sie jedoch zu verstehen, denn er ging schnurstracks auf die Regenrinne zu und tippte mit seinen Krallen an das Blech. Nelly riss die Augen auf.
Das schuppige Vieh grinste – zumindest interpretierte sie es als solches – und setzte sich unweit der Hausmauer ins Gras. Prüfend betrachtete Nelly die Regenrinne, die sich vom Fenster aus in Reichweite befand. Beim Blick nach unten rebellierte ihr Magen. Der Gargoyle nickte ihr aufmunternd zu. Aus seiner Kehle ertönte ein Laut, der entfernt wie das Gurren einer Taube klang. Sie fasste sich ein Herz und kletterte hinaus auf den Fenstersims. Ein leichter Wind zerrte an ihr und Übelkeit stieg ihr hoch. Der Boden tief unter ihr schien zu verschwimmen. Sie krallte sich an den Fensterrahmen, schloss die Augen und atmete tief durch.
Der Abstieg über die Rinne war viel leichter als gedacht. Es bereitete ihr nicht mehr Mühe, als von einem Baum hinunter zu klettern. Unten angekommen, erhob sich der Gargoyle in die Luft und flog Richtung Ruine.
Es war unmöglich, ihm zu Fuß zu folgen, deshalb schnappte sich Nelly ihr Fahrrad, das neben der Wassertonne lehnte. Sie trat fest in die Pedale und holte ihn schon bald ein. Statt eine gerade Linie zu fliegen, lotste er sie einen schmalen Kiesweg entlang, der sich zwischen Wiesen und Pinienansammlungen durchschlängelte. Sie passierten den Waldrand. Zwischen den Bäumen war es stockdunkel und irgendwie unheimlich. Kein Mondlicht durchdrang das Geflecht aus dichten Baumkronen über dem schmalen Weg. Nelly konnte den pechschwarzen Gargoyle kaum ausmachen und orientierte sich am Hall seiner Flügelschläge. Mit dem Fahrrad konnte sie den gruseligen Bereich allerdings schnell durchqueren. Hinter dem breiten Band aus hohen Nadelbäumen tat sich eine weite, kreisrunde Fläche auf. Kahl und tot. Blanker Stein lugte hier und dort aus der staubtrockenen Erde. In der Mitte ragte ein Hügel auf, zu dem eine gewundene Straße mit steil abfallenden Rändern führte. Auf dessen Spitze thronte ein verfallenes Kloster. Es strahlte Kälte und Boshaftigkeit aus. Als lauerte etwas darin, das sie beobachtete. Der einzige Baum am Fuß des Hügels sah tot aus. Abgestorben.
Der Weg wand sich leicht ansteigend und endete dicht vor dem Gemäuer an einer kurzen steinernen Treppe. An deren Fuß landete der Gargoyle und ging auf allen Vieren weiter. Nelly hielt keuchend an. Sie legte das Rad neben der untersten Stufe auf die Erde, beugte sich vor und stützte ihre Hände an den Knien ab.
»Ich krieg …«, presste sie mühsam hervor, »… keine Luft.«
Während Nelly um Atem rang, setzte sich ihr schuppiger Begleiter auf einen bemoosten Baumstumpf und beäugte sie neugierig.
Sie richtete sich nach einer Weile auf und musterte das vom Brand geschwärzte Bauwerk. Tiefe Risse durchzogen die uralten Steine. Trockener Efeu wucherte vom Boden bis knapp unter die Fenster. Das Dach fehlte und von der Existenz des Dachstuhls zeugten nur noch verkohlte Reste von Balken, die wie schwarze Rippen in den Himmel ragten. Seltsam. Man sollte denken, Wind und Wetter hätten die Überreste längst verfaulen lassen.
Der rechteckige Bau verfügte über zwei Etagen. Am linken Ende schraubte sich ein gewundener Turm in die Höhe. Ganz oben brannte Licht. Der gelbe Schein sah unnatürlich aus. Er waberte wie eine Wolke aus dem schmalen Fenster und änderte ständig seine unregelmäßige Form, statt konstant zu bleiben. Als besäße er ein Eigenleben.
Der Gargoyle gab ein maunzendes Geräusch von sich und deutete ihr mit dem Kopf, hinein zu gehen. Er sprang leichtfüßig die wenigen Stufen hoch und machte vor dem Eingang des Gemäuers halt. Nelly folgte ihm langsam und sah sich aufmerksam um. Der gigantische Torbogen wies unzählige tiefe Kerben und abgeplatzte Steine auf. Stumme Zeugen eines lang zurückliegenden Kampfes. Verunsicherung machte sich in ihr breit und sie unterdrückte den Instinkt, vom Gebäude wegzulaufen. Der modrige Geruch eines selten gelüfteten Kellers sickerte aus dem düsteren Inneren der Ruine. Im schwachen Mondlicht, das durch die leeren Fensteröffnungen drang, entdeckte sie nichts als verbrannte Wände, rissigen Untergrund und herabgefallene Steine und Balkenreste. Am hinteren Ende befanden sich die kläglichen Überreste einer Treppe. Der größte Teil davon war eingestürzt und lag als loser Haufen schwarzer Steinbrocken am Boden.
»Ich gehe da auf keinen Fall rein«, flüsterte Nelly und warf ihrem Begleiter einen mahnenden Blick zu. Er machte einen Schritt zurück und grunzte. Ehe sie bemerkte, was er da tat, platzierte er sich hinter ihrem Rücken und schubste sie hinein.
Ein Schrei bahnte sich seinen Weg, doch was sie im Inneren des verfallenen Gemäuers erblickte, raubte ihr den Atem. Nur ein leiser Hauch entwich ihrer Kehle. Der gelbe Schein, der sich auch oben aus dem Turm wölbte, stieg zu ihren Füßen hoch und breitete sich ringförmig nach vorne aus. Er glitt wie eine Welle über den Grund und verhalf allem, was er berührte, zu neuem Glanz. Nelly wagte nicht, sich zu rühren und starrte nur staunend um sich. Die rissigen schwarzen Steinplatten am Boden verwandelten sich in eine ebene Fläche hellgrauen, glänzenden Marmors, wie frisch poliert. In der Mitte erschien ein langer Läufer aus dickem, bordeauxfarbenem Samt. Der schmale Teppich führte zu der halb eingestürzten Treppe. Als der Ring aus Licht sie erreichte, schwebten die Bruchstücke entgegen der Schwerkraft zurück an ihren ursprünglichen Platz und fügten sich wieder zu einem Ganzen zusammen. Binnen weniger Augenblicke erstrahlten die weißen Stufen wie neu. Die gelbe Welle brandete die Wände hoch und brachte prunkvolle Malereien auf grauem Granit hervor. Unzählige Wandfackeln erschienen in ihren Halterungen, als wäre es nie anders gewesen. Das Licht schwappte weiter nach oben und offenbarte eine Kuppel, welche an die filigranen Gewölbe von gotischen Kirchen erinnerte. Am höchsten Punkt zog sich der Ring zusammen und verschlang sich selbst. Der unverkennbare Duft von frisch gepflücktem Lavendel und Salbei erfüllte plötzlich den Raum.
»Wie um alles in der Welt …?«
Der Gargoyle ließ sein bellendes Lachen hören und huschte zur Treppe. Das Klacken von Krallen auf Marmor hallte von den hohen Wänden, bis er den Teppich erreichte. Der dicke Stoff schluckte sämtliche Geräusche.
»Du hast mich geschubst«, stellte sie fest und guckte ihn tadelnd an. Er zuckte die Schultern und trippelte die Stufen hoch. Nelly lief hinterher. Er bog an einem Absatz der Treppe ab, der im rechten Winkel in einen langgezogenen Gang führte. An dessen Ende tat sich ein kreisrunder Platz auf. Nelly lugte zaghaft hinein.
In der Mitte lag ein alter Mann mit langem, weißem Haar und wettergegerbtem Gesicht auf den blanken Fliesen. Der buschige Bart reichte dem faltigen Greis bis an den Bauchnabel. Er trug eine bodenlange graue Robe aus rauen Fasern, die ziemlich kratzig aussah und an Kutten von Mönchen erinnerte. Die Handgelenke des Alten lagen in dicken Eisenschellen, die ihn mit Ketten am Boden fixierten. Der Gargoyle stieß ein markerschütterndes Wimmern aus.
»Dragana?« Die krächzende Stimme des Alten klang erschöpft. »Hast du jemanden gefunden, der den Schlüssel sehen kann?«
»Dragana«, hauchte Nelly. Offensichtlich also ein Weibchen.
Das Schuppenvieh tapste langsam zu dem Alten und setzte sich neben seine Mitte. Es folgte eine ganze Reihe kehliger Laute. Der Greis drehte den Kopf ein wenig zur Seite und sog bei Nellys Anblick erschrocken die Luft ein.
»Bist du verrückt geworden?«
Die Antwort war ein Grunzen und ein paar Geräusche, die an einen kotzenden Hund erinnerten.
»Was soll ich mit einem Mädchen? Ich brauche einen erfahrenen Magier.«
Die schwarze Gargoyle rollte mit den hellgrünen Augen und würgte eine Abfolge an Maunzen und Prusten hervor.
»Ja, ja. Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden.«
Dragana klopfte mit den Krallen auf die grauen Fliesen, schlug unwirsch mit den Flügeln und legte den Kopf schief.
»Und wie willst du das machen?«
Nelly spürte Wut in sich hochsteigen. Wie immer, wenn andere in ihrer Anwesenheit über sie redeten als wäre sie gar nicht da. Wie ihre Eltern. Die Gargoyle antwortete dem am Boden liegenden Greis mit einer Mischung aus Kotzgeräuschen und Schmatzen.
Nelly ballte die Fäuste und ging zu den beiden hin. Der alte Mann mit dem langen weißen Bart drehte den Kopf ächzend zu ihr. Neben seiner Schulter lag eine zerknüllte Augenbinde.
Sie guckte den Mann mit dem ausgezehrten blassen Gesicht und Dragana abwechselnd an und zog fragend die Brauen hoch. »Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?«
Dragana hockte sich auf die Hinterbeine, gestikulierte wild mit den Vorderläufen und plapperte mittels kehliger Laute drauf los. Sie spuckte und sabberte bei ihrem Versuch, die Lage zu schildern. Nelly hob abwehrend ihre Hände, um den Redefluss der Gargoyle zu stoppen.
»Halt. Ich verstehe kein Wort.« Sie beugte sich über den weißhaarigen Mann. »Warum sprechen Sie nicht mit mir, das wäre wesentlich einfacher.«
Dragana hielt sich mit den Vordertatzen die Ohren zu und schüttelte den Kopf.
»Er kann mich nicht hören«, mutmaßte Nelly. »Aber dich. Du kannst meine Fragen für mich stellen.«
Die Gargoyle nickte.
»Also gut. Warum liegt der Mann angekettet am Boden und wie kann ich ihm helfen?«
Dragana übersetzte mit ihrem ganzen Repertoire an Lauten und der Alte antwortete: »Ich wurde überfallen … die Chroniken des Ordens wurden gestohlen. Diese unschätzbar wertvollen Aufzeichnungen dürfen nicht in die falschen Hände geraten.« Er musste husten. »Jemand hat mir die Augen verbunden und mich in Ketten gelegt.«
»Warum sieht das Kloster von außen wie eine Ruine aus?«
»Weil zu meinem Schutz ein Zauber auf dem Gemäuer liegt. Er soll Eindringlinge abwehren. Das gelingt meistens, aber es gibt Wesen, die Magie durchschauen können.«
»Wo ist der Schlüssel zu den Eisenfesseln?«
Dragana übersetzte nicht, sondern stand auf und zockelte Richtung Treppe. Nelly ging hinterher. Ratlos, aber sehr neugierig.
Im Erdgeschoss gab es noch eine andere Treppe. Die hellgrauen Stufen aus Stein führten spindelförmig nach unten, tief in die Erde hinein. Sie spürte beim Abstieg Nervosität in sich aufsteigen. Vermischt mit dem mulmigen Gefühl, geradewegs in eine Falle zu tappen. Das Bedürfnis, sofort umzukehren, nahm mit jedem weiteren Schritt zu. Was wusste sie schon groß über den Alten, der oben in Eisenketten lag? Über die Gargoyle an ihrer Seite? Über das verwitterte Kloster, auf dem ein Zauber lag?
Als sie dachte, es keine einzige Minute länger auszuhalten, erreichten die beiden den Fuß der Treppe in einem kleinen, runden Raum. In der Mitte stand eine hüfthohe rechteckige Kiste aus Metall. In der matt silbernen Truhe lagen Schlüssel in sämtlichen Größen, Formen und Materialien. Von modernen Hausschlüsseln, über kunstvoll geschnitzte Exemplare aus Holz bis hin zu einfachen Bartschlüsseln. Es mussten tausende sein. Ach was, zehntausende! Sie sog vor Entsetzen scharf die Luft ein.
»Wie soll ich denn da jemals den richtigen finden?«, murmelte sie verdattert. Selbst wenn sie alle mit nach oben nehmen könnte, was alleine schon wegen des enormen Gewichts unmöglich war, müsste sie jeden einzelnen ausprobieren. Das würde Wochen dauern. Sie setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe und legte den Kopf in ihre Hände.
»Was soll ich nur tun?«
Die Gargoyle schlenderte zur Truhe und richtete sich auf. Sie bedeckte mit einer Tatze ihre Augen und fuhr mit der anderen suchend durch die Schlüssel. Dann nickte sie Nelly auffordernd zu.
»Und jetzt?«
Dragana ging zu ihr, schnappte mit den Zähnen vorsichtig den Ärmel ihres Shirts und zog daran. Nelly ließ sich widerstandslos zur Truhe zerren.
»Was willst du?«
Die Gargoyle hielt sich erneut die Augen mit einer Tatze zu und tappte mit der anderen über die Schlüssel. Danach stupste sie Nelly mit der Nase an. Als wollte sie sagen: Jetzt du.
Nelly kam sich blöd vor, doch tat wie geheißen. Sie bedeckte ihre Augen und steckte die freie Hand in die Truhe. Statt nur die verschiedenen Materialien der Schlüssel unter ihren Fingerspitzen zu spüren, sah sie bei jedem einzelnen das dazugehörige Schloss vor ihrem inneren Auge. Sie wich rasch zurück und guckte ihre schuppige Begleiterin fassungslos an. Diese nickte freudig, was mit seitlich heraushängender Zunge ziemlich albern aussah.
»Das ist … irre.«
Nelly versuchte es gleich nochmal. Sie fasste anscheinend mehrere Schlüssel gleichzeitig an, denn sie sah verschiedene Schlösser, aber keines davon zur Gänze. Sie nahm bewusst einen der Schlüssel in die Hand und hob ihn hoch. Jetzt war es besser. Nelly probierte einen nach dem anderen aus. Sie sah Schlösser von silbernen Kisten, filigranen Bronzeschatullen, hölzernen Türen und eisenbeschlagenen Toren. Ihre tastenden Finger wanderten dabei unbewusst nach rechts. Im zweiten Drittel der oberen Schicht angelangt, verspürte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln wie von Elektrizität an den Fingerspitzen. Sie tauchte ihre Hand einem Bauchgefühl nachgebend tief in die Masse an Schlüsseln. Das Gefühl verstärkte sich. Sie bohrte ihre Finger noch weiter hinein, obwohl ihr die teils scharfkantigen Metallschlüssel die Haut aufritzten. Mit einem Mal sah sie ein Detail. Die Rundung der Eisenschellen, mit denen der alte Mann im Obergeschoss gefesselt war. Sie umklammerte den dazu passenden Schlüssel und zog ihn mit zusammengebissenen Zähnen heraus. Rote Schrammen verunzierten ihre Hand, doch sie spürte die Schmerzen nicht und stieß einen Freudenschrei aus. Dragana ließ ein schmatzendes Glucksen hören.
»Ich hab ihn«, trällerte Nelly überschwänglich und lief sofort die Treppe hoch. Sie flog die letzten Stufen zum Obergeschoss von Euphorie durchflutet förmlich hinauf. Die beiden rannten durch den schmalen Flur. Dragana blieb ihr dabei dicht auf den Fersen. Nelly rief noch einmal: »Ich hab ihn!«
Erst als sie die reglose stille Gestalt des weißhaarigen Mannes in der seltsamen Robe sah, fiel ihr wieder ein, dass er taub war. Die Gargoyle gab eine Reihe merkwürdiger Laute von sich. Der an den Boden gekettete Greis regte sich. »Wie?«
Dragana erläuterte, ihrem langen Monolog nach zu schließen, die genaue Vorgehensweise recht detailreich. Nelly erlöste in der Zwischenzeit den Alten von seinen Fesseln.
Er richtete sich stöhnend in eine sitzende Position auf.
»Vielen, vielen Dank.«
Seine Stimme klang trotz der freundlichen Worte irgendwie verbittert. In seinen trüben Augen konnte sie eine uralte Traurigkeit ablesen. Sie half ihm hoch und dachte, dass er bestimmt wegen der gestohlenen Chroniken so niedergeschlagen war. Warum sonst sollte er dermaßen unglücklich sein, statt sich über die wiedergewonnene Freiheit zu freuen?
Der hagere Greis, dessen eckige steife Bewegungen von der Zeit der Reglosigkeit in Fesseln zeugte, führte Nelly unter gelegentlichem Stöhnen hinunter zum Torbogen und sagte dort feierlich: »Hab Dank für deine Hilfe, das werde ich dir nie vergessen.«
Er wollte sie offenbar nach Hause schicken.
Dragana war anderer Ansicht. Die schwarze Gargoyle baute sich vor den beiden auf und versperrte den Durchgang. Sie faltete ihre Flügel zu voller Größe auseinander und verschränkte die Vorderläufe mit einem dumpfen Knurren vor ihrer Brust. Die nachfolgende Schimpftirade, die aus Grunzen, Grollen und Knacklauten bestand, galt dem weißhaarigen Mann. Sie fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Ihre Ohren lagen eng am Kopf an. Er ließ sie wettern. Als sie fertig war, wedelte er beruhigend mit den Händen.
»Schon gut, du hast ja Recht.« Seine tiefe Stimme klang jetzt angenehm und freundlich. Er wendete sich Nelly zu. »Wenn du das Tor durchschreitest, wirst du alles vergessen. Dieses Gemäuer«, er vollführte eine ausladende Handbewegung, »Dragana … und natürlich unsere Begegnung.«
Nelly wich einen Schritt zurück in die Eingangshalle. Sie wollte die seltsamen und wunderbaren Dinge, die sie eben erst entdeckt hatte, nicht vergessen. Sie wollte mehr erfahren und am liebsten nie wieder nach Hause gehen.
Dragana gab ihre Haltung auf, durchschritt die kurze Distanz zu dem alten Mann und öffnete ihr Maul. Sie deutete an, ihn in die Wade zu beißen. Ehe ihre kräftigen Kiefer sich um sein Bein schließen konnten, fuhr er fort: »Wenn du hierbleibst, kann ich dir den Umgang mit der Magie beibringen. Dass du Zugang zu ihr hast, steht außer Frage. Ein normaler Mensch hätte den richtigen Schlüssel in tausend Jahren nicht gefunden.« Er stockte und fixierte den Sabber am Saum seiner bodenlangen grauen Robe. Dragana ließ ein gedämpftes Grummeln hören und stupste ihn sachte mit der Schwanzspitze an.
»Aber falls du dich für diesen Weg entscheidest, kannst du nie mehr zurück.«
Nelly spürte, wie Adrenalin durch ihre Adern rauschte. Und zum wiederholten Mal in dieser Nacht fragte sie sich, ob sie träumte.
Doch die Berührung von Draganas Flügeln, als sie sich umdrehte und zu ihren Füßen legte, fühlte sich real an. Realer als der Umzug, als die Schule, als der Umgang mit ihrer Familie. Sie fühlte sich hier, in diesem merkwürdigen Gemäuer, mehr zuhause als irgendwo sonst. Es erfüllte sie mit Euphorie und spülte die Frage, wofür sie sich entscheiden sollte, fort.
»Ich bleibe hier.«
Dragana übersetzte für den alten Mann. Er sah Nelly forschend an und nickte schließlich. Die Gargoyle gab ein freudiges Glucksen von sich. Sie setzte sich auf den Boden und drückte ihre schuppige Schnauze gegen Nellys Hand.
Nelly fühlte sich ein wenig hibbelig. Vorfreude, vermischt mit Aufregung, fegte durch ihr Inneres. Was sie jetzt wohl erwartete?
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgte sie dem alten Mann und dem Gargoyle. Die drei begaben sich wieder nach oben. Sie durchschritten den kargen kreisrunden Raum, in dem der Alte angekettet auf dem blanken Steinboden gelegen hatte. Dahinter gab es einen weiteren schmalen Gang mit hellgrauen Wänden aus Stein. Wandfackeln erhellten die Räumlichkeiten.
Eine dunkle eiserne Tür versperrte den Durchgang an dessen Ende. Über und über bedeckt mit schwarzen Rosen und fleischigen Ranken aus Schmiedeeisen, die aus dem Rahmen zu wachsen schienen. Der weißhaarige Mann sprach zu der Tür:
»Fynndorban Albescu.«
Das Klicken einer Verriegelung ertönte, die sich im Schließmechanismus des dicken Türblattes aus Metall öffnete. Die Rosenköpfe setzten sich knirschend und quietschend in Bewegung, glitten samt Ranken zur Seite und gaben die Tür frei, die lautlos aufschwang.
»Ist das ein Zauberspruch?«, fragte Nelly.
Dragana antwortete mit einem verhaltenen Lachen und klatschte sich mit einer Tatze an den Kopf. Sie stupste den alten Mann mit der Flügelspitze an und übersetzte Nellys Frage. Lächelnd drehte er sich zu ihr um.
»Nein. Das ist mein Name.«
Oh. Nelly kam sich unglaublich blöd vor, aber woher sollte sie das wissen?
»Komm«, bat er freundlich und ging vor. »Wir sollten zuallererst dafür sorgen, dass wir ordentlich miteinander kommunizieren können.«
Dragana nickte zustimmend und dackelte ihm nach. Nelly ging neugierig hinterher.
Das Innere des Raumes hinter der dicken Metalltür unterschied sich völlig vom Rest des Klosters. Der gemütlich wirkende Bereich glich einer Mischung aus Bibliothek und Hexenküche. Anstelle von hellgrauem Stein oder Fliesen bedeckte hier dunkles Holz den Untergrund. Die breiten Dielen knarzten bei jedem Schritt. An den Wänden reihten sich Regale aneinander, vollgestopft mit alt aussehenden Büchern. Links neben der Eingangstür befand sich eine alte Standuhr. Das Pendel schwang gleichmäßig hin und her, fast im Gleichklang mit Nellys Schritten. Ihr Blick blieb an zwei überkreuzten Degen rechts an der Wand haften. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, dass sie beinahe gegen den großen ovalen Schreibtisch lief, der in der Mitte des Raumes thronte. Lose Zettel stapelten sich unter einem gusseisernen quadratischen Briefbeschwerer. Daneben lagen aufgeschlagene Bücher, bauchige Töpfe und Kräuterbündel. Das Zimmer strahlte Gemütlichkeit aus und wirkte dennoch wie ein Arbeitsraum. Eine breite gepolsterte Sitzbank aus dunkelbraunem Leder stand auf einer Seite des Tisches, ein einzelner Sessel auf der anderen. Nelly umrundete den Tisch und bemerkte feine Muster auf dessen glatt aussehender Oberfläche. Ihr Blick glitt nach oben. Von der Decke hing ein ausladender Kristallleuchter. Nein, Moment. Er hing nicht dort, er schwebte! Zumindest konnte Nelly keine Aufhängung entdecken. Tausende kleine Glasperlen und längliche Zierelemente baumelten an einem goldenen Gestänge und reflektierten das von innen strahlende Licht.
Fynndorban ging auf das einzige Bild in dem Zimmer zu. Es zeigte zwei junge Leute, die heftig stritten. Sie schienen in Nellys Alter zu sein. Ein blondes Mädchen mit runden Wangen und zornrotem Gesicht trat einem schlanken, jungen Mann mit schwarzem Pferdeschwanz fest gegen das Schienbein. Dabei hielt sie ihm den mahnend ausgestreckten Zeigefinger dicht vor die Nase. Er strafte sie mit einem funkelnden Blick, mit wütend gerunzelter Stirn, den Mund zu einem Schrei geöffnet. Seine geballten Fäuste ließen vermuten, dass er sie am liebsten schlagen würde. Er trug eine Kombination aus weißem Buttondown-Hemd und schwarzer Wildlederhose, die altertümlich wirkte. Das braune Seidenband, das sein langes schwarzes Haar zusammenhielt, unterstrich diesen Eindruck. Das Mädchen steckte in einem bodenlangen blauen Kleid, das durch den neutralen Schnitt modetechnisch keiner konkreten Zeit zugeordnet werden konnte.
»Ich wecke Lucian und Morsa«, verkündete der alte Mann. Dragana schnappte erschrocken nach Luft und rannte wie von der Tarantel gestochen zu dem Bild. Bevor sie es erreichen und sich zwischen das Gemälde und den Mann werfen konnte, berührte er die Leinwand mit den Fingern. Danach trat er ein paar Schritte zur Seite. Dragana legte knurrend die Ohren an. Einen Wimpernschlag später brach die Hölle los, denn die beiden Streitenden fielen buchstäblich aus dem Rahmen.
Das blonde Mädchen landete mit einem gepressten »Uff« rücklings auf dem Holzboden, der junge Mann fiel direkt auf sie drauf.
»Runter von mir!«, schrie sie und drosch wie von Sinnen mit den Fäusten auf ihn ein. »Und wenn du dich noch einmal in meine Angelegenheiten einmischt, reiß ich dir die Haare aus – und zwar einzeln!«
Er sprang auf und antwortete mit einem Schwall fremd klingender Worte, die er wie spitze Pfeile auf das Mädchen abschoss. Nelly wusste nicht, welcher Sprache die hart betonten Silben angehörten. So ein Kauderwelsch hatte sie noch nie gehört. Er ballte wieder die Fäuste und fuhr fort, das Mädchen anzubrüllen. Es rappelte sich umständlich auf und drohte mit trotzig vorgerecktem Kinn:
»Das wird dir noch leidtun!«
Er konterte genauso ruppig wie zuvor in seiner seltsamen Sprache und funkelte die Blonde aus zusammengekniffenen Augen an.
»Was für eine Unverschämtheit!«, fauchte sie und stemmte die feisten Hände in die gut gepolsterten Hüften. »Du bist so ein Dummkopf!«
Fynndorban sah die Streithähne nachsichtig lächelnd an und klatschte in die Hände. Es klang wie der brandende Applaus hunderter Menschen in einem großen Saal. Nelly guckte ihn fassungslos an. Der junge Mann und das Mädchen hielten inne und sahen sich nach ihm um.
»Ich erkläre die Theaterproben für beendet. Ihr könnt euch ein anderes Mal an dem Stück üben.«
Die Blonde zeigte auf den jungen Mann und zischte: »Er hat angef...«
Er stieß ihr den Ellbogen in die Rippen, schenkte Nelly ein kleines Lächeln und deutete eine Verbeugung an. Ihr Blick verweilte einen Moment zu lange in seinen Augen. Sie waren eisgrau, wie die eines Huskys.
»Cina aste? Hanele tala arată ciudat«, sagte er an Fynndorban gerichtet. Dieser setzte eine ernste Miene auf und ging wortlos zu einem der Bücherregale. Zwischen zwei dicken Wälzern zog er ein grünes Kästchen hervor. Es war klein und schlicht gehalten, und schien nicht sonderlich viel zu wiegen. Fynndorban legte es auf dem wuchtigen Schreibtisch ab, öffnete den unscheinbaren Deckel und winkte alle zu sich.
In dem flachen Holzkästchen lag eine silberne Nadel auf schwarzem Samt gebettet. Statt einem Köpfchen besaß sie einen kleinen Griff, so groß wie ein Daumennagel. Der Alte nahm sie heraus und erklärte Nelly:
»All jene, die von dieser speziellen Nadel gestochen werden, können sich fortan problemlos verständigen.«
Sie streckte ihm die linke Hand hin und bot ihren Zeigefinger an. Er schüttelte den Kopf.
»Der Stich muss in die Zunge erfolgen.«
Nelly presste ihre Lippen zusammen und wich verdutzt zurück. Im Ernst?
Die Gargoyle trat ganz nahe an sie heran und streckte ihre Zunge heraus. Vorne an der Spitze befand sich eine winzige, kreisrunde Vertiefung, welche von der Nadel herrührte. Mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, und doch so bedeutend. Der Alte mit dem weißen Bart verzog die runzeligen Lippen und tat es ihr gleich. Er grinste dabei. Lucian und Morsa zeigten ebenfalls ihre Zungenspitzen. Deshalb konnten sie Draganas Grunzen und Würgen verstehen, das für jeden anderen nicht wie Worte klang.
»Damit ist alles viel einfacher.«
Seine Worte überzeugten Nelly nicht. Brummend verzog sie den Mund.
»Nach dem Stich wirst du sie verstehen und zusätzlich den Inhalt des Gesagten begreifen«, verlieh der Alte seinen Worten Nachdruck.
»Macht das denn einen Unterschied?«
Dragana übersetzte das Gesagte wie immer recht gestenreich und mit viel Gesabber. Fynndorban nickte.
»Das tut es. Lucian zum Beispiel stammt aus einem fernen Jahrhundert. Stell dir vor, er würde sagen: ›Behufs eines jungen Lords, wie prophezeit, brachte die Niederkunft der Frau zwei hervor‹.«
Nelly zuckte die Schultern. Sie erkannte den Sinn der Worte nicht.
»Das heißt in etwa: Die Frau brachte, entgegen der Vorhersage, zwei Söhne statt einem zur Welt.«
Nun verstand Nelly, wo da der Unterschied lag. Zudem kam ihr ein interessanter Gedanke.
»Funktioniert das auch bei fremden Sprachen? Er hat vorhin sehr merkwürdiges Zeug gebrabbelt.«
Dragana gab ihr Bestes und übersetzte.
»Lucians Sprache könnte altes Rumänisch sein. Wir wissen es nicht genau. Seit einem Kampf, bei dem er einen fast tödlichen Schlag auf den Kopf erlitten hat, fehlt ihm ein Großteil seiner Erinnerung. Die Ausgangssprache spielt zum Glück nach dem Stich keine Rolle mehr. Du wirst fortan die Aussage der Worte verstehen, nicht die Worte selbst.«
Das war wirklich praktisch. Und um ehrlich zu sein, blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen.
»Also gut.« Nelly schob unter den neugierigen Blicken aller ihre Zunge ein wenig aus dem Mund. Das Piksen dauerte nur einen Wimpernschlag und tat überhaupt nicht weh.
Die Wirkung war enorm. Sein besorgtes »Wie fühlst du dich?« hörte sich nicht länger nach einem Mann an, sondern nach zweien, die simultan in verschiedenen Tonlagen sprachen. Der selbstsichere Bass eines starken Anführers traf auf den zurückhaltenden Tenor eines sanften Weisen.
Lucian legte Fynndorban von hinten eine Hand auf die Schulter.
»Möchtest du jetzt endlich preisgeben, warum du uns geweckt hast?« Auch seine Stimme klang plötzlich anders. Tief und samten. Nicht so jungenhaft wie zuvor.
»Gleich, hab Geduld«, antwortete der Alte und strich seinen langen Bart zurecht.
Lucians flüchtiger Seitenblick, der etwas giftig wirkte, streifte Morsa. Anscheinend war er immer noch sauer auf sie.
Er hatte Fynndorban beim Sprechen nicht angesehen. Das machte Nelly stutzig. Wie sollte der taube Greis Lippenlesen, wenn er den Mund des Sprechers nicht sehen konnte?
»Er kann hören?«, flüsterte Nelly an Morsa gerichtet, die ihr am nächsten stand. »Ich dachte, er wäre taub. Zumindest hat Dragana das so dargestellt.«
Das Mädchen lachte. »Nein, er ist nicht taub.« Ihr Flüstern erklang leicht abschätzig. »Also, eigentlich schon, aber seit dem Stich mit der Nadel kann er wieder hören.«
»Hast du verstanden, was Lucian gesagt hat?«, ertönte ein vollkommen unbekanntes Kinderstimmchen von rechts. Glockenhell und schüchtern. Nelly sah überrascht nach, wer da sprach. Dragana. Diese legte den Kopf schief.
»Hast du nun oder nicht?«
Nelly musste gegen ihren Willen losprusten.
»Fynndorban klingt wie zwei verschiedene Männer und du wie ein Kleinkind!«
Damit war die Frage geklärt. Dragana legte beleidigt die Ohren an, setzte sich und verschränkte die Vorderläufe vor der Brust. Sie schielte demonstrativ an Nelly vorbei und fixierte Fynndorban mit ihrem Blick.
»Bist du dir sicher, dass wir sie brauchen?«
»Gewiss! Sie ist die Dritte im Bunde.« Fynndorban platzierte sich lachend zwischen den beiden aus dem Bild Gefallenen. Mit der linken Hand berührte er das Mädchen an der Schulter.
»Morsa kann hören. Das, was der Autor beim Schreiben in seinen Bart gemurmelt hat. Die nicht überlieferten Worte sind oft aufschlussreicher als der Text an sich.«
Er legte die Rechte auf den Oberarm des jungen Mannes.
»Lucian ist mit der Gabe des Sehens beschenkt. Die wertvollste von allen. Er kann Wörter lesen, die für das Auge schon lange nicht mehr existieren – über die Jahrhunderte zur Unkenntlichkeit verblasste Texte auf Pergament, von alten Holzbalken weggehobelte Mitteilungen, von den Elementen zerstörte Inschriften auf verwitterten Steinen. Sogar Buchstaben auf den verbrannten Überresten von Papier.«
Alle sahen nun gespannt zu Nelly, was sie etwas nervös werden ließ.
»Auch du verfügst über eine Fähigkeit: Das Fühlen. Du spürst die tiefen Empfindungen, die der Schriftsteller in den Text gelegt hat. Sie gehen nicht immer Hand in Hand mit den Worten.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben stellte sich so etwas wie Zugehörigkeit ein. Zwar fühlte sie geschriebene Ausdrücke schon seit ihrer Kindheit, doch sie konnte bis jetzt nichts Vernünftiges damit anfangen. Aus Angst, von ihren Mitmenschen ausgelacht zu werden, behielt sie ihre spezielle Gabe stets für sich. Es funktionierte auch nicht bei allen Texten. Bei manchen wenigen dafür umso besser.
Das blonde Mädchen musterte sie aufmerksam, holte aus einem der Regale ein Buch und drückte es ihr in die Hand.
»Beweis es«, forderte sie pampig und funkelte Nelly wütend an. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie sich ihr gegenüber so abweisend gab.
»Was soll ich beweisen?« Sie warf einen fragenden Blick in die Runde. »Und wie?«
»Lies!«, verlangte die Blonde barsch und verschränkte die Arme vor der drallen Brust.
Nelly hatte keine Ahnung, was von ihr erwartet wurde, aber sie tat wie geheißen und las ein paar Sätze aus dem Buch. Still, nur für sich.
Die Geschichte handelte von einem schlimmen Schneesturm im hohen Norden und einem Kind, das dem eiskalten Treiben hilflos ausgesetzt war. Ohne Dach über dem Kopf, ohne warme Kleidung. Finger so blau wie Heidelbeeren … Bei diesem Satz spürte Nelly die klirrende Kälte förmlich, die in dem Buch beschrieben wurde. Der eisige Hauch des Winters kroch ihr in die Ärmel, bescherte ihr Gänsehaut am ganzen Körper und ließ ihre Finger zittern. Ihre Zähne begannen zu klappern. Die Gabe zeigte sich intensiver als je zuvor.
»Da!«, rief Lucian und fixierte ihren Mund. Weiße Atemwolken verließen ihre Lippen, verschmolzen mit der warmen Luft im Raum und verschwanden. Nelly zog überrascht die Brauen hoch. Das war ihr noch nie passiert.
»Sie kann es wirklich«, hauchte Morsa, deren Stimme genau so klang wie vorher. Sie wirkte enttäuscht. Nelly konnte sich nicht erklären, wieso.
»Natürlich kann sie das«, antwortete Fynndorban amüsiert und zwinkerte Nelly zu.
Sie klappte schnell das Buch zu, gab es Morsa und schüttelte sich. »Brrr, so schlimm war es noch nie.«
Nelly schlang die Arme um ihren zitternden Körper. Der alte Mann gab ihr ein kleines dünnes Buch. Kaum größer als ein Handy.
»Lies ein bisschen darin. Das wird dir guttun.«
Sie verschlang den ersten Absatz regelrecht. Er handelte von einer lauen Sommernacht, einem gemütlichen Abend in feierlicher Runde und gutem Essen. Sie fühlte sich sogleich erwärmt, gut gelaunt und satt. Zufriedenheit war unschätzbar wertvoll, wie sie wusste, aber dass sie dieses Gefühl durch Lesen erreichen konnte, war ihr neu.
»Besser?«
»Ja, viel besser. Ich fühle mich super.«
»Dann behalte es«, antwortete er und deutete auf das unscheinbare Büchlein. »Für schlechte Zeiten.«
»Dankeschön.«
Nelly steckte das Geschenk rasch in ihre hintere Hosentasche.
Fynndorban setzte sich in den gepolsterten Sessel links vom Schreibtisch und bedeutete den anderen, ebenfalls Platz zu nehmen. Die drei machten es sich auf der braunen Bank gemütlich, über deren Lehne eine bunte Decke hing. Nelly saß in der Mitte, wobei sie sowohl den jungen Mann als auch das Mädchen berührte.
»Bücher enthalten viel mehr als nur eine Ansammlung von Buchstaben …«, begann er. Morsa stand wieder auf und huschte mit einem geflüsterten »Die alte Leier« hinaus. Lucian rückte ein Stück ab. Er fixierte einen Wandschrank neben dem Bild, aus dem er gefallen war. Die Tür stand offen. Der Schrank war leer.
»Worte enthalten so viel mehr«, fuhr der alte Mann fort, »als beim bloßen Betrachten ersichtlich ist. Sie transportieren Gefühle.« Er sah Nelly dabei an. »Sie hinterlassen einen Nachhall, selbst wenn sie längst verwaschen oder verwittert sind.« Sein Blick fixierte Lucian für einen Moment. »Und sie sind in der Lage, mündliche Aussagen aufzunehmen.« Nun schaute er in die Richtung, in die Morsa verschwunden war.
»Dieser Reichtum an Informationen bleibt normalen Menschen verwehrt, doch ihr könnt euch daraus bedienen.«
»Und was machen wir damit?«
Lucian antwortete: »Die gestohlenen Chroniken zurückholen.« Er erhob sich, bedachte den offenstehenden Wandschrank neben dem Bild mit einem grimmigen Blick, und schritt mit der Eleganz vergangener Jahrhunderte aus der Bibliothek. Nelly sah ihm nach. Fynndorban blickte dem jungen Mann ebenfalls hinterher.
»Wer könnte es gewesen sein?«, fragte Nelly und versuchte zu analysieren, warum sie plötzlich so ein komisches Gefühl verspürte. Eines von der Sorte: Mit Lucian stimmt etwas nicht, aber ich komme nicht dahinter, was es ist.
»Wir gehen davon aus, dass es jemand war, der hier Zutritt hatte. Es gibt keine Einbruchsspuren.« Nachdenklich kraulte er seinen langen weißen Bart. »Womöglich ein abtrünniger Wächter aus einem anderen Orden, ein wissensdurstiger Magier, der unseren Schutzzauber durchbrechen konnte, oder schlimmer – eines der schlafenden Ungeheuer, die hier auf dem Friedhof eingesperrt sind und weswegen wir überhaupt hier sein müssen.«
Die Geschichten fesselten Nelly so sehr, dass sie beim Zuhören unbewusst mit dem Oberkörper Richtung Fynndorban gerutscht war. Jetzt richtete sie sich erschrocken auf.
»Welche Ungeheuer?«
»Finstere Gestalten, die todbringende Gaben besitzen und nichts als Zerstörung im Sinn haben. Ausgestoßene, die auf Rache für ihre Verbannung aus sind. Ihretwegen gibt es die Orden überhaupt. Wir sorgen dafür, dass die Begrabenen unter der Erde bleiben und den Menschen kein Leid geschieht.«
Das neue Wissen überflutete Nelly regelrecht. Sie musste erst einmal alles sacken lassen. Wieder meldete sich das Gefühl, etwas Wichtiges bezüglich Lucian übersehen zu haben. Sie kam nicht darauf, was es sein könnte, deshalb schob sie den Gedanken vorerst beiseite.
»Was haben die Chroniken mit den bösen Menschen auf dem Friedhof zu tun?«
»Manche der Toten sind die Verfasser der Schriftstücke. Im Gegensatz zu euch besitzen sie keine förderlichen oder wenigstens neutrale Fähigkeiten. Sie sind alle zerstörerisch.«
Sie konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, was das bedeutete. Nur eines stand fest: Sie befanden sich allesamt in großer Gefahr.
Lucian kehrte zurück und übergab Fynndorban ein Buch. Es war klein, braun und ziemlich zerfleddert. Das in den Rücken eingearbeitete Bändchen hing in Fetzen und die Kanten waren stark abgestoßen.
»Das ist eine Abschrift von Darius. Er kommt in die engere Auswahl.«
Der alte Mann öffnete das Buch und überflog ein paar Seiten. Die tiefen Runzeln auf seiner Stirn verdoppelten sich dabei. Seine Mundwinkel zuckten, als hätte er etwas Unangenehmes entdeckt.
»Wird sie es aushalten?«, fragte Lucian und sah Nelly einen Moment unsicher an. Er wirkte mit einem Mal ein wenig blass um die Nase. In seinem Blick lag Fürsorglichkeit und Angst.
»Ich suche zuerst eine unverfängliche Stelle.«
Fynndorban blätterte durch die zerschundenen Seiten und verzog den Mund. Es dauerte eine Weile, dann hielt er inne und übergab das Buch aufgeschlagen an Nelly.
Lucian sah sie auffordernd an. »Konzentriere dich auf den Schreiber, nicht auf die Witterung vor Ort.«
Sie las die ersten Zeilen.
Die Kälte und das unaufhörliche Wimmern aus dunklen Ecken fressen sich wie eine ätzende Flüssigkeit in mein Gehirn. Der ewigen Dunkelheit wegen habe ich jegliches Gefühl für Tag und Nacht verloren. Die Wächter sind nicht bemüht, uns am Leben zu halten. Der Gestank von Fäulnis und Tod ist allgegenwärtig.
Die Aufzeichnung stammte bestimmt von einem Gefangenen, der im Kerker saß. Nelly spürte den Zorn des Mannes und den unausgesprochenen Wunsch nach Rache an dem Verantwortlichen für seine missliche Lage so intensiv, als wären es ihre Gefühle. Sie fletschte unbewusst die Zähne. Ein ungekannter Blutdurst ergriff Besitz von ihr und verdrängte ihre eigenen Empfindungen.
Sie atmete tief durch und legte das Buch weg, ehe die hauchfeinen Ausläufer grässlicher Gedanken sich manifestieren konnten.
»Und, was fühlst du?«, fragte Lucian.
Nelly schloss beschämt die Augen.
»Wut und Mordlust.«
Lucian hatte sich danach zurückgezogen und stand nun vor dem geöffneten Fenster in seinem Zimmer. Er überließ es Fynndorban, der befremdend gekleideten jungen Frau namens Nelly die Räumlichkeiten zu zeigen. Für eine Führung oder derlei Aufgaben fehlten ihm jetzt die Nerven. Er kämpfte gegen ein Übermaß an schlechter Laune an und musste sich von dem Streit mit Morsa erholen, der ihn fast an seine Grenzen gebracht hatte. Das Miststück provozierte gerne, bis man die Beherrschung verlor. Dass die beiden am Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung in das Gemälde verbannt worden waren, machte sich mit Nachdruck bemerkbar. Er hatte sich redlich bemüht, sich in Nellys Anwesenheit nichts anmerken zu lassen, aber jetzt brodelte es wieder in ihm. Und alles nur, weil Morsa einem Botenjungen unbedacht die Wünsch-Truhe in der Küche gezeigt hatte. Sie hatte zweifelsohne damit angeben wollen und keinen Gedanken daran verschwendet, wie gefährlich es war, den Argwohn, der ohnehin aufgebrachten Bürger von Greenlake Hill, zu schüren. Zum Glück hatte Fynndorban die beiden in ein Bild bannen können, bevor sie zur Zielscheibe der wütenden Einwohner geworden waren.
Lucian verweilte vor dem Fenster, betrachtete den vollen Mond und ging alle Begebenheiten der letzten Stunden noch einmal durch. Beginnend bei dem Moment, als er aus dem Bild gefallen und direkt auf Morsa gelandet war, welche die Gelegenheit natürlich sofort genutzt hatte, ihn mit ihren Fäusten zu bearbeiten. Über das Aufeinandertreffen mit Nelly, die in einer wohlklingenden Sprache Fragen gestellte hatte, ehe Fynndorban sie mit der magischen Nadel in die Zunge stach und er ihre Worte verstand. Bis zur Offenbarung ihrer Gabe, die recht ausgeprägt schien, doch bislang wohl kaum gefördert worden war. Sicherlich schlummerte mehr in ihr als das bloße Fühlen von Wörtern. Er dachte kurz an die Feindseligkeit, die Morsa der jungen Frau gegenüber an den Tag gelegt hatte. Die pure Eifersucht hatte er in ihrem Gesicht lesen können. Ganz bestimmt dachte auch Morsa, dass Nellys Kräfte größer waren, als ursprünglich angenommen.
Das Bild des leeren Wandschrankes blitzte in seinen Gedanken auf und lenkte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Weg von Nelly, hin zu der katastrophalen Tatsache, dass die Chroniken sich nicht mehr in Fynndorbans Obhut befanden. Wer zum Henker hatte den Schrank aufgebrochen und die Schriften gestohlen? Und vor allem: wozu?
Lucian nahm eine Packung Streichhölzer aus der Schublade seines Nachttisches und entzündete die kleine Petroleumlampe darauf. Der schwache Schein fiel auf ein einfach gefaltetes, weißes Blatt Papier neben der Lampe, das mit Sicherheit Fynndorban dort platziert hatte. Lucian legte es aufs Kopfkissen. Er zog die leichten, gelben Vorhänge zu und widmete sich dem Stapel Bücher, der neben seinem Bett stand und bis zur Matratze hochreichte. Der alte Wächter sorgte stets dafür, dass sich die ihm Anvertrauten in der neuen Zeit schnell zurechtfanden. Er hatte die Bücher hoffentlich nach Jahrzehnten sortiert. Das würde die Einarbeitung erleichtern. Lucian wollte trotzdem zuerst das letzte Buch ansehen, um zu erfahren, wo er gelandet war. Oder besser gesagt: wann. Es handelte sich um einen dicken Wälzer in braunem Einband. Er nahm die Lampe zu Hilfe und stellte sie neben dem Stapel ab. Tief gebückt besah er den untersten Buchrücken und las den Titel.
Die Entwicklung Großbritanniens von 1800 bis 2000.
2000!
Das Datum zog ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Lucian sah plötzlich schwarze Sternchen, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Allerwertesten. Er hatte über hundert Jahre in einem Gemälde verbracht! Eingesperrt mit Morsa, der wütendsten Person auf der Welt. Kein Wunder, dass er so schlecht gelaunt war.
Lucian zog das Buch vorsichtig heraus und stützte den dabei bedenklich wackelnden Stapel mit der freien Hand und einem Fuß ab. Er stellte die Lampe auf dem Nachttisch ab und setzte sich aufs Bett. Mit zittrigen Fingern nahm er den weißen Zettel und faltete ihn auseinander.
Werter Lucian,