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Sie war alles, was er jemals wollte. Er war alles, was sie verachtete. Bis sich das Blatt wendete. Saskia Royal war es schon immer bestimmt, im Midnight Mayhem aufzutreten. Nie hätte sie gedacht, dass sie dort unter den Tänzern auch Freunde finden würde. Aber vor allem hatte sie diese erschreckende Anziehungskraft von Killian Cornelii nicht erwartet. Weder vertraut sie ihm noch gefällt ihr seine Art. Und doch kann sie sich diesem Sog, der von ihm ausgeht, nicht verschließen. Denn nur er ist in der Lage, ihre zerstörte Seele zu berühren und sie in diesen Händen zu halten, die nicht nur einnehmend, zärtlich und tröstend, sondern auch so grausam sein können. Killian ist in Midnight Mayhem groß geworden. Abgesehen von seinen Kiznitch-Brüdern, empfindet er nicht viel für andere Menschen. Bis Saskia in sein Leben tritt. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine seichte Liebesgeschichte, sondern um eine Liebe, die so heftig und schmerzvoll ist, dass sie alles und jeden in den Abgrund reißen kann.
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Seitenzahl: 486
Midnight Mayhem 2
Amo Jones
© 2022 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Übersetzung Sylvia Pranga
© Covergestaltung Andrea Gunschera
© Originalausgabe Amo Jones 2020
ISBN Taschenbuch: 9783967820720
ISBN eBook-mobi: 9783967820737
ISBN eBook-epub: 9783967820744
www.sieben-verlag.de
Dieses Buch widme ich meinen Kindern, weil sie vonMüsli und Toast leben mussten, bis ich es beendet hatte.Und meinem Mann, der das Müsli und den Toast machte, weil er nichtsanderes kochen kann.
*Ich scherze nur. Bitte ruft nicht das Jugendamt an.*
Willkommen zu Midnight Mayhem.Wir sind kein Zirkus, wir sind kein Karneval, und das Einzige, wovor du heute Abend Angst haben solltest, ist, deinen Verstand zu verlieren.
Kapitel 1
Kapitel 2
Silvester
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Danksagungen
Als ich zehn Jahre alt war, erklärte ich der Welt, dass sie sich selbst ficken kann. Ich meine, ich stellte mich buchstäblich in die Mitte der Zirkusmanege, ließ Ky ein Video aufnehmen, zeigte der Kamera den Mittelfinger und sagte allen Arschlöchern, während ich mir in den Schritt fasste:
„Fickt euch.“
Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Wie zum Teufel konntest du das im zarten Alter von zehn Jahren tun?
Ich erzähle euch, wie. Ky ist ungewöhnlich intelligent.
Und damit meine ich so klug, dass nicht einmal Gelehrte mithalten können. Wir drehten das Video, und dann hackte sich Ky in irgendeine Überwachung und lud es hoch.
Es ging auf Sendung. Durch alle Nachrichtensender. Es überlagerte alles, was in dem Moment gerade ausgestrahlt wurde.
Ihr fragt, wie es so weit kommen konnte? Das ist eine lustige Geschichte. Ich meine, ich könnte alles vom Tag meiner Geburt an erzählen, aber um ehrlich zu sein, will niemand eine genaue Beschreibung der Vagina meiner Mutter, abgesehen von meinen sexbesessenen besten Freunden, die sie gern ficken. Also mache ich eine lange Geschichte, die nichts Wichtiges aussagt, kurz. So bin ich veranlagt. Ich wurde als Mensch geboren, aber so gedrillt, dass ich wurde, wie ich bin.
Ein Betrüger. Der Trickster.
Der Chaosverursacher in Midnight Mayhem. Der Motherfucker, der einen dazu treibt, Grenzen zu überschreiten und sich dabei auch noch gut zu fühlen.
Da ich gerade von Midnight Mayhem spreche: Unsere Familie. Unsere Einheit. Ein Haufen verfluchter Rumänen, die sich in Amerika ein gutes Leben machen. Ich meine, um fair zu sein, wir leben alle hier, seit wir Kinder waren und unsere Eltern mit uns herzogen. Ich habe nie herausgefunden, warum. Ich habe auch nie gefragt.
„Was machst du?“ King starrt mich finster über den Tisch hinweg an.
Ich winke lächelnd ab. „Ich höre Musik. Ist das für dich okay?“ Weihnachten ist erst ein paar Wochen her, und wir hatten alle eine ausreichend lange Pause. Jetzt beginnen wir das neue Jahr mit unserer ersten internationalen Show in Australien. Delila hat immer ihre Gründe, ob wir sie nun verstehen oder nicht. Es kann frustrierend sein, wenn sie auf geheimnisvoll macht, und genau das tat sie in letzter Zeit.
Ich beuge mich vor und senke die Stimme, damit P nicht aufwacht, doch ihr Mund öffnet sich leicht, und ihr entschlüpft ein Schnarchen. Ich lächele.
„Kein Wort, Motherfucker. Lass sie in Ruhe.“
Mein Blick schießt zu King zurück. „Okay, du schlecht gelaunter Bastard. Ich wollte nur …“
„Killian, sag, was du mich fragen wolltest und lass sie in Ruhe. Sie ist wahrscheinlich immer noch todmüde von Silvester. Übrigens, werden wir noch darüber reden?“ Kings Blick richtet sich über meine Schulter. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, über wen er spricht.
Mein Lächeln verblasst. „Nein, werden wir nicht. Was ich gerade fragen wollte, bevor mich dein süßer kleiner Engel mit ihrem Schnarchen ablenkte: Hast du Delila gefragt, warum wir dieses Jahr eine internationale Tour machen?“
Wir haben schon internationale Touren gemacht, aber nur alle fünf Jahre, wegen der Zeit und der Kosten, die damit verbunden sind. Wir stellen mehr Personal ein und sind vierzehn Monate in Folge unterwegs. Da unsere vorherige internationale Tour erst zwei Jahre her ist, fühlt sich die Tatsache, dass wir alle schon auf Reisen sind, für mich nicht richtig an. Der Boden schwankt leicht, ein untrügliches Zeichen, dass wir auf der The Cap sind, dem riesigen Kreuzfahrtschiff unserer Familie. Wir bevorzugen immer, mit dem Schiff zu fahren, statt einen internationalen Flug zu nehmen, damit wir Zeit zum Üben und Trainieren haben und etwas herunterkommen können. Wenn wir die 747 nehmen, kommen wir alle mürrisch und müde an und müssen sofort, wenn wir landen, mit dem Training beginnen. Auf diese Art können wir auch einen Großteil unserer Ausrüstung mitnehmen. The Cap, die nach meinem Ururgroßvater benannt worden ist, ist in einem matten Schwarz lackiert, und auf den Seiten stehen die Worte Midnight Mayhem in Lila. Es kann schwierig werden, wenn es um Zollbestimmungen und Übertragungen für die Straßenzulassung geht, aber dafür haben wir Verbindungen, und eine Menge mächtige Leute, die uns unzählige Gefallen schulden.
King schüttelt den Kopf, nimmt sein Glas Whiskey und trinkt es in einem Zug aus. „Nein. Sie ist noch nervöser als sonst.“
Im Moment entspannen wir uns im YAAM, der Bar auf Ebene Eins. Natürlich ist dies kein gewöhnliches Kreuzfahrtschiff. Es gibt keine Souvenirshops oder süße kleine Bäckereien. Dafür gibt es zwei Bars, eine auf dieser Ebene und eine auf dem oberen Deck in der Nähe des Pools. Auf der zweiten Ebene befinden sich alle unsere Schlafzimmer und die Lagerräume für die leichteren Sachen. Die schwereren Dinge, wie Motorräder und Ausrüstung, sind auf der untersten Ebene untergebracht.
„Ja.“ Ich streiche mir mit der Hand durchs Haar und ziehe leicht an den Spitzen. „Das habe ich auch bemerkt.“
Seit Weihnachten wurde Delila immer zurückhaltender und angespannter. So eine Veränderung hat bisher keiner von uns an ihr beobachtet, und es hat der Dynamik, mit der wir leben, einen neuen Dreh gegeben. Delila ist die Art von Frau, die Tote erwecken könnte, statt sich zu ihnen zu legen.
Perse regt sich und wischt sich den Schlaf aus den Augen. „Können wir ins Bett gehen?“
King legt ihr den Arm um die Schultern. „Ja.“ Er steht auf und wirft mir einen düsteren Blick zu. „Richte nicht zu viel Unheil an …“
Ich zwinkere ihm zu. „Ach, du bist nur eifersüchtig, weil du …“
Perse durchbohrt mich mit einem eiskalten Blick.
„Schon gut.“ Ich verdrehe die Augen. „Gute Nacht, ihr Turteltauben.“ Sie gehen durch die Bar und verschwinden durch den Ausgang. Ich reibe mir übers Gesicht, und mein Blick fällt auf Callan.
Ja, scheiß drauf. Sie wird für heute Nacht reichen. Perse hasst es, wenn ich mit ihren Mädchen spiele, aber ich kann nichts dafür, wenn sie sich mir als Spielzeuge anbieten. Tja, Callan tut das. Bei Sass ist es eine andere Geschichte.
Ich blicke auf meinen Schritt hinunter und grinse.
Callan leckt über den Rand ihres Margaritaglases und kippt den Rest ab. Dann schwingt sie ihre langen Beine unter dem Tresen hervor und kommt auf mich zu.
Erinnert ihr euch, als man seinen Klingelton zu einem Remix von JayZ oder einem Song von Linkin Park ändern konnte? Verflucht, ich wünschte, ich hätte diese Option noch, denn Reflection, der voreingestellte Klingelton meines iPhones, fällt mir heute Morgen auf die Nerven. Ich nehme es vom Nachttisch und drücke auf Anruf annehmen.
„Du solltest besser tot sein, Maya.“
„Unglücklicherweise bin ich es nicht. Aber du könntest es sein, denn du bist spät dran, und Delila hat heute keine gute Laune.“
Maya ist meine nervige beste Freundin, die keine Grenzen kennt und mir so oft es geht Feuer unterm Arsch macht. Sie stellt meine Geduld jeden Tag auf die Probe. Wenn ihr es nicht bemerkt haben solltet, ja, die Bar, in der ich gestern Abend war, ist nach ihr benannt worden. Sie wollte, dass sie MAYA heißt, aber ich musste auf etwas mehr Männlichkeit bestehen, daher nannte ich sie YAAM. Es ist unnötig zu erwähnen, dass sie nicht begeistert ist.
Ich stöhne und reibe mir die Augen. „Scheiß auf sie. Sie führt mein Schiff nicht.“
„Kill? Komm sofort hierher.“ Delila ist auch Mayas Mom, aber ihre Beziehung ist nicht gewöhnlich. Gelinde ausgedrückt.
„Okay!“ Ich lege auf, rolle mich aus dem Bett und stöhne bei dem grellen Sonnenlicht, das durch meine Fenster hereinfällt. „Verflucht.“ Ich muss gestern Abend vergessen haben, die Vorhänge zu schließen, nachdem Callan gegangen war, oder besser gesagt, nachdem ich sie rausgeschmissen hatte.
Nach einer schnellen Dusche ziehe ich eine graue Jogginghose und Adidas Sneakers an, dann werfe ich mir ein sauberes weißes Hemd von Tommy Hilfiger über die Schulter. Keine Ahnung, was Delilas Problem ist. Es ist ja nicht so, dass wir auf dem Dreifachen Rad des Todes trainieren könnten, der Stunt, den sie uns immer drängt, zu üben. Ich verstehe es ja, es ist gefährlich und braucht viel Übung. Aber wir fahren auf diesen Rädern, seit wir alt genug sind, um Motorrad fahren zu dürfen.
Ich öffne die Türen, die zum Auditorium auf der ersten Ebene führen. Zwischen meinen Lippen hängt eine Zigarette, in der Hand habe ich einen Kaffee.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich wusste ja nicht, dass ich hier sein sollte“, murmele ich, als alle sich umdrehen und mich ansehen.
Mir fällt auf, dass wir unter uns sind. Midnight, die sechs Dämonen und sieben Engel, und wie immer auch Perse ihr kleines Team nennt. Und natürlich Delila. Niemand von der Crew ist hier.
Unbewusst findet mein Blick Sass, die durch mich hindurchsieht, als würde ich nicht existieren. Das macht sie verdammt gut. Ich werfe ihr einen Kuss zu, bevor ich mich zu Keaton geselle. Sass zuckt zusammen und wendet sich von mir ab. Ich habe keine Ahnung, was verdammt noch mal mit ihr los ist oder was für ein Problem sie mit mir hat. Als ich sie das erste Mal sah, wollte ich sie, natürlich. Das Mädchen ist eine jüngere Version von Adriana Lima – nur heißer, weil sie auch eine ganze Menge von Megan Fox hat. Aber aus irgendeinem blöden Grund ist sie mir gegenüber abweisend. Sie hat noch kein einziges Wort mit mir gewechselt, aber sie und Keaton scheinen irgendwie auf einer Wellenlänge zu sein.
Mistkerl.
Es ist seltsam für Keaton, denn wenn ich auf einer Wellenlänge sage, meine ich damit, dass ihm ihre Gesellschaft nicht unbedingt etwas ausmacht. Normalerweise hasst er jeden. Er erträgt niemanden außer uns in seiner Nähe, aber offensichtlich hat Saskia es auf seine Liste geschafft. Ich kaufe es ihm noch nicht so richtig ab und bin immer noch der Meinung, dass Perse ihn weich gemacht hat. Ich weiß, dass er sie nicht gefickt hat. Tatsächlich weiß ich, dass niemand Saskia Royal angerührt hat, seit sie bei uns ist. Sie sagt kaum etwas, bleibt für sich und hat nur Freunde in ihrem eigenen Kreis. Das heißt vor allem Perse, Callan und Kenan.
„Es ist so nett von dir, dich zu uns zu gesellen, Trickster.“ Delila wirft mir einen bösen Blick zu, zündet sich eine Zigarette an und inhaliert. „Okay. Wir kommen in dreiundzwanzig Tagen im Hafen von Brisbane an. Wie gewöhnlich – oder, wenn ihr neu dabei seid“, sie sieht zu Perse, Callan, Sass und Kenan hinüber, „dauert es dreiundzwanzig Tage, mit dem Schiff nach Australien zu kommen. Dort machen wir zwei Shows in Brisbane, danach geht es weiter nach Sydney und Perth. Unter eurem Sitz findet ihr eine Reiseroute, die nicht nur sehr straff ist, was die Zeit und Terminpläne betrifft, sondern auch, wenn es um das Training geht, das ihr alle absolvieren werdet, während wir auf See sind. Wenn ihr nicht an euren Nummern arbeitet, solltet ihr besser auf dem Laufband trainieren.“
Ich strecke mein Bein aus und inhaliere eine Wolke toxischen Nikotinrauch.
„Ich verlange, dass alle ihre Routine beibehalten. Nur weil wir lange Zeit auf See sind, heißt das nicht, dass ihr nachlässig sein dürft.“ Delila wedelt mit der Hand durch die Luft. „Das ist alles.“
Ich sehe mich im Auditorium um. Die Sitzreihen befinden sich vor einer Bühne, in deren hinterem Bereich alle unsere Trainingsgeräte stehen. Jemand hat sogar das doppelte Rad aufgestellt, damit wir daran arbeiten können. Ich bin im Augenblick nicht in der Stimmung, um irgendetwas zu tun, also wer immer das auch aufgebaut hat, hat seine Zeit verschwendet. Ich könnte diesen Käfig mit geschlossenen Augen fahren.
„Wann bist du gestern Abend schlafen gegangen?“, fragt Maya spöttisch und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen.
„Verdammt, musst du mir jetzt schon auf die Nerven gehen? Kannst du sie nicht etwas aufwärmen, bevor du daran sägst?“ Ich beobachte, wie sie die Augen verdreht, was mich nur noch breiter grinsen lässt. Ich befreie sie von ihrem Elend. „Weiß ich nicht mehr. Callan ist wie ein verfluchtes Duracell-Häschen.“
„Widerlich.“ Maya kichert und lehnt den Kopf zurück an den Stuhl. „Hast du mit meiner Mutter gesprochen? Sie vielleicht gefragt, warum sie beschlossen hat, uns alle auf dieses gottverlassene Schiff und aus den USA zu schaffen?“
Keaton räuspert sich. „Nein. Aber ich bin fast sicher, dass es etwas mit Patience zu tun hat.“
„Glaubst du?“, frage ich und lasse Weihnachten und Silvester vor meinem inneren Auge Revue passieren.
Die Erinnerung an Neujahr lässt mich zusammenzucken. Darüber will ich mir im Augenblick keine Gedanken machen, besonders nicht, weil Maya direkt neben mir sitzt. Zwischen uns ist es deswegen immer noch etwas unbehaglich, und ich will die Feindseligkeit nicht anstacheln.
Aus dem Augenwinkel nehme ich Bewegung wahr. Perse und ihr Team gehen auf die Bühne.
„Killian.“ Mein Vater zeigte auf die Flügeltreppe, die zum Obergeschoss unserer Villa führt. „Geh und versichere dich, dass sie ihre Pflicht erfüllt haben.“
Ich schnaubte. „Dad, sie tun es. Jedes einzelne Mal. Ich muss nicht nachsehen.“
Ich streckte das Bein aus und nahm einen weiteren Löffel Knuspermüsli. Ich hatte keine Ahnung, warum wir diese Woche nach Kiznitch zurückfliegen mussten. Ich hasste es, das alte Land zu besuchen. Es war unheimlich deprimierend, außerdem hatte ich alles hier, was ich wollte.
„Killian“, bellte Dad. „Geh und sieh nach.“
Ich warf meinen Löffel in die Müslischüssel und sprang vom Stuhl auf. Diese verfluchten Sklaven. Warum hatten wir sie überhaupt? Sie waren absolut nervig.
„Killian!“, ruft Kyrin von der Bühne aus.
Ich musste mich in meinen Gedanken verloren haben, denn ich saß immer noch auf demselben Stuhl wie vorhin.
„Ja?“
Ich sehe zu, wie Callan und Sass auf die Bühne gehen, wobei Callan mir einen Seitenblick zuwirft. Callan ist heiß. So heiß, wie eine Frau nur sein kann, wenn man auf Blondinen steht. Allerdings bin ich bekannt dafür, dass ich Frauen auf der dunkleren Seite bevorzuge, worauf ich es schiebe, wenn ich mal wieder nicht anders kann, als Sass anzusehen.
Ich springe von meinem Stuhl auf, werfe mein Hemd auf einen Sitz in der vordersten Reihe und breite die Arme weit aus. „Was ist?“
„Wir müssen üben.“
„Was üben?“ Ich lächele spöttisch. „Ich kann dich dazu bringen, mich am Arsch zu lecken. Sollen wir das üben?“ Ich zwinkere Kyrin zu, der mir den Mittelfinger zeigt.
Mit einem Lachen drehe ich mich schnell um. In dem Augenblick lässt Perse All I Need von Within Temptation abspielen. Ich schüttele den Kopf über ihre Musikauswahl, als Saskia gegen meine Brust stößt. Ich strecke die Arme aus, um sie zu stützen. „Wow.“
Sie macht einen Satz zurück, als hätte ich sie mit meiner Anwesenheit angegriffen.
„Tut mir leid.“ Sie versucht, einen Schritt zur Seite zu machen und um mich herumzugehen, doch ich trete ihr in den Weg.
„Was hast du für ein Problem?“
„Ich habe kein Problem“, schnappt sie gereizt.
Verflucht, sind ihre Augen blau. Ich habe noch nie im Leben Augen wie ihre gesehen. Ich dachte, meine wären ungewöhnlich, aber sie sind nichts im Vergleich zu ihren. Mit ihrer gebräunten Haut, einem Kinn, das fein und so scharf geschnitten ist, das es durch kalte Butter gleiten könnte, den rosigen, vollen Lippen und den dichten rabenschwarzen Wimpern, hat sie alles, was man sich unter Perfektion vorstellt. Ich bin nicht oberflächlich, mir gefällt es, wenn meine Frauen kleine Schwächen haben, was mich zum nächsten Punkt meiner Faszination für Saskia Royal bringt: Verwirrung. Perfektion verursacht mir Unbehagen. Ich wurde mein ganzes Leben lang nur aufgrund meines Aussehens hochgelobt und hätte nie gedacht, dass ich mich für eine weibliche Version von mir interessieren würde.
„Doch.“ Ich verenge die Augen. „Das hast du. Seit du hier bist, machst du es absichtlich offensichtlich, dass du versuchst, mir aus dem Weg zu gehen.“
Sie blickt mir weiterhin in die Augen, die Arme vor der Brust verschränkt, wodurch sich ihre Brüste nach oben drücken, sodass sie sich aus ihrem knappen Sport-BH hochschieben. Sie hat eine typische Tänzerinnen-Figur, nur dass sie breite Hüften hat, an denen man sich festhalten kann, und einen runden Hintern.
„Also was ist es jetzt, Killian?“ Ihre Stimme ist sanft, aber ihre Worte sind scharf. „Ignoriere ich dich oder verhalte ich mich dir gegenüber feindselig?“
„Ich habe keine Ahnung, Baby. Sag du es mir.“
Sie wendet sich von mir ab und versucht es wieder mit dem süßen kleinen Seitenschritt, nur dass ich ihr den Weg abschneide, und sie erneut gegen meine Brust prallt.
„Was zur Hölle habe ich getan?“
Sie sieht mich düster an. „Was soll das? Gefällt es dir nicht, wenn ein Mädchen in deiner Anwesenheit nicht auf die Knie fällt?“
Ich lache leise, lasse sie durch, drehe mich aber zu ihr um, um noch eine Stichelei loszuwerden. „Ich werde dich schnell genug auf den Knien haben.“
Sie zögert und setzt dann ihren Weg zur Bühne fort.
„Musst du sie gegen dich aufbringen? Pack sie einfach in das Fach Mädchen, die Killian nicht ficken kann. Ich bin sicher, dass sie glücklich damit sein wird, dort die Einzige zu sein.“ Keaton stupst mich an und gibt mir mein Bandana. Ich binde es um meinen Mund und beobachte, wie sie sich streckt und aufwärmt.
„Verflucht“, antworte ich. „Das ist es nicht einmal. Zur Hölle, sie kann mich so sehr hassen, wie sie will, aber ich will verdammt noch mal wissen, warum.“
„Vielleicht hasst sie dich gar nicht?“, meint Maya, die hinter Keaton hervortritt. „Vielleicht will sie dich einfach nur nicht, Kill.“
Ich starre sie an. „Alle wollen mich.“
Maya schnaubt. „Ich nicht. Nicht mehr.“
„Autsch!“ Ich fasse mir an die Brust. „Das hat wehgetan, oh. Ich bin verletzt.“
„Niemand kann dir wehtun“, sagt Maya.
Ihre Miene verdüstert sich, bevor sie sich schnell wieder zusammenreißt und die Schultern strafft. Ich fühle mich schlecht, und das will etwas heißen. Ich fühle sonst nichts, für niemanden. Ich kann es nicht ändern, so bin ich nun einmal, so wurde ich erzogen. Meine Mom und mein Dad interessierten sich nur für eins, und zwar die Bruderschaft. Meine Mutter brachte mir bei, dass man einen Scheiß auf etwas so Banales und Menschliches wie Gefühle geben sollte, und mein Vater war sowieso immer mit irgendwelchem anderen Scheiß beschäftigt. Ziviler Scheiß. Das Ergebnis dieser verwirrenden Erziehung war, dass ich Sex hatte – und zwar sehr oft –, und danach ließ ich sie fallen. So ist es, und so wird es immer sein. Aber Maya – Maya war anders. Sie und ich sind seit unserer Geburt unzertrennlich. Unsere Eltern legten uns früher in dasselbe Kinderbett, sodass wir nebeneinander schlafen konnten, wenn einer von uns nicht zur Ruhe kam. Und dann schliefen wir sofort ein. Ich bin ein paar Jahre älter als sie, sodass Maya immer sagte, dass ich sie wahrscheinlich heimlich leicht würgte, damit sie schlief. Es ist verdammt boshaft von ihr, so gering von mir zu denken. Maya bedeutet mir mehr als mein Stolz oder irgendetwas anderes.
„Maya …“, wispere ich traurig. Sie zu verletzen, war das Letzte, was ich jemals wollte, aber ich hatte nun einmal nie derartige Gefühle für sie. Ich würde ohne zu zögern für Maya sterben und jeden umbringen, der ihr etwas Böses will. Aber dieselben Gefühle habe ich auch für meine Brüder.
Sie schüttelt den Kopf, ihre wilden Locken fallen über ihre Schultern, und sie sieht mir in die Augen.
„Alles gut, Kill. Hör auf, eine große Sache daraus zu machen.“ Sie wendet sich ab und springt auf die Bühne, als hätten wir beide nicht über das eine Thema gesprochen, das wir seit dem großen Knall an Silvester vermeiden …
Als ich sechzehn war, verlor ich meine Jungfräulichkeit an meine beste Freundin. Es gibt viele Gründe, warum man das niemals tun sollte. Einer davon ist, dass die Dynamik zwischen dir und besagter bester Freundin nie wieder dieselbe sein wird. Aber der Hauptgrund dafür, dass es eine schlechte Idee ist, ist, wenn man mit jemandem befreundet ist, hat man schon intensive Gefühle für denjenigen. Es befindet sich bereits die Saat der Freundschaft in dir, genau wie in deinen Freunden. Man sollte diese Saat bewässern, mit Gelächter und platonischem Geplänkel, nicht mit Sperma und Schweiß.
Ich denke, ihr versteht, was ich meine.
Als ich sechzehn war, fickte ich mit Maya Patrova. Wir trafen beide diese Entscheidung, was wirklich blöd war. Wir beschlossen einfach: ‚Scheiß drauf. Bringen wir es hinter uns, damit wir es hinter uns lassen können.‘ Ich ließ es hinter mir, sie aber nicht.
Ich liebe Maya, aber auf die Gefahr hin, dass ich wie ein komplettes Klischee klinge, ich war nicht in sie verliebt.
Ich kippte meinen Whiskey herunter, und sein Feuer brannte heftig genug, um zu der Wut zu passen, die in mir tobte, und zu den Flammen, die wie eine Massenvernichtungswaffe über den dunklen Himmel zuckten.
Mein Blick war auf Maya gerichtet, ihrer auf mich.
Ich wusste schon eine ganze Weile, dass sie für mich schwärmt. Es wäre schwierig gewesen, es nicht mitzubekommen, denn ich kannte den Hündchenblick, den sie auf mich richtete, nur allzu gut.
„Was ist los, May?“, zischte ich und bleckte die Zähne.
„Nichts, Kill. Warum?“, schnappte sie und ahmte meinen Tonfall nach.
Ich wendete meine Aufmerksamkeit von ihr ab. Wenn ich ihr falsche Signale gegeben hätte, würde ich mich schlecht fühlen. Aber das hatte ich nicht. Klar, ich stellte mich immer auf ihre Seite, und ja, verdammt, sie war meine Fünfte beim Dreifachen Rad. Aber soweit es mich betraf, war es von beiden Seiten aus absolut platonisch.
Nur tief in mir wusste ich, dass es nicht so war.
Gelächter übertönte die Musik, jemand legte den Kopf in den Nacken. Callan lachte gemeinsam mit Sass, nur dass Sass nicht lachte, sie war diejenige, die redete.
Verflucht seltsam.
Ich hatte bisher noch nicht mit Sass gesprochen, denn sie benimmt sich wie eine absolute Einsiedlerin. Ist sie lustig? Ich wollte nur zu gern wissen, was sie gesagt hatte, um Callan zum Lachen zu bringen. Allerdings war es nicht schwierig, Callan zum Lachen zu bringen. Oder zum Stöhnen. Oder zu irgendetwas anderem.
„Können wir reden?“, unterbrach Maya meine Gedanken, und ich wandte meinen gierigen Blick von Sass ab und dem anderen Mädchen zu – Maya.
„Klar.“ Ich stand auf und griff nach einer Flasche Whiskey. Der Strand war voller Leute von überallher, die Silvester feierten. Verdammt, wir hatten zweitausendzwanzig. Das sollte besser das Jahr sein, in dem ich einige Antworten bekam.
Ich folgte ihr, bis wir zu einer Sanddüne kamen, die so hoch war, dass ich den Drang unterdrücken musste, Keats zuzurufen, er sollte die Boards holen, damit wir hinuntergleiten können.
„Es ist so.“ Maya unterbrach erneut meine Gedanken. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, trug einen neongrünen Bikini, darüber einen kurzen weißen Rock, der einen starken Kontrast zu ihrer schönen braunen Haut bildete.
Verflucht, sie war wirklich wunderschön.
Ich habe schon immer Mädchen geliebt, die etwas kaputt sind. Wenn ich ihnen dann mehr Schmerz zufüge, sind sie bereits daran gewöhnt. Sie sind die Einzigen, die mit mir umgehen können. Ich bin für den Krieg gemacht, nicht für die Liebe. Ich will Menschen nicht zerbrechen. Ich will, dass sie bereits zerbrochen sind. Ich will nicht so fühlen, kann es aber nicht ändern.
„Ich bin ziemlich sicher, dass du weißt, was ich für dich empfinde, Kill …“
Ich löste den Verschluss meines Whiskeys und führte ihn an den Mund. Ich trank einen großen Schluck und genoss die Glätte des Teeling Single Malt Whiskeys und wie er meine Kehle hinabglitt.
„Das weiß ich, Maya.“
„Okay. Und?“, fragte Maya, und obwohl die Tiefe der Nacht ihre grünen Augen verbarg, wusste ich doch ganz genau, wie sie mich in diesem Moment ansah. Genauso, wie sie mich angesehen hatte, als ich ihr sagte, dass wir keine streunende Katze mit nach Hause nehmen konnten, als sie fünf Jahre alt war.
Ich seufzte und ließ mich in den Sand fallen. Ich blickte auf den Ozean hinaus und war eine Weile fasziniert von der Art, wie die heftigen Wellen gegen den Sand klatschten. Florida war cool, aber es war nicht mein Fall.
„Was soll ich denn dazu sagen?“
Sie schwieg lange, schnaubte dann. „Das hat schon alles gesagt.“ Sie wollte wieder zurück zur Party gehen, wo die Flammen des Lagerfeuers jetzt hochschlugen.
„Maya!“ Ich griff nach ihrem schlanken Arm. Ich wollte nicht, dass sie wütend auf mich war. Es gab einen Grund, warum ich dieses Thema bei ihr bisher nicht angesprochen hatte. Warum ich es vermieden hatte. Ich wollte ihr nicht wehtun. Irgendwann zwischen unserer Geburt und jetzt war eine Verbindung zwischen uns entstanden. Es war ein verdammt seltsames Band, auf das ich nicht wetten würde, wenn ich ihr erzählte, dass ich nicht dieselben Gefühle für sie hatte wie sie für mich.
Sie entzog sich meinem Griff.
„Vergiss es, Kill. Ich habe verstanden.“ Ihre Schultern sackten unter ihrem langen, lockigen Haar zusammen. Ich hörte die Scham in ihrem Ton. Maya zeigte nicht oft eine Schwäche, und dass sie es jetzt getan hatte, schmerzte mein Herz – oder was immer ich da hatte.
„Ich will dir nicht wehtun, Maya. Das weißt du.“
Sie seufzte. „Ich weiß.“ Sie schniefte, und ich griff nach ihr, zog sie in meine Arme und drückte meine Lippen auf ihren Kopf. Sie fuhr fort: „Ich hätte wissen müssen, Killian Cornelii, dass du mich genommen hättest, wenn du mich wirklich gewollt hättest. Du bist wie ein ausgehungerter Wolf, der nie zufrieden ist.“
Mein Körper bebte, als ich in ihr Haar lachte. Ich wickelte eine ihrer Locken um meinen Finger.
„Ich hab dich lieb. Das weißt du, oder?“
Sie nickte und drückte ihr Gesicht an meine Brust. Ich spürte die Feuchtigkeit ihrer Tränen auf meinem Philipp Plein Shirt. „Ich weiß. Es ist nur nicht die Art von Liebe, die ich brauche.“
„Tja.“ Sie löste sich aus meinen Armen. „Wenn es dich tröstet, ich bin zu keiner anderen Art von Liebe fähig.“
„Ich weiß“, flüsterte sie, als ob sie sich dadurch ein kleines bisschen besser fühlte. „Komm, wir holen uns einen Drink.“
Ich schwenkte meine Whiskeyflasche, und sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Okay, ich hole mir einen Drink, weil ich das eklige Zeug nicht trinke.“
„Stimmt.“ Ich verdrehte die Augen und zog sie unter meinen
Arm, als wir zurück zum Lagerfeuer gingen. „Du trinkst nur billigen Wodka.“
„Hey!“ Sie stieß mir den Ellbogen in die Seite und lachte. „Ich meine es so.“ Ihr Lachen erstarb. „Ist zwischen uns alles okay?“
Ich lachte und drückte sie kurz an mich. „Ja, May, zwischen uns wird immer alles okay sein.“
„Gut“, antwortete sie und schlang ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten. „Gib mir nur etwas Zeit, okay? Ich muss meinen Scheiß irgendwie auf die Reihe bekommen.“
„Du hast alle Zeit der Welt.“ Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, entdeckte ich Saskia. Sie musterte mich aufmerksam, als wäre sie fasziniert, oder als wollte sie mich ausloten. Die Flammen, die durch die Nacht flackerten, änderten absolut nichts an der Tatsache, dass sie bei weitem das heißeste Mädchen war, das ich jemals gesehen hatte. Es gibt sexy, schön, heiß, fickbar, und dann gibt es Saskia, deren Schönheit all diese banalen Adjektive übertrifft, die im Oxford Dictionary zu finden sind.
„Darauf nagele ich dich fest.“ Maya zwinkerte, stieß mich mit ihrer Hüfte an und wandte sich dann dem Ozean zu. Sie rannte los, um einige nächtliche Wellen zu erwischen und wollte offensichtlich auf einen Drink verzichten.
Ich lachte nervös, den Blick immer noch auf Sass gerichtet, die mich weiterhin ansah. Alles um uns herum hörte auf zu existieren, als ob alle Worte, die wir nie gesagt hatten, jetzt über unseren Augenkontakt übermittelt werden würden.
Endlich wandte sie sich von mir ab, sah auf den Sand hinunter und schlang die Arme um sich. Sie trug immer Kleidung, die ihren Körper bedeckte, als ob sie versuchte, irgendeine verrückte Unsicherheit zu verstecken, oder als ob sie sie als Verteidigungsmechanismus benutzen würde, um die Wölfe in Schach zu halten.
Nur dass dieser Wolf husten und prusten und ihr Haus zusammenpusten würde …
Ich schüttele die Erinnerung an die Zeit vor ein paar Monaten ab. Okay, klar, zwei Monate ist nicht alle Zeit der Welt, wie ich es Maya versprochen habe. Aber um fair zu sein, waren das die ersten Worte, die Sass und ich mit einander gewechselt haben. Und um ehrlich zu sein, handelte es sich dabei nicht gerade um eine verdammte Liebeserklärung. Es ist kein Geheimnis, dass ich sie ab und zu angemacht habe, und es ist auch kein Geheimnis, dass sie mich jedes einzelne Mal hatte abblitzen lassen. Denn sie hat nie auch nur ein einziges Wort gesagt. Sie ignoriert mich einfach.
Später am Abend sind wir alle auf dem oberen Deck des Schiffes. Ein paar Leute sind im Pool, aber Keaton, Ky und ich sitzen im Whirlpool.
„Wo sind denn die Turteltäubchen?“ Keaton setzt seine
Bierflasche an den Mund.
„Weiß ich nicht“, antworte ich, lehne den Kopf an den Rand des Whirlpools und blicke in den Himmel hoch. Nonstop von Drake dröhnt laut um uns herum. „Ich bin ziemlich sicher, dass King versucht, sie zu schwängern.“
Keaton spritzt mich nass, und ich beuge mich lachend vor.
„Das ist nicht lustig, du Arschloch. Ich bin noch nicht bereit, Onkel zu werden.“
„Na ja, wenn man es genau nimmt.“ Ich wische mir das Wasser vom Gesicht. „Wenn sie ein Baby bekommt, macht uns das alle zu Onkeln, nicht nur dich.“
Keaton stößt sich vom Rand des Beckens ab, steigt heraus und zeigt mir den Mittelfinger. „Fick dich.“ Er hebt sein Handy vom Boden auf und tippt.
„Wem schreibst du, und wie kannst du so weit draußen
Empfang haben?“
Er zeigt mir erneut den Mittelfinger und geht. Genau in dem Augenblick kommen Callan, Sass und Kenan mit Drinks in den Händen auf uns zu.
Eine Sekunde lang bin ich mir fast sicher, dass Sass nicht in den Whirlpool steigen wird, aber sie tut es. Ihr Körper gleitet ins Wasser. Eine verdammte Schande, einen solchen Körper zu verstecken.
Callan schiebt sich zu mir herüber. „Hey.“
Ich zucke zusammen, und es muss sichtbar gewesen sein, denn ich höre Ky im Hintergrund leise lachen. Mistkerl.
„Wie geht’s?“ Ich rücke demonstrativ von ihr weg. Ich weiß verdammt noch mal nicht, warum. Ich kann den Finger nicht auf den genauen Grund legen, warum ich nicht will, dass sie mich im Moment berührt, und ich will mir nicht eingestehen, dass es an der Anwesenheit eines anderen Mädchens liegt.
Callan bemerkt es, lehnt sich aber gegen das Becken.
„Ich bin wegen Australien schon ganz aufgeregt. Ich war noch nie dort.“
„Es ist wunderschön“, sagt Kenan und schüttelt den Kopf. „Wenn man alles überlebt, was einen umbringen kann.“
Kenan ist jemand, den ich nicht richtig einschätzen kann. Wegen seines jungenhaften Gesichts und seines Charmes habe ich fast ein schlechtes Gefühl, dass er bei Midnight Mayhem ist, und ich bin überrascht, dass er bisher noch nicht bei lebendigem Leib gefressen wurde. Diese ersten Tage.
Callan lacht. „Ich habe mal eine Dokumentation gesehen …“ Ich höre nicht weiter zu. Ich frage mich, ob sie absichtlich in den Whirlpool gekommen ist, um mich sauer zu machen.
Mein Blick wandert zu Sass, die mich bereits ansieht. Im Hintergrund spielt Musik, die Leute schreien und kreischen in ihrem betrunkenen Stumpfsinn, und dann gibt es nur noch sie und mich und dieses komplizierte Netz aus Geschichten, das unsere Augen erzählen. Ich hebe fragend etwas die Brauen, um zu sehen, ob sie den Köder schluckt. Sie wendet den Blick von mir ab und nimmt einen Schluck von ihrem Drink. Ky stößt mich unter Wasser mit dem Fuß an und wirft mir einen fragenden Blick zu.
Ich weiß es nicht, verdammt.
Ich reagiere mit einem Schulterzucken.
Saskia Royal ist so verflucht kompliziert, aber die Hindernisse, die sie mir in den Weg stellt, trainieren lediglich meine Ausdauer. Und wenn ich irgendwann die Ziellinie erreiche, sollte sie lieber flüchten.
Kenan legt sich Callan über seine breite Schulter und trägt sie aus dem Whirlpool. Ich beobachte, wie er sie in den Swimmingpool wirft, irgendetwas brüllt und sich wie King Kong auf die Brust schlägt. Der Junge ist lustig, das muss ich ihm lassen.
Er hat Eier. Vielleicht habe ich ihn unterschätzt.
Ky klettert als Nächster aus dem Whirlpool. „Ich bin sehr für Dreier, aber mit diesem hier will ich nichts zu tun haben.“
Sobald er außer Hörweite ist, flüstere ich spielerisch:
„Was habe ich getan?“
Sie antwortet nicht, legt nur den Kopf auf den Beckenrand und sieht in den Himmel hinauf.
„Du glaubst, dass du etwas falsch gemacht hast, wenn ein Mädchen bei dir nicht mit den Wimpern klimpert.“
„Hör mit diesem verfluchten Spielchen auf, Sass. Das interessiert mich einen Dreck. Es ist mir egal, wenn ich nicht dein Typ bin – obwohl du damit einen schweren Fehler begehen würdest –, aber ich will wissen, warum du mich hasst.“
Sie lacht leise, hebt den Kopf und sieht mich düster an.
Mascara von Niykee Heaton spielt im Hintergrund.
„Das ist egal.“
Verflucht. Ich stoße mich vom Beckenrand ab, schiebe mich zu ihr und bewege die Arme im Wasser. Die roten Neonlichter unter uns erzeugen Schatten auf ihren scharfen Gesichtszügen.
Sie erstarrt. „Was tust du?“
Ich lege meine Finger unter ihr Kinn und hebe ihr Gesicht an. Nur dass ich nicht bedacht hatte, wie sie aussehen würde, wenn sie mich so hilflos anblickt. Ihre Augen sind verdammt hypnotisch, und, verflucht, ich glaube nicht einmal, dass meine Gedankentricks irgendjemandem helfen könnten, der mit dieser Frau in Berührung kommt.
„Was habe ich getan?“, wiederhole ich und drücke den
Daumen gegen ihre Unterlippe.
Sie entzieht sich meinem Griff, als hätte ich sie verbrannt. „Lass mich damit in Ruhe, Killian.“ So wie mein Name aus ihrem Mund klingt, will ich das verdammte Gegenteil tun.
Verflucht. Was zur Hölle?
Sie steigt aus dem Wasser. „Lass es gut sein.“
Als ich acht Jahre alt war, starb meine Mutter.
Als ich acht Jahre alt war, wurde mein Vater ermordet.
Ich weiß nicht, warum oder wie dieses Muster entstand. Ich weiß nicht, warum ich im Gegensatz zu den meisten Kindern in meinem Alter keine fürsorgliche Familie hatte. Die meisten Menschen wissen nicht viel über Kiznitch und über die alten Erzählungen, die mit diesem Heiligen Land in Zusammenhang stehen. Die meisten Menschen auf dieser Welt glauben nur an das, was sie sehen. Das ist nicht der Fall, wenn man Kiznitch-Blut hat. Manchmal wünsche ich mir, dass ich an jenem Tag mit Papa gestorben wäre. Ich wünsche mir, dass derselbe Mann, der das Magazin in Papa leerte, auch mich erschossen hätte.
So viel Glück habe ich nicht gehabt.
„Saski?“, rief meine Patentante Hope unten im Flur.
Hope hatte mich zu sich genommen, nachdem all das passiert war. Ich traf sie zum ersten Mal, als ich acht Jahre alt war, und die Umstände an diesem Tag sind für mich immer noch etwas verschwommen.
Unser Leben lief gut, bis es nicht mehr gut lief. Bis heute. Aber ich war irgendwie darauf vorbereitet. Ich wusste es. Kiznitch war mächtig. Das lernte ich schon in jungen Jahren. Mit acht, um genau zu sein.
„Ich komme!“, rief ich und zog den Gürtel um meine Taille fest. Ich war zur Florida State University gegangen und nach Hause gefahren, wann immer ich gebraucht wurde, seit ich meinen Abschluss an der Siesta High gemacht hatte. Aber in letzter Zeit war ich seltener nach Hause gekommen, besonders seit Hope wieder geheiratet hatte.
Ich betrat das Wohnzimmer, strich mir mit einem Lächeln das Haar hinters Ohr und erstarrte. Eine Frau und ein weiterer Mann saßen im Zimmer, und sie mussten mich nicht ansprechen, damit ich wusste, wer sie waren. Menschen, die zu Kiznitch gehören, haben eine Art, den Raum zu beherrschen, ohne ein einziges Wort zu sagen.
„Hallo, Saskia. Ich bin Delila Patrova.“
Mein Blick schoss durchs Zimmer und blieb an dem Mann hängen, der sie begleitete. „Ja?“
„Weißt du, wer ich bin?“, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite. Ihr streng geschnittenes Haar fiel ihr dabei auf die schmale Schulter.
„Nein“, log ich. „Ich weiß nicht, wer Sie sind.“
Sie zögerte und sah den Mann an, der mit ihr gekommen war. Dann wandte sie sich wieder an mich. Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. „Du musst mit mir kommen. Hat dein Vater dir einiges über Kiznitch erzählt?“
Sofort sah ich Hope an. Sie nickte mir mit ernstem Blick zu.
Wir wussten, dass dieser Tag kommen würde. Ich wünschte nur, dass ich das College beendet hätte, bevor es passierte. Ich sah wieder Delila an.
„Ja, das hat er.“
Sie lächelte. „Gut, dann muss ich dich nicht kidnappen.“ Das war kein Scherz. „Pack eine Tasche, nur das Wichtigste. Sei in einer Stunde fertig.“
Mir sank das Herz, aber ich hätte besser darauf vorbereitet sein sollen. Ich glaube, über die Jahre war ich gegenüber der Tatsache, dass sie eines Tages kommen und mich holen würden, abgestumpft. Jetzt musste ich das tun, wobei meine Eltern versagt hatten.
„Okay.“ Ich drehte mich einfach um und ging zurück in mein Schlafzimmer, holte eine kleine Reisetasche hervor und legte sie auf mein Bett. Als ich Kleidung aus meinem Schrank zog, kam Hope herein und setzte sich daneben.
„Du kannst immer noch fliehen, Sass.“
Meine Hand erstarrte kurz, dann nahm ich eine Jeans vom Bügel. „Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. „Ich werde nicht weglaufen, so wie Papa. Es macht mir nichts aus, ihren Verpflichtungen nachzukommen.“
Hope rutschte unbehaglich herum, während ich weiter Sachen in meine Tasche warf.
„Ich glaube nicht, dass sie dich deswegen mitnehmen, Sass. Ich glaube, das hat einen anderen Grund.“
Ich hatte nie gefragt, in welcher Beziehung Hope zu Kiznitch stand oder warum sie so viel darüber wusste. Es war sehr seltsam, dass eine Außenstehende so viel über Kiznitch wusste und noch immer lebte.
„Was meinst du damit?“ Ich zog den Reißverschluss meiner Tasche zu.
Hope legte ihre Hand auf meine und unterbrach mich mitten in der Bewegung. Sie hatte etwas in der Faust, und als ich die Hand öffnete, fiel ein schwerer Schmuckanhänger in antikem Stil hinein.
Ich hielt ihn an der Kette hoch, um ihn zu betrachten.
„Was ist das?“
Sie drückte meine Hand hinunter und zog den Reißverschluss meiner Tasche wieder auf.
„Bitte zeig es niemandem. Aber, Saskia, es ist unerlässlich, dass du ihn immer bei dir trägst, hast du verstanden? Du musst es mit deinem Leben schützen.“
Ich untersuchte ihn schnell. Der blutrote, ovale Stein war von einem Drachen aus Metall eingefasst, der sich um ihn schlang. Er war hässlich. Ich würde ihn niemals tragen, geschweige denn beschützen. Ich lachte, aber Hope legte die Hand um mein Gesicht und zwang mich, sie anzusehen.
„Das ist kein Witz, Sass. Wir haben nicht viel Zeit. Verdammt.“ Sie stieß den Atem aus, sprang vom Bett und rieb sich mit der Hand über den Bauch. Sie schien sich nicht ganz wohlzufühlen, verhielt sich seltsam. Ich fühlte mich dabei unbehaglich. „Ich dachte, ich hätte mehr Zeit.“
„Hope?“, fragte ich und fühlte plötzlich tiefes Bedauern. Ich hätte nicht lachen dürfen. Ich kannte dieses Leben und diese Welt. „Was ist los?“
Unsere Familie, die Royals, war in Kiznitch alles andere als royal. Wir waren die Unwichtigen, waren nie besonders genug, um zum Midnight Mayhem zu gehören. Mein Vater beaufsichtigte Aufnahmen von Sicherheitskameras, meine Mutter war Krankenschwester. Das war alles, was wir je waren und was ich jemals sein würde.
Meine Zimmertür öffnete sich und der Mann, der mit Delila gekommen war, trat ein. Ich schloss sofort die Hand um den Kettenanhänger, um ihn zu verstecken.
„Es ist Zeit, Saskia. Wir müssen los.“
Ich nickte, und mein Blick wanderte zu Hope. Ich schob ihren Kettenanhänger schnell in meine Seitentasche und ging zu ihr.
„Ich hab dich lieb. Ich schreibe dir, okay?“
Hope wandte mir das Gesicht zu und legte ihre Hände um meine Wangen. Sie war wunderschön, hatte langes blondes Haar, Naturlocken und dunkelbraune Augen. Ihre Haut war so weich und makellos, dass es mich neidisch machte. Sie sah mir in die Augen und zog mich dann in eine lange Umarmung. Ihre Lippen waren dicht an meinem Ohr. „Vertrau niemandem, Saskia. Und wenn du wegmusst, dann lauf.“
Ich hatte mir nie viele Gedanken darüber gemacht, wie es ablaufen würde. Wie es sein würde, wenn ich ein Teil von Kiznitch werden würde. Ein Teil von etwas, das quasi meine Familie zerstört hatte. Aber Hope hatte recht. Der Grund, warum sie mich mitnahmen, war alles andere als das, womit ich gerechnet hatte. Nicht einmal annähernd.
Es klopft an meiner Tür, und ich werde aus den Gedanken an die Vergangenheit gerissen. Ich öffne die Tür und sehe Perse am Türrahmen lehnen. Perse ist mit King zusammen, und die Geschichte, wie sie hierhergekommen ist, unterscheidet sich sehr von meiner.
„Hey! Ich dachte, da wir morgen von Bord gehen, könnten wir heute Abend ein paar Bahnen schwimmen?“
Seit wir an Bord dieses Schiffes gegangen sind, sind Perse und ich gemeinsam Bahnen geschwommen, um uns fit zu halten. Es gibt ein Fitnessstudio, aber auf einem Laufband zu rennen, ist fast unmöglich, wenn der Untergrund nicht stabil ist.
„Klar“, sage ich und greife nach dem Türknauf. „Um wie viel Uhr?“
Mein Zimmer ist hübscher, als ich es bei einem Kreuzfahrtschiff erwartet hätte, aber das stimmt ja auch nicht ganz, denn das hier ist Midnight Mayhem. Die Crew wohnt auch auf derselben Ebene, was bequem ist. Ich bin jetzt seit fast drei Monaten bei Midnight Mayhem, was bedeutet, dass es drei Monate her ist, seit ich Hope das letzte Mal gesehen habe. Wir bleiben über Textnachrichten in Kontakt, aber ich habe sie nicht persönlich gesehen. Mir fällt auf, dass ich langsam anfange, eine Distanz zu ihr zu fühlen und ich weiß nicht, ob das an meiner momentanen Lage liegt oder an etwas anderem. Ich hoffe, das Erstere trifft zu.
„Jetzt?“, fragt Perse und hebt die Brauen.
Zu Perse habe ich sofort eine Verbindung gespürt. Zuerst wusste ich nicht, was es war, aber ich fühlte es, und ich glaube, dass es ihr genauso geht, nur dass sie mich ansieht, als wäre ich eine zerbrechliche Puppe, die nichts allein bewältigen kann. Oh, da hat sie noch viel zu lernen. Es gibt so viel, was ich mit ihr teilen will. Nur dass ich riesige Probleme habe, anderen zu vertrauen.
„Klar! Ich hole nur meine Sachen, wir treffen uns dort.“
Perse schließt die Tür, und ich gehe durch mein Zimmer und sammele alles zusammen, was ich brauche, damit ich nicht mehr herkommen muss, bis ich ins Bett will. Ich glaube, dass ich lieber Shows in Amerika mache als internationale, und die ersten beiden Wochen an Bord war ich seekrank und nahm Ingwertabletten wie Bonbons.
Ich öffne die Badezimmertür, nehme ein Handtuch aus dem hohen Regal und stopfe alles in meine Sporttasche. Dann gehe ich zur anderen Seite meines Zimmers, um die Schiebetür zu schließen, die zum Balkon führt. Der Balkon ist wahrscheinlich das, was mir an meinem Zimmer am besten gefällt. Darauf steht ein Esstisch mit fünf Stühlen, und man hat einen Blick auf die endlose Weite des Ozeans. Mein Schlafzimmer ist klein, aber gemütlich. Es hat ein Bad mit Wanne und einen begehbaren Kleiderschrank. Es gibt keine Küche, was bedeutet, dass wir alle gemeinsam im Restaurant essen.
Ich gehe zu den Aufzügen, und als ich drin bin, drücke ich den Knopf für das oberste Deck. Ich kann es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Egal, welchen Boden.
Gerade als die Türen zugleiten, schiebt sich ein Arm dazwischen und hält sie auf. Ich muss nicht darüber nachdenken, wer es ist, denn ich sehe die glänzende goldene Rolex an seinem Handgelenk und darüber einen tätowierten Arm.
Killian tritt ein, und als er mich bemerkt, weicht er zurück, sodass er auf der anderen Seite des Aufzugs steht. Die Türen schließen sich, und wir sind in einer Kabine gefangen, die klein genug ist, dass ich seinen Atem auf meinem Nacken spüre. Ich spanne mich an.
„Weißt du …“
Killian lächelt spöttisch, und ich kann nicht anders, als ihn zu betrachten. Ich versuche, ihn so selten wie möglich anzusehen, denn wenn ich es tue, scheint eine magnetische Anziehungskraft meinen Blick gefangen zu halten und ich brauche all meine Kraft, um ihn wieder abzuwenden. Als ob er in meine Seele blicken würde. Als ob er hinter mein überbewertetes Äußeres sehen kann und all die hässlichen Teile meiner Seele erkennt. Aber statt davon abgestoßen zu sein, will er sie herausfordern. Er sonnt sich in der Anwesenheit meiner Dämonen und fordert sie mit seinem blöden Grinsen heraus.
Er lehnt sich gegen die Wand, und die schummrige Beleuchtung betont die scharfen Linien seines Gesichts. Killian ist überwältigend. Das ist offensichtlich. Aber ich kenne überwältigend. Mir sagt man dasselbe, aber das hält die Gedanken nicht auf, die mir durch den Kopf gehen. Schönheit neutralisiert das Böse in einer Person nur. Sie blendet die Menschen mit ihrer Oberfläche, um die Dunkelheit zu verbergen, die dahinter lauert.
Er lächelt spöttisch, wahrscheinlich weil er annimmt, dass ich ihn abchecke. Das habe ich nicht. Ich habe ihn eher taxiert.
„Weißt du, ich könnte dich mit weit gespreizten Beinen und um Gnade schreiend unter mir haben. Und das innerhalb von drei Sekunden, wenn du willst …“ Er holt eine Zigarette aus der Tasche und steckt sie sich zwischen die Lippen. Ich hebe herausfordernd die Brauen. Seine Augen verengen sich leicht. „Und bevor du Vergewaltigung schreist – erstens: Fick dich, dass du so etwas denkst. Und zweitens: Noch mal fick dich, denn rate mal …“ Er zieht an seiner Zigarette, stößt sich an der Wand ab und bleibt ganz dicht vor mir stehen. Er bläst ein paar Rauchringe in mein Gesicht, was das Einzige ist, was mich von seiner körperlichen Nähe ablenkt. Er verzieht die Lippen zu einem Lächeln und zeigt dabei perfekte weiße Zähne. Man könnte meinen, es wären Kronen, aber das ist leider nicht so. Der Mann ist einfach genetisch gesegnet. Gesegnet von Satan. „Ich bin nicht mehr an dir interessiert.“
Die Türen öffnen sich mit einem Pling, er tritt hinaus und zwinkert mir noch schnell zu. Ich stoße den Atem aus, mir hämmert das Herz in der Brust. Das ist eine gute Sache. Das ist es, was ich wollte. Leer. Schwarz. Ist es so? Schwarze Wände kommen auf mich zu, und ich strecke die Arme aus, um zu verhindern, dass sie mich zu Tode quetschen. Ich strecke die Arme aus, aber nichts berührt meine Handflächen. Ich schreie, als sich die unsichtbaren Wände weiter drohend aufeinander zubewegen.
Die unsichtbare Faust der Szene, die sich in meinem Kopf abgespielt hat, klammert sich um meine Herzklappen und reißt mit Macht an ihnen. Gottverflucht nochmal. Ich drücke schnell auf den Knopf, der die Türen öffnet, trete auf das Oberdeck hinaus, atme mit geöffnetem Mund tief ein und aus und bete wie verrückt, dass Killian sich von jetzt an von mir fernhält.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich nicht mehr an meine Kindheit erinnere. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das, was Perse passiert ist, auch mir zugestoßen ist, aber leider hatte ich dieses Glück nicht. Wie ein kranker Psychothriller, der in meinem Kopf in Endlosschleife läuft, sehe ich immer wieder den Mord an meinem Vater vor mir. Meine Mutter war kurz davor gestorben. Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich herumwirbele, um zum Aufzug zu rennen und in mein Zimmer zurückzukehren. Nur dass ich mit Kenan zusammenstoße und vor Schreck zurückspringe. Ich werfe ihm meine Sachen ins Gesicht und suche nach etwas, irgendetwas, das ich als Waffe benutzen kann. Meine Muskeln spannen sich an, während ich am ganzen Leib schlottere.
„Wow!“ Kenan hebt abwehrend die Hände. „Ich bin’s …“
Ich ringe nach Luft und mein Herzschlag beruhigt sich langsam.
„Hey!“ Kenan legt die Hände um meine Wangen und wischt die Schweißtropfen weg, die mein Gesicht hinunterrollen. „Ich bin’s.“
Ich stoße einen letzten zittrigen Atemzug aus, dann lächele ich und reiße mich zusammen. „Danke. Tut mir leid. Ich hatte letzte Nacht einen Albtraum, darum bin ich etwas schreckhaft.“
Kenan sieht mir in die Augen. Warmes Braun trifft auf mein blasses, lebloses Blau. „Worum ging es dabei?“
„Nichts.“ Ich schüttele den Kopf, bücke mich, um meine Tasche aufzuheben und schlinge sie über meine Schulter. „Überhaupt nichts.“
Ich gehe zum Pool, wo Perse bereits ihre Bahnen zieht.
Nach meinem Zusammenstoß mit Kenan ist mir nicht danach, in einem Pool voll Wasser und dadurch verletzlich zu sein. Also ziehe ich den Reißverschluss meines Abercrombie Hoodie hoch und die Sandalen wieder an. Ich bin fast sicher, dass die LED-Lichter des Pools das Weiß meiner Leinenshorts noch intensivieren, wodurch meine Haut dunkler wirkt.
„Kommst du nicht rein?“, fragt Perse und streicht sich das nasse, lange rote Haar aus dem Gesicht. Ich schüttele den Kopf.
„Na, komm schon …“, zieht sie mich auf. „Danach können wir uns einen Drink gönnen und den Rest des Abends chillen.“ Perse ist bei ihren Freunden hartnäckig.
Ich stöhne. Sie hat recht. Ich muss etwas Stress abbauen, besonders nach meiner Begegnung mit Killian. Ich ziehe mich aus, werfe meine Kleidung auf eine der Sonnenliegen und streife meine Sandalen ab.
„Braves Mädchen.“ Perse lacht leise.
Ich lasse mich ins Wasser gleiten und zucke bei der Kälte zusammen. Während ich mein Haar auf dem Kopf zu einem Knoten schlinge, richte ich meine Aufmerksamkeit weiter auf Perse.
„Was ist los?“, fragt sie, denn offensichtlich spürt sie, dass etwas nicht stimmt.
Ich lecke mir über die Lippen. „Ich glaube, ich habe auf dieser Reise sehr oft an meine Eltern gedacht. So eine Schifffahrt war etwas, das wir einmal gemeinsam machen wollten.“
Perse nickt. „Ich weiß, dass ich nicht viel über dich weiß.“ Sie schwimmt näher zu mir heran und setzt sich neben mich auf die unter Wasser liegende Kante des Pools. „Aber ich bin für dich da, wenn du reden willst. Ich weiß, dass du Callan und Kenan hast …“
Ich schnaube. „Bei Callan bin ich mir nicht sicher, aber ich weiß, dass ich Kenan irgendwie vertrauen kann.“
Perse bindet ihr Haar zu einem tief sitzenden, unordentlichen Knoten. „Tja, ich bin froh, dass du klug bist.“
Die Neonleuchten, die sich an der Innenseite des Pools entlangziehen, beleuchten unsere Körper von unten, und gerade als ich den Mund öffnen will, fängt Callan auf der anderen Seite des Decks laut zu lachen an.
„Vielleicht schicke ich sie zu den Ringen, mit Maya.“
Ich reiße die Augen auf. „Wirklich?“ Ich bin schockiert, dass Perse Callan zu einer anderen Gruppe schicken will.
Perse schätzt meine Reaktion ab und stößt sich von der Seite des Pools ab.
„Würdest du das bevorzugen?“
Ich sehe sie erschrocken an. „Sie stört mich nicht.“
„Oh, ich weiß.“ Perse schaut zu Callan hinüber, die neben Killian, King und Kyrin sitzt. Ohne es zu wollen, wandert mein Blick zu Killian, der mich bereits unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtet. Mein Herz fängt an zu rasen, als ich ihn beim Starren erwische. „Ich weiß nur, dass sie dir gegenüber auf eine bestimmte Art empfindet, und wenn du dich deswegen in ihrer Gegenwart unwohl fühlst, kann ich sie wegschicken. Sie ist eine tolle Tänzerin, aber du bist besser.“
Ich zucke mit den Schultern und reiße den Blick von Killian los, bevor er mich hineinzieht in den Strudel von was auch immer es ist, in was er mich hineinziehen will.
„Ich bin mir sicher. Ihre Einstellung mir gegenüber berührt mich nicht.“
„Gut.“ Perse tätschelt mein Bein. „Vergiss die Bahnen. Lass uns essen gehen.“
„Zaika, komm bitte runter. Hör auf, auf den Baum zu klettern!“, rief mein Vater über die perfekt gemähte Rasenfläche.
Mir gefiel es, auf Bäume zu klettern. Mit sieben Jahren wusste ich bereits, dass ich, wenn ich endlich mein eigenes Haus ohne herrschsüchtige Eltern besaß, einen riesigen Baum pflanzen würde, dessen Äste nur für mein Vergnügen da wären. Ich liebte es, zu klettern.
Ich kicherte, drehte mich um und sah Mama und Papa an. Mama sah heute schlechter aus. Schlechter als vorige Woche. Mein Lächeln verblasste. Ich wusste, dass sie krank war. Papa hatte gesagt, dass sie nicht mehr lange leben würde. Sie hatte Krebs bekommen, und das war offensichtlich sehr schlimm, denn die Ärzte wussten nicht, wie sie es heilen sollten. Ich weinte jede Nacht und betete, dass es sich in eine heilbare Krankheit verwandeln würde. Eine, bei der sie husten und niesen musste, aber nicht starb.
Ich kletterte vom Baum herunter und lief zu Papa und Mama.
„Wir haben Limonade gemacht, Zaika“, sagte Mama und wies aufs Haus.
Ich stürmte hinein, durch die Küche und direkt ins Wohnzimmer. Ich streifte meine Schuhe ab und drehte eine Haarsträhne um meinen Finger.
„Zaika“, sagte Papa und kniete sich vor mich hin. Seine Augen waren wie meine. Hellblau. Papa sagte, wir würden von Meerjungfrauen abstammen, deshalb hätten unsere Augen die Farbe von Atlantikeis. „Nachdem du die Limonade getrunken hast, musst du eine Tasche packen. Du wirst sie jetzt noch nicht brauchen, aber du musst sie für den Notfall packen. Schaffst du das, Zai? Für Papa? Für Mama?“
Ich zog verwirrt die Brauen zusammen, hob das Glas an die Lippen und trank einen Schluck. „Ja, das kann ich. Aber warum?“
Um Papas Augen bildeten sich Fältchen. „Das ist jetzt nicht wichtig, Prinzessin. Im Moment ist es nur wichtig, dass du deine Tasche packst.“
Nachdem wir am nächsten Tag angedockt und unsere Fahrzeuge organisiert haben, stellen wir sie auf einem Parkplatz in der Nähe des Hafens ab. Wir haben Glück, so viele Crewmitglieder zu haben, aber wir brauchen mindestens ein oder zwei Tage, um das Schiff zu entladen.
Ich bin auf dem Rückweg zu unserem Wohnmobil, und als ich die Tür öffne, sehe ich, dass Callan und Kenan am Tisch Karten spielen. Sie tragen beide keine Shirts und Callan hat einen knappen BH und Leggins an. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu und wendet sich dann wieder dem Spiel zu.
„Hey, Baby G.“ Kenan nickt und mustert mich von Kopf bis Fuß. Wenn irgendjemand anders als Kenan das gemacht hätte, hätte ich ein Problem mit diesem offenkundigen Starren gehabt. „Bist du müde?“
„Ja.“ Ich gehe durch die Küche und in Richtung meines Schlafzimmers. Als Perse auszog und sie und King ihren eigenen Bus bekamen, übernahm ich ihr Zimmer, sehr zu Callans Missfallen, wie ich glaube. Zwischen ihr und mir war früher alles okay, aber je mehr Zeit vergeht, desto größer scheint ihr Problem mit mir zu werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kenan die Anspannung auch spürt, aber wir können die Meinung eines anderen Menschen über uns nicht ändern. Wir können sie nur über dem brüten lassen, was in ihrem Kopf brodelt, in dem Wissen, dass wir nicht am Tisch sitzen werden, wenn sie beschließen, ihren Senf aufzutischen.
Ich öffne den Kühlschrank und nehme mir ein kaltes Wasser heraus.
„Wir sehen uns morgen. Nacht.“ Ich gehe an den beiden vorbei Richtung Treppe, denn ich habe es eilig, von Callan wegzukommen.
„Nacht“, ruft Kenan, als ich meine Schlafzimmertür erreiche.
Ich schließe die Tür leise hinter mir und lasse mich auf die weiche Matratze sinken. Ich bin erleichtert, dass wir vom Schiff herunter sind und zurück in unseren Wohnmobilen, und ich bin noch erleichterter, dass ich Killian nicht begegnet bin. Nicht ein einziges Mal.
Trockene Blätter knirschten unter meinen Füßen, der Schmerz fing an, stärker durch meine Adern zu pulsieren. Sweet Dreams von Marilyn Manson spielte leise im Hintergrund, eine Reihe von Bäumen säumte den Feldweg, der in den Wald führte.
„Hallo?“, rief ich, aber nur meine eigene Stimme hallte zurück. Meine Hand fuhr zu meiner Kehle, wo ich fest zugriff. „Hallo?“, wiederholte ich, ohne Erfolg.
Ich sah an dem Kleid herunter, das ich trug und zuckte zusammen, als ich hellrote Blutspritzer darauf entdeckte. Ich hob den Kopf, als ich etwas an der Seite meines Halses herunterlaufen spürte, und wischte es weg. Noch mehr Blut.
„Was?“, flüsterte ich verwirrt. Der helle Vollmond ging grell im Hintergrund unter.
„Erzähl mir mehr“, dröhnte eine Stimme dicht an meinem Nacken.
Ich schrie und sprang von der fremden Stimme fort. „Was willst du von mir?“
Eine Hand legte sich über meinen Mund, und ich wurde rückwärts gezogen, bis mein Rücken gegen seine Brust stieß. „Alles.“
Ich schieße vom Bett hoch. Mein verschwitzter Pyjama klebt an meiner Haut und mein Herzschlag hämmert unregelmäßig.
„Ein Albtraum?“ Ich erkenne Kyrins Stimme sofort.
Wir haben noch nicht viel miteinander gesprochen, was offensichtlich bei Kyrin absolut normal ist, aber ich erkenne seine Stimme. Ich drehe mich zu der dunklen Ecke meines Zimmers um, kann ihn in dem Schatten aber nicht sehen. „Was hast du hier drin zu suchen?“ Ich stemme die Ellbogen auf die Matratze und richte mich auf.
„Interessante Frage“, murmelt eine andere Stimme, und ich erstarre. Normalerweise spüre ich seine Anwesenheit bevor ich ihn höre, und das sagt schon etwas, denn Killian ist nicht gerade sanftmütig.
Ich schwinge die Beine aus dem Bett und streiche mir das Haar aus dem Gesicht. Ich bereite mich mental darauf vor, wie viel Energie mich diese Begegnung kosten wird.
„Ich habe auch eine Frage“, fügt Killian hinzu. Er muss aufgestanden sein, denn jetzt kann ich seine Stiefel sehen. Sie waren hier drin, während ich geschlafen habe, und auch wenn mir das unheimlich sein sollte – und es ist unheimlich –, ist es nicht das Schlimmste, das sie je getan haben.
„Und die wäre, Killian?“ Ich hebe den Kopf, um ihn anzusehen.