In Liebe, Pamela - Pamela Anderson - E-Book

In Liebe, Pamela E-Book

Pamela Anderson

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Beschreibung

Die Autobiografie! Intim - ehrlich - liebenswert Popikone, Sexsymbol, Tierrechtsaktivistin, Schauspielerin, Sinnbild des Lebensgefühls der Neunzigerjahre – all diese Beschreibungen treffen zu. Allerdings werden sie dem Phänomen Pamela Anderson nicht gerecht. Die Frau, die von vielen allzu schnell als Baywatch-Nixe oder Playboy-Häschen abgetan wird, kann auf ein schillerndes Leben zwischen Glamour, Skandalen und dem Engagement für Minderheiten und Schutzlose zurückblicken. In ihrer offenherzigen Autobiografie erzählt sie von ihrer Kindheit in ärmlichen Verhältnissen und dem beschwerlichen Aufstieg zur weltweit bekannten Verfechterin von Frauenrechten und Emanzipation. Dabei kommen so unterschiedliche Themen zur Sprache wie Missbrauch, ihr turbulentes Eheleben, das brisante Sexvideo mit Mötley-Crüe-Schlagzeuger Tommy Lee und die Liebe für die Literatur. Pamela Anderson scheut sich nicht, ihre verletzliche, liebevolle und sensible Seite zu zeigen, die sie sich trotz aller Fehleinschätzungen und Anfeindungen bewahrt hat. Ihre Worte fesseln, bewegen, rütteln auf, klingen dabei aber wie im Gespräch mit einer guten Freundin geäußert, die man seit Jahren zum ersten Mal wiedersieht.

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Pamela Anderson

In Liebe,Pamela

Aus dem amerikanischen Englisch von Alan Tepper

www.hannibal-verlag.de

IMPRESSUM

Auszüge aus Veinte poemas de amor y una canción desperada: Eición en dos idiomas von Pablo Neruda, ins Englische übersetzt von W. S. Merwin aus der spanischen Ausgabe 20 poemas de amor y una canción desperada, veröffentlicht in Santiago de Chile 1924. Copyright der englischen Übersetzung. © 1969 W. S. Merwin. Mit freundlicher Genehmigung von Viking Books, ein Imprint der Penguin Publishing Group von Penguin Random House LLC. Alle Rechte vorbehalten.

Auszug aus The Essential Rumi by Rumi, übersetzt von Coleman Barks (Harper One, 1995).

Auszug aus „A Poet’s Advice to Students.“ Copyright © 1955, 1965 Treuhänder des E. E. Cummings Trust. Copyright © 1958, 1965 George J. Firmage, aus A Miscellany Revised by E. E. Cummings, herausgegeben von George J. Firmage. Mit freundlicher Genehmigung der Liveright Publishing Corporation.

Letters to a Young Poet von Rainer Maria Rilke, übersetzt von M. D. Herter Norton. Copyright © 1934, 1954 by W. W. Norton & Company, Inc., erneuert © 1962, 1982 M. D. Herter Norton. Mit freundlicher Genehmigung der W. W. Norton & Company, Inc.

Auszug aus The Early Diary of Anaïs Nin, Vol.4: 1927 – 1931 von Anaïs Nin. Copyright © 1985, 1984 Rupert Pole, Treuhänder des letzten Willens und des Testaments von Anaïs Nin. Mit freundlicher Genehmigung von HarperCollins Publishers.

Reflections on the Art of Living: A Joseph Campbell Companion, ausgewählt und herausgegeben von Diane K. Osbon. Copyright © 1991 Joseph Campbell Foundation (jcf.org) und HarperCollins Publishers.

In einigen Fällen wurden die Namen und deutlich zu erkennende Charakteristika von bestimmten Personen abgeändert, um deren Anonymität zu gewährleisten.

Deutsche Erstausgabe 2023

© 2023 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-763-3

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-762-6

Titel der Originalausgabe: Love, Pamela

Copyright © 2023 by Anderson Media LLC

Erschienen bei Dey Street Books, ein Imprint von HarperCollins Publishers, 195 Broadway, New York, NY 10007

ISBN 978-0-06-322656-2

Coverfoto: Carmelo Redondo

Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer

Übersetzung: Alan Tepper

Deutsches Lektorat und Korrektorat: Thomas Wachter

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

WIDMUNG

FÜR MEINE JUNGS,

Die mich ermutigten

meine Geschichte aufzuschreiben,

in meinem

unvollkommenen Stil.

Es ist der einzige Weg,

mein Leben

zu ertragen

und zu beschreiben.

Meinen einzigartigen Wahnsinn,

mein Vermächtnis.

Nur mit meinem unerschütterlichen Herzen,

frei heraus zu schreiben.

ZITAT

Die Liebe währt so kurz,

aber das Vergessen so lang.

– PABLO NERUDA

Der schmale Grat verschwimmt

zwischen Träumen

und der Realität

oder wo ich ende

und die Welt beginnt.

Zu leben

und zu träumen

ist ein tückischer Tanz.

Meine Träume werden oft wahr,

ein Fluch

und auch ein Segen.

Nun, da

ich wieder den Ausgangspunkt erreiche,

fühle ich mich endlich „sicher“.

Ich stolperte über eine Liebe,

die mich aufrecht halten wird —

nicht eine zweisame,

freundschaftliche,

und mitfühlende Liebe.

Eine Liebe

voller Feen,

Nymphen

und Magie.

Eine wahre Liebesgeschichte —

Die Liebe

des Selbst.

Oder genauer,

eine zärtliche Vergebung.

Gute Angewohnheiten

sind schwer zu erkennen,

vor dem Hintergrund

all der vergangenen Tage

und heutigen Entscheidungen.

Es gibt kein Richtig

oder Falsch,

nur individuelle Fixierungen

basierend auf der eigenen Geschichte,

dem Trauma,

der Unschuld

und Bildung.

Man sagte mir immer, ich sei

„unkontrollierbar“.

Niemand stimmte meinen Entscheidungen zu.

Vielleicht

ist das ein gutes Zeichen.

Ich folgte nur einem Weg – meinem.

Ich war eine selbstständige Mutter,

keine Nannys.

Die Baseballspiele

meiner Jungs,

eingetragen in meinen Film-

und Fernsehverträgen.

Meine Kinder kamen immer zuerst —

Egal, was geschah —

Niemand kann uns das

nehmen.

In Hollywood – eine Seltenheit.

Ich war

und bin immer noch:

ein extrem

einfaches Ziel.

Und

darauf bin ich stolz.

Meine Schutzwälle sind schwach.

Ich bin nicht verbittert,

ich habe nicht das Verlangen hart zu sein,

gehört oder ernst genommen zu werden.

Ich ziehe es vor,

zu schweben,

ohne Grenzen.

Dem Leben eine Chance zu lassen,

und dem Schicksal.

„Gib mir etwas, mit dem ich umgehen kann“,

verlange ich —

Bereit für die Herausforderung.

Das Leben ist eine Aufeinanderfolge von Problemen,

durch die wir navigieren müssen.

Mit Würde —

Ein Problem gelöst, taucht ein anderes auf,

wieder

und wieder,

bis wir sterben.

Ich irre voran,

dränge die mir Nächsten

zu neuen,

aufwühlenden

und inspirierenden Orten,

erbitte von anderen

nur das, was ich von mir selbst

verlange —

Ich bin

ein kleines Mädchen, geboren

von strahlend schönen,

kreativ Co-abhängigen,

sich nie entschuldigenden Frauen,

die viel zu gut waren,

für irgendeinen Mann.

Meerjungfrauen gemeinsam,

lebend in Sandburgen,

träumend unter mit Seegras gefüllter Bettwäsche

Austernschalen als Geschirr …

Meine Mentoren waren heftig, ungestüm,

mit toupiertem Haar wie Zuckerwatte,

standhaft und weise,

aber auch merkwürdig wild.

Ich kann mich des Glückes schätzen,

den femininen wilden Geist zu haben,

launisch und immer präsent,

um mich herum wirbelnd.

Von meiner

Mutter, einer Sexbombe,

bis zu den einzigartigen Frauen,

die sie aufzogen.

Rebellische Schönheiten

mit Philip-Treacy-Baskenmützen,

den Blue-Water-Taktiken folgend,

mit niedlichen Geheimwaffen.

Unschuldig liebend

und frei heraus

sexy.

Eine Sinnlichkeit

ergänzt durch

fantastische Familienrezepte,

Liebe und Verführung.

„Der Weg zu dem Herzen jedes Mannes

führt durch seinen Magen“,

aber auch

zu seinem verhungernden Geist.

Mir wurde gelehrt,

niemals aufzugeben

oder von „der Jagd“ abzulassen —

„Mach es interessant“,

„Sei nicht zu leicht zu haben“ —

Heute so ein Mädchen zu sein,

sendet das gegenteilige Signal.

Tabu,

frustrierend, unpatriotisch,

oder problematisch.

Für mich ist es natürlich

und interessant,

den Feminismus mit dem

Femininen zu vereinen.

Erlerne die Kunst der Jagd,

während du liebevoll auf den Wert

des Selbstwertgefühls

achtest und ihn mit dir trägst.

Das alles,

fest verankert in mir,

himmlisch und

genetisch aufgeheizt.

Meine Erinnerungen

erscheinen wie ein schnelles Karussell,

wie ein Verschwimmen der Zeit.

Jahrzehnte der Desillusionierung,

der Verwirrung.

Ich mag es nicht, über Tage zu schreiben,

oder Jahre oder Monate

oder Wochen —

Es fühlt sich gekünstelt an.

Die Beziehungen,

die ich hatte,

sind nicht mein Lebenswerk —

Tja …

Sie sind eher eine Zeitlinie.

Eigentlich

teile ich mein Leben

nicht in Jahre ein,

sondern in die, in die ich

zu der Zeit verliebt war.

Eine verworrene Erinnerung.

Ich nenne sie einen „weichen Blick“ zurück,

ähnlich wie ich in die Kamera schaue —

Ich sehe „hindurch“ —

Sogar daran vorbei —

Niemals

ein direktes Starren in die Linse,

sondern ein gewollt weicher Fokus.

Ein vorsichtiges Blinzeln in den Abgrund,

als könnte ich etwas in der Ferne sehen,

aber nicht genau erkennen.

Neugierig —

Eine Energie, die mich ruft —

Die Schwerkraft zieht mich an.

Jedes Cover,

jedes Foto

war von meiner Seite aus wortwörtlich

verschwommen.

(Vielleicht hätte ich eine Brille gebraucht?)

Die Leben der meisten Menschen verlaufen

ohne eine Notiz

oder schlimmer noch:

Ungelebt.

Es ist wie eine Therapie,

sich durch die Archive zu wühlen.

Ich habe überlebt.

als hätte ich mein Leben gelebt,

um darüber zu schreiben.

Und so,

hole ich aus

von hier —

Direkt in die tiefe Schlammpfütze,

die ich kreiert habe —

und fische nach Steinen —

Und ziehe den ganzen Dreck hoch,

der den Grund schützt,

den oft anvisierten Bereich

dort tief unten …

Das bin ich —

Ich verzehre mich nach Büchern und Kunst —

Sie formen mich.

Ein Klumpen Ton,

darauf wartend, gestaltet zu werden.

Ich nehme alles auf,

was ich nur kann

und

wache auf.

Jeder Tag ein neuer Mensch —

Schmerzvoll, ausgehungert

Und greife nach der Gießkanne.

Dies ist ein ernstes Buch

über den Missbrauch,

über den mühseligen Kampf

und die Bewältigung.

Ich hoffe, es ist aber auch

unterhaltsam …

und

noch wichtiger

aufbauend und kraftspendend.

Meine Geschichte

mag widerhallen —

Ein Kleinstadtmädchen,

das sich verfing,

in ihrem Traum.

Schnell erkennend, dass sie etwas

aus dem Nichts erschaffen hatte.

Ich entfachte die Lunte

und

alles ging hoch – ohne mich.

Wie ein Feuerwerkskörper, den man nicht fangen kann —

spielerisch umhertanzend,

gefährlich, nicht vorherzusehen,

und zu heiß, um ihn zu fassen.

Ein nicht enden wollender, schwelender Brand.

Es gab

Entbehrungen

und Freude,

und

in all der Zeit

das Gefühl geführt zu werden:

Alles was ich brauchte, war

Mut,

um einen neuen Schritt zu machen —

Wissend, dass

mir Engel beistanden.

Es war der einzige Schutz,

den ich brauchte,

zusätzlich zu einem unmittelbaren Gespür des Selbst.

Ich habe einen

unerschütterlichen Glauben an etwas —

Einen Gott,

der dort sein muss —

Dann kam ein Wendepunkt,

wo ich mich frei fühlte,

ich selbst zu sein

und nicht nur im Überlebensmodus zu existieren —

Befreiung —

Als ich erkannte,

dass ich selbst meine schlimmste Kritikerin war,

entschied ich,

die lähmende Schüchternheit abzustreifen,

in der ich gefangen war —

Erkennend, dass das Leben geschieht,

mit mir

oder ohne mich.

Eine

neue Denkweise:

Wenn andere so sein können,

so kann ich es auch.

An die jungen Mädchen

und Jungs

da draußen, die ihr eigenes Leben auf eine Leinwand bannen:

„Beflügelt es“,

Ihr seid nicht verrückt.

Ihr seid genauso mutig wie ich.

Unabhängiges Denken und

Ungehorsam

sind wichtig —

Und:

Es wird euch gut gehen.

Ich wünschte, mir hätte das jemand gesagt.

Und wenn sie es gemacht hätten,

hätte ich mir gewünscht,

es geglaubt zu haben.

Ich wurde eine Kriegerin.

Eine Zerstörerin

alter Meinungen,

Drachen bezwingend.

Ich machte mir

die erleuchtende Ansicht zu eigen:

Ich bin „gut genug“.

Ich bin mächtig —

Ja, das bin ich …

I

Ich stelle mich als Fünfjährige vor —

Ganz genau —

Ich betrachte sie von Kopf bis Fuß —

Ich sehe ihr eine Weile beim

Spielen zu,

lebhaft, verspielt, theatralisch —

Ich rufe ihren Namen, will ihre Aufmerksamkeit —

Sie braucht einen Moment, um mich zu erkennen,

und dann rennt sie mit offenen Armen

zu mir.

Ich drücke sie fest,

halte ihre Hände und drehe mich um meine eigene Achse,

während sie so mitreißend lacht,

und kichert

mit

unschuldigem Staunen.

Ich sage ihr, wie sehr ich sie liebe,

wie schön sie ist,

eine Wildblume,

und dass ich für sie da bin,

und dass

alles gut sein wird.

Dass sie das alles überstehen wird,

mit Bravour —

Ich küsse sie ganz fest auf ihre sandige Wange —

Sie schneidet eine lustige Grimasse

und

reißt sich von mir los.

Rennt weg,

in ihrem abgetragenen,

apfelgrünen

Frottee-Bikini —

Der versucht dort zu sitzen,

wo es nötig ist.

Sie wirft mir Küsse zu

und winkt.

Dann eilt sie zu Wichtigerem —

Mr. und Mrs. Krebs

und

ihre

Quallenkinder.

Das wahre Ich —

unberührt, rein.

Ich wurde 1967 geboren, im „Summer of Love“. Ein Jahrhundertbaby, das mit stattlichen sieben Pfund zu Kanadas 100. Geburtstag erschien. 100 Jahre von was, eigentlich? Einer manipulierten Geschichte. Vancouver Island entstand durch einen Vulkanausbruch vor 150 Millionen Jahren, und die Ureinwohner der First Nations lebten dort schon Tausende von Jahren, bevor Kolumbus einen Fuß auf die Insel setzte. Man kann kein Land „entdecken“, in dem bereits Menschen leben. Die Geschichte wird oft neu geschrieben, um aus Monstern Helden zu machen. Oder umgekehrt. Die Wahrheit wird letztendlich immer an die Oberfläche dringen.

Ein Irrlicht …

Meine Mutter war erst 17 und mein Vater 19, also sehr jung, um mich zu bekommen. Sie begegneten sich am Anfang eines Frühlings unter einem großen, in Blüte stehenden Kirschbaum, direkt vor der Kirche, die die Familie meiner Mutter die meisten Sonntage besuchte. Sie saß auf dem niedrigsten Ast – so erzählt es die Story – und ließ ihre schönen Beine in langen Bobby-Socks hin und her baumeln, als mein Vater und ein Freund vorbeigingen. Dad nahm sein Ziel ins Visier und steckte seinem besten Kumpel einen Vierteldollar zu, damit er sich schleunigst aus dem Staub machte. Hey, Angel, sprach er sie an, sich mit seiner Hand am Baum abstützend. Nach hinten gekämmtes volles Haar und Augen in der Farbe des Ozeans. Sie war hin und weg. Die beiden verliebten sich auf der Stelle. Wie ein Blitz. Coup de foudre.

Ihre Liebesbeziehung glich einem Film aus den Fünfzigern. Denken Sie an American Grafitti. Drive-ins, Hot Rods, Burgers, zubereitet im lokalen Wings-Café. Dad schrieb ihr Gedichte auf lange Papierrollen, die er aus der stinkenden Papierfabrik mitgehen ließ, in der er damals arbeitete. Er schrieb meiner Mom jeden Tag, und sie rannte direkt nach der Schule zum Briefkasten, um seine Post an sich zu reißen. Obwohl sie nur wenige Meilen auseinanderlebten, war es für die beiden zu weit und zu lange, um voneinander getrennt zu sein.

Ladysmith ist ein ehemaliges Bergbauzentrum und ein Ort stillgelegter, verlassener Sägewerke. In dem von Stränden gesäumten, jetzigen Fischerstädtchen finden sich zahlreiche Parks und große Grundstücke der First Nations. Hier kann man nicht viel machen, außer zu tratschen. Oder die Leute tratschen über dich. Meine Eltern standen für Ärger und Aufruhr, glichen lokalen Bonnies und Clydes. Beide waren extrem, beinahe schon lächerlich eifersüchtig und schienen ihren Spaß an Auseinandersetzungen und Wiederversöhnungen zu haben. Mein Dad schleuste meine damals noch minderjährige Mutter in die lokale Bar – und wenn die Cops auftauchten, flüchteten sie, wobei Mom sich meist auf dem Klo versteckte, wo man sie wegen ihres knallgelben Jumpers schnell erkannte. Meist kamen sie mit einem nachdrücklichen „Ab nach Hause“ davon, manchmal mit einer 5-Dollar-Strafe.

Dad stand darauf, durch die Straßen zu rasen und „crashte“ einige seiner Autos. Besonders „berühmt“ wurde der Stunt, bei dem er mit seinem Austin-Healey-Cabrio von einer schmalen Brücke in Saltair abkam und im Schlick stecken blieb. Sein Ruf gehört zur örtlichen Mythologie, und bis zum heutigen Tag kann sich jeder an eine eigene Erzählung erinnern: im Lebensmittelgeschäft, im Getränkeladen, in einfach jedem Shop. Oh, dein Dad … Ich könnte dir da Geschichten erzählen … Dann muss ich sie unterbrechen und einlenken Ich habe schon genug gehört. Das können Sie mir glauben, aber vielen Dank auch. Sie gehen danach weiter, kopfschüttelnd und mit einem verklärten „Ach, du lieber Himmel“-Ausdruck. Ich sehe ein aufmüpfiges Lächeln in ihrem Gesicht aufblitzen, einen plötzlichen Gedanken an die guten, alten Zeiten, ein leichtes, beschwingtes Hüpfen in ihrem Gang – so als würden sie nach Hause gehen und nach einer sehr langen Zeit wieder mit ihren Frauen schlafen.

Einmal versuchte Dad der Polizei zu entkommen und schrottete seinen grünen Ford Fairlane. Mom saß auf dem Beifahrersitz und flehte ihn an, langsamer zu fahren. Ihr schönes Gesicht durchschlug die Windschutzscheibe, und der blass cremefarbene Innenraum war mit Blut vollgespritzt. Sie war damals schwanger mit mir, und wir machen uns immer noch einen Spaß daraus, dass „das möglicherweise einiges erklärt“. (Nicht bei ihr, sondern bei mir.) Heute bedeckt sie die lange, diagonale Narbe, die sich vom Haaransatz bis zur Augenbraue zieht mit ihrer Frisur.

Ihre Zwangshochzeit fiel bescheiden aus, und ich wurde nur wenige Monate später im örtlichen Krankenhaus von Ladysmith geboren. Mein Dad war gerade mit seinen Kumpels unterwegs, kippte einige Drinks und verpasste die Geburt. Sechs Monate später erschien ein Foto auf der ersten Seite des Ladysmith Chronicle, auf dem mein Vater stolz das „Jahrhundertbaby“-Medaillon hielt und ich auf dem Schoß meiner Mutter saß. Wie eine Kumari.

Unsere kleine Familie lebte im Arcady Auto Court, dem Grundstück meiner Großeltern mit neun winzigen Holzhäusern, die sich direkt am Strand an den Wald schmiegten. Cabin 6 – unser Haus – stand auf einer mit Gras bewachsenen Anhöhe. Durch die uralten Erdbeerbäume blickte man direkt auf den Ozean. Die meisten dort hatten eine große Klappe und schlugen einen rauen Ton an, doch meine Großmutter stand für Anmut – sie war groß, hatte perfekt frisiertes schwarzes Haar und einen hellen Teint. Sie trug schicke, einfarbige Kleidung: limonengrüne Hosen, an der Schulter ausgeschnittene Tops und hübsche Ballerinas. Rote Fingernägel, rote Lippen. Ihr Frühstück bestand aus einem Glas Sherry, das sie sich an der Bar im Frank-Sinatra-Stil eingoss – die Kristallflaschen standen stilgerecht auf einem alten, kirschfarbenen Weber-Klavier. Später vermietete Oma die kleinen Häuser, meist an Biker, und offenbar mochte und vertraute sie sogar den Hells Angels. Ich glaube, dass sie sich nach dem Tod von Opa in der Anwesenheit starker Männer sicherer fühlte, die für sie schwärmten, ihre Großzügigkeit schätzten und alles für sie erledigten. „Acid Eddy’s“ Hütte steht immer noch, und der Legende nach liegt dort irgendwo Gold vergraben – und vielleicht auch ein paar Leichen. Ich kann mich noch an den Sound von den Bikes erinnern, der sich mit dem Zirpen der kleinen Vögel vermischte, dem Ruf der Eulen und dem Krächzen der Adler.

Wild sein,

inmitten der Wildnis.

Das kleine Geschäft beim Auto Court verfügte über alles Notwendige, also die Hauptprodukte. Auf den pink und schwarz lackierten Regalen reihten sich Zigaretten, Süßigkeiten und Zeitungen aneinander. Der Kühlschrank war mit Limonadeflaschen gefüllt und die Gefriertruhe mit Tiefkühlware. Als Kind öffnete ich die Abdeckung, lehnte mich kopfüber hinein und strampelte mit den Beinen wie beim Fahrradfahren, während ich mit der Hand in der eisigen Luft nach meinem Lieblings-„Eis am Stiel“ schnappte. Es musste Orangeneis sein, meine bevorzugte Sorte. Man konnte es immer an meinen geschwollenen, orangefarbenen Lippen erkennen, die Lippen, wegen denen ich als Kind gehänselt wurde, aber in die ich „hineinwuchs“. Wenn Großmutter mich sah, bemerkte ich diesen „Was hast du gemacht?“-Ausdruck in ihrem Gesicht, obwohl sie die Antwort längst kannte. Ich schaute verlegen auf den Boden – orangefarben von der Nase bis zum Kinn – begann zu lächeln und bat sie, meine Beute auf unseren „Deckel“ anzuschreiben, nicht wissend, was genau das war und dass mein Vater ihn monatlich abstottern musste. Oma packte meinen Arm, zog mich zum Waschbecken, griff sich ein altes Stück Seife und wusch meine Hände zwischen ihren, im warmen, schaumigen Wasser. Dann nahm sie ein zerknittertes Spültuch, das nach irgendetwas merkwürdig Antiseptischem roch, um meinen Mund abzutrocknen, wonach sie mich nach Hause schickte.

Mein Bruder Gerry kam vier Jahre nach mir auf die Welt, ein Flachskopf voller blonder Locken und blauen Augen wie meine Mutter. Ein Cherub. In jeder Hinsicht das Gegenteil von mir. Er wurde am 31. Juli geboren, hier ein besonderer Feiertag. Eine weitere Erwähnung in der Zeitung, ein weiteres Medaillon.

Als meine Mutter mit Gerry schwanger war, zogen wir den Strand hinunter, in ein Holzhaus mit drei Zimmern an der Woodley Road. Das mit Schindeln bedeckte Dach passte zu dem verblichenen Zedernholz. Durch das endlose Getöse des Windes von der See und dem Regenwetter hatte es die Farbe von grauem Treibholz angenommen. Im Winter hingen die Eiszapfen so tief herab, dass sie den Boden berührten, ähnlich einem gefrorenen Wasserfall. Die vordere Veranda gehörte zu unserem Wohnraum, denn dort standen die Waschmaschine und der Gefrierschrank, Kästen leerer Bierflaschen, darauf wartend, an den Wochenenden zum Getränkegroßhandel gebracht zu werden.

Das Haus lag nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Ich war gut darin, barfuß über die Rankenfußkrebse zu rennen, raste über sie, als seien sie glühende Kohlen. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Füße überhaupt die scharfen Muscheln berührten, die überall lagen. Der Sand voller Kieselsteine, Felsen, Krabben, großen und kleinen Pfützen und Seesternen: ein Wunderland des reichen und gesunden Meereslebens, direkt vor unserer Tür. Mein Spielplatz.

Meine Welt war der Ozean.

Und ich berührte das Wasser immer mit einem Zeh.

Unser Zuhause war klein. Es gab nur wenig Platz für uns alle, und so spielten Gerry und ich meist draußen, sogar im strömenden Regen. Dort fühlte ich mich sicherer als drinnen. Ich liebte es, den Steingarten mit drei Ebenen hinter dem Haus hochzuklettern, voller wilder Mohnblümchen, Pfingstrosen und Brombeersträuchern … Wir schlitterten durch die Pfützen, pflückten Wildblumen und Beeren und mopsten gelegentlich die „Nicht berühren“-Narzissen aus Moms Garten. Meine Lieblingsplätze waren vom duftenden violetten Flieder umwachsen, und die Weinreben rankten eng die Baumstümpfe hoch, an deren Ästen säuerliche Äpfel wuchsen. Gerry und ich „backten“ Pastete aus schlammiger Erde, und ich baute im Dreck einen „Tisch“ aus Stöckchen und Blättern, in dessen Mitte wir unsere gestohlenen Blumen steckten. Und dann aßen wir die Pastete – ein bisschen Erde hat noch niemanden geschadet.

Meine Mom gab uns

alles,

aber meines Vaters Liebe war

anders —

clever, genial.

Immer ein bisschen zornig,

aber meist frustriert über sich selbst.

Das denke ich.

Die Liebe rettete ihn.

Die beiden waren die verschollenen Teile des jeweils anderen —

Mein schillerndes Beispiel —

Das, wonach ich strebte,

während meines ganzen Lebens.

Unglücklicherweise

und glücklicherweise —

Mein Vorbild der Liebe,

ein wenig verkorkst,

nicht nur

verzerrt —

Und,

schwer zu erreichen.

Meine Mutter war alles für mich, so witzig und wunderschön, das leuchtende Zentrum unseres Lebens. Wir liebten sie alle – ich, Gerry und Dad. Sie war eine zierliche, unglaublich lebendige und ständig kichernde Blondine. Auf gar keinen Fall dumm, aber naiv. Ich kann sie deutlich vor mir sehen – wie sie mit ihrem weißen Seidenschal winkte, wie eine sich Ergebende, eine Hilflose vor der Kamera spielend und dabei alles mit den größten blauen Augen wegfegte, die man je gesehen hat. Einfach jemand, der dich umhaut. Auf der Wäscheleine hingen immer zwei Kleider neben unserer knitterigen Unterwäsche – eins mit buttergelben und zu ihrem Haar passenden Blumen, das andere in einem grellen türkisfarbenen und zu ihren Augen passenden Ton. Sie trug ihre Haare in einer süßen blonden Bouffant-Frisur, ein wenig pink oder fliederfarben gefärbt und erzählte Geschichten, wie sie in ihrer Jugend Suppendosen benutzte, um die Haare aufzurollen. Mom und ihre Freundinnen teilten sich die Suppe, spülten danach die Dose aus und ergänzten damit ihre Sammlung. Sie konnten sich manchmal keine anständige Mahlzeit leisten, aber es war immer möglich, schön zu sein. Es gibt keine Entschuldigung, nicht gut auszusehen, erklärte sie stets. Ihre Haare litten niemals, auch wenn die Pflege beschwerlich war.

Mein Dad hatte auch einen fantastischen Stil und war ein unverkennbarer Aufschneider. Er zog weiße T-Shirts an, mit einer Packung von Menthol-Camels unter einem Ärmel gesteckt. Er trug die Armbanduhr links, das Zifferblatt nach unten. Sein dunkles Haar war als Schmalztolle zurückgekämmt, ähnlich wie bei Elvis, obwohl er vielleicht besser aussah. Auf immer und ewig der berüchtigte „böse Junge“. Trotz ihrer rauen und wilden Leuchtkraft strahlten die beiden einen natürlichen Glamour aus, obwohl sie noch zu jung waren, um ihn vollends auszuleben.

Dad lässt sich als Leser beschreiben, ein Denker, ein Träumer. Aber durch und durch ein Unruhestifter. Ständig alles hinterfragend. In der Schule war er ein Einser-Schüler. Bei seinen Freunden ein „Rechtsanwalt“, der alles in Frage stellte. Er lernte intensiv Latein, las die Bibel zehn Mal und forderte die Lehrer bis zur Weißglut heraus. Man schickte ihn nach Hause, weil er seine Ansichten offen aussprach, immer den Status Quo herausforderte. Spielerisch provokant verkündete er, dass es – wenn überhaupt – Erik der Rote war, der Amerika „entdeckte“.

Mir wurde beigebracht, Autoritäten zu hinterfragen —

Und so hinterfrage ich alles.

Auch mein Großvater Herman lässt sich als ein Denker mit eigenen Ansichten charakterisieren. Ein aggressiver Gelehrter. Er war ein Romantiker, ein anonymer Dichter für den Ladysmith Chronicle, ein spiritueller Dozent. Sein ganzes Leben hatte Opa als Holzfäller gearbeitet, gehörte zu den Männern, die auf 30 Meter hohen Baumwipfeln tanzten. Ich stelle ihn mir vor, wie er zurückgelehnt in seinem grünen La-Z-Boy-Sessel sitzt, ein Buch in der Hand, während meine Großmutter ganz in seiner Nähe neben dem Polizeifunk hockt, sich immer über den lokalen Tratsch informierend. Großvater las mir aus Bulfinch’s Mythology vor, mit einer Stimme, tiefer als die von Barry White. Er brachte mir auch Finnisch bei. Überall, wo ich hinging, trug ich ein finnisches Wörterbuch bei mir, lernte neue Vokabeln und Sätze und versuchte ihn zu beeindrucken. Wir mochten es, uns vor den anderen zu unterhalten, ohne dass sie es verstanden. Als ich ihn fragte, welcher Religion ich angehöre, erklärte er mir, ich sei agnostisch. Ich dachte, er würde „antagonistisch“ meinen. Und das erzählte ich den Leuten eine ganze Zeit lang, worauf sie natürlich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck reagierten. Mit dem Alter und einiger Recherche wurde mir klar, dass er damit keinen zu erkennenden oder nicht zu erkennenden Gott meinte, weder den Glauben, noch die Ungläubigkeit. Meine Spiritualität blieb allein mir überlassen. Niemand erklärte mir, was ich zu glauben hatte – ich würde Gott auf meine Art finden. Oder auch nicht. Ich wurde so erzogen, dass mir niemand vorschrieb, was ich tun sollte, wie ich sein sollte oder was ich denken musste oder an was ich zu glauben hatte – und dafür bin ich unendlich dankbar. Das ist ein unvergleichliches Geschenk! Großvaters intensive Beziehung zur Natur und der damit verbundene Respekt stellen für mich eine grundlegende Hinterlassenschaft dar. Er war derjenige, der mich davon überzeugte, dass Elfen und Feen existieren, dass die Bäume zu uns reden und miteinander sprechen können. Dass man – stellt man im Garten kleine Spiegel auf – damit die Reflektion einer Fee einfangen kann. Zweifeln Sie mich nicht an, denn ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.

Wir hatten nur wenig, während wir aufwuchsen, aber Mom war eine magische Stimmungszauberin. Sie hinterließ winzige Pfade von Blütenblättern im Garten, stellte überall im Haus kleine Notizkärtchen auf und bastelte uns Überraschungen für Weihnachten, Ostern, den Valentinstag … Sie vergaß niemals einen Feiertag, hielt kleine Geschenke für uns oder meinen Vater bereit, was immer sie sich auch leisten konnte. Mom hatte einige Jobs – sie kellnerte, pflückte Erdbeeren, grub nach Muscheln und verkaufte Staubsauger, während Dad meist als Schornsteinfeger arbeitete, der sich einen eigenen Zeitplan aufstellte. Jeden Abend stand bei Mom das Essen um exakt 17 Uhr auf dem Tisch. Das war eine Routine, auf die wir uns verließen. Nun wird mir klar, wie wichtig das für Gerry und mich war, dieses Ritual und die Beständigkeit, auch wenn es sich nur um Mahlzeiten mit laufendem Fernseher handelte. Ich aß am liebsten Makkaroni mit gekochten Dosentomaten, und ich verzehre mich heute noch nach Moms Piroggen – den Schinken mal weggelassen – und Rüben aus Dosen.

Auch wenn Mom mal erschöpft war, zeigte sie es nicht. Ich wollte sie immer zum Lachen bringen. Schon von einem jungen Alter an liebte ich es, sie fröhlich zu sehen. Ich sauste zum Beispiel mit Velcro-Lockenwicklern aus meinem Zimmer und führte die Parfüm-Werbung von Enjoli auf – I can bring home the bacon, fry it up in a pan … never let you forget you’re a man – ’cause I’m a woman – und verschwand dann wieder. Wir hatten keine Tür zu unserem Zimmer, und so stoppte ich schnell, lehnte mich an die Türzarge und lauschte aufmerksam dem Lachen meiner Eltern, stolz auf mich selbst und leise kichernd. Und dann plante ich den nächsten großen Auftritt.

Auch Mom blödelte herum, sodass sie losprusten musste und uns mit ihrem Lachen ansteckte. Alberne Fitnessübungen und Stretching, „Jumping Jacks“ – und meine Lieblingsaktivität, der „Hintern-Spaziergang“ im Garten. Dabei setzte man sich auf den Boden, die Beine vor sich angewinkelt und hüpfte mit dem Hinterteil immer ein Stückchen weiter. Mom widmete sich diesem „Workout“ sogar mit einigen Freundinnen – alles Glam-Ladys mit niedlichen Strickjacken und der gleichen Beehive-Frisur, allerdings in einer anderen Farbe, die sich den ganzen Weg kaputtlachten. Mom war lustig, so lustig wie Lucille Ball.

Sie erklärte mir, dass es so etwas wie die natürliche Schönheit nicht gibt – man benötigt dafür mindestens eine Stunde vor dem Spiegel – und dass eine attraktive Frau mehr Macht hat. Ich stellte einen starken Kontrast zu der gestylten Schönheit meiner Mutter dar – zu ihrem perfekt gemachtem Haar, dem knackig-engen T-Shirt, den hochgerollten Jeans und den süßen Gärtnerhandschuhen – und war eher jungenhaft und burschikos. In meiner Kindheit spielte ich mit allem, was kreuchte und fleuchte: einer langsamen Schnake, die sich ihren Weg über den Boden erkämpfte (das war sicher, denn sie können dich mit den langen Beinen nicht beißen), einer glitschigen Strumpfbandnatter, die ich herumtrug und sogar Bienen. Sie faszinierten mich so sehr, dass ich mich wieder und wieder stechen ließ, während ich einen Bienenstock inspizierte. Ein anderes Mal packte ich eine dicke Strandratte am Schwanz. Sie flüchtete schleunigst, aber ich hielt den Schwanz noch in der Hand! Irgendwie muss ich ihn wohl aus ihrem Hinterteil gezogen haben. Ich fühlte mich schrecklich, war aber verdutzt und zeigte ihn überall herum. Damit war es nicht schwer, Mom und ihre Freundinnen zum Kreischen zu bringen.

Ich hatte damals eine unglaubliche, übersprudelnde Energie und nicht viele Orte, an denen ich sie ausleben konnte. Wir verfügten nicht über das Geld, um Aktivitäten nach der Schule zu organisieren, doch ich fand immer einen Weg. Eiskunstlauf war sehr teuer, und so legte ich mir als Ersatz Schlittschuhe zu und nahm an der örtlichen Eisrevue teil. Ich gehörte zu einem der Dalmatiner in 101 Dalmatiner (hier müssen noch 95 abgezogen werden und so blieben wir sechs in dementsprechenden Kostümen über). Mom benutzte Schuhpolitur, um eins meiner Augen zu schwärzen, doch es brannte höllisch, woraufhin ich schwarze Tränen heulte. Wir betraten das Eis, hielten uns an den Hüften fest und trippelten unseres Weges. Doch ich sah nichts mehr, stolperte und riss die ganze „Hundestaffel“ mit mir.

Die Gemeinde bot kostenlose Akrobatikkurse an, wo sie mich „Gummiband“ nannten, weil ich Spagat in drei Stellungen absolvierte und Back Walkovers auf derselben Stelle, ohne mich großartig zu bewegen. Da ich so klein war reichte man mich von einer zur nächsten Pyramidenformation. Ich liebte es, durch die Luft zu gleiten, hatte das Gefühl der Schwerelosigkeit, so als sei alles möglich. Natürlich forderte ich den Tod heraus und erlebte und entwickelte dadurch in einem sehr jungen Alter meinen unerschütterlichen Mut.

Eine Freundin der Familie gab mir Klavierunterricht, und zwar nach der Suzuki-Methode, bei der das Gehör eine zentrale Rolle einnahm. Sie spielte mir etwas vor, und ich ahmte es nach. Darin war ich gut, denn in unserem Haus lief überall Musik. Meine Eltern hörten viel Country, und ich sang immer zur Musik von George Strait, wenn seine Platte auf dem Plattenteller lag. Das traf auch auf Elvis zu (So träumerisch, meinte Mom) oder Tammy Wynettes „I Don’t Wanna Play House“. Sie wippte während des Abwaschs mit ihren Hüften, während ich umhertanzte und I don’t wanna play house; it makes mommy cry sang.

Mom nahm mich mit ihren Freundinnen immer mit zum Drive-in. Natürlich rauchte jeder – und ich hasste das Brennen in meinen Augen, während sie tratschten und eine Zigarette nach der anderen anzündeten. Du wirst deinem Vater nichts von dem hier erzählen, hörst du?, meinte sie, mir dabei eine Handvoll Popcorn in die geöffneten Hände schüttend. Ich war mir nicht ganz sicher, was denn nun das große Geheimnis war – die Tatsache, dass wir Geld für Junkfood ausgaben oder der Elvis-Streifen, bei dem sie beinahe in Ohnmacht fielen, wenn sie nur darüber redeten – aber ich stimmte zu, meine Augen reibend und beim Versuch zu überleben fast auf dem Rücksitz erstickend.

Der ganz große Spaß begann, wenn Mom bei der Arbeit war, denn Dad nahm uns zu den Pokerspielen mit seinen Freunden mit. Auf der Fahrt ging es durch die Wildnis, und wir wurden auf dem Rücksitz des lehmgrünen Land Rovers hin und her geschleudert. Ohne Sicherheitsgurte fielen wir in alle Richtungen, lachten, stießen uns die Köpfe, kreischten hysterisch, während wir über Baumstämme flogen und durch Gräben sausten. Hoch ging es die steilen Hügel und wir schrien angsterfüllt, befürchtend, wir würden uns gleich überschlagen. Erzählt das bloß nicht Mom. Das Ziel war Regan’s Pool – ein leerer und mit Graffiti beschmierter Swimmingpool mitten im Wald. Dort tranken Dad und seine Freunde und spielten Karten. Dads enge Freunde mochten es, wenn wir sie „Onkel“ nannten. Es gab einen Onkel Grift [dt. Kleinkrimineller] (selbsterklärend) und einen Onkel Leo. Er war der beste Freund meines Vaters und half ihm beim Bäume-Trimmen, indem er mit seiner zuverlässigen Schrotflinte die gefährlichen Äste abschoss, auch „Witwenmacher“ genannt. Und dann tauchte noch Onkel Lem auf, ein dicker, großmäuliger Holzfäller, der sich eine „Katalog-Braut“ angelacht hatte. Als sie Englisch gelernt hatte, verließ sie ihn und ließ dabei auch noch den Toaster mitgehen. Er schuldete Dad 500 Dollar und war bis zu seinem Tod auf der Flucht. Dad ist immer noch stinksauer, dass er sie nicht zurückbekam. Sie brachten Kühltaschen voller Bier mit, und es gehörte zum Job der Kinder, dass die Männer nie auf dem Trockenen saßen. Wir rannten wie Hochgeschwindigkeitskellner hin zum Cooler und wieder zurück. Ich hatte den begehrten Job des „Flaschenöffner-Halters“, da ich so kräftig war. Sie mussten immer erst zu mir kommen, um sich die Flaschen aufzumachen. Meine Arme waren über und über mit Bierschaum bespritzt, den ich dann ableckte. Es war ein schmutziger Job.

Dad spielte Klavier und ließ eine Party annähernd wie ein Jerry Lee Lewis abgehen. Während die violett schimmernde Sonne unterging, kramte er dann sein Akkordeon und die Löffel hervor. Sein Lieblingssong war „Green Door“. What’s that secret you’re keeping … Wenn das Bier auf dem Tisch stand, dazu Austern direkt vom Strand, die wir öffneten und schlürften, dann begann Mom zu tanzen, twistete verträumt zu einer Melodie, die nur sie hören konnte. Ich erinnere mich an ein Picknick am Strand. Wir hatten nur wenig an, und auf dem Feuer im Sand stand eine schwarze, gusseiserne Pfanne, in der sich Meeresfrüchte mit einem Poppen öffneten, gedünstet in Bier und Butter. Dann am späten Abend in einem Ozean voller Quallen nackt schwimmen, mit Wasser spritzen, lachen, erleuchtet vom Flimmern einer Phosphoreszenz im eisigen schwarzen Wasser und den Feuern, die hell am Strand loderten. Schöne Mädchen, nur mit einem BH und weit hochgezogenen Shorts bekleidet, die die Jungs am Rande des Wassers necken. Schlaksige Jungs in durchnässten, langgezogenen Unterhosen, die den Mond anheulen. Mit von der Partie: Unser Hund Lobo, ein Wolfsmischling.

Am nächsten Morgen platzierten Gerry und ich die Stühle über den Männern, die noch regungslos auf dem Steg lagen. Und dann warfen wir ihnen kleine Kieselsteinchen an den Kopf. Wir machten daraus ein Spiel und wurden fluchend verfolgt und gejagt, aber ich entkam den verkaterten Kerlen immer.

Mir bereitet es immer noch Unbehagen,

einen erwachsenen Mann straucheln zu sehen.

Und ich habe einige erlebt …

Dads jüngere Schwester Tante Sherry fuhr eine blaue Stingray Corvette und hatte die wunderschönste Handschrift auf der ganzen Welt, einen lebhaften, verschnörkelten Schriftzug. Ich wollte ihr in jeder Hinsicht nacheifern. Seine ältere Schwester hieß Tante Marlene. Sie war taub und nannte mich „Bappely“. Sie konnte Lippenlesen, aber na ja, vielleicht nicht so gut. Damals gab es für taube Menschen kaum Hilfsmittel, und so beschränkte sie sich auf ihre eigene Art des Hörens und der Kommunikation. Bei meinen Besuchen gab es stets Tee. Wenn sie mal wegschaute, schob ich die Teekanne dreist weg, um herauszufinden, ob sie das bemerkte. Sie schob sie wieder zurück. Dann stellte ich das Zuckerdöschen ein wenig zur Seite. Aber sie stellte es mit einem Seufzen wieder auf die Ausgangsposition.

Tante Marlene kümmerte sich um all die wilden Katzen, die um das Haus herumstreunten. Ich bemerkte, dass sie mit Tieren in einer ganz speziellen Sprache kommunizierte, und sie folgten ihr, als sei sie der Rattenfänger von Hameln. Neugierig und wissbegierig beobachtete ich sie, da ich ihre Geheimnisse herausfinden wollte, um davon zu lernen. Auch ich empfand eine tiefe Verbundenheit gegenüber Tieren und hatte erlebt, ihnen mehr zu vertrauen als den Menschen. Ich war diejenige, die ausgestoßene Tiere zu mir holte, sie im Grunde genommen sammelte – wie zum Beispiel eine orangene Tabby-Katze oder einen im Stich gelassenen, sehr jungen Rotluchs. Und ich war auch diejenige, zu der man Vögel mit gebrochenen Flügeln brachte. Die Tiere, die kein anderer mehr wollte oder für die niemand genügend Geduld hatte.

Dad mochte es, mit seinen Freunden auf die Jagd zu gehen, und ich erinnere mich an die toten Tiere, die sie auf den Motorhauben ihrer Trucks festgezurrt hatten und Waffen, die an der Wand hingen. Damals machte eine Geschichte die Runde, dass ein Hirsch, den sie geschossen hatten wieder aufstand und wegrannte, gerade als sie für Fotos neben ihrer Beute posierten, die Gewehre auf dem Geweih des vermeintlich toten Tieres abgestützt. Und sie? Sie lachten wie die Wahnsinnigen. Dad füllte die mitgenommene vergilbte Kühltruhe auf der Veranda mit Reh- und Elchfleisch auf, eingewickelt in braunem, blutverschmiertem Papier. Ich nannte es immer „komisches Fleisch“, denn es schmeckte merkwürdig, durchzogen von einem undefinierbaren Aroma der Wildnis. Dieses Fleisch zu essen, fühlte sich falsch an.

Dad verbot mir, jemals das Pumpenhaus zu betreten. Natürlich wollte ich das dann unbedingt. Von unserem Garten aus starrte ich auf den Verschlag, mir vorstellend, dass dort alles nur Erdenkliche vor sich ginge … doch ich hätte mir niemals vorstellen können, was sich da tatsächlich befand. Schließlich, an einem Tag, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Als niemand nach mir schaute, zwängte ich mich heimlich durch den Zaun, öffnete die quietschende Tür und entdeckte ein kopfloses Reh, das an den Läufen fixiert von der Decke hing. Ein großer, muskulöser Körper; Blut, das in einen Eimer tropfte. Ich stand dort wie erstarrt, auf eine bestimmte Art fasziniert, aber gleichzeitig entsetzt kreischend. Dann richtete ich meinen Blick auf den entstellten Kopf, der neben dem Körper auf einem blutigen Holzstumpf lag. Wie gebannt schaute ich in die Augen, dunkel und tief, eingerahmt von buschigen Brauen. Sie schienen mich anzustarren, durchdrangen meine Seele bis auf den Grund – bis zur größten Verletzlichkeit. Das war Fleisch? Ich würde meinen Eltern niemals vergeben.

Das brachte mich dazu, nie wieder Tiere zu essen und Aktivistin zu werden. Ich war ungefähr sechs oder sieben Jahre alt und dachte: Das ist nicht gerecht, denn Tiere haben kein Gewehr, keine Stimme. Vielleicht könnte ich ihre Stimme sein? Ich überzeugte Dad, nie wieder auf die Jagd zu gehen, indem ich ihn mit so viel emotionalen Traumata quälte wie ich nur konnte. Ich ließ es ihn büßen, so lange bis meine Zöpfe senkrecht in der Luft standen, dabei Tränen wie aus einem Springbrunnen vergießend und ihn anflehend. Er versprach mir, dass er niemals wieder jagen würde, woran er sich auch hielt. Damals erkannte ich, was für eine kleine Macht ich doch hatte. Es war ein Anfang.

Wie alle Kinder

hatte ich ein naives Verständnis —

Dass das mir Erzählte wahr war —

Dass das Gelesene wahr war —

Dass das mir Gesagte wahr war —

Lügen,

die verstand ich nicht —

Noch nicht!

Schon in einem jungen Alter lernte ich, dass die Menschen meist schrecklich sind. Und Babysitter noch schrecklicher. In meinem Fall war es eine junge Babysitterin, die mich schon sehr früh sexualisierte, indem sie mich zwang, komische Spiele mit ihrem Körper zu veranstalten, so wie „Wägelchen“. Sie brachte mir gebrauchtes Spielzeug mit – wie einen fast lebensgroßen Barbie-Kopf, bei dem ich die Haare stylte und Make-up im Gesicht auftrug. Meine Eltern glaubten, dass sie großzügig und liebenswert sei, doch im Grunde genommen war es nur ein Trick, um sie von der wahren Fährte abzulenken. Damals konnte ich noch nichts davon verstehen. Sie drohte mir und zwang mich, es niemanden zu verraten. Oder etwas Schlimmes würde geschehen.

Warum waren die Menschen nur so gemein, und was konnte ich dagegen unternehmen? Meine Eltern waren immer ehrlich zu mir – kompromisslos ehrlich – aber wenn mich jemand aufforderte, etwas zu verheimlichen, schmerzte mich das bis ins Innerste.

Ich war unschuldig:

eine Akrobatin,

eine Turnerin,

ein gelenkiges, jungenhaftes Mädchen

mit einer unendlichen Vorstellungskraft.

Aufbrausend Sandburgen bauend,

mit einer enormen Geschwindigkeit.

Meine eigene Welt kreierend, so schnell ich nur konnte.

An der Woodley Road lebten noch einige Nachbarn, doch glücklicherweise wohnten wir direkt neben der Atkinson-Familie, deren Haus für mich ein Zufluchtsort des Friedens war. Ich ließ mich jeden Tag in ihrem Haus sehen – wie ihr viertes Kind – und war wie verrückt in die beiden älteren Brüder Matt und John verknallt. Ihnen schickte ich anonyme Liebesbriefe, geschrieben mit einem Buntstift, sodass jeder wusste, dass sie nur von mir kommen konnten. Ihre Schwester Sara war etwas älter als ich. Sie nahm Tanzunterricht – Ballett, Jazz, Stepptanz – und ich hing immer bei ihnen ab, darauf wartend, dass sie endlich nach Hause kam. Wenn sie mit ihrem hübschen Turnanzug zurückkehrte, brachte sie mir einige Schritte bei. Ich in meinen abgeschnittenen Jeans und einem dreckigen T-Shirt … versuchte mich am Shuffle Ball Change.