In Peace lies Havoc - Amo Jones - E-Book

In Peace lies Havoc E-Book

Amo Jones

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Beschreibung

Willkommen zu Midnight Mayhem. Wir sind kein Zirkus, wir sind kein Karneval, und das Einzige, wovor du heute Abend Angst haben solltest, ist deinen Verstand zu verlieren. Ihr Leben lang wurde Dove Hendry von einer Stimme verfolgt. Verknüpft mit traumatischen Erlebnissen war sie allgegenwärtig, ihr ganz eigenes Monster unter dem Bett. Als sie sich unfreiwillig in den Fängen des Midnight Mayhem wiederfindet, verstummt die Stimme und sie möchte nur noch eins. Vergessen und tanzen, im Tanz vergessen. Doch Midnight Mayhem ist mehr, als ein harmloses Varieté, bietet mehr, als nur künstlerische Darbietungen und fordert Dove alles ab. Ganz zu schweigen von den Kiznitch Brüdern, in deren Showact sie landet. Einer von ihnen ist Kingston Axton. Sein Hass und sein Interesse an ihr sind nicht nur verstörend, sondern auch zutiefst verwirrend und erregend. Band 1 der Midnight Mayhem Serie aus der Feder der Bestseller-Autorin und Autorin der Elite Kings Club Reihe

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Seitenzahl: 500

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In Peace lies Havoc

Midnight Mayhem 1

Amo Jones

© 2022 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt© Übersetzung Sylvia Pranga© Covergestaltung Andrea Gunschera© Originalausgabe Amo Jones 2019

ISBN-Taschenbuch: 978-3-96782-029-4ISBN-eBook-mobi: 978-3-96782-030-0ISBN-eBook-epub: 978-3-96782-031-7

www.sieben-verlag.de

Für meinen Koro, den ich dieses Jahr verloren habe. Der mich von meiner Mutter entführte, als ich neun Jahre alt war, der uns Flüge nach Christchurch in Neuseeland buchte und mich zu meinem ersten Zirkus mitnahm.Ich habe meine rebellische Seele zum Teil von ihm.

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Nachspiel

Danksagungen

Willkommen zu Midnight Mayhem. Wir sind kein Zirkus, wir sind kein Karneval, und das Einzige, wovor du heute Abend Angst haben solltest, ist, deinen Verstand zu verlieren.

Vorwort

Vor dreizehn Jahren spürte ich das Böse. Es schnitt in meine Haut, der Geruch prägte sich in meine Seele und erschuf ein quälendes Gemisch von Gift, auch bekannt als Der Schatten. Ich benutzte diesen Geruch dazu, anderes Böses zu verdrängen, denn der Schatten war das schlimmste von allen. Er war nicht nur dunkel oder böse, er war gestört. Es gab nichts Gutes in seiner Seele, keinen Funken von Licht. Er quälte mich. Wohin ich auch ging, er war da und sorgte dafür, dass ich wusste, ich würde niemals frei sein.

Er war in jeder dunklen Ecke, beobachtete mich, wartete. Worauf? Ich wusste es nicht. Aber ich würde es herausfinden …

Prolog

Dove Noctem Hendry. Captain der Cheerleader und offenbar das beliebteste Mädchen an der Charlston Academy. Die Leute waren verblüfft, dass ich in Eureka Springs, Arkansas, so schnell beliebt wurde, obwohl ich noch ein kleines Kind war. Wir zogen kurz vor meinem elften Geburtstag hierher, direkt nach dem … Zwischenfall. Der Zwischenfall war etwas, worüber wir nicht redeten. Ich meine, meine Eltern und hoch bezahlte Seelenklempner dachten, dass ich unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom und unterdrückten Erinnerungen litt. Das war alles, was ich wusste, und es war wirklich nicht viel. Aber diesem Jahrbuch nach zu urteilen, war ich in der Schule das beliebteste Mädchen und eine moderne Ballerina. Jahrbücher sind seltsam. Sie sind eine Art Erinnerung an das, was die schlimmsten Jahre deines Lebens gewesen sein könnten. Meine waren nicht schlecht, tatsächlich sogar ziemlich toll. Ich mochte nur Erinnerungen im Allgemeinen nicht.

Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Nostalgie. „Herein!“, rief ich und schloss das Buch.

Mein Dad stand auf der Türschwelle. Er hatte seinen Kragen gelockert und lächelte mich an. „Wir bestellen uns etwas zu essen. Was willst du?“

Ich klimperte mit den Wimpern. „Thai!“

Dad wies mit dem Kopf Richtung Flur. „Dann also Thai. Komm mit, bevor deine Mom anfängt zu schreien, weil du deine Ballerinas im Flur stehen lassen hast.“ Mom beschwerte sich über alles, aber sie war besonders pingelig, wenn es um mich ging. Ich war daran gewöhnt. Wenn man sein ganzes Leben von der eigenen Mutter vernachlässigt wird, ist es einfach, die Herzlosigkeit der Welt zu ertragen.

Ihre emotionale Kälte stabilisierte mich irgendwie, machte mich stärker, und ich war sowieso ein Daddy-Mädchen.

Ich ließ mich von der Tagesdecke gleiten, lief zu meinem Kleiderschrank und holte meine Ugg Boots heraus. Meine Mutter machte nichts anderes als zu Hause zu bleiben und an ihren Blumenbeeten zu arbeiten, und mein Vater beschäftigte sich mit Politikwissenschaft. Er wollte eines Tages für ein Amt kandidieren, wahrscheinlich schon ziemlich bald.

Ich ging federnd die Marmortreppe hinunter. Ich hatte die Cheerleader-Figuren geübt, die uns zweifellos zu den nationalen Meisterschaften bringen würden, also war jeder einzelne Schritt ein Tanzschritt.

„Komm schon, Süße.“ Dad legte mir den Arm um die Schultern und küsste mich auf den Kopf. Im selben Moment lächelte meine Mom mich an und öffnete die Tür.

Es passierte ganz schnell.

Pop! Pop! Pop!

Ich erinnere mich, dass mein Dad mich hinter sich schob und an die verzweifelten Schreie, die meine Mom ausstieß. Wir fielen alle zu Boden, mein Dad landete rücklings auf mir und schützte mich vor Schaden.

„Du musst laufen, Dove. Lauf.“

Die Worte blieben mir im Hals stecken und drohten, mich zu ersticken.

Die Tür schwang auf, und vor uns standen vier Männer, alle mit erhobenen Waffen. Sie trugen schlichte schwarze Bandanas, und an jedem anderen Tag hätte ich sie für Straßenschläger gehalten, die vielleicht Geld wollten. Doch dann bemerkte ich, dass einige von ihnen Anzüge trugen.

Der Anführer neigte den Kopf und ich dachte, er würde etwas sagen, aber da öffnete mein Dad den Mund. „Dove geht, bevor ihr irgendetwas tut …“

Sie schienen über ihren nächsten Schritt nachzudenken. Sie sprachen so leise miteinander, dass ich es nicht hören konnte.

„Dove …“ Mein Vater stützte sich auf einem Ellbogen ab und sah mir in die Augen. Seine waren so dunkelblau und tief, dass man den Eindruck hatte, sie würden sich über seine Wangen ergießen.

„Du musst gehen.“ Er sprach langsam. Gedämpft, aber energisch.

Ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte meinen Dad nicht verlassen. Nicht auf diese Art. Niemals.

„Vögelchen …“, bat er, und jetzt liefen Tränen aus seinen Augen. „Bitte.“

Er schob mich zurück und das Erste, was ich fühlte, war warme Flüssigkeit, die durch meine Kleidung drang und an meinem Bauch klebte. Das Erste, was ich roch, war der metallische Gestank von Blut. Das Erste, was ich hörte, waren die Todesschreie meiner Mutter. Aber das Letzte, was ich hörte, bevor alles schwarz wurde, war seine Stimme.

„Wir kommen zurück, Dovey. Ich werde dich hören, wenn du sprichst. Ich werde dich sehen, wenn du tanzt. Ich werde dich immer beobachten …“ Seine Stimme klang so jung. Nicht so alt wie ich aufgrund der Größe und Schatten der Männer vermutet hätte.

Ein weiterer Mann trat vor. Ich spürte, dass er älter war. Er trug einen Fedora, der einen Schatten über seinen Mund warf, zwischen seinen Lippen steckte eine Zigarre. „Geh.“

Ich spürte ihn an Stellen, wo ich ihn nicht hätte spüren sollen. Bei einer Pflegefamilie nach der anderen war er immer da, er existierte in der Luft zwischen den Möbeln. Ich konnte ihn spüren, selbst wenn ich dachte, dass ich ganz allein war. Der Schatten war überall, wo ich war. Er existierte zwischen der Realität und meiner Gedankenwelt. Er quälte mich gefühlt mein ganzes Leben lang, und das Schlimmste daran, von etwas gequält zu werden, das man nicht kannte, war, dass man nie wusste, wann diese Qual enden würde.

Kapitel 1

Gegenwart

Ich war vierzehn Jahre alt, als ich aufhörte von der Welt zu erwarten, sie würde für mich leichter werden. Stattdessen wurde ich härter. Ich lernte, dass ein dunkler Tag nur bedeutete, dass die Sonne bald aufgehen würde. Es war ein Mantra, das mir in Fleisch und Blut überging, als ich aufwuchs. Ich musste an dieser einfachen Weisheit festhalten, um meine Seele zu stärken und mich daran zu erinnern, dass ich überleben würde. Von einer Pflegefamilie zur anderen zu wechseln, bis man achtzehn wird, ist nicht ideal, aber ich bin Optimistin. Ich sah es so, dass ich mich nie auf jemanden verlassen musste.

Überhaupt nicht.

Außerdem habe ich es geschafft, die Zukunft ziemlich optimistisch zu sehen, trotz meiner jetzigen Umstände. Sobald ich achtzehn werde, leere ich mein Bankkonto und verschwinde von dem Ort, an dem man mich kennt, von den meisten Menschen Miami Beach genannt. Okay, es ist nicht gerade schrecklich, hier zu leben, und es ist wahrscheinlich sogar einer meiner Lieblingsorte, aber ich will abhauen. Vielleicht lasse ich mich im pazifischen Nordwesten nieder oder irgendwo, wo es etwas kühler ist. Mir ist Kälte lieber als Hitze.

„Dove!“, ruft Richard von seinem Platz hinter dem Tresen. Ich arbeite in einer Bar gleich am Stadtrand. Sie zieht die richtigen Gäste an, um gutes Trinkgeld zu bekommen. Reiche Leute, die mit Bargeld um sich werfen wollen.

Ich hebe fragend die Augenbrauen, also kommt er rasch auf mich zu, die Hände in den Hosentaschen vergraben. „Sorry, ich vergesse immer die Sache mit dem Sprechen.“

Die Menschen gehen immer davon aus, dass ich unfähig bin zu sprechen, weil ich so wenig sage. Menschen stecken andere, die nicht der Norm entsprechen, schnell in eine Schublade. Ich kann sprechen, aber ich tue es nicht oft hier, wo ich Angst habe und an die Realität gebunden bin, immer beobachtet zu werden. Ich wusste, dass es nicht sicher war. Dass ich nicht sicher war. „Ich werde dich hören, wenn du sprichst.“ Ich erschauere, ziehe den Reißverschluss meiner Lederjacke höher und schiebe die Hände in die Taschen, um sie warmzuhalten. „Kannst du morgen in der Bar arbeiten? Jules hat sich krankgemeldet. Normalerweise haben wir einen Ersatz, aber wir erreichen keine der Aushilfskräfte.“

Ich zucke mit den Schultern und nicke. „Klar!“

„Gut“, murmelt Richard. „Ich weiß das zu schätzen, Dove.“ Ich beobachte, wie sein Rücken in dem dunklen Raum verschwindet. Stroboskoplichter leuchten und flackern, schneiden durch die Dunkelheit wie Lichtschwerter in einem Star Wars Film.

Ich schlängele mich schnell durch die kleinen Menschengruppen und gehe direkt zum Bereich hinter der Bühne.

„Dove! Hey, Mädchen!“ Natasha winkt mir von ihrem Schminktisch aus zu.

Ich nicke ihr zu und streife meine Kleidung ab, bis ich nur noch in BH und Höschen dastehe.

„Du bist heute Abend als Zweite dran“, spricht Tash weiter und trägt blutroten Lippenstift auf auf.

Ich lächele, sammele meine Sachen zusammen und lege sie in meine Kabine. Ich fange an, mich zu schminken und zu frisieren und gebe mir mit beidem besonders viel Mühe. Ich blicke mein Spiegelbild an und ziehe die Lippe zwischen die Zähne. Meine Haut ist seidig weich und hat eine natürliche Bräunung, und meine Haare sind dunkelrot. Früher waren die Mädchen neidisch auf meine Haut, weil ich nie Sommersprossen oder Unreinheiten hatte, und im Gegensatz zu den meisten Rothaarigen bekomme ich nicht so leicht einen Sonnenbrand, sondern werde braun.

Ich knote mein Haar auf dem Kopf zusammen und fange mit meinem Make-up an. Ich umrande meine grünen Augen mit schwarzem Eyeliner und kichere, als Tash neben mir zu rappen beginnt. Das macht sie jeden Abend, um sich aufzuwärmen. Ich liebe Tash, aber ich habe Mitleid mit ihr. Sie hat eine fünfjährige Tochter und einen Scheißkerl von Ehemann. Ich weiß, wenn sie könnte, würde sie nicht hier arbeiten. Ich habe sie ein paar Mal gefragt, warum sie es tut, aber sie zuckte nur die Schultern, als hätte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden.

Da mir das unangenehm war, und da wir uns nicht so nahestehen, habe ich es dabei belassen.

Eine halbe Stunde später bin ich bereit.

Ich trete auf die Bühne hinaus, und alle Lichter gehen aus, nur ein einziger Scheinwerfer ist auf mich gerichtet. Ich umfasse die Poledance-Stange, und Voyeur Girl von Stephen beginnt zu spielen. Zu diesem Lied tanze ich immer meine erste Nummer. Inzwischen ist es fast so, als wären mir Melodie und Text in Fleisch und Blut übergegangen, sie leiten meine fließenden Bewegungen, während ich über die Bühne tanze. Ich verliere mich in der Musik und lasse meinen Körper vom tranceartigen Klang übernehmen. Ich muss mich nicht umschauen, um zu wissen, dass die Leute mich ansehen. Tash sagt, dass einige Männer jeden Abend kommen, wenn sie wissen, dass ich tanze. Ich weiß nicht, ob das stimmt, denn ich achte nicht darauf. Ich weiß, dass ich überdurchschnittlich bin. Meine Mom und mein Dad haben mein ganzes Leben lang viel Geld investiert, um dafür zu sorgen, dass meine Balance, mein Temperament und mein Körper immer im Gleichklang mit der Musik waren, die gerade gespielt wurde. Abgesehen davon hatte ich immer eine natürliche Begabung zum Tanzen.

Ich schwinge weiter herum, mein Körper schmiegt sich an die Stange. Ich lasse eine Hand meinen Bauch hinunter zu meinen Oberschenkeln gleiten, beuge mich vor, spreize die Knie ganz weit und drücke sie wieder zusammen. Ich öffne langsam die Augen, weiß aber nicht, warum, denn normalerweise öffne ich sie nie. Meine Augen sind immer geschlossen, während ich mich darauf konzentriere, mit den Bewegungen meines Körpers Kunst auf eine Leinwand zu bringen. Doch ich öffne sie, und mein Blick fällt auf einen Mann, der am Tresen sitzt. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, denn er trägt einen dunklen Hoodie, der das meiste davon verdeckt. Er hat die Knie weit gespreizt und sich gegen den Tresen gelehnt. Ich sehe ihn zwar nicht, aber ich spüre seinen Blick auf mir. Bei jedem Stoß meiner Hüften fühlt es sich an, als würden seine Augen die Kurven meines Körpers liebkosen. Ich bekomme eine Gänsehaut und versuche die Gedanken zu verdrängen, die in meinen Kopf eindringen. Das Lied neigt sich dem Ende zu, und ich werfe mein rotes Haar zurück. Ich blicke wieder zu der Stelle, wo der Mann war, und finde ihn noch immer dort. Er beobachtet mich aufmerksam. Alle treten in den Hintergrund, als die Energie, die uns umgibt, die Luft knistern lässt. Ich sehe, dass die Spitze seiner Zigarette wie ein angezündetes Streichholz leuchtet. Er scheint mich mit jedem Inhalieren zu sich zu rufen. Rauchwolken schweben um ihn herum, als er ausatmet. Warum kann ich nicht wegsehen? Obwohl ich nur die Kontur seiner Augen erkennen kann, spüre ich seinen Blick auf mir. Blickkontakt ist die Sprache, die niemand sprechen kann, dafür wissen wir, wenn die Chemie stimmt. Es ist die Sprache des Schicksals. Zwei Seelen fangen Feuer, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird. Ich tanze weiter zu dem Song, bis zum letzten Ton, bevor ich hinter die Bühne gehe. Ich will versuchen, ob ich einen genaueren Blick auf ihn werfen kann. Ihn. Ein Anflug von Vertrautheit umgibt seinen Körper und zieht mich an. Vielleicht ist es auch die Sprache, die niemand spricht, und ich habe plötzlich beschlossen, Unterricht zu nehmen.

„Hey, Dove!“, unterbricht Rich meine Gedanken und nickt mir zu, während ich auf den Tresen zugehe. „Das Übliche?“

Rich ist ein Mann mittleren Alters mit einem Vollbart. Er hat zwei kleine Töchter, die er allein großzieht, seit seine Frau bei einem Autounfall starb, als sie noch Babys waren. Richard gehört auch diese Bar. Die meisten Leute denken wahrscheinlich, dass ein Kerl, dem ein Striplokal gehört, verzweifelt und heruntergekommen sein muss, aber das ist bei ihm nicht der Fall. Er hat drei Mitarbeiterinnen behalten, seit er die Bar vor ein paar Jahren vom Vorbesitzer gekauft hat, und das nicht freiwillig, denn er hat alle anderen Mädchen entlassen, weil er das Lokal in eine Biker-Bar verwandeln wollte – denn er selbst ist auch ein Biker. Doch er wusste, dass Tash und ich die Arbeit und das Trinkgeld brauchten. Wir hätten als Barkeeperinnen arbeiten können, aber er hat ihnen versprochen, dass sie ihre Stellen behalten würden. Also behielt er Tash, Vane und mich, was perfekt funktioniert, weil wir drei gut miteinander auskommen.

„Ja, bitte“, sage ich und lasse den Blick durch den Raum wandern, um zu sehen, ob Mr. Mystery noch da ist.

Er ist nicht mehr hier. Ich bin etwas enttäuscht, also nehme ich meinen Wodka Soda mit Limette und kippe ihn herunter. Dann streiche ich mit der Daumenkuppe über meine Lippen, um den Rest wegzuwischen.

„Wir sehen uns morgen.“ Ich schiebe mein leeres Glas Rich zu, der sich durch seinen langen, zotteligen Bart streicht.

„Ja, alles klar, Baby-Girl.“

Ich gehe zum anderen Ende der Bar, wo der Personalbereich ist, greife nach meinem langen Mantel, der mir bis zu den Knien reicht, und knöpfe ihn zu. Ich hole mein Handy und die Ohrstöpsel aus meiner Tasche, durchsuche Spotify und finde einen neuen Song. Bei dem kann ich mich vielleicht auf dem Rückweg zu meiner heruntergekommenen Wohnung auspowern. Ich liebe Tanzen. Es hält meine Seele lebendig und meine Glieder in Flammen. Musik ist die Heilung für all meine Schwierigkeiten, solange sie spielt. Nach einer Weile treibt mich jeder Song an. Ich verlasse die Bar durch den Hinterausgang. Die Tür knallt hinter mir zu, und ich fummele mit meinem Handy herum, bereit, zur Bushaltestelle zu gehen. Eine Hand legt sich auf meinen Mund. Erschrocken gehe ich in den Kämpfen-oder-Fliehen-Modus. Ich ziehe die Ohrstöpsel heraus, trete um mich, versuche zu schreien und mich zu drehen, aber der harte Körper hinter mir hält mich zu fest, will mich nicht loslassen.

Ich spüre weiche Lippen an meiner Ohrmuschel. Wärme gleitet über meine Haut. „Wenn du frei kommen willst, kleine Dovey, würde ich dir raten, nicht zu schreien.“ Seine andere Hand legt sich um meine Kehle und drückt zu. „Davon wird mein Schwanz hart, und das willst du lieber nicht.“

Kapitel 2

Dove

Ich liege auf dem makellosen Marmorboden, mein Körper zittert bei jedem Atemzug. Der Raum ist sauber, fast schon steril. Er ist ein großes Viereck mit Gitterstangen als Tür. Es gibt einen üppigen Diamant-Kronleuchter, der von der Mitte der Decke hängt und im hinteren Bereich des Raums eine einzelne Toilette und ein Waschbecken. Ein Feuerball ist in meiner Brust aufgeflammt und hält mich fest in seinem Griff. Mir ist kalt. So kalt. Ich habe überall extreme Gänsehaut und meine einst gebräunte Haut ist jetzt sepia-weiß. Ich streiche mit den Fingern über die übriggebliebenen Krümel von meinem Keks und schreibe die Zahl 21.

Einundzwanzig – so lange bin ich schon hier.

Die Männer, die mich besuchen, kommen normalerweise zu viert, aber heute Morgen ist der Mann, der mir gegenübersitzt, allein. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, und etwas sagt mir, dass es einen Grund dafür gibt. Er trägt eine schwarze Partymaske mit daran befestigten Neonlichtern. Beide Augen sind blaue Kreuze. Er neigt den Kopf, sagt aber nichts, so als würde er mich sehr genau mustern.

Ich krieche rückwärts, weil ich nicht in seiner Nähe sein will. Ich spüre ihn. Ich habe es gespürt, als er den Flur herunterkam. Seine Wut. Seine Feindseligkeit. Er hebt das Messer auf, das neben ihm liegt. Blut tropft von der Klinge und fällt auf den zuvor makellosen Boden. Ich beobachte, wie er mit den Fingern über die rote Flüssigkeit streicht, die seine Haut beschmutzt. Dann springt er plötzlich auf die Füße, und ich zucke zusammen, habe Angst vor dem, was vielleicht passieren wird.

Eins.

Zwei.

Drei.

Vier.

Vier Schritte und er steht vor mir. Ich will nicht hier sein. Mein Körper zittert, in meinem Kopf hämmert es. Sie geben uns Essen und Wasser, daher weiß ich, dass es an meiner Angst liegt. Ich schließe fest die Augen, als das Geräusch seines Reißverschlusses in dem leeren Raum widerhallt. Der Blutgestank wird stärker, je näher er kommt.

Ich stelle mir vor, zu tanzen. Glücklich. Die Bänder von Spitzenschuhen sind um meine Knöchel geschlungen, meine Hände bewegen sich über dem Kopf, als ich anfange, eine perfekt elegante Arabesque auszuführen. Festes Fleisch drückt gegen meinen Mund, und ich muss nicht die Augen öffnen, um zu wissen, was es ist. Ich beiße die Zähne zusammen, will die Lippen nicht öffnen, aber seine Hand vergräbt sich in meinem Haar, zerrt meinen Kopf zurück, und ich reiße die Augen auf. Der Mann hebt ein Messer und drückt es gegen meine Kehle. Ich spüre das Blut auf mein Schlüsselbein tropfen. Entweder ist es mein eigenes oder das von jemandem, den er gerade umgebracht hat. Ich weigere mich weiterhin, also drückt er die Klinge fester an meine Haut, während sein Schwanz an meinen Lippen zuckt.

Tränen laufen über mein Gesicht, als ich den Widerstand aufgebe. Ich öffne den Mund und er schiebt seinen Schwanz hinein. Ich bin noch nie zuvor vergewaltigt, noch nie zu etwas gezwungen worden. Es passiert etwas mit einem, wenn man auf diese Weise missbraucht wird. Es ist, als ob einem etwas Menschlichkeit genommen und durch deren Gestank ersetzt wird. Er schiebt seinen Schwanz schnell rein und raus, dringt gewaltsam tief ein. Als ich grob hineinbeiße, drückt er sich an meine Luftröhre, sodass ich nicht mehr atmen kann. Nachdem er genug davon hat, dass ich mich gegen ihn wehre, schubst er mich auf den Rücken, schiebt sich über mich und legt eine Hand auf meine Pussy. Er rammt erst zwei, dann drei Finger in mich hinein, und reißt mit der anderen Hand mein Shirt herunter.

Mit jedem Stoß seiner Finger raubt er mir einen Teil meiner Seele, den ich nicht zurückhaben will. Er musste seinen Schwanz nicht in mich hineinschieben, um mich zu vergewaltigen, aber ich bin trotzdem froh, dass er es nicht getan hat. Das hier war etwas anderes. Es gab einen Grund dafür, warum er sich damit begnügte, mich nur mit seinen Fingern zu benutzen. Er hatte eine Nachricht zu übermitteln, und leider sollte ich die Botin sein.

Sobald er verschwunden ist, schlafe ich mit tränenverschmiertem Gesicht ein. Erinnerungen an meinen Vater und das Thai-Essen, das wir nie aßen, blitzen in meinem Kopf auf.

Leises Schluchzen hallt im Raum wider, außerdem Schniefen und das Reiben eines Körpers.

„Weißt du, warum sie uns entführt haben?“, fragt eine Stimme, aber ich schenke ihr keine Beachtung. Sie ist eine von vielen, eine von einundzwanzig, sie ist also die Nummer zweiundzwanzig. Sie fängt wieder an zu weinen, und ich muss den Drang unterdrücken, ihr zu sagen, dass sie still sein soll. Tränen bestärken sie nur bei ihren kranken Spielen, da bin ich sicher. „Kannst du nicht sprechen?“

Eigentlich schon, aber ich will nicht auf deine armseligen Hilferufe antworten. Einundzwanzig Mädchen haben geweint. Nichts, was ich sagen oder tun kann, könnte dich trösten. Ich bleibe still und streiche über die Zahl, bis ich den grauen Marmor unter den alten Krümeln sehe. Zweiundzwanzig. Ich schreibe es hin. Schließlich setze ich mich auf und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Der Blick des Mädchens begegnet meinem. Ihre Augen sind braun, dieselbe Farbe hat der Boden, auf dem wir sitzen. Ihre Handgelenke sind von den Handschellen aufgescheuert, mit denen wir an die Wand gefesselt sind. Wasser tropft aus dem Riss im Beton über uns auf meinen Rücken. Sie ist hübsch. Aber das sind sie alle.

„Du bist hübsch“, sagt sie und streicht sich das lange, braune Haar aus dem Gesicht. Tränen haben Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.

Ich sage nichts.

Sie neigt den Kopf. „Ich glaube, dass wir hier wahrscheinlich sterben werden.“

Sie lehnt den Kopf gegen die Wand und zieht die langen Beine an die Brust. Ich will nett zu ihr sein. Ihr sagen, dass man sie vermutlich nicht umbringen wird. Ihr sagen, dass ich nicht weiß, was hiernach passiert. Doch ich weiß es nicht. Ich weiß es nie. Sie kommen und gehen, ich bleibe. So war es mit einundzwanzig Mädchen. Manche Mädchen sind länger hier, manche nur für kurze Zeit. Zeit. Darüber habe ich den Überblick verloren. Die Sonne geht unter, die Sonne geht auf, aber meine Welt steht still. Ich bin auf diese Wände beschränkt, die mich einsperren. Ich betrachte das neue Mädchen aufmerksam. Ich habe bemerkt, dass die Mädchen sich in einem Punkt ähneln. Dem Alter. So weit bin ich gekommen.

„Ich verstehe, dass du nicht sprichst.“ Sie atmet heftig aus und senkt den Kopf. „Das ist okay. Ich glaube, dass es auf irgendeine Art Sinn ergibt. Ich heiße Rose. Ich bin zwanzig Jahre alt und bis gestern war ich Tänzerin bei …“ Ich fahre hoch und verenge die Augen. „Wow!“, murmelt sie und zuckt zurück.

Ich habe wahrscheinlich wie eine Wahnsinnige ausgesehen. Aber von allen Mädchen, die hier gewesen sind, hat keine viel mit mir geredet. Sie weinen die meiste Zeit über. Sie schreien. Eine hat versucht, sich nur mit den Fingern einen Weg durch die Gitterstäbe der Tür zu bahnen. Ihre Fingernägel lösten sich und Blut floss ihre Hände hinunter. Keine von ihnen hat mir ihre Geschichte erzählt. Waren sie alle Tänzerinnen? So wie ich? Vielleicht.

Rose sucht meinen Blick, ihr Gesichtsausdruck verändert sich. „Verstehst du mich?“ Sie muss denken, dass ich kein Englisch spreche, weil ich nichts sage.

Ich nicke.

Sie leckt sich über die trockenen, aufgesprungenen Lippen. „Warum bist du zusammengezuckt? Bist du so alt wie ich?“

Ich schüttele den Kopf.

„Nein?“, murmelt sie.

Ich nicke.

„Also doch?“

Ich verdrehe die Augen, weil mir das langsam reicht. Ich will reden. Ich öffne den Mund, die Wörter kitzeln sanft meine Zungenspitze, aber wie immer, wenn ich mich etwas stellen soll, worauf ich mich nicht einlassen will, bringe ich kein Wort heraus und schließe den Mund.

„Du bist kaputt, Dove. Und du wirst immer gebrochen sein.“ Ich erschauere. Die Worte des Schattens hallen durch meinen Körper. Er ist mir überallhin gefolgt. Ich wachte mitten in der Nacht auf und hätte schwören können, dass er in einer dunklen Ecke meines Schlafzimmers lauerte. Überall, wohin ich ging, konnte ich ihn spüren. Ist er auch hier?

„Warte!“ Rose unterbricht meinen inneren Zusammenbruch und beugt sich vor. „Tänzerin? Du warst auch Tänzerin?“

Mein Kopf ruckt hoch, mein Blick überwindet rasch die Distanz zwischen uns. Ich nicke und mein langes, rotes Haar fällt mir über die Schultern. Ich lecke mir über die trockenen Lippen und will Worte heraus zwingen, aber sie kommen nicht. Es ist immer so. Aber dann … „Ja.“

„Moment!“ Sie hebt die Hände hoch. „Du sprichst also doch?“

Ich kaue auf der Lippe. „Ja. Ich mag es nur nicht, und ich habe Probleme, wenn ich mich einem Trauma stellen muss. Es ist ein Schutzmechanismus, der einsetzt, wenn ich Angst habe.“ Ich schüttele den Kopf und zwinge mich, zu schweigen. Ich will nicht schwach klingen. Rose scheint mich zu verstehen, obwohl sie die Umstände nicht versteht. Mein Herz fängt an zu hämmern. Könnte ich sie mögen? Ich mag niemanden.

„Ich habe in einem Hip-Hop-Club getanzt. Für Geld. Keine Familie zu haben und völlig pleite zu sein, macht nicht unbedingt Spaß, aber mit Spaß kann man keine Rechnungen bezahlen.“ Rose ist wunderschön. Ihre Haut ist ein paar Nuancen dunkler als meine, aber immer noch recht hell. Sie ist eindeutig zum Teil afroamerikanisch. Wenn sie lächelt, strahlen ihre ebenmäßigen weißen Zähne. „Ich zähle die Tanzstile auf, und du sagst mir, welches deiner war, okay?“

Ich nicke, aufgeregt, dass sie die Führung übernimmt.

Sie betrachtet mich von oben bis unten. „Hm. Ballett?“

Ich erstarre.

„Ballett?“, fragt sie und lächelt. „Ich hatte recht?“

Ich schüttele den Kopf. „Nein.“ Auf eine Art hat sie recht, aber es ist schon lange her, dass ich meine Ballettschuhe an den Nagel gehängt habe. Jetzt tanze ich nicht mehr zum Vergnügen. Ich tanze, um zu überleben. Buchstäblich.

„Verdammt. Ich war sicher, dass du wie eine Ballerina aussiehst.“

Ich verdrehe bei ihrer Beurteilung die Augen. „Okay.“

Sie lacht. „Schon in Ordnung, ich weiß, dass das blöd war. Was ist mit Hip-Hop?“

Ich schüttele den Kopf. „Nein.“

„Jazz?“

Kopfschütteln.

Sie hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue. „Stripperin?“

Ich schlucke und beiße mir auf die Lippe. Dann nicke ich.

„Verdammt!“ Sie lacht. „Die hübsche kleine Prinzessin ist eine Stripperin. Ich meine, ich sehe es dir schon an. Du hast diese Braves-Mädchen-von-nebenan-Ausstrahlung.“

Ich starre sie wütend an.

Sie kichert wieder. „Tut mir leid. Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist.“

Ganz offensichtlich.

„Wie lange bist du denn schon hier?“

Ich schreibe mit dem Finger zweiundzwanzig auf den Boden. „Zweiundzwanzig Mädchen später …“

„Und sie sind alle weg?“, fragt sie, und kurz sehe ich Angst in ihren Augen.

Mit gutem Grund. Ich lächele sie mitfühlend an. „Sie sind einfach verschwunden. Ich weiß nicht, wohin. Ich habe nie mit einer von ihnen so wie jetzt mit dir gesprochen.“

„Wohin?“, flüstert Rose.

Schwere Stiefel knallen auf den Boden, und Metallschlüssel rasseln gegeneinander, sodass ich einer Antwort entgehe.

„Zweiundzwanzig!“, brüllt einer von ihnen. Bandanas mit Totenkopfdesign bedecken die untere Hälfte ihrer Gesichter.

Es sind vier. Dieselben vier, die immer kommen, um die Mädchen abzuholen. Sie tragen alle dicke schwarze Kleidung. Schwarze Jeans, Shirts, Hoodies und schwarze Beanies. Es ist offensichtlich, dass sie ihre Identität verbergen wollen. Seit der Nacht, als einer von ihnen mich entführt hat, habe ich keinen Anflug mehr davon mitbekommen, wie sie aussehen. Ich zucke innerlich zusammen bei der Erinnerung an den Mann, der mich überfallen hat, der Fremde mit der Neonmaske. War es einer von den vieren? Aber als ich bei diesem Gedanken meinen Blick über ihre Körper wandern lasse, wird mir klar, dass alle vier zu groß und zu kräftig sind. Der Vergewaltiger – denn genau das ist er – war mager. Und viel kleiner.

Ich entspanne mich. Vorerst.

Ich greife nach Rose, umfasse ihren Arm. Ich will nicht, dass sie sie mitnehmen. Aus irgendeinem Grund mag ich Rose, und ich mag sonst niemanden. Etwas in mir hat sich bei ihr eingeklinkt. Meine Seele erkennt sie als eine alte Freundin, als ob wir schon viele Leben zuvor befreundet gewesen wären. Einer der Kerle schnaubt und legt den Kopf zurück, um den anderen anzusehen, der mich aufmerksam beobachtet. Seine dunkelgrünen Augen blicken in meine. Er ist der in Sünde gehüllte Tod und fordert mich auf, herauszukommen und meinem Schöpfer zu begegnen. Ich blinzele und breche den Blickkontakt ab. Sie sagen nie viel. Schweigen, wie die Ruhe, die sich über einen zornigen Himmel legt, bevor er seine Schleusen öffnet und der Regen auf dich niederprasselt.

Dieses Mal betreten zwei von ihnen den Raum.

Irgendetwas stimmt nicht. Normalerweise kommt nur einer herein, während die anderen draußen warten. Der mit den Teufelsaugen tritt näher zu mir. Ich weiche zurück, bis mein Rücken gegen die kalte Wand prallt, und ziehe die Beine an die Brust. Der glitzernde Kronleuchter, der an der Decke hängt, schwingt wie ein Zeitmesser, zählt die Tage und Stunden bis zu meinem Tod herunter. Tick, tack, tick, tack.

Er kniet sich vor mich hin, und Roses Schreie ersterben hinter mir, als ich mich in seinen hypnotisierenden Augen verliere. Die Welt verschwindet in einem dunklen Wirbel, und ich nehme nur noch ihn wahr.

Und diese Augen.

Sein Blick senkt sich auf meinen Mund und wandert dann wieder hoch zu meinem. Aus der Nähe sehe ich, wie jung er ist. Die Haut unter seinen Augen ist glatt, seine Wimpern sind dicht und fächern sich bei jedem Blinzeln auf.

Er legt die Hand um meinen Arm und zerrt mich auf die Füße. Er hält den Blickkontakt mit mir, als er die Hand auf meinen Oberschenkel legt, unter den kurzen Rock, den ich seit der Nacht meiner Entführung immer noch trage. Ein kurzer Rock und eine Netzstrumpfhose.

Super stilvoll.

Jemand hinter ihm lacht. Ich schwanke einen Moment. Wird er auch versuchen, mich zu vergewaltigen?

Er geht wieder vor mir in die Hocke, sein Blick fokussiert sich auf mich. Mein Herz hämmert in meiner Brust, ist so aufgewühlt wie ein wütendes Meer. Seine raue Handfläche gleitet die Hinterseite meines Oberschenkels hinab, dann die Wade, und jede Berührung ist wie ein elektrischer Schlag. Mir macht seine Berührung nichts aus, sie fühlt sich vertraut an. Meine Augen schließen sich flatternd. Ich atme schwer. Seine Haut auf meiner ist surreal, wie eine blaue Flamme, die um aufgewehten Schnee tanzt. Alles ist still. Warum ist alles still?

Das Geräusch von Metall, das auf den Boden fällt, bringt mich in die Realität zurück. Mir wird bewusst, dass er die letzte Metallfessel gelöst hat, die seit der Nacht meiner Entführung um meinen Knöchel gelegen hatte. Ich zucke zusammen, öffne die Augen und sehe einen weiteren Mann in ähnlicher Kleidung, der neben dem steht, der sich Rose geschnappt hat. Rose lächelt mich an, eine perfekt gezupfte Augenbraue gehoben.

Meine Wangen brennen vor Verlegenheit, weil dieser Fremde so mühelos solche Emotionen in mir wachrufen konnte.

Im nächsten Moment steht er wieder vor mir und beugt sich herunter, bis ich seinen unverwechselbaren Duft rieche – Leder und Zigaretten mit Honig übergossen und dann in Brand gesetzt. „Das wird das einzige Mal bleiben, dass ich vor dir auf die Knie gegangen bin, kleine Dove.“

Seine Stimme ist wie Seide, weich genug, um zu schmeicheln, aber auch stark genug, um sich um meine Kehle zu legen und mich zu ersticken. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, wird sein Griff um meinen Arm fester, und er zerrt mich in Richtung der offenen Zellentür. Die vier Männer in seiner Begleitung schweigen und betrachten uns aufmerksam, als wir an ihnen vorbeigehen. Der Mann, der Rose hält, stößt seine Schulter an die des Mannes, der mich in seinem Griff hat. „Du hast geredet!“

Der mit der Hand um meinen Arm wirft ihm einen wütenden Blick zu, und dann gehen wir den langen Flur entlang. Vorbei an einem Raum nach dem anderen. Schwere Kampfstiefel knallen auf luxuriösen Marmorboden. Mit jedem Schritt, den wir machen, wird der überwältigende Geruch nach Salzwasser stärker. In einigen Räumen sind Menschen, nicht nur Mädchen, sondern auch Männer, andere sind leer. Bevor ich mir auch nur einen davon einprägen kann, erreichen wir das Ende des Flurs, und der Kerl, der mich hält, reißt eine schwere Metalltür auf. Es folgt ein weiterer, langer Flur, nur dass dieser schmal ist und an seinen Seiten viele nackte Glühbirnen aufgereiht hängen, die alle schwanken, während wir bis zum Ende des Flurs gehen. Ich rieche den Schimmel, der in den Wänden wütet, die Feuchtigkeit dringt aus den luxuriösen Räumen, die hinter mir liegen. Wir gehen durch eine weitere Tür in einen kürzeren Flur.

Kalt.

Mir ist so kalt.

Ich zittere. Scheinbar sinkt die Temperatur, je tiefer wir kommen. Er reißt eine weitere Tür auf, und plötzlich stehen wir mitten in einem riesigen Raum. Motoren dröhnen wild, und die eisige Temperatur macht eine Drehung um hundertachtzig Grad, es ist brütend heiß, und auf meiner Haut bildet sich Schweiß. Und dann trifft mich der Gestank. Fisch gemischt mit Öl. Der Boden beginnt zu schwanken.

„Ich erinnere mich nicht, auf ein Boot gekommen zu sein …“, murmelt Rose leise. Ich möchte ihr zustimmen. Daran erinnere ich mich auch nicht. Ich erinnere mich nicht, auf das Boot gekommen zu sein, nur daran, dass ich hier aufgewacht bin.

Roses Einwurf trifft auf taube Ohren. Sie führen uns weiter, eine Metalltreppe hinauf und auf das Hauptdeck. Ich erschauere, als der Wind über mein Gesicht fährt, meine Zähne klappern. Der gigantische Ozean erstreckt sich um die ganze Jacht herum, die mitten auf dem Meer schaukelt.

Mein Blick wandert zu meinem Entführer, dann zu Rose.

Gerade als Rose den Mund öffnen will, wird sie vom Geräusch von Hubschrauberflügeln, die durch die Luft schneiden, unterbrochen.

„Was ist hier los?“, ruft Rose. Der Helikopter senkt sich langsam auf den Hubschrauberlandeplatz auf dem Bug der Jacht. Wind wirbelt wie wild um uns herum. Auf dem Landeplatz befindet sich ein schwarzer Stern mit sieben Zacken, und auf jedem Zacken leuchtet ein Licht.

Ich trete langsam zurück, als sich die Türen öffnen. Ich sehe zu, wie alle, einer nach dem anderen, die Bandanas abstreifen.

Vier Männer.

Vier sehr junge Männer, wahrscheinlich in meinem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Ich betrachte sie aufmerksam.

Der Nervöse, der es auf sich genommen hat, sich um mich zu kümmern, hat dickes, braunes Haar, das von Natur aus zerzaust zu sein scheint, so als interessierte es ihn einen Dreck, wie es aussieht. Seine Augen sind so grün wie dunkle Jade, und seine Haut ist so ärgerlich makellos, dass es mich stört. Seine Arme und Schultern zeigen deutlich, wie hart er im Fitnessraum trainiert, und er muss mindestens dreißig Zentimeter größer als meine einsfünfundsechzig sein. Ich beschließe, ihn Eins zu nennen, bis ich seinen richtigen Namen erfahre. Zwei, von dem ich denke, dass er das Großmaul der Gruppe ist – nach der höhnischen Miene zu schließen, mit der er Eins ansieht – hat dunkelbraunes, unordentliches Haar und hellblaue Augen, in denen Unheil flackert. Seine Augen erinnern mich an atlantisches Eis. Ich bin noch nicht sicher, was ich von ihm halten soll, aber ich werde ihn Zwei nennen. Der dritte Mann, den ich ab jetzt Drei nenne, hat schwarzes Haar, ist mürrisch und sieht aus, als würden ihn alle langweilen. Als ob es eine Beleidigung wäre, dass wir dieselbe Luft wie er atmen. Er hat einen kantigen Kiefer, eine gerade Nase und ein kleines Grübchen im Kinn. Der letzte Kerl starrt mich wütend an. Seine Augen sind wie Whiskey, und alle Mädchen sind vermutlich durstig. Er hat ein kantiges Kinn und vollere Lippen. Unter seinem Kragen schauen Tattoos hervor, die sich bis über seinen Hals erstrecken. Es ist offensichtlich, dass er wunderschön ist, das sind sie alle, besonders Eins. Eins drückt Knöpfe in mir, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie habe. Ohne ein Wort zu sagen, sagt er unheimlich viel.

Eins zieht an meinem Arm, führt mich zum Hubschrauber und unterbricht damit grob meine Beobachtungen. Sie sind alle groß, aber Eins ist der größte. Sie sind alle schlank, wobei Vier am kräftigsten ist.

„Steig ein!“ Eins zeigt auf die kleine Treppe, die in den schlanken, schwarzen Hubschrauber führt, und ich gehorche. Ich habe ja keine andere Wahl. „Wenn du es noch nicht begriffen hast, das hier ist deine Rettungsleine.“ Ich versuche, ihn nicht zu lange anzusehen, weil … na ja, er ist eben so hübsch. Wenn man jemanden wie ihn überhaupt hübsch nennen kann. Es liegt ein schmaler Grat zwischen hübsch und angsteinflößend, und Eins benutzt diesen Grat wie ein Drahtseiltänzer. Es ist auch nicht nur sein Äußeres. Es ist sein Verhalten und wie er das Kommando übernimmt. Man erkennt einen wahren Alpha, wenn man ihn sieht. Sie brauchen nicht zu beißen, denn ihr Bellen ist eher ein Brüllen und furchteinflößend genug, um jeden zu vertreiben, der ihnen nahekommt.

Rose starrt Eins an, als sie mir gegenüber Platz nimmt. „Und falls du es noch nicht herausgefunden hast, sie redet nicht viel.“

Eins schiebt einen Fuß nach vorn. „Du kannst davon ausgehen, dass ich das schon weiß.“

Seine Finger schweben über seinem Telefon, als er seine Aufmerksamkeit mir zuwendet. Sobald der Hubschrauber vom Boden abhebt und die anderen drei Männer sich gesetzt haben, öffnet Eins sein Telefon, und wir anderen verfallen in ein langes, angespanntes Schweigen.

Wir sinken auf einen Hubschrauberlandeplatz mitten in einem großen Feld. Auf diesem Landeplatz befindet sich der gleiche siebenzackige Stern wie auf dem der Jacht. Interessant. Große, grüne Büsche bilden einen Kreis um den Hubschrauberlandeplatz und verhindern so jeden Blick auf die riesige Villa, die mir beim Landeanflug aufgefallen ist. Sobald wir gelandet sind, öffnet Eins die Tür, und ich folge ihm auf den Fersen. Er blickt mit gelassener Miene zwischen Rose und mir hin und her. „Werdet ihr meine Anweisungen strikt befolgen?“

Zwei lacht leise, leckt sich über die Lippen und stellt sich neben Eins. „Glaubst du, das würden sie wagen?“

Eins starrt mich an. „Nein.“

Rose nimmt meine Hand, und ich drücke ihre leicht. So kann ich uns kaum beruhigen, aber zumindest weiß ich, dass sie neben mir ist. Eine Fremde kann die klaffende Leere füllen, die durch Panik entstanden ist, also bin ich dankbar, dass sie bei mir ist.

Drei und Vier bleiben hinter Rose und mir.

„Antwortet mir …“, fordert Eins uns auf, und seine Augen sind hart wie Stahl. „Werdet ihr Anweisungen befolgen?“

„Ja“, keucht Rose.

Eins tritt vor, und ich begreife, dass er sich uns nähert. Sein dunkler Schatten breitet sich wie ein Schirm um mich herum aus. „Dovey, wenn du nicht die Regeln befolgst, die für euch gelten, wird das Konsequenzen haben.“

Ich antworte nicht. Mein Blick gleitet über das Gras, als ob ich etwas suchen würde. Irgendetwas. Vielleicht suche ich nach den Worten, die mir auf der Zunge liegen, die Drohung, ihm die Kehle durchzuschneiden.

Ich zucke zusammen, als er einen Finger unter mein Kinn legt und meinen Kopf zu sich anhebt. Ich mag es nicht, berührt zu werden. Er ragt über mir auf, sodass ich den Kopf in den Nacken legen muss, damit ich ihm in die Augen sehen kann. Grün in Grün, nur mit unterschiedlichem Farbton. Beides Menschen, aber verschiedene Seelen.

„Hast du das verstanden?“

Das habe ich nicht, aber ich nicke trotzdem. Eins und Zwei gehen Rose und mir voran, Drei und Vier folgen uns. Wir gelangen auf eine Lichtung, die den Hubschrauberlandeplatz umgibt. In der Ferne geht jetzt die Sonne unter und lässt den Himmel in einem feurigen Orange erglühen.

„Was passiert hier …“, murmelt Rose, und ich drücke ihre Hand noch fester.

Eins und Zwei durchqueren weiter die üppige Lichtung, bis sie durch einen Durchgang gehen. Laute Musik dröhnt, was mich sofort an den Club erinnert. Als auch wir den Durchgang durchquert haben, schwanke ich. Eminem vibriert aus den Boxen, und der ganze Garten der Villa ist mit Ausrüstung gefüllt, die ich noch nie gesehen habe. Überall sind Leute – Arbeiter, nehme ich an. Eins und Zwei bleiben stehen und drehen sich zu mir um. Sorgsam geschnittene Hecken umgeben den Garten, und im linken Bereich befindet sich ein großer Swimmingpool. Rechts von mir wurde Ausrüstung ausgebreitet. Stangen, ein großer, viereckiger Käfig, der groß genug ist, um mehrere Menschen aufzunehmen und ein zerlegtes Zelt in den Farben Schwarz, Silber und Lila. Die Villa geht in eine große Terrasse über, auf der sich eine Steinskulptur befindet. Ein Mann und eine Frau, nackt und ineinander verschlungen. Um sie herum ist ein Springbrunnen gebaut, und an den Seiten der Terrasse sind Stühle und Tische ordentlich aufgestapelt. Dieses Haus erweckt mit seinem viktorianischen Baustil den Anschein, direkt aus Europa zu kommen. Das Moos, das zwischen den Steinen wächst, erinnert mich entfernt an die Augen einer bestimmten Person.

„Was passiert hier?“, wiederholt Rose. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf Eins. Selbst sie weiß, wer der Alpha der Gruppe ist.

„Ah, Rose Kinnish und Dove Hendry. Ich habe so lange darauf gewartet, euch kennenzulernen …“

Eine weiche Stimme erklingt hinter uns, und ich drehe mich um, um den Neuankömmling anzusehen. Lange Beine, langer Oberkörper und ein kleines Gesicht. Sie hat schwarzes Haar und kleine Knopfaugen. Das tut aber der Tatsache keinen Abbruch, dass sie schön sein könnte. Ich sage könnte, denn irgendetwas an ihr verschmutzt die Schönheit. Etwas Dunkles, Düsteres. Sie hat auch eine kleine Narbe, die sich in ihre Oberlippe gegraben und die Form eines Halbmonds hat.

Sie betrachtet mich aufmerksam. „Ihr habt die Brüder Kiznitch kennengelernt.“ Sie weist auf die vier Männer, die um uns herum stehen, steckt eine Zigarette zwischen ihre winzigen Lippen und zündet sie an. Sie inhaliert und zeigt auf Eins. „Kingston.“ Kingston. Dann zeigt sie auf Zwei. „Killian.“ Auf Drei. „Kyrin.“ Und schließlich auf Vier. „Keaton. Sagt mir“, sie bläst noch mehr Rauch aus, „was denkt ihr, warum ihr hier seid?“ Sie wirft ihre Zigarette ins Gras und ich beobachte, wie sie mit dem rechten Absatz ihrer roten Schuhe die Glut in die Halme drückt. Sie tritt vor. Ich muss den Drang unterdrücken, vor ihr zurückzuweichen. Als wir nicht antworten, verziehen sich ihre Lippen zu einem höhnischen Lächeln. „Interessant für dich.“ Sie zeigt auf Rose. „Nicht so interessant für dich.“ Sie wendet sich wieder an mich.

„Warum erzählen Sie uns das?“, mischt sich Rose ein.

Ihr Blick schießt zu Rose. „Das willst du wohl zu gern wissen. Ich leite eine Show und nehme dafür nur die Allerbesten. Aber die Art, wie wir unsere Künstler wählen, ist unüblich. Ich mag es, wenn meine Künstler unwiederbringlich gebrochen, aber von reinstem Wesen sind.“ Ihr Blick wandert zu Kingston. „Oder einfach gefühllos. Ich sammele Maschinen, keine Menschen, und mache sie zu gewinnbringenden Marionetten.“

Ich will sagen, dass ich keine Marionette bin. Ich will es so gern sagen. Schweiß läuft an meinen Schläfen herunter, als die Worte drohen, aus meinem Mund zu kommen. Doch bevor ich genug Energie aufbringen kann, um sie auszuspucken, schließen sich meine Kiefer wie eine Bärenfalle.

„Ihr habt keine Wahl. Keine von euch. Ihr kommt mit und ihr werdet tanzen.“ Sie blickt zwischen uns beiden hin und her. „Ich bezahle euch. Im Gegenzug erzählt ihr niemandem, was von jetzt an passiert. Ihr unterschreibt den Vertrag, und Midnight Mayhem besitzt euch. Ihr werdet niemals gehen. Diese Möglichkeit gibt es nicht.“ Ihr Blick wandert wieder zwischen uns hin und her. „Habt ihr das verstanden? Ihr könnt kein Leben außerhalb von Midnight Mayhem führen.“

Rose atmet tief ein.

Midnight Mayhem? Was ist Midnight Mayhem?

„Ich weiß, wer Sie sind.“

Die Frau sieht Rose an und legt einen perfekt manikürten, wie ein Sarg geformten Fingernagel auf Roses Wange. „Du süßes Mädchen. Du kennst mich nicht. Ich bin Delila Patrova, und ich kann entweder dein schlimmster Albtraum oder deine beste Freundin sein. Die Entscheidung liegt bei dir. Nur bei dir.“

Kingston legt eine Hand um Delila, zieht sie zu sich, beugt sich hinunter und flüstert ihr etwas ins Ohr. Delilas Blick richtet sich auf mich. Interesse leuchtet in den Tiefen ihrer leeren Pupillen auf.

„Wirklich.“ Sie richtet sich auf und streicht über ihre perfekt gebügelte Hose. „Dove Noctem. Du darfst eine Weile aussetzen. Beobachte. Dein Training beginnt zu einem späteren Zeitpunkt. Und jetzt!“ Sie schnippt mit den Fingern. „Hat eine von euch Einwände?“

„Was passiert, wenn es so wäre?“ Rose hebt eine herausfordernde Braue Richtung Delila.

Die Atmosphäre um uns herum verändert sich, der Wind bläst schwarze Magie in die Winterluft. Delila lächelt süßlich. „Ich fürchte, dass du uns nicht von Nutzen bist …“ Sie tut so, als würde sie über ihre Worte nachdenken. „Oder sonst jemandem …“

Rose drückt meine Hand.

Ich drücke zurück. Halt die Klappe, hör auf zu reden, bevor du uns beide umbringst.

„Ich frage euch jetzt …“ Kingston tritt vor Delila, und ich beobachte fasziniert, wie sie zurückweicht und ihm gestattet, die Gesprächsführung zu übernehmen. „Seid ihr damit einverstanden, euer Leben Midnight Mayhem zu übergeben? Ich will mir nicht die Hände schmutzig machen, aber ich tue es, wenn es sein muss.“

Ich kaue auf meiner Unterlippe und überdenke die Möglichkeiten. Es gibt keine. Ich nicke und drücke Roses Hand, damit sie auch zustimmt.

Rose stöhnt. „Woher sollen wir wissen, dass ihr uns nicht umbringt?“

Kingston sieht sie wütend an. „Ich habe nie gesagt, dass wir das nicht tun, aber ihr habt kaum eine andere Wahl, oder?“

„In Ordnung, genug damit. Wir fahren in vier Tagen los. Ihr Mädchen werdet …“ Ihr Blick wandert an Rose und mir auf und ab. „Shoppen gehen müssen. Ich gebe euch einen Vorschuss. Sonst frisst euch Midnight bei lebendigem Leib.“ Sie schnalzt mit der Zunge. „Kill, zeig ihnen ihr Zimmer.“

Kapitel 3

Dove

Als Killian eine Tür öffnet und uns mit einer Handbewegung zum Eintreten auffordert, sehe ich, dass weiche, pinkfarbene Baumwolle sich über ein übergroßes Bett erstreckt. Es gibt zwei Betten, und das Zimmer ist größer als die Wohnzimmer vieler Leute.

„Normalerweise stecken wir Anfänger in separate Zimmer, um sie von Fluchtversuchen abzuhalten.“ Killian spricht zum ersten Mal und lenkt meine Aufmerksamkeit auf die Stelle, wo er gegen den Türrahmen gelehnt steht. Er richtet den Blick auf mich, und seine Augen werden dunkel. „Aber irgendetwas sagt mir, dass die kleine Dovey hier ihre Flügel verloren hat.“

Ich beiße bei seinem arroganten Tonfall die Zähne zusammen. Bastard. Er stößt sich vom Türrahmen ab und weist den Flur hinunter. „Einige von uns kommen hierher zurück, wenn wir nicht unterwegs sind. Es gibt siebenundzwanzig Schlafzimmer, einen Pool draußen und drinnen, einen privaten Wellnessbereich, einen Basketballplatz, Theater und Werkstatt, und ich bin sicher, dass ich noch etwas vergessen habe. Das Anwesen liegt auf ein paar Morgen Land, auf dem alle aus der Gruppe ihr eigenes Zuhause haben. Mit anderen Worten …“ Killian grinst. „Entfernt euch nicht zu weit. Man weiß nie, wo man endet.“ Er verschwindet durch die Tür und lässt Rose und mich verblüfft zurück.

„Scheiße“, keucht Rose und setzt sich auf das Bett gegenüber von meinem. Sie atmet heftig aus, und ihr Blick sucht meinen. „Wir sind so was von am Arsch.“

Ich lecke mir über die Lippen und gehe zu dem Bett, das Killian mir zugewiesen hat. Ich lasse mich auf die weiche Tagesdecke sinken und denke über alles nach, was bis zu diesem Zeitpunkt passiert ist.

„Was hältst du von dem Ganzen?“, fragt Rose, streift ihre Schuhe ab und fährt mit den Fingern durch ihr schmutziges Haar.

Räume mit Diamant-Kronleuchtern, gefangene Menschen und angsteinflößende Männer, die Bandanas tragen. „Ich bin mir noch nicht sicher.“ Lüge. Ich weiß, wie ich dem Ganzen gegenüber empfinde. Ich habe das Gefühl, dass wir tot sein könnten oder an Menschenhändler hätten verkauft werden können. Ich erinnere mich, was mein Vater zu mir gesagt hat: „Du bekommst im Leben nicht immer was du willst, Dovey. Manchmal passieren so schlimme Dinge, dass du dir wünschst, dein Schicksal ändern zu können. Aber das kannst du nicht. Du musst weitermachen und dich anpassen.“ Und jetzt muss ich mich anpassen.

„Ich brauche ein Bad“, erwidert Rose und verschwindet durch eine der vielen Türen des Zimmers.

Ich nehme mir Zeit, meine Umgebung einzuschätzen. Ich brauche auch ein Bad. Ich habe mich nicht mehr gewaschen, seit … ich habe den Überblick verloren. Zweiundzwanzig Mädchen. Ich fühle mich, als wäre ich ans Bett zementiert und kann mich nicht rühren. Physisch bin ich frei – oder etwa nicht? – aber seelisch wurden die Fesseln nur noch mehr angezogen.

Ich schließe die Augen.

Die Jordans waren die dritte Pflegefamilie, zu der ich eingeladen wurde. Ich war ihnen dankbar, denn sie erlaubten mir, die Dinge zu tun, die ich immer noch liebte – wie das Tanzen. Es gab ein altes Tanzstudio an der Ecke der Beacon Street in der Innenstadt von Phoenix. Dort tanzte ich jeden Freitag. Es war heruntergekommen und alt, doch das lag nicht daran, dass die Besitzerin es vernachlässigte. Sie konnte sich den Erhalt einfach nicht leisten. Die Leidenschaft brannte immer noch in ihren Augen, wann immer sie mich tanzen sah, und man konnte sehen, dass sie deswegen das Studio geöffnet hielt – einfach, um die Kunst des Tanzens zu bewundern.

Ich ging nach einer spätabendlichen Unterrichtsstunde zur Bushaltestelle, wobei ich die Musik auf meinem iPod durchsuchte, als ich seine vertraute Gegenwart spürte. Ich hielt schwankend inne. Meine Finger spannten sich um meinen iPod, Schweiß lief mir die Schläfen hinunter. Langsam blickte ich auf und zog die Ohrstöpsel aus den Ohren.

Ich hielt den Atem an, als ich ihn hinter mir spürte, seinen Atem auf meinem Nacken. „Wir kommen noch zu dir, kleiner Vogel.“ Der Schatten drückte sich von hinten gegen mich, seine harte Brust gegen meinen Rücken. „Ich komme immer zurück.“

Ich atme bei der Vertrautheit der Stimme scharf ein. Kenne ich den Schatten?

Je öfter ich die Stimme in meinem Kopf höre, desto vertrauter kommt sie mir vor. Vielleicht habe ich aber auch seine Stimme und die Worte so oft gehört, dass sie mir dadurch inzwischen vertraut vorkommen.

Kaum ist Rose aus dem Bad gekommen, schlüpfe ich hinein und streife meine schmutzige Kleidung ab. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Klamotten jemals wieder loswerden würde, denn sie klebten an mir wie eine zweite Haut, verrotteten in meinen Poren und ließen einen Gestank zurück, der bis auf die Knochen ging. Ich wasche die Wanne rasch aus, bevor ich sie volllaufen lasse. Auf einem Tisch daneben liegen feine Seifen, es gibt eine Kupferschale voller Badekugeln, Badesalz, und eine riesige Flasche Chanel Chance Parfüm steht auf dem Badezimmerregal. Die Wände sind makellos weiß, ein krasser Kontrast zu den Menschen, die hier wohnen. Die Fliesen haben ein dunkles Mahagonirot. Eine interessante Farbwahl, denke ich, aber sie betont nur das luxuriöse Ambiente, das überall im Haus herrscht. Ich lasse eine der Badekugeln ins Wasser fallen und beobachte, wie sie sprudelt. Sie erfüllt das Zimmer mit süßen Aromen, die mich erleichtert seufzen lassen. Ich tauche schnell ins Bad und zucke zusammen, als das heiße Wasser meine Sünden wegwäscht. Meine Haut prickelt von der hohen Temperatur, das Wasser scheint mir überall in die Haut zu beißen. Ich tauche unter, und mein Haar schwebt auf dem Wasser, als die Welt still wird. Alles ist so ruhig, wenn man unter Wasser ist. Als ob man die Welt ausschließen und mit seinen Gedanken allein sein könnte.

Gedanken, mit denen ich nicht unbedingt allein sein will.

Ich tauche wieder auf und wische mir das heiße Wasser aus dem Gesicht. Ich reibe mir die Tropfen aus den Augen und fahre hoch, als ich Kingston am Fußende der Wanne stehen sehe. Er starrt mich an.

Ich sollte schreien.

Ich will schreien.

Ich kann nicht schreien. Stattdessen tauche ich tiefer ins Wasser und hoffe, dass die lila Farbe von der Badekugel alle Teile von mir verbirgt, die er lieber nicht sehen soll.

„Äh …“ Ich räuspere mich und versuche, einen anderen Ausdruck für was zur Hölle machst du hier zu finden, damit er mich nicht umbringt.

Seine Kinnpartie spannt sich an. Seine Augen sind dunkel, mürrisch und grüblerisch. Dieser Mann schüchtert mich absolut ein. „Kann ich dir helfen?“

Kann ich dir helfen … Die ersten Worte, die ich zu ihm gesagt habe, und sie waren kann ich dir helfen.

Seine Oberlippe verzieht sich etwas, sein Blick wandert zu meinem Unterkörper. „Ich bin noch unschlüssig.“

„Was machst du hier drin?“ Ich presse die Schenkel fest zusammen, weil ich wirklich befürchte, dass er durch das lila gefärbte Wasser hindurchsehen kann.

Er starrt mich an, und seine Miene verliert den toten Ausdruck, den sie noch Sekunden zuvor gehabt hat. „Wie heißt du?“

„Was?“ Ich atme heftig aus, seine Frage verwirrt mich.

„Wie heißt du?“, wiederholt er mit gleichbleibender Miene.

„Dove.“

Ein langes Schweigen breitet sich aus, dann stößt er sich von der Wanne ab. Er geht langsam an mir vorbei, sein Geruch überlagert den süßen Duft meines Badewassers.

„Ich bin verwirrt.“

Er bleibt neben mir stehen, und ich sehe zu ihm hoch. Er mustert mich, aber ich verstehe die Methode nicht, mit der er Informationen sammelt. „Gut. Oh, und Dove, schließ die verdammte Badezimmertür ab.“

Dann verschwindet er. Ich lasse mich tiefer ins warme Wasser sinken und beobachte, wie es sich über meiner Haut schließt. Ich weiß nicht, ob ich zu viel in die Sache hinein interpretiere, oder ob ich recht habe mit der Art, wie ich für Kingston empfinde. Ich weiß nicht, ob es an meinen vergangenen Schrecken liegt, die drohen, an die Oberfläche zu gelangen. Denn als ich ein kleines Mädchen war, jagte mich ein Schatten. Ein Wesen. Und statt, dass ich hinter ihm hervortrete, um wieder die Sonne auf der Haut zu spüren, hat der Schatten meine Erwartung, das Licht zu sehen, ausgelöscht.

Kapitel 4

Dove

Nach einem langen Shopping-Tag mit Rose, bei dem wir den „Vorschuss“ von Delila ausgegeben und das Einkaufszentrum erkundet haben, das der Villa am nächsten liegt, befinden uns wir jetzt im Zelt, strecken uns und wärmen uns auf. Ich hatte bemerkt, dass uns heute ein Aufpasser folgte, der uns dorthin lenkte, wo wir sein mussten, ohne uns zu sagen, wo wir sein sollten. Ab und zu sprach er in ein kleines Headset und leitete uns dann an unseren nächsten Bestimmungsort. Für mich ist das in Ordnung, weil wir sonst ziellos umhergewandert wären. Aber ich hoffe, dass es nicht für immer so bleibt.

Nachdem Delila gesagt hatte, dass ich noch nicht auftreten muss und erst einmal beobachten soll, dachte ich, dass das auch für das Training gilt. Nach dem grauen Sport-BH und der grauen Trainingshose, die ich jetzt trage, zu urteilen, habe ich da wohl falschgelegen.

„Alles in Ordnung?“, fragt Rose und hebt eine Braue, während sie ihren Körper mit duftendem Kokosnussöl einreibt.

Ich lecke mir über die Lippen und binde meine roten Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. „Ja.“

Die Tür hinter uns wird aufgerissen, und ich drehe mich schnell um, um zu sehen, wer hereinkommt. Drei Mädchen stürmen herein, und ich habe nicht mal die Möglichkeit, sie genauer anzusehen, denn die blonde Anführerin zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr langes, welliges, blondes Haar reicht ihr bis zu der schmalen Taille. Sie hat Tattoos, die über ihre Rippen bis zu ihrer linken Brust reichen und sich von dort ihren linken Arm hinunterziehen. Sie hat straffe, gebräunte Haut und das Gesicht eines Miststücks, in das man entweder hineinschlagen oder auf das man sich setzen will.

Sie mustert mich von oben bis unten. „Igitt!“

Hineinschlagen.

Meine Augenbrauen schießen sofort nach oben, so überrascht bin ich von ihrer offenen Feindseligkeit. Gerade als ich den Mund aufmachen will, tritt Rose vor mich und schiebt mich mit den Armen zurück. „Gibt es ein Problem, Prinzessin?“

Ich klopfe auf Roses Arm, damit sie weggeht. Ich kann meine Kämpfe selbst ausfechten. Ich brauche sie nicht, um es für mich zu tun. Aber die Blonde und ihre Lakaien rauschen an uns vorbei und verschwinden hinter dem provisorischen Vorhang. Soweit ich es verstanden habe, hat Delila etwas hinter ihrer Villa aufgebaut, ein schwarzes Zelt mit lilafarbenen Besätzen. Es befindet sich kein Schriftzug darauf. Ich habe das Gefühl, dass es nur zum Üben und Trainieren gedacht ist.

„Hey.“

Rose legt die Hand um mein Kinn und hebt mein Gesicht zu ihrem an. Mir gefallen Roses Augen. Sie sind sanft und weich. Genau wie ihre Seele. Sie hat ein kleines, herzförmiges Gesicht und einen dazu passenden winzigen Körper. Während der letzten vierundzwanzig Stunden habe ich mich gefragt, wie ich die letzten paar Tage ohne sie überstanden hätte.

„Ist alles in Ordnung?“

Widerstandsfähigkeit ist absolut notwendig, wenn einem das Leben in so jungem Alter weggerissen wurde. Ein Mensch, der einem etwas von der Last abnimmt, die die Welt einem aufgebürdet hat, und der sich dafür rüstet, gegen deine Feinde anzutreten, ist ein unersetzlicher Freund.

„Ja.“ Ich nicke und lächele. „Mir geht es gut.“

„Ich schlage dem Miststück die Zähne ein, wenn sie Ärger macht, und es ist mir völlig egal, wer sie ist …“

Ich strecke den Hals und lasse Roses Schimpfen zu Hintergrundrauschen werden, während ich mich auf die Aufgabe konzentriere, die als nächstes bewältigt werden muss. Diese Nacht zu überleben. Und meine Schritte nicht zu vergessen. Ich rolle die Schultern und atme bei jedem Strecken regelmäßig ein und aus. „Was glaubst du, sollen wir tanzen?“

Rose zuckt mit den Schultern und fährt sich mit Lipgloss über den Mund. „Ich weiß nicht. Aber was sie uns auch geben, ich bin sicher, dass wir dazu tanzen können.“

Wie aufs Stichwort schiebt sich Delila durch den Vorhang und klatscht in die Hände. Unter dem Tiefpunkt befindet sich ein Ort namens Hölle, und ich bin ziemlich sicher, dass Delila dort Innendekorateurin war.

„Na los. Ab auf die Bühne, ihr beiden. Ich will zuerst ein Duett sehen. Freistil zu zweit.“ Sie murmelt vor sich hin. „Lasst mich sehen, warum so viel Aufhebens um euch gemacht wird.“

Schmetterlinge flattern in meinem Bauch. Ich bin keine gute Freistil-Tänzerin. Ich bin eher der Typ für eine Choreografie, aber meine Beine bewegen sich, und ich folge Rose hinter den Vorhang. Es ist hell wie im Tageslicht. Ich hatte düstere Schatten erwartet, sodass ich wenigstens nicht hätte sehen müssen, wer im Publikum sitzt. Mein Blick fällt auf die Requisiten. Ein durchsichtiger Tank. Ich glaube, ich habe so einen in einer Criss Angel TV-Show gesehen. Ein Schwebebalken für Gymnastik. Trapez-Ausrüstung. Drei massive Ringe, die mit langen Metallstangen verbunden sind. Ich kann mir vorstellen, wofür die sind. Ich habe das schon mal gesehen. Ein paar große Hula-Hoop-Reifen. Vier schwarze Geländemotorräder mit dem Harley-Davidson-Symbol darauf.

„Dove?“, schnappt Delila von einem der vorderen Plätze. Auf der Seite der Ringe. „Wenn du soweit bist.“

Ich ignoriere die Leute, die ein paar Reihen hinter Delila sitzen, denn ich weiß, dass sich die Brüder darunter befinden. Links davon sehe ich eine weitere Gruppe, bei der es sich wohl um das Miststück und ihre Gefolgschaft handelt. Es sitzen noch ein paar andere Leute dort, die ich bisher noch nicht kenne.

Ich lecke mir über die Lippen und schenke Rose ein kurzes, beruhigendes Lächeln. Sie erwidert meinen Blick mit selbstbewusster Bestärkung und zwinkert mir zu. Als ob wir das hier schon mal gemeinsam getan hätten, als wären wir bereits zuvor zusammen auf der Tanzfläche gewesen. Ich fühle mich gleich etwas wohler, als die Musik einsetzt.