In Freiheit leben, das war lange nur ein Traum - Lea Ackermann - E-Book

In Freiheit leben, das war lange nur ein Traum E-Book

Lea Ackermann

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Beschreibung

Frauen aus Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika und dem Nahen Osten erzählen ihre unglaublichen Lebensgeschichten auf dem Weg in die Freiheit. Sie flohen aus Zwangsprostitution, arrangierten Ehen und Beziehungsgewalt. Sie entkamen politischer Unterdrückung, Ehrenmorden, Menschenhändlern und bitterer Armut. Den Frauen ein Leben in Würde und Autonomie zu ermöglichen, dafür setzen sich Schwester Lea und die von ihr gegründete Organisation Solwodi (Solidarity with Women in Distress) ein. Eine packende und berührende Reportage über Frauen, die den Weg in die Freiheit gefunden haben.

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Inhaltsverzeichnis
BÄRENSTARKE FRAUEN
25 Jahre - Solidarität mit Frauen in Not
WEIL ICH DAS LEBEN LIEBE
DREI STIMMEN ZU SOLWODI
Gewalt gegen Frauen betrifft uns alle
Copyright
BÄRENSTARKE FRAUEN

Das Recht auf die eigene Geschichte

Von Alicia Allgäuer und Mary Kreutzer
»In Freiheit leben...« handelt von Frauen und Mädchen aus verschiedenen Ländern, die sich aus unterschiedlichen Gründen auf eine Reise begaben. Sie erreichten Deutschland auf dem Landweg durch die Sahara, mit dem Bus quer durch Osteuropa, im Flugzeug aus Lateinamerika oder Asien.
Manche kamen voller Hoffnung und Träume. Ein neues abenteuerliches Leben sollte beginnen, selbstbestimmt und voller Überraschungen. Andere kamen mit Schmerz und Trauer im Gepäck. Sie hatten ihre Liebsten verloren und konnten selbst gerade noch ihr Leben in Sicherheit bringen vor den Häschern des Regimes. Andere wiederum wurden an Menschenhändler verkauft wie ein Stück Ware oder als Kinder mit alten Männern verheiratet, die sie zu sich nach Deutschland holen ließen.
Diese Frauen haben strukturelle Gewalt in Form von Arbeitslosigkeit und Armut, persönliche Zwangsverhältnisse durch Zuhälter, Freier oder Ehemänner und politische Unterdrückung durch repressive Regime erlebt. So unterschiedlich all die Geschichten im Buch und die Formen der erlebten Gewalt auch sein mögen, so ist den Frauen doch eines gemeinsam: Frauen und Mädchen, die sich aus solchen Gewaltverhältnissen befreien, sind stark, bärenstark. Sie haben überlebt, sie konnten sich befreien, sie kämpfen immer noch für das Leben, das ihnen zusteht. Sie haben Mut, haben gegen die Staatsmacht opponiert, sich gegen ihre eigenen Familien gewendet, gegen Vergewaltiger und MenschenhändlerInnen in langwierigen und schmerzhaften Prozessen ausgesagt. Sie mühen sich - meist jahrelang - für ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland ab.
Und sie haben noch etwas gemeinsam - deshalb entstand auch dieses Buch: Sie alle erhielten zu einem gewissen Zeitpunkt in ihrem Leben Unterstützung von einem Verein, den es nunmehr seit 25 Jahren gibt und der mit diesem Buch Geburtstag feiert: Solwodi.
Als uns Lea Ackermann, die Gründerin des Vereins, anrief und vorschlug, gemeinsam ein Buch über Frauen und Mädchen zu schreiben, die von Solwodi unterstützt werden, waren wir sofort begeistert. Wir hatten schon von dieser eindrucksvollen Arbeit gehört und die Gelegenheit, spannende Frauen kennenzulernen und deren einzigartige Lebensgeschichten aufzeichnen zu dürfen, wollten wir uns nicht entgehen lassen. Also begleiteten wir Sr. Lea zunächst dorthin, wo die Arbeit von Solwodi vor 25 Jahren begonnen hat: nach Kenia. Das Engagement der Mitarbeiterinnen vor Ort hat uns sehr beeindruckt. Die Bilder, die auf der Reise entstanden sind, von all den Frauen und Mädchen, die dort von Solwodi unterstützt werden und die Solwodi unterstützen, fanden ebenfalls - mit dem Einverständnis der Frauen - Eingang in das vorliegende Buch. Diese Eindrücke, die Entstehungsgeschichte sowie der Rahmen für die Arbeit von Solwodi bilden den ersten Teil.
Später reisten wir nach Deutschland und besuchten einige der 14 Beratungsstellen von Solwodi. Wir durften in den - allesamt sehr liebevoll eingerichteten und geleiteten - Schutzwohnungen übernachten und konnten Gespräche mit Dutzenden von Klientinnen führen. Leider fand aus Platzgründen nur ein Bruchteil der Interviews Eingang in dieses Buch.
Zahlreiche Frauen und Mädchen in Kenia sowie zehn Frauen in Deutschland erzählen hier ihre Geschichte. In Kenia führten wir die Interviews zum Großteil auf Englisch. In Deutschland haben wir fast alle Interviews in der gemeinsamen Sprache Deutsch geführt. Doch auch die Erstsprachen der Frauen sollten einen gebührenden Platz im Buch finden. Deshalb wird jede der zehn Geschichten im Hauptteil mit dem Satz »Und das ist meine Geschichte...« in der Muttersprache der jeweiligen Frau eingeleitet. Bei Khushboo ist dies Panjabi, welches im indischen sowie pakistanischen Panjab gesprochen wird, bei Joy ist es Bini, die Sprache der Edo aus Südnigeria. Cristina ist mit Rumänisch aufgewachsen und Ayla vorwiegend mit Arabisch. Virginias Muttersprache ist Spanisch, Marias Familie spricht untereinander Russisch, Litauisch ist ihre Zweitsprache. Auch Zehras Familie spricht eine Minderheitensprache, das Kurdische, aber Zehra wuchs mit dem Türkischen auf und wurde auch in dieser Sprache alphabetisiert. Emels Muttersprache ist Kurmanci, jene Form des Kurdischen, die in der Türkei am weitesten verbreitet ist. Derartu spricht zwar auch perfekt Amharisch, die Amtssprache Äthiopiens, aber ihre Muttersprache ist Afan Oromo. Kiran sprach mit ihrer Familie Dari, eine Form des Persischen, welche neben Paschtu die zweite Amtssprache in Afghanistan darstellt.
Wir konnten uns davon überzeugen, wie wichtig es für viele Betroffene ist, die Erzählhoheit über das eigene Leben zu besitzen und zu nutzen. Wenn der Rahmen passte, die Chemie stimmte, ein Grundvertrauen hergestellt war, dann konnten einige unserer Interviewpartnerinnen gar nicht mehr gestoppt werden. Sie ermächtigten sich ihrer Geschichten, sie bestimmten die Worte, um ihr Leben zu beschreiben. Sie wählten die Namen, unter denen sie im Buch in Erscheinung treten würden. Trotz vieler Tränen, Unterbrechungen und schmerzvoller Erinnerungen wollten unsere Interviewpartnerinnen reden. Wie zum Beispiel Jelena aus Russland: Die 37-Jährige war an verschiedene Zuhälter in Deutschland verkauft und ihrer Freiheit beraubt worden, bis sie bei einer Razzia befreit wurde und zu Solwodi kam. Auch wenn das Erinnern und Erzählen nicht immer leicht fällt, wirkt Jelena danach erleichtert. »Ich bin froh, euch getroffen zu haben. Es tut gut, mal von zu Hause rauszukommen und über das Geschehene zu reden!«
So entstand ein Buch, dessen Herzstück zehn in Ich-Form erzählte Lebensgeschichten bilden. Auf jede Geschichte folgen zum besseren Verständnis die wichtigsten Informationen von Politik, Geschichte und Gesellschaft - insbesondere der Geschlechterverhältnisse - des Herkunftslandes. Gewalt gegen Frauen findet in keinem gesellschafts- und geschichtsfreien Raum statt, sie wurzelt in patriarchalen Macht- und ungerechten ökonomischen Verhältnissen und kann nur bekämpft werden, indem zunächst die Strukturen erkannt und benannt werden. Migrantinnen, die vor Krieg, Unterdrückung, Armut oder Naturkatastrophen nach Europa flüchten, sind oft mit neuen Formen der Gewalt konfrontiert, etwa durch drohende Abschiebung auf Grundlage des Fremdenrechtes in der »Festung Europa« oder durch mangelhafte Opferschutzgesetze. Solwodi versucht hier einzugreifen und Frauen und Mädchen zunächst physischen Schutz zu gewährleisten, indem Sicherheit, Ruhe und Versorgung in zahlreichen Schutzwohnungen geboten werden. Es folgt juristische Unterstützung im Falle von Strafprozessen gegen die TäterInnen und bei diversen Behördengängen, psychische Unterstützung für traumatisierte Gewaltopfer, und - nicht minder wichtig - eine professionelle und liebevolle Umgebung mit einem Team von Expertinnen. Es hat uns immer wieder beeindruckt, wenn wir Frauen trafen, die bereits vor etlichen Jahren aus einer betreuten Wohnung ausgezogen waren, die bereits selbstständig ihr Leben meisterten und immer noch in einem freundschaftlichen Austausch mit den Solwodi-Mitarbeiterinnen standen. Sie treffen sich zum Kochen, sie schauen ab und zu im Büro auf Kaffee und Kuchen vorbei, sie wissen - und das wurde uns von den Frauen wiederholt versichert -, dass sie bei Solwodi immer willkommen sind. Und dass sie bei ihrer Aus- und Weiterbildung und auch beim Aufbau von Selbstvertrauen immer unterstützt werden.
Besser drückt das eine junge Kosovo-Albanerin aus, die nach der Flucht vor ihrem gewalttätigen Mann und seiner Familie jahrelang in einer der vielen Solwodi-Schutzwohnungen gelebt hat: »Ich möchte jetzt eine richtige Ausbildung machen. Heute habe ich nämlich das Vertrauen in mich, dass ich das schaffen kann. Solwodi hat mir dieses Vertrauen gegeben.« (Soela - 23 - Kosovo)
25 Jahre
Solidarität mit Frauen in Not
WEIL ICH DAS LEBEN LIEBE
Ein Vorwort von Seyran Ateş
»Ich habe sie getötet, um sie zu schützen«, sagte Mehmet Ö. bei seiner Verhandlung in Schweinfurt. Mit 68 Messerstichen erstach er im Juni letzten Jahres seine 15-jährige Tochter Büsra. Sie habe sich seinem Willen widersetzt, sei stur gewesen - und hatte einen Freund. Büsra ist eine von vielen Frauen, die weltweit von der eigenen Familie getötet werden, weil sie selbst über ihr Leben bestimmen wollen. Ihr Name steht in einer Reihe mit Sermin U., Hazal S., Gülsum S., Figen C. und vielen weiteren, deren Namen in keiner Zeitung standen, deren Schicksal von niemandem wahrgenommen wurde.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es lebensgefährlich sein kann, sich mit Themen wie Zwangsheirat, Ehrenmord und Frauenunterdrückung zu beschäftigen. Ich habe bereits ein Attentat überlebt. Daran werde ich täglich erinnert, weil ich nach wie vor Schmerzen habe. Für Freiheit zu kämpfen, aber nicht frei zu sein, das ist schon paradox. Dennoch kämpfe ich, weil ich das Leben liebe. Nur wenn wir aktiv werden, kann sich etwas ändern. Deswegen setzen ich und viele Gleichgesinnte uns dafür ein, dass alle Frauen - ungeachtet ihrer Herkunft, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit - selbstbestimmt, würdevoll und in Freiheit leben können.
Frauen sind auf viele Arten unfrei. Meine Eltern ließen mich als Kind nicht gerne vor die Tür gehen, weil sie Angst davor hatten, was die Umgebung sagen würde. Die Leute fragten etwa: »Warum geht Seyran in die Volkshochschule?« In Sätzen wie diesen schwingen unvermeidlich Andeutungen über die Gefährdung der Keuschheit mit. Denn sobald ein türkisches Mädchen wissbegierig ist und zu einem Schreibmaschinenkurs geht, gilt das als offenes, westliches Leben. Wer weiß schon, was dort alles passieren kann.
Viele Migrantinnen hierzulande werden von ihren Familien entmündigt, es wird ihnen das Recht abgesprochen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Sie sind der sozialen Kontrolle durch die eigene Familie und die Umgebung ausgesetzt, welche dazu beiträgt, dass die Mädchen sich fügen. Auch Gewalt wird häufig eingesetzt, um die Frauen gefügig zu machen. Man nimmt es zu wichtig, was die anderen über einen denken. In diesem Klima kann das Vertuschen von häuslicher Gewalt ungehindert gedeihen. Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Familie - das kommt in allen Gesellschaften, sozialen Schichten und Kulturen vor. Doch wenn wir die Lebenssituation von allen Frauen in Deutschland oder Österreich über einen Kamm scheren, werden wir die besondere Problematik vieler Migrantinnen nicht verstehen. Für sie ist Gewalt oftmals eine selbstverständliche, alltägliche Erfahrung. Viele meiner türkischen und kurdischen Mandantinnen beschrieben mir ihr Leben als fortgesetzte Folter, als eine einzige Hölle. Das heißt nicht, dass deutsche Frauen weniger schlimme Erfahrungen machen. Aber es gilt, endlich das Tabu zu brechen, dass über häusliche Gewalt im Migrantenmilieu nicht gesprochen werden darf. Die spezifischen Probleme von Migrantinnen müssen öffentlich thematisiert werden, um Lösungen finden zu können.
Ein Beispiel für die Unterschiede zwischen meinen deutschstämmigen und türkischstämmigen Mandantinnen ist die Rolle der Familie: Bei Migrantinnen hatte ich es selten nur mit meiner Mandantin und ihrem Ehemann oder Lebensgefährten zu tun. Meist gab es auf beiden Seiten eine Großfamilie, oft sogar Nachbarn, die sich das Recht nahmen, sich einzumischen, weil ihnen das die Tradition erlaubte. Meist wussten fast alle Familienangehörigen von der Gewalt, wollten sie aber nicht öffentlich machen. Sie wollten das Problem in der Familie lösen. Dadurch wurde die Gewaltsituation oft noch angeheizt oder sehr lange aufrechterhalten. Ein türkischer oder kurdischer Ehemann, dem die Frau weggelaufen ist, hat in vielen Fällen gegenüber der Sippe sein Gesicht verloren. Familie und Nachbarn reden auf ihn ein, sich das Verhalten der Frau nicht gefallen zu lassen. Im schlimmsten Fall steht am Ende einer solchen Geschichte ein Ehrenmord. Ich schreibe bewusst nicht, ein »sogenannter« Ehrenmord, denn diese Morde geschehen tatsächlich im Namen der Ehre. Alle Einschränkungen würden den Begriff verharmlosen und wären zynisch den Opfern gegenüber. Es ist aber auch wichtig, die Praxis nicht zu einem islamischen Problem zu stempeln. Sie geht viel weiter zurück, auf die Stammesgesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens, wo sie als Verschmelzung von vorislamischen Ehrvorstellungen und religiösen Werten bis heute Verbreitung findet.
In der Regel sind es männliche Familienangehörige, welche den Mord verüben. Die Familie spielt im Leben der Frauen also eine wichtige, oft sehr ambivalente Rolle - auf dieses schwierige Verhältnis zur eigenen Familie werden Sie im Laufe der Lektüre dieses Buches noch öfter stoßen.
Solche spezifischen Problemlagen wollen viele Menschen hierzulande nicht wahrhaben. Die Multikulti-TräumerInnen schauen einfach weg, wenn es um Frauenrechte geht. Sie behaupten, dass Frauen- und Menschenrechte nur »westliche Werte« seien, die nicht auf andere Kulturkreise übertragbar seien. Deshalb sprechen sie auch nicht gerne von der Universalität der Menschenrechte. Denn sie haben Angst, als rassistisch zu gelten. Schauen diese Menschen niemals über ihren eigenen Tellerrand? Nach oben, die Häuser hoch? Dort könnten sie nämlich die Frauen sehen, die auf keinen Fall teilhaben dürfen an dieser angeblich so bunten multikulturellen Gesellschaft. Sie stehen hinter den Fenstern, sie spähen durch die Gardinen, sie sehnen sich nach dem Leben. Es sind Frauen und Mädchen, die oft nicht einmal wissen, wo sie sind - sie sind eingesperrt, isoliert, entrechtet.
So wird auch weiterhin nicht über das tatsächliche Problem gesprochen und die Frauen treten selten an die Öffentlichkeit. Weil sie nie gelernt haben, eigene Entscheidungen zu treffen, oder sehr oft auch aus Angst vor der eigenen Familie. Sie wissen genau, dass sie ihr Leben gefährden, wenn sie sich nicht an das halten, was ihre Familie ihnen als Pflicht aufgibt: nicht auf die Straße zu gehen, dem Manne zu gehorchen, ihm eine gute Ehefrau zu sein und die Kinder großzuziehen. Die meisten Betroffenen fühlen sich als schlechte Tochter oder schlechter Sohn, wenn sie sich dagegen wehren. Sie glauben, dass ihre Eltern doch eigentlich nur ihr Bestes wollen. Sehr viele empfinden ihre Situation als ausweglos und sind deshalb selbstmordgefährdet. Viele »Importbräute« trauen sich aber auch nicht, zur Polizei zu gehen, wenn der Ehemann sie misshandelt, aus Angst vor einer Abschiebung. Denn werden Frauen über Familienzusammenführung nach Deutschland geholt, hängt ihr Aufenthaltstitel während der ersten zwei Jahre an dem des Mannes. Nun gibt es zumindest die Möglichkeit, über die sogenannte Härtefallklausel schon vor Ablauf dieser zwei Jahre ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu erlangen, wenn die Frau die Gewalttätigkeit des Mannes nachweisen kann. Darüber sind aber leider die wenigsten Frauen informiert.
Frauen, die ausbrechen wollen, die gibt es natürlich. Frauen wie Hatun Sürücü. Die ihre Familien verlassen müssen, um ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Hatun hat das ihr Leben gekostet: hingerichtet von mindestens einem ihrer Brüder - ob andere beteiligt waren, konnte bis jetzt nicht aufgeklärt werden -, weil sie sich dem Zwang ihrer türkischen Familie verweigerte. Der Vorwurf an sie - und an viele andere junge Frauen - war, dass sie gelebt hat »wie eine Deutsche«. In dieser Redewendung zeigt sich auch, für wie lächerlich die Idee von Multikulti in der türkischen Community gehalten wird. Dort nimmt man die deutschen zivilgesellschaftlichen Standards vielfach nicht ernst.
Genau hier hat die Integrationspolitik bisher versagt: Das Fehlen einer klaren und eindeutigen Integrationspolitik ist mitverantwortlich für sämtliche Ehrenmorde, die auf deutschem Boden geschehen. Die Probleme müssen deutlich ausgesprochen werden, es braucht allgemein anerkannte Standards für das Zusammenleben und ein Recht, das für alle gleichermaßen gilt. Zwangsverheiratung und Ehrenmorde dürfen nicht als Einzelfälle abgetan, sondern müssen als gesellschaftliches Problem analysiert und bekämpft werden. Andererseits müssen MigrantInnen auch die Möglichkeit zur vollen Teilhabe erhalten. Die wachsende Brutalität, mit der die »Ehre« verteidigt wird, ist auch eine Folge der Ablehnung, die viele MigrantInnen vonseiten der Mehrheitsgesellschaft erfahren. Es kann jedoch nicht sein, dass Minderheiten mit einem kulturrelativistischen Samthandschuh angefasst werden, aus der allgegenwärtigen Angst heraus, ihnen zu nahe zu treten. Das ist ebenso rassistisch wie das entgegengesetzte Verhalten, nämlich Minderheiten als barbarisch wahrzunehmen und so zu tun, als existierten all die Hässlichkeiten zwischenmenschlichen Handelns nur bei ihnen. Denn egal, ob Missstände verharmlost oder auf die »anderen« Kulturen projiziert werden - beides verhindert eine gleichberechtigte Behandlung. Für diese Gleichberechtigung ist es auch notwendig, die Besonderheiten jeder Community zu kennen, um effektiven Opferschutz leisten zu können. Es hilft also nichts, die Augen zu verschließen, sondern ein aktives aufeinander Zugehen und Handeln sind gefragt: ein Handeln im Sinne der Aufklärung und der universellen Menschenrechte, das die Würde jedes einzelnen Individuums respektiert und verteidigt.
Engagement und Öffentlichkeit lohnen sich. Es lohnt sich, wie die Frauen in diesem Buch, aufzustehen, die eigene Geschichte zu erzählen, Recht und Gerechtigkeit einzufordern.
Die Frauen in diesem Buch haben den Mut aufgebracht und sind ausgebrochen. Sie haben ein Leben in Unfreiheit hinter sich gelassen, sie haben sich aus verschiedensten Gewaltverhältnissen befreit: ausgeübt von diktatorischen Regimen, brutalen ZuhälterInnen und von Freiern, von Vätern und Ehemännern im Namen der »Ehre«, von Müttern, die ihre Töchter verkaufen, von korrupten Beamten, die vom Menschenhandel und der Rechtlosigkeit von Flüchtlingen profitieren.
Joy, Zehra, Khushboo und all jene Frauen, die uns im vorliegenden Buch ihre Geschichten anvertrauen: Ihr Traum vom Leben in Freiheit ging in Erfüllung. Gemeinsam wollen wir für eine Gesellschaft kämpfen, in der Freiheit - für alle - eine Selbstverständlichkeit ist und kein Traum, der nur zu selten in Erfüllung geht.
DREI STIMMEN ZU SOLWODI
»Wenn ich dich nicht bekomme, bekommt dich auch kein anderer!«

Gewalt gegen Frauen betrifft uns alle

Von Maria von Welser
In Deutschland? In den eigenen vier Wänden? Gewalt durch Väter, Brüder, Ehemänner oder Söhne? Nein, das schieben wir Frauen hier ganz weit von uns. Gewalt kommt im Ausland vor. Oder spielt uns das Erinnerungsvermögen einen Streich? Verdrängen wir, was wir nicht wahrhaben wollen?
Tatsache ist: Jede vierte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexueller Misshandlungen durch ihren Partner. Sicher: Migrantinnen und Frauen und Mädchen, die aus verschiedenen Ländern zu uns flüchteten, sind noch stärker betroffen. Eine Dunkelfeldstudie, in der 100.000 Frauen befragt wurden, widerlegt auch die gängige Vorstellung, dass Beziehungsdramen, Gewalt und Vergewaltigung nur bei arbeitslosen Alkoholikern oder in der sogenannten Unterschicht vorkommen. Nein - Gewalt ist vorwiegend männlich und kommt in allen Familien und sozialen Schichten vor; weder Bildung noch Status bieten Schutz.
Ich werde jenen einen Moment in meinem Leben nie vergessen. Ich war damals eine junge Frau und empfand zum ersten Mal Ohnmacht. Und ich hatte Angst. Ein verflossener Freund drückte mir den Hals zu mit den Worten: »Wenn ich dich nicht bekomme, bekommt dich auch kein anderer...« Gott sei Dank fuhr in diesem Moment ein Auto in den Hof.
Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Fotos: © Mary Kreutzer Landkarten: Astrid Fischer-Leitl, München
eISBN 978-3-641-05081-8
Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter www.koesel.de
Leseprobe

www.randomhouse.de