Broken Puppet - Elite Kings Club - Amo Jones - E-Book
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Amo Jones

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Beschreibung

Dem Elite Kings Club wirst du nicht entkommen

Als Madison herausfindet, dass sie all die Jahre belogen wurde und niemandem vertrauen kann, will sie nichts wie weg: weg vom Elite Kings Club und weg von Bishop. Sie flieht bis ans andere Ende der Welt, und hofft, dass niemand sie finden wird. Doch so sehr sie versucht, ihre Spuren zu verwischen, Bishop hat sie längst aufgespürt. Denn der Elite Kings Club gibt nichts wieder her, was einmal ihm gehört hat ...

"Süchtig machend und faszinierend!" BECKIE BOOKWORM

Band 2 der ELITE-KINGS-CLUB-Reihe von Amo Jones


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Seitenzahl: 346

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Inhalt

LeserwarnungTitelZu diesem BuchPlaylistWidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelDanksagungDie Autorin Weitere Romane der Autorin bei LYXImpressum

Leserwarnung

Dieses Buch enthält explizite Szenen, derbe Wortwahl, Gewalt und die Schilderung von sexuellen Übergriffen. Leser*innen, die derart heftige Darstellungen nicht lesen möchten oder durch sie an ein Trauma erinnert werden könnten, wird hiermit geraten, diesen Roman nicht zu lesen.

AMO JONES

Broken Puppet

Roman

Ins Deutsche übertragen von Karla Stepenitz

Zu diesem Buch

Als Madison Montgomery nach einem schweren Schicksalsschlag in die Hamptons zog, wollte sie vor allem eins: vergessen und noch einmal ganz von vorne anfangen. Doch je stärker sie in den Bann von Bishop Vincent Hayes und seinem berüchtigten Elite Kings Club gerät, desto deutlicher wird, dass Madison ihrer Vergangenheit nicht entkommen kann. Und als sie herausfindet, dass sie ausgerechnet von den Menschen verraten wurde, denen sie am meisten vertraute, will sie nichts wie weg: weg von ihrem Vater, weg von den Kings und weg von Bishop. Sie flieht bis ans andere Ende der Welt, doch gerade, als sie denkt, ihr altes Leben hinter sich gelassen zu haben, ergreift Bishop erneut Besitz von ihr – vor allem von ihrem Herz. Egal wie viele tausend Meilen zwischen ihnen liegen, Madison wird klar, dass der Elite Kings Club nichts wieder hergibt, was einmal ihm gehört hat, und dass sie sich ihm stellen muss. Auch wenn dies die Mauern, mit denen sie ihre eigenen Geheimnisse ihr Leben lang geschützt hat, zum Einsturz bringen wird…

PLAYLIST

Jason Derulo »Stupid Love«

The Weeknd »Or Nah«

Dead Prez »Hip Hop«

Avenged Sevenfold »Hail to the King«

Machine Gun Kelly »Bad Things«

The Game »It’s Okay«

David Guetta »Where them Girls At«

Cheat Codes »No Promises«

Redman »Cisco Kid«

Cypress Hill »Tequila Sunrise«

Kendrick Lamar »Humble«

Tash Sultana »Jungle«

Tsar B »Escalate«

Tsar B »Myth«

Für alle Mädchen, die durch die Hölle gegangen sind und in deren Seele nun ein höllisches Feuer brennt, deren Herzen bluten, an deren Seite der Teufel geht.

Dieser Roman wurde für euch geschrieben.

Für uns.

Krönchen richten.

Weitergehen.

PROLOG

Mommy? Ich duckte mich hinter die Tür meines Zimmers.

Während ich um die Ecke spähte, hob meine Mutter die Stimme und stach mit dem Zeigefinger auf den Mann ein, der ihr gegenüberstand. »Nein, so war das nicht geplant!«

Der Mann lächelte – ein Lächeln, das bewirkte, dass ich meine Puppie fester umklammerte. »Das hast du nicht zu bestimmen. Sie ist eine Venari. Du musst von hier verschwinden, und zwar schnell, wenn du nicht willst, dass dich die Folgen einholen.«

Meine Mutter umklammerte das Medaillon auf ihrer Brust. »Sie …«, flüsterte sie mit Tränen auf den Wangen. »Sie ist doch noch so klein, Lucian. Sie … sie …«

»Sie ist der Silberschwan, Elizabeth. Du musst verschwinden. Sofort. Bevor Hector davon erfährt.«

Während meine Mutter keuchend einatmete, wich ich von der Tür zurück und schlich zum Bett. Ich schlüpfte unter die Decke, kuschelte mich in die Wärme und drückte Puppie an mich. Seit mir eine gute Freundin der Familie dieses Spielzeug zum Geburtstag geschenkt hatte, ging ich nicht mehr ohne Puppie ins Bett. Sie trug Ballettschuhe und ein lose sitzendes Kleid, und als noch Marionettenschnüre an ihr befestigt waren, streckte sie beide Hände in die Höhe. Schließlich öffnete sich die Zimmertür; sofort schloss ich fest die Augen und begann, an Puppies einem Knopfauge zu kratzen. Sie war längst schäbig geworden, und die Marionettenfäden waren gerissen. Ich war sieben und damit eigentlich zu alt, um noch mit Kuscheltieren schlafen zu gehen.

Aber ich weiß, was der Mann hier will.

Er kommt jeden Freitag.

Ich weiß, was er als Nächstes machen wird.

Alte Schrecken hallen im Zimmer wider. Madison wird von Schluchzern geschüttelt. Sie zieht die Knie an die Brust, kneift die Augen zu und versucht die vertrauten Erinnerungen auszusperren. Jede Nacht wird sie von ihnen heimgesucht. Es ist, als ginge sie in trübem Licht eine kalte, nasse Straße entlang. Allein. Unfähig, sich von dem Zwang zu befreien, der sie dazu treibt.

»Für jemand wie dich gehört das dazu, Silber.«

Sie bekommt Gänsehaut, wenn sie diese aalglatte, zudringliche Stimme hört. Und dann verwandelt sich alles, und sie scheint sich selbst von außen zu sehen, als wäre sie eine andere Person.

»Nein!« Madison krümmte und wand sich in seiner Umarmung und versuchte, die Handgelenke aus seinem Klammergriff zu befreien.

»Pst, Silber. Du gehörst dir nun mal nicht.«

»Was?«, stieß Madison keuchend hervor. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was soll das heißen, ich gehöre mir nicht?« Der Mann ließ ihre Handgelenke los, fasste nach ihrem Pferdeschwanz und zupfte daran. »Bitte nicht«, bettelte Madison. »Heute nicht.« Schmerz und Einsamkeit schnürten ihr die Kehle zu.

»Du solltest dich lieber daran gewöhnen, Silber. Das hier ist erst der Anfang deines Lebens.«

»Aber ich bin doch ganz klein.«

»Es ist immer noch besser, als tot zu sein.« Er fasste nach Madisons Pyjamahose, riss sie ihr herunter und schleuderte sie quer durchs Zimmer. Madison schloss die Augen und träumte von einer besseren Zeit, einer Zeit, in der sie nicht mehr jeden Freitagabend von den Geheimnissen und Bündnissen ihrer Familie heimgesucht werden würde. Ihr Name dafür war Schwarzer Freitag. Sie hasste diesen Mann und fürchtete ihn, und irgendwann würde sie ihm eine Kugel in den Kopf jagen. Beim ersten Mal hatte er ihr die Jungfräulichkeit gestohlen, und eins stand für sie fest: Das würde nicht ungerächt bleiben.

1. KAPITEL

»Madison? Bist du auch sicher, dass du abhauen willst?«, fragt Tatum und sieht mich von der Seite an, die Hände auf dem Lenkrad.

»Ja.« Ich blicke aus dem Fenster. »Ich muss mich von ihnen fernhalten, Tatum.«

Sie biegt auf den Highway ein und schaut mich erneut an. »Magst du erzählen, was vorhin passiert ist?«

In der Hoffnung, ihrer Frage ausweichen zu können, schalte ich das Radio ein. Gerade beginnt »Stupid Love« von Jason Derulo.

»Okay, das ist dann wohl ein Nein«, murmelt Tatum und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Ich schließe die Augen und überlasse mich ganz der Musik und dem Text.

Scheiß auf die Liebe. Scheiß auf alle Gefühle, die an Liebe erinnern. Mich hat sogar der eine Mensch verraten, der mich eigentlich bedingungslos lieben sollte. Was sagt mir das? Bin ich so wenig liebenswert? Und warum denken so viele Menschen, ich hätte es nicht verdient, die Wahrheit zu erfahren? Beides ist gleich beschissen, um ehrlich zu sein.

Das Lied geht zu Ende. Ich drehe das Radio leiser. Mir ist klar geworden, dass das Ganze nicht Tatums Schuld ist.

»Du musst dabei nicht mitmachen, Tate, aber was mich betrifft, ich kann nicht hierbleiben. Nicht in ihrer Nähe. Nicht nach all den Lügen.«

Sie seufzt. »Madi, ich lasse dich nicht allein gehen. Es stimmt schon, wir sind noch nicht lange befreundet, aber … Ich hatte vorher noch nie eine Freundin. Ich war ein bisschen …« Sie wird rot. »… einsam. Deshalb lasse ich dich nicht allein.«

»Dir ist aber schon klar, dass du dann deine Kreditkarten wegwerfen musst?« Bei den Worten beobachte ich ihr Gesicht.

Man kann deutlich sehen, dass ihr diese Tatsache erst jetzt dämmert, doch im nächsten Moment lächelt sie schon wieder. »Ja, Madi. Die sind so gut wie weg.«

»Wirklich?« Ich hebe die Augenbrauen.

»Ja.« Sie nickt, und ich bin fast überzeugt, da ergänzt sie: »Ich hebe nur noch schnell ein paar Tausender ab.«

Lachend schüttle ich den Kopf und drehe die Musik wieder lauter. Was zum Teufel sollen wir jetzt machen?

»Okay«, meldet sich Tatum nach einer Weile erneut, während wir weiterfahren, wohin auch immer. Sie fährt sich mit den Fingern durchs Haar. »Auf jeden Fall müssen wir kurz bei dir zu Hause vorbei und alles holen, was wir brauchen.«

»Was denn zum Beispiel?«, frage ich, völlig entsetzt bei dem Gedanken, noch einmal nach Hause zu müssen. »Nein, Tate, da will ich nicht hin.«

Sie sieht mich an. »Und was fangen wir stattdessen an, Madi? So viele Möglichkeiten gibt es nicht. Wir brauchen doch unsere Pässe und so!«

»Okay«, flüstere ich, lehne mich zurück und suche nach einer Lösung. »Okay, das ist jetzt echt ein Schuss ins Blaue. Aber wenn es nicht klappt, brechen wir bei mir zu Hause ein und holen uns, was wir brauchen, das verspreche ich dir.«

Tatum entspannt sich. »Also, wo geht’s hin?«

Ich muss schlucken. »Zur Riverside. In die Bücherei.«

Als wir die Schule erreichen, parkt Tatum draußen vor dem Eingang und dreht sich zu mir um. »Bist du sicher, dass wir das Richtige machen?«

»Äh.« Ich suche nach einer passenden Antwort, aber es fällt mir nichts ein. »Nein.« Ich stoße die Tür auf und steige aus. Tatum schlägt bereits die Fahrertür zu.

»Ein Glück, dass ich meine Laufschuhe anhabe.« Sie kommt zu mir herum.

Ich schaue auf ihre Füße. »Das sind keine Laufschuhe, Tatum.«

Ich gehe auf das Schulgebäude zu, Tatum bleibt dicht hinter mir. Gemeinsam schleichen wir draußen an der Mädchenseite entlang, wobei wir uns unter den Fenstern hindurchducken, damit uns niemand bemerkt. Wir passieren den Swimmingpool und steuern auf die Bücherei zu, die gleich hinter der Sporthalle liegt. Am Eingang für Schüler bewege ich meinen Schülerausweis über den kleinen Kasten. Als das grüne Lämpchen aufleuchtet, ziehe ich die Tür auf, und wir treten ein. In der Bücherei ist es relativ ruhig. Hier und da sitzen ein paar Schüler, aber niemand beachtet uns. Als die Tür sich hinter uns schließt, durchbricht das Klacken eine Stille, wie es sie nur in Büchereien gibt.

Mit einem Ruck hebt Miss Winters den Blick von dem Buch, in das sie eben noch vertieft war, und schaut zum Eingang herüber. Als sie mich entdeckt, reißt sie die Augen auf. Ich sehe sie flehend an. Sie steht auf, schiebt die Brille nach oben und kommt auf uns zu. Dabei beobachtet sie scharf ihre Umgebung; ihre Angst ist unverkennbar.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie lächelt gekünstelt.

»Ich weiß Bescheid.« Mehr bringe ich nicht heraus. Nachdem ich so lange Zeit am liebsten ständig ›Was zum Teufel geht hier vor?‹ gefragt hätte, sind mir jetzt nur noch diese drei simplen Wörter geblieben.

Miss Winters stutzt, legt den Kopf schräg, schaut kurz über meine Schulter und sieht mir dann ins Gesicht. »Sie wissen Bescheid?«

Ich strecke den Rücken und halte ihrem Blick stand. »Ja.« Im nächsten Moment packt sie Tatum und mich kräftig am Arm und zieht uns zu dem Eingang, durch den wir eben die Bücherei betreten haben. Sie stößt die Tür auf, drängt uns in den nachmittäglichen Sonnenschein hinaus und schließt die Tür hinter sich.

Dann seufzt sie, hebt eine Hand und reibt sich die Stirn. Es ist eine sanfte, fast meditative Geste. »Scheiße.« Sie reckt den Hals, schließt kurz die Augen und seufzt erneut. »Sie wissen, dass Sie der Silberschwan sind?«

»Der was, bitte?«, fragt Tatum frech und sieht mich stirnrunzelnd an.

»Ja«, antworte ich, »aber ich weiß weder, was zum Teufel das bedeutet, noch warum Sie darüber Bescheid wissen, noch warum mich alle belogen haben.«

»Ich kann nicht …« Miss Winters schüttelt den Kopf. »Es tut mir leid, Madison, aber ich kann mich da nicht mit hineinziehen lassen. Es ist zu gefährlich.«

»Können Sie mir denn helfen, von hier zu verschwinden?«

»Vor den Kings darf man nicht weglaufen, Madison. Man würde Sie umbringen.« Das Letzte spricht sie nur flüsternd aus.

»Die bringen mich doch sowieso um. Jedenfalls wenn ich das Buch richtig verstanden habe.«

»Wo ist das Buch überhaupt?« Nervös schaut Miss Winters sich um.

»In meiner Tasche. Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?«

Sie zögert und sieht mir forschend in die Augen. Dann holt sie ihr Telefon hervor. »Also gut. Ich kenne da jemand. Sagen Sie ihm, Tinker hätte Sie zu ihm geschickt.«

»Tinker?«, frage ich, während sie die Nummern in ihrem Telefon durchgeht.

Sie blickt kurz auf. »Ja, Tinker.« Dann hält sie inne und lässt die Hände sinken.

»Was ist?«

»Es ist nur … Hören Sie zu, wenn man so etwas überhaupt macht, dann richtig. Er beschafft Ihnen alle Dokumente, die Sie brauchen. Aber heben Sie vorher ausreichend Geld ab. Er ist nicht billig. Auf internationalen Flügen darf man nicht mehr als zehntausend in bar mitnehmen, also heben Sie die zehntausend ab und dazu noch einmal achttausend, damit Benny Ihnen alles Nötige gibt.« Sie unterbricht sich und zeigt mir seine Nummer. Ich speichere sie schnell ins Telefon ein. »Er wird viertausend pro Kopf verlangen.« Sie sieht mich an. »Und dann verschwinden Sie, Madi. Verschwinden Sie und kommen Sie nie wieder her, denn egal, was Bishop für Sie empfindet …« Sie blickt mir fest in die Augen. »Es hat kein Gewicht. Als es um Khales ging, hatte es auch kein Gewicht.«

»Wie meinen Sie das? Was wissen Sie über Khales?«

Ihre Miene wird hart. »Ich weiß, dass er ihr eine Kugel in den Kopf gejagt hat.«

2. KAPITEL

Nachdem wir zu Tatums Auto zurückgerannt und eingestiegen sind, fährt Tatum schleudernd los, Richtung Bank. »Was zum Teufel wollte sie damit sagen? Bishop soll jemand ermordet haben?« Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie zwischen mir und der Fahrbahn hin und her.

»Ich fürchte, das ist nicht das einzige Mal, dass er jemand umgebracht hat«, erwidere ich leise und blicke aus dem Seitenfenster.

»Du hast mir immer noch nicht erzählt, was da unten im Keller passiert ist, Madi.«

Ich würde es ihr gern verraten, aber seltsamerweise sperrt sich etwas in mir dagegen, ihr Dinge anzuvertrauen, die man gegen Bishop verwenden könnte. Du blödes Ding, schimpfe ich mit mir. Allerdings ist es für Tatum sowieso besser, wenn sie nicht Bescheid weiß.

»Ich möchte echt nicht darüber reden, Tatum.«

Sie lächelt und tätschelt mir die Hand. »Na, jedenfalls verschwinden wir von hier.« Sie hält am Straßenrand, und wir springen aus dem Auto.

»Geh du zu deiner Bank«, sage ich, während ich die Beifahrertür zuschlage. »Ich gehe zu meiner. Wir können beide je zehntausend mitnehmen. Das müsste erst einmal reichen.«

Tatum nickt, doch in ihren Augen entdecke ich etwas, das mich zögern lässt. »Alles in Ordnung?«

»Wollen wir das wirklich machen?«, fragt sie schnell.

»Du kannst noch aussteigen. Mir wäre es sowieso lieber, wenn ich dich nicht in meine Schwierigkeiten hineinziehe.«

»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich komme mit. Hier hält mich doch nichts.«

Ich lächle traurig. »Okay, dann ist das abgemacht. Wir sehen uns in zehn Minuten wieder hier.« Tatum nickt und stürmt in ihre Bank. Ich überquere die belebte Straße, um zu meiner zu gelangen. Als ich mit gesenktem Kopf die Tür aufstoße und eintrete, pralle ich gegen jemand. »Tut mir leid«, murmele ich und weiche zur Seite aus.

»Madison?«

Ich hebe den Kopf. Ridge hat sich zu mir umgedreht und starrt mich an. »Oh, hi«, sage ich leise und blicke schnell an ihm vorbei. Eigentlich will ich mich hier nicht lange aufhalten: rein und wieder raus, so schnell wie möglich und ohne Zwischenhalt.

»Hey, ich wollte sowieso mal nach dir Ausschau halten. Hast du was von Tillie gehört?« Er legt den Kopf schief. Als ich ihn mir genauer anschaue, bemerke ich die schlaffen Tränensäcke unter den geröteten Augen.

»Nein, nicht seit wir aus der Hütte zurück sind. Warum? Stimmt was nicht?« Erst durch seine Frage ist mir bewusst geworden, dass Tillie sich gar nicht mehr bei mir gemeldet hat. Merkwürdig, dass mir das nicht aufgefallen ist. Ich war wohl zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt.

Er schüttelt den Kopf. »In letzter Zeit hat niemand von ihr gehört.«

»Ich rufe sie an. Es geht ihr bestimmt gut.« Auch wenn sie im Prinzip überall sein könnte, mir kommt es tatsächlich nicht unwahrscheinlich vor, dass ihr nichts weiter passiert ist. Wenn ich bedenke, was sie mir von ihrem Vater erzählt hat, wundert es mich eigentlich nicht, dass sie nicht nach Hause zurück will.

»Okay.« Er holt sein Telefon hervor. »Kann ich dir meine Nummer geben? Und du rufst mich an, wenn du von ihr hörst? Bitte. Ich möchte mich nur vergewissern, dass es ihr gut geht.«

Während ich nicke, schaue ich zum Bankschalter. Ich muss wirklich weiter. »Klar doch.« Er nennt mir die Nummer, und ich tippe sie ins Telefon … Das Telefon! Scheiße! »Ach, hör mal«, sage ich so lässig wie möglich, »kannst du sie mir vielleicht aufschreiben?« Ridge sieht mich an, zögert, nickt aber schließlich. Er holt einen Stift hervor, greift nach meiner Hand und schreibt mir die Nummer hinein.

»Danke. Ich rufe dich an.« Ich wende mich ab und gehe weiter. Verdammt, vor dem Schalter steht eine Schlange. Natürlich.

Fünfzehn Minuten später verlasse ich die Bank, werfe meine Kontokarte in den nächstbesten Abfalleimer und kehre zum Auto zurück.

Als ich die Beifahrertür öffne, blickt mir Tatum vom Fahrersitz aus lächelnd entgegen. »Irgendwie finde ich das Ganze sogar aufregend.«

»Da bist du aber die Einzige«, erwidere ich leise und hole das Telefon hervor. »Fahr los.« Ich öffne das Handschuhfach, nehme Stift und Papier heraus, notiere Ridges Nummer und reibe mir die Schrift von der Hand. »Ich rufe Benny an.«

Tatum nickt beim Fahren.

Das Telefon läutet; dann meldet sich eine tiefe Stimme. »Wer schickt dich zu mir?«

»Äh … äh …« Verwirrt blicke ich um mich. Was für eine komische Art, sich am Telefon zu melden. »Tinker?« Gott, wie lächerlich es sich anfühlt, den Namen laut auszusprechen.

Ein Zögern.

Stille.

»Die Ecke ganz am Ende von Highway 4.«

»Äh … okay?«

Er legt auf. Ich schaue erst das Telefon an und dann Tatum.

Sie wirft mir schnell einen Blick zu und sieht dann wieder auf die Fahrbahn. »Was hat er gesagt?«

»Wir sollen zu der Ecke ganz am Ende von Highway 4 kommen.«

Sie nickt. »Ich weiß, wo das ist.«

»Gib mir dein Telefon.« Ich strecke die Hand aus. »Willst du irgendwelche Nummern aufheben?«

Sie zögert, und ihre Augen werden feucht. Dann streckt sie den Rücken. »Nein. Die merken doch gar nicht, dass ich weg bin.«

Ich lächle ihr traurig zu, öffne das Beifahrerfenster und werfe ihr Telefon hinaus. Als Nächstes gehe ich die Einträge in meinem eigenen Telefon durch und schreibe ein paar Nummern ab, die sich als nützlich erweisen könnten. Bei Bishops Namen hält mein Finger wie von selbst inne, und mir wird ein wenig schwer ums Herz.

Scheiß drauf.

Er hat nicht nur Ally umgebracht, sondern anscheinend auch Khales. Ich scrolle weiter, bis ich zu meinem Dad komme. Mir wird noch schwerer ums Herz, doch ich mache weiter.

Nate.

Ich schließe die Augen und umklammere das Telefon. Vor Wut? Vor Traurigkeit? Oder ist es eine Mischung aus beidem? Immer noch mit geschlossenen Augen öffne ich erneut das Fenster und werfe das Handy hinaus. »Ich brauch diese Leute auch nicht mehr.«

Als wir zu der abgelegenen Kreuzung am Ende des Highways kommen, fällt mir als Erstes auf, dass niemand da ist – und dass es spät geworden ist. Die ausladenden Bäume, die am Rand der Sackgasse wachsen, werfen in der Nachmittagssonne lange Schatten.

»Niemand da. Es ist alles ruhig.«

»Zu ruhig«, antworte ich. Wir halten an, und ich steige aus und schlage die Tür zu.

Tatum öffnet das Fenster auf der Beifahrerseite. »Madi! Verdammt, könntest du heute mal darauf verzichten, das toughe Mädchen zu spielen? Ich möchte noch nicht sterben. Eigentlich möchte ich gar nicht sterben.«

Ich verdrehe die Augen. »Die Nummer von dem Typ hat uns Miss Winters gegeben. Die würde uns nicht verarschen.«

»Ihr habt ja ziemlich viel Vertrauen zu eurer Miss Winters«, sagt jemand; zugleich löst sich eine Gestalt aus dem Schatten. Ich fahre herum und sehe einen älteren Mann auf mich zukommen. Er trägt einen Kapuzenpullover und zerrissene dunkle Jeans und dürfte Mitte vierzig sein.

»Sie ist alles, was ich habe.«

Er nickt, als könnte er das verstehen. Auf den ersten Blick schrillen bei mir keine Alarmsignale. »Ich habe schon mit Tinker geredet. Eure Dokumente sind fertig.«

»Das ging ja schnell.«

»Wir haben ständig jemand einsatzbereit. Deshalb verlange ich auch so viel.«

Ich zucke die Schultern; Einzelheiten will ich gar nicht wissen. »Kann ich mal sehen?« Er reicht mir zwei Aktendeckel. Auf dem einen steht Amira, auf dem anderen Atalia. Der Nachname ist bei beiden gleich. »Wir sind Schwestern?« Ich sehe Benny an. »Amira und Atalia Maddox? Hättet ihr nicht etwas Schlichteres nehmen können?«

Benny zuckt nicht mit der Wimper. »Gib mir das Geld.«

Ich hole den dicken Umschlag hervor und reiche ihn Benny. Er nimmt die Scheine heraus und blättert sie kurz durch. »Das ist die Summe, die wir abgemacht haben?«

»Natürlich. Wir können es uns leisten, das wisst ihr doch.«

Er zögert und sieht uns beide einen Moment lang scharf an; dann scheint er zufrieden. »Dieses Treffen hat nie stattgefunden. Mach’s gut, Amira.«

Dann bin ich also Amira? Natürlich. Was für ein blöder, ausgefallener Name. Er passt überhaupt nicht zu mir.

Ich kehre zum Auto zurück, schwinge die Tür auf und reiche Tatum den Aktendeckel, der ihren neuen Namen trägt. »Der ist für dich, Atalia.«

Sie schnaubt verächtlich; dann vergeht ihr das Lächeln. »Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Na, scheiß drauf. Lass uns starten.« Sie legt den ersten Gang ein, und wir fahren zum nächsten Flughafen.

Wenig später stellen wir den Wagen im Parkhaus ab, steigen aus und gehen zum Abfertigungsgebäude, ich mit meiner Reisetasche, Tatum mit einer kleinen Tasche.

»Wo fliegen wir hin?«, fragt Tatum und sieht mich an.

Ich kneife die Augen zusammen und studiere die Liste der Abflüge. Dann schubse ich Tatum lächelnd mit dem Ellbogen an. »Wie lange dauert es wohl, sich ein Visum zu beschaffen?«

3. KAPITEL

Die Visa zu bekommen war ziemlich einfach. Im hinteren Bereich des Flughafens gibt es dafür einen Schalter, und da es zwischen dem Land unserer Wahl und den USA ein Abkommen gibt, mussten wir nur online einen kurzen Fragebogen ausfüllen, und fertig: Wir fallen unter die Visafreiheit.

»Ich kann es nicht fassen«, flüstert Tatum. »Wir fliegen wirklich nach Neuseeland? Hättest du nicht ein anderes Ziel aussuchen können, so was wie … ich weiß auch nicht … Dubai?«

Ich drehe mich zu ihr um. »Was glaubst du wohl, wo sie als Allererstes nach uns suchen werden, Tate?«

Sie seufzt. »Kann sein.«

»Außerdem weiß ich praktisch nichts über Neuseeland. Bishop weiß vermutlich auch nichts. Und übrigens …« Ich werfe der undankbaren Tusse einen finsteren Blick zu. »… die Alternative wäre irgendein Kaff in Indonesien oder Thailand gewesen.«

»In Thailand könnte ich mir billig neue Brüste machen lassen.«

Ich verdrehe die Augen. Im selben Moment wird unser Flug aufgerufen. Mein Herz beginnt heftig zu klopfen. »Bist du bereit?«, frage ich Tatum.

Sie sieht mir in die Augen und greift nach meiner Hand. »Ja. Ja, bin ich.«

Zwei Monate später

»Ich weiß nicht, Ta… Atalia.«

Tatum grinst mich an, während sie hinter der Bar umhergeht. Sie trägt knappe Shorts und ein zerrissenes bauchfreies Top, unter dem ihr Spitzen-Wonderbra hervorschaut. »Na ja, du kannst jederzeit hier anfangen, das weißt du ja.« Mit einem Nicken deutet sie auf die Poledance-Stange. Inzwischen wohnen wir seit zwei Monaten hier, und wenn alles gut geht, wollen wir noch zwei weitere Monate bleiben, aber dazu brauche ich einen Job, der auch meinen Kopf beschäftigt.

Ich wende mich wieder Tatum zu und grinse. »Mir ist zwar inzwischen so einiges egal, aber ich schmeiße mich bestimmt nicht an irgendwelche Stangen.« Ich nippe an meinem Drink, lehne mich auf dem Barhocker zurück und betrachte das Blatt Papier vor mir auf dem Tresen, wobei ich den Bleistift zwischen den Fingern umherwandern lasse. Es ist Mitternacht, was bedeutet, dass es zu Hause ungefähr acht Uhr abends ist.

Seit Tatum und ich hier angekommen sind, wohnen wir in einem kleinen Apartment am Strand. Als wir nach einem dreizehnstündigen Flug in Auckland landeten, haben wir uns sofort eine kleine Broschüre über Neuseeland zugelegt. Wir waren uns einig, dass wir am Meer wohnen wollten, weil wir so etwas in der Nähe hätten, das uns an zu Hause erinnert. So sind wir auf dieses Städtchen in der Mitte der Nordinsel gestoßen. Es heißt Mount Maunganui. Was ich nicht aussprechen kann, aber wie ich inzwischen festgestellt habe, nennen es viele Einheimische einfach The Mount.

Es ist schön hier. Sandstrände, große Wellen, der Hauptstrand ist von kleinen Läden gesäumt, und auf der anderen Straßenseite stehen Wohnhäuser und Strandvillen. Wenn man der Küstenlinie folgt, gelangt man nach zehn Autominuten in den nächsten kleinen Ort, Papamoa. Die Neuseeländer sind freundlich – manchmal ein bisschen zu freundlich –, die Lebensmittel sind frisch, und die Luft fühlt sich an, als würde man zum ersten Mal eine Sauna betreten. Das alles ist wundervoll. Nur habe ich seit unserer Ankunft noch keine Arbeit finden können. Wir bewohnen ein kleines Apartment – wirklich nichts Extravagantes, aber es kostet ein Vermögen. Wie wir feststellen mussten, ist das Leben in diesem Städtchen insgesamt nicht eben billig. Irgendwie typisch für Tatum und mich, dass wir uns einen der teuersten Orte in ganz Neuseeland ausgesucht haben. Tatum hat schnell einen Job gefunden: Sie arbeitet als Barkeeperin und Stripperin. Ohne Scheiß. Ich liebe Tatum, aber ich habe den Eindruck, dass sie dabei ist, sich zu verlieren.

Passiert mir das Gleiche?

Wann immer ich in mich hineinhorche, um herauszufinden, was ich wirklich empfinde, stoße ich auf Leere. Es sind keine Gefühle vorhanden. Ein-, zweimal habe ich schon daran gedacht, auf Tatums Angebot einzugehen und auch als Stripperin zu arbeiten, aber dann ist mir eingefallen, was für ein beschissene Tänzerin ich bin und dass mein Hintern etwas stärker wackelt, als mir lieb ist.

»Nette Zeichnung«, platzt der Typ neben mir in meine Gedanken und deutet auf das Blatt Papier.

»Danke«, murmele ich, beuge mich vor und greife nach meinem Drink.

»Wie lange hast du dafür gebraucht?«

»Hm.« Ich trinke einen Schluck, dann sehe ich den Typ an. »Ungefähr zwanzig Minuten.«

Er runzelt die Stirn. »Darf ich mir die mal ansehen?«

Ich nicke. »Ja, klar.« Als ich ihm das Blatt reiche, kann ich sehen, wie sich seine Miene verändert. Er hat zerzaustes, aber gut geschnittenes hellbraunes Haar, einen Bartschatten, eine gerade spitze Nase und olivbraune Haut. Sein Kinn ist kantig, die Schultern sind breit. Er trägt eine dunkle Lederjacke über einem schlichten weißen Hemd, dunkle Jeans, Lederarmbänder an beiden Handgelenken und schwere Motorradstiefel. Oh, Gott, sei bitte kein Biker.

»Die ist echt mint.« Grinsend betrachtet er meine neuste Zeichnung. Ich habe keine Ahnung, was mint bedeutet; irgendein typisch neuseeländischer Ausdruck vermutlich. Die Zeichnung stellt eine halb geöffnete rosa Lotusblüte dar, in deren Mitte eine Gewehrkugel sitzt; die Blütenblätter umhüllen sie schützend. Mit den Schraffierungen bin ich noch nicht ganz fertig, aber es stimmt schon, die Zeichnung ist nicht übel.

»Danke«, erwidere ich schüchtern.

Er sieht mich an. »Ich habe gehört, wie du zu deiner …«, er schaut zu Tatum hinüber, die inzwischen an der Poledance-Stange aktiv ist, »… Freundin gesagt hast, dass du Arbeit suchst.«

»Stimmt.« Ich nicke. »Wir sind aus Amerika.«

»Backpacker?«

»So was in der Art«, erwidere ich mit angestrengtem Lächeln.

»Jesse.« Er reicht mir eine stark tätowierte Hand.

Ich ergreife sie. Wenn man bedenkt, wie die Haut in seiner Handfläche aussieht, fühlt sie sich überraschend weich an. »Amira.«

»Amira?« Er grinst. »Klingt irgendwie sexy.«

»Ha!« Ich lache nervös. »Der war gut.« Ob er mit mir flirten will? Ich bin mir nicht sicher.

Aus dem Grinsen wird ein entspanntes, listiges Lächeln. »Hier.« Er schiebt mir eine Visitenkarte zu. »Mir gehört das Tattoo-Studio zwei Häuser weiter. Inked.« Er deutet auf meine Zeichnung. »Ich hätte einen Job für dich, wenn du möchtest.«

»Was?«, stoße ich verblüfft hervor. »Ich habe noch nie jemand tätowiert!«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, aber ich. Ich tätowiere ständig Leute. Aber du kannst verdammt gut zeichnen. Ich könnte es dir beibringen. Oder aber du zeichnest einfach für mich. Ich arbeite nach Einzelentwürfen. Du könntest dazukommen und zuhören, wenn ich mit Kunden rede, und dann zeichnest du das, was sie haben wollen. Verstehst du, was ich meine?«

Ich muss schlucken. »Ach du Scheiße.«

»Angst?« Er grinst erneut und hebt eine Augenbraue.

»Irgendwie schon.«

»Hey!« Tatum kommt angehüpft, den BH voller Geldscheine. Mein Gott, dieses Mädchen. Sie wirft einen Blick auf Jesse und lächelt; in ihren Augen funkelt ein ganzes Feuerwerk. Sie streckt ihm die Hand hin. »Ich bin Atalia.«

Jesse schaut von ihr zu mir. »Nur ähnliche Namen, oder …«

»Schwestern«, zwitschert Tatum, stützt die Hände auf die Bar, springt und landet mit dem Hintern auf dem Tresen. Kopfschüttelnd geht Jesse zu ihr, fasst ihr unter die Arme und hebt sie wieder herunter.

»Mädel, in diesem Land parkst du deinen hübschen kleinen Hintern besser nicht auf Tischen.«

Als ich Tatums Schmollmund bemerke, muss ich lachen.

»Okay«, sage ich zu Jesse, und als er sich zu mir umdreht, ergänze ich rasch: »Ich meine, ich weiß zwar nicht, ob ich das hinbekomme, was du dir da vorstellst, aber ich würde es gern versuchen. Weißt du … ich war nämlich kurz davor, auch da raufzusteigen.« Ich zeige auf die Bühne.

Jesse grinst. »Gut, komm.« Er deutet mit einem Nicken in Richtung Ausgang. Ich schaue von ihm zur Tür und wieder zurück.

»Du bist aber kein Axtmörder, oder?«

»Um das herauszufinden, wirst du mitkommen müssen.«

Ich zögere und sehe ihm fest in die Augen; dann leere ich mein Glas und gleite vom Barhocker.

»Bin gleich wieder da«, sage ich lächelnd zu Tatum.

Sie zuckt die Schultern und springt erneut auf die Bühne. Ich folge Jesse nach draußen. Kühle Sommerluft weht mir ins Gesicht. Jesse nickt in Richtung Bürgersteig.

»Das ist jetzt hoffentlich nicht der Moment, in dem du mich umbringst«, sage ich lachend und stecke die Hände in die Taschen meiner Jeans.

Jesse legt den Kopf in den Nacken und lacht. »Wir sind hier in Neuseeland, Baby. Dir passiert schon nichts.« Es stimmt – nach allem, was ich bisher von dem Land gesehen habe, kann man sich hier tatsächlich sicher fühlen.

Wir folgen dem Bürgersteig bis zu einem Ladenlokal mit schwarz gestrichener Fassade, über die diagonal zum Mauerwerk rote Streifen verlaufen. Jesse holt seine Schlüssel hervor, schließt auf und begleitet mich nach drinnen. Dort macht er Licht und deutet um sich.

»Es ist ja ganz sauber!«, geht es mir augenblicklich durch den Kopf, und wie ich nun mal bin, platze ich natürlich laut damit heraus.

Jesse lacht und schließt die Tür, um den Lärm der Hauptstraße auszusperren, auf der gerade mit Vollgas ein Trupp aufgemotzter Autos vorbeirast. »Tja, das muss es wohl auch.« Er geht zu dem Empfangstresen aus dunklem Beton hinüber. Die Einrichtung ist rustikal mit modernen Highlights. Der Fußboden besteht aus Spiegelglasfliesen, die Stühle sind mit schwarzem Leder bezogen und haben Armlehnen, die mit komplizierten Mustern verziert sind. Alle Kabinen besitzen weite Öffnungen, aber auch Vorhänge, die man als Sichtschutz vorziehen kann. Im hinteren Bereich gibt es außerdem eine geschlossene Kabine.

»Für Piercings und so«, murmelt Jesse, als er bemerkt, wohin ich schaue. Er reicht mir ein Bier.

»Danke.« Ich nehme die Flasche. »Also, was genau erwartest du von mir?«

Er trinkt einen Schluck und sieht mich an. »Wenn neue Kunden hereinkommen, könntest du beim Beratungsgespräch dabei sein. Du versuchst dir ein Bild davon zu machen, was sie wollen, und zeichnest es ihnen auf. Erst mal nur als grobe Skizze.«

»Okay. Und wenn du keine Kunden hast?« Während wir reden, betrachte ich ihn genauer. Meine Aufmerksamkeit wird sofort von zwei Schönheitsflecken auf seinem Gesicht angezogen. Rasch schaue ich weg, bevor er mich dabei ertappt, wie ich ihn anstarre. Er ist mehr als nur heiß, er strahlt eine raue Sinnlichkeit aus. Ich frage mich, wie alt er ist.

»Dann könntest du vorn den Empfangstresen hüten. Ich zahle dir einen Stundenlohn, und für die Zeichnungen bekommst du Prozente – alles bar auf die Hand.«

Während ich über das Angebot nachdenke, betrachte ich einige der Zeichnungen an den Wänden. »Ich glaube, ich bin dabei.«

Er kommt einen Schritt näher, steckt die Hände in die Vordertaschen der Jeans und legt den Kopf schräg. »Erzähl mal was von dir.«

Ich atme möglichst ruhig ein, hebe die Flasche an den Mund und nehme einen Schluck. »Da gibt es gar nichts zu erzählen.«

»Okay, und für wie lange bist du in Neuseeland?«

»Nur für zwei Monate. Höchstens. Also rechne lieber nicht damit, dass ich auf Dauer hier arbeite. Ich würde ungern falsche Erwartungen wecken.«

Er verzieht leicht den Mund. »Dauerhaftes liegt mir sowieso nicht.«

Ich betrachte ihn von Kopf bis Fuß; wieder gelingt es mir nicht, zu verbergen, wie attraktiv ich ihn finde. Trotzdem, jedes Mal, wenn ich denke: Okay, ich schaff das, ich suche mir einen Mann, mit dem ich etwas Unverbindliches anfangen kann, ergreift Bishop von mir Besitz, geistig wie körperlich. Sehr fair ist das nicht gerade, wenn man bedenkt, dass er vermutlich längst jemand Neues gefunden hat. Trotzdem, ich kann das einfach nicht. Es ist noch zu früh.

Da ich spüre, dass er kurz vor einem Annäherungsversuch steht, hebe ich abwehrend die Hand. »Bitte nicht. Noch nicht.«

Er grinst. »Mit ›noch nicht‹ komme ich klar.«

Ich lächle ihn an und reiche ihm die fast volle Bierflasche. »Dann gehe ich mal besser. Wir sehen uns morgen?«

»Genau. Morgen früh um neun.«

Ich nicke, wende mich ab und verlasse das Studio. Statt ein Taxi zu rufen, beschließe ich, zu Fuß zu unserer Wohnung zu gehen. Wenig später mache ich mich auf den Weg zum Hauptstrand. Ich steige die sandige Treppe hinab, atme tief die feuchte, salzige Seeluft ein und schließe die Augen. Außer dem Rauschen der Brandung und dem Zirpen der Grillen in den Bäumen ist nichts zu hören. Kein Zweifel, Neuseeland ist wunderschön. Trotzdem vermisse ich meine Heimat, die USA. Ich habe keine Ahnung, was zu Hause vorgeht. Bisher hat mich niemand gefunden – oder aber es hat niemand nach mir gesucht. Ich bin nicht sicher, was von beidem zutrifft.

»Alles okay?« Tatum ist die Treppe heruntergekommen und gesellt sich zu mir. Ich setze mich in den Sand und winkle die Knie an. Das Haar fällt mir offen über die Schultern.

»Eigentlich nicht.«

Tatum lässt sich neben mir nieder. Sie trägt einen langen Mantel, den sie eng um sich zieht.

»Hast du darunter überhaupt noch was an?«

»Was?« Unschuldsvoll klimpert sie mit den Wimpern. »Natürlich! Und außerdem …« Sie holt eine Flasche Whiskey hervor sowie etwas, das sehr nach einem Joint aussieht. »Ta-da!«

Lachend schüttle ich den Kopf. »Du bist echt kaputt, weißt du das?«

»Ich weiß.« Seufzend lehnt sie den Kopf an meine Schulter. »Willst du nicht auch ein bisschen kaputt sein?«

Ich schlucke, schaue aufs dunkle Meer und denke an all die Lügen, die auf der anderen Seite der scheinbar endlosen Wasserfläche zu Hause sind. »Ja, ich glaube fast, ich bin so weit.«

Seit wir die USA verlassen haben, werde ich ständig von Gedanken an Bishop und meinen Vater gequält. Dass es Tatum anders geht, könnte daran liegen, dass sie ständig high oder betrunken ist. Oder Sex hat. Das mit dem Sex kriege ich noch nicht hin – ich weiß gar nicht, warum, schließlich waren Bishop und ich nie wirklich fest zusammen. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich würde ihn betrügen. Aber warum zum Teufel sollte es mich kümmern, ob ich ihn betrüge? Er hat mich zuerst verraten! Er hat gelogen und betrogen, Machtspielchen getrieben und jemand umgebracht. Er ist genau …

»Mach, dass es aufhört, Tate«, flüstere ich. Ich habe einen Kloß im Hals, eine Träne läuft mir über die Wange. Tatum fängt sie mit dem Zeigefinger auf. Dann fasst sie mich am Kinn, zwingt mich, sie anzusehen, und schaut mir forschend in die Augen. Einen Moment lang wirkt sie stocknüchtern. »Das machen wir gemeinsam, Mads.«

Ich schlucke und nicke, dann nehme ich ihr den Joint weg, zünde ihn an und inhaliere tief, bis meine Lungen brennen und sich meine Kehle starr wie Stein anfühlt. Als ich den Rauch ausatme, muss ich husten, darum greife ich nach der Whiskeyflasche, während ich den Joint an Tatum weiterreiche. Ich drehe den Verschluss ab, klopfe mir auf die Brust, setze die Flasche an und trinke. Der billige Whiskey wirkt besänftigend auf meine ausgedörrte Kehle.

Tatum lässt sich, den Joint zwischen den Lippen, rückwärts in den Sand fallen. Ich strecke mich neben ihr aus. Über mir treiben die Sterne im schwarzen Abgrund des Himmels. In der Hand halte ich eine Whiskeyflasche, meine Haare liegen ausgebreitet im Sand.

»Glaubst du, er hat sich je etwas aus ihr gemacht, Tate?«, flüstere ich, während ich den Kopf ein wenig schräg lege, damit ich das hell leuchtende Kreuz des Südens besser sehen kann.

»Bishop? Nein. Nate? Ja.« Sie hustet laut und klopft sich auf die Brust. Ich setze mich auf und trinke weiter, bis sich meine Kehle taub anfühlt und mein Kopf von dem Alkohol zu dröhnen beginnt. Tatum reicht mir den Joint. »Es tut mir leid, Mads. Ich glaube nun mal nicht, dass er sich was aus dir gemacht hat. Du darfst das nicht persönlich nehmen. Ihm ist doch alles und jeder scheißegal.«

Ich ziehe am Joint, und diesmal behalte ich den Rauch länger in der Lunge, damit er stärker wirkt. Schließlich atme ich langsam aus. »Verdammt, warum kann ich mich bloß nicht flachlegen lassen.«

»Das kommt schon noch, Baby. Er hat sich nichts aus dir gemacht – mehr habe ich nicht gesagt. Dass du das anders gesehen hast, ist mir schon klar.«

»Ich bin eben blöd.«

»Nein.« Tatum schüttelt den Kopf und reicht mir die Whiskeyflasche. »Nein, bist du nicht. Du bist Madison Montgomery, und du bist ein verflucht umwerfendes, tolles Mädchen, das nun mal starke Gefühle hat. Das ist was Besonderes. Vielen Leuten würde es guttun, mehr zu empfinden.«

»Ich habe mal was empfunden«, flüstere ich, doch meine Tränen sind versiegt. »Aber sie haben mich als Marionette benutzt, und jetzt bin ich kaputt.«

»Kaputt, aber immer noch scharf. Und nebenbei, du hast da einen ziemlich heißen Tattoo-Künstler aufgetan!«

Ich muss lachen. »Er ist wirklich ziemlich heiß, oder?«

»Ziemlich?«, wiederholt Tatum pikiert. »Süße, mit dem kannst du sehr viel Spaß haben, bis wir weiterziehen.«

»Hast du schon eine Idee, wo wir als Nächstes hinsollen?« Meine Zunge ist schwer, und ich muss die Augen zusammenkneifen, um Tatum scharf zu sehen.

»Hm … Mailand?«

»Italien?«, frage ich entsetzt. »Wie wär’s mit London? Oder vielleicht Bristol?«

»Warum?«

»Weiß ich auch nicht. Ich hätte nur gern mal einen heißen Briten.«

»Um zu vögeln oder um bei mir darüber zu jammern, dass es mit dem Vögeln nicht klappt?«

Ich lache und schubse sie. »Halt die Klappe. Komm jetzt.« Ich stehe auf und ziehe Tatum ebenfalls auf die Füße - nur geraten wir beide ins Taumeln … und ich falle hin. Mit einem Plumpsen lande ich im Sand, so hart, dass ich garantiert blaue Flecken bekommen werde.

»Scheiße!«, flucht Tatum lachend.

Ich kann mir nicht helfen. Ich lache laut los, ungehemmt, bis mir der Bauch wehtut. »Ach du Scheiße.« Ich schüttle den Kopf. Meine Gesichtsmuskeln schmerzen.

»Na, die Lache habe ich ja lange nicht mehr gehört.« Tatum hält sich den Bauch und wischt sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen.

»Also gut. Ich will versuchen, wieder öfter zu lachen. Versprochen.«

4. KAPITEL

»Morgen, du scharfe Nummer.« Tatum kommt in mein Zimmer marschiert, einen Joint zwischen den Fingern.

»Morgen.« Ich ziehe gerade knappe Jeans und ein enges Tanktop an. »Findest du das übertrieben?«

»Quatsch!« Wie immer versucht sie meine Selbstzweifel zum Schweigen zu bringen. Sie kommt zu mir herüber und reicht mir den Joint; dann schiebt sie meine Titten noch ein bisschen weiter nach oben und zerwühlt mir das Haar. »Du arbeitest schließlich in einem Tattoo-Studio!«

Ich hebe den Joint an die Lippen und nehme einen Zug. »Stimmt!«, sage ich, gebe ihr den Joint zurück und gehe ins Wohnzimmer. Unser Apartment ist ziemlich klein. Es hat zwei Schlafzimmer und ein kleines Wohnzimmer mit Kochnische, von dem aus man einen Blick auf den Strand hat. Hier zu wohnen kostet uns ein kleines Vermögen, aber Tatum hat es sich gewünscht, und da sie zu dem Zeitpunkt die Einzige war, die Geld verdiente, habe ich zugestimmt. Sie hat praktisch sofort Arbeit gefunden, deshalb haben wir unsere Rücklagen noch nicht anrühren müssen. Von dem Geld werden wir leben, wenn wir in ein anderes Land weiterziehen. Die Kücheneinrichtung ist senfgelb, das Wohnzimmer in neutralem Beige gehalten. Die Wohnung liegt in einer Strandvilla, und die Familie, der sie gehört, betreibt auch die Bar, in der Tatum arbeitet. So kam eins zum andern. Wir haben wirklich Glück gehabt.

Ich gieße mir Kaffee ein und trinke einen Schluck. »Arbeitest du heute Abend?«

Tatum nickt. »Ja. Wann hast du Feierabend?«

»Keine Ahnung. Darüber haben wir noch gar nicht geredet.«

»Und Jesse?«, fragt Tatum. »Er sieht interessant aus, oder? Zu welcher Bevölkerungsgruppe gehört er?«

»Weiß ich nicht, und ich werde ihn auch nicht danach fragen.«

»Er könnte Kubaner oder so was in der Art sein.«

»Bist du bald fertig?«

Tatum legt die Füße auf den hölzernen Couchtisch, schaut in den Himmel und raucht weiter ihren Joint. Wir haben die Wohnung möbliert gemietet, doch sie enthielt nur das Nötigste: Sofas, Kühlschrank, Betten. Einen Fernseher gibt es nicht, aber den brauchen wir auch nicht.

»Okay, wir sehen uns, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.« Ich winke Tatum zu. Da es zu Fuß nur zehn Minuten bis zur Ortsmitte sind, beschließe ich, nicht mit dem Bus zu fahren. Das spart auch Geld. Als ich ankomme, atme ich einmal tief durch, dann öffne ich die Tür und trete ein. Im Laden läuft ein Rocksong, den ich nicht kenne, der mir aber ziemlich gut gefällt. Ich gehe zum Empfangstresen. Dort sitzt eine junge Frau mit pechschwarzem Haar und jeder Menge Tattoos.

»Hi«, sage ich.

Sie blickt vom Computer auf. »Hey! Was kann ich für dich tun?«