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Fünf Jahre ist es her, seit Lily ihren Tod vortäuschte und so die verhängnisvolle Affäre mit Rafael Castelli beendete. Doch jetzt läuft sie ihm erneut über den Weg! Er ist fassungslos über Lilys Betrug – aber weigert sich trotzdem, die Liebe seines Lebens verloren zu geben …
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Seitenzahl: 175
IMPRESSUM
In Venedig kehrt die Liebe zurück erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2015 by Caitlin Crews Originaltitel: „Unwrapping the Castelli Secret“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA, Band 424 Übersetzung: Irmgard Sander
Umschlagsmotive: nd3000, bluejayphoto / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 1/2022
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751513548
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Rafael Castelli war mit Geistern nur zu vertraut.
In den ersten Monaten nach dem Unfall hatte er sie überall gesehen. Jede Frau mit nur annähernd goldblondem Haar war auf den ersten Blick seine Lily gewesen. Ein Hauch ihres Duftes in einer Gruppe Passanten, ein zartes Gesicht in einem dicht besetzten Zug, ein ansteckendes Lachen in einem vollen Restaurant … Das alles war für den Bruchteil einer Sekunde Lily, ließ sein Herz für einen Schlag aussetzen, weckte wilde Hoffnung. Verzweifelte Hoffnung, auf die stets Ernüchterung folgte.
Einmal war Rafael einer Frau durch halb London gefolgt, ehe er begriff, dass es nicht Lily war. Dass es nicht Lily sein konnte. Seine Stiefschwester war bei einem schrecklichen Unfall an der kalifornischen Felsenküste nördlich von San Francisco ums Leben gekommen. Das war eine unumstößliche Tatsache. Auch wenn ihr Leichnam nie aus der gefährlichen Brandung an den Felsklippen geborgen worden war …
Gaukelte Rafaels Herz ihm auch deswegen immer wieder Trugbilder von Lily vor?
Es war nun fünf Jahre her. Nein. Lily gab es nicht mehr.
Außerdem war Rafael inzwischen klar, dass die Geister, die er sah, viel mit seinen Schuldgefühlen zu tun hatten.
Doch dieser Geist war irgendwie anders.
Und auf jeden Fall der letzte, schwor sich Rafael. Fünf Jahre waren genug, um etwas nachzutrauern, das es seiner eigenen Selbstsucht wegen nie gegeben hatte. Er musste endlich wieder nach vorn blicken.
Es war später Nachmittag im Dezember in Charlottesville, Virginia, einem idyllischen amerikanischen Universitätsstädtchen am Fuß der Blue Ridge Mountains, etwa drei Autostunden von Washington, D. C. entfernt – und eine ganze Welt entfernt von seiner Heimat Italien. Rafael war mit dem Hubschrauber von Washington eingeflogen, um sich einen besseren Eindruck von der Region zu verschaffen. Das international agierende Weinimperium der Castellis war stets auf der Suche nach interessanten Weinanbaugebieten.
Allerdings war Rafaels gebrechlicher Vater, der sich hartnäckig weigerte, den letzten Atemzug zu tun, noch immer zu stolz, um die Leitung der Firma auch offiziell an Rafael oder seinen jüngeren Bruder Luca abzutreten. Deswegen war Rafael einmal mehr nur als kommissarischer Geschäftsführer unterwegs. In dieser Rolle hatte er in den letzten Jahren schon viele solche Inspektionsreisen gemacht. Portugal. Südafrika. Chile.
Und nun die Weinregion im Zentrum Virginias. Am Flugplatz war Rafael von einer Vertretung des örtlichen Winzerverbands abgeholt worden. Auf dem Weg zum abendlichen Dinner hatten sie hier im idyllischen Charlottesville einen kurzen Stopp eingelegt. Vermutlich sollte der malerische Ort einen positiven Eindruck auf ihn machen. Und Rafael musste zugeben, dass jetzt in der Vorweihnachtszeit das autofreie Geschäftsviertel der Stadt mit seiner Weihnachtsdekoration und den Straßenverkaufsständen wie eine lebendig gewordene Weihnachtskarte wirkte. Laute Weihnachtsmusik aus den Läden konkurrierte mit den Liedern der Sängergruppen auf der Straße, und Rafaels kleine Gesellschaft hatte sich schließlich in ein Café zurückgezogen, um mit einem heißen Kaffee die empfindliche Kälte zu vertreiben – oder die letzten Spuren des Jetlags. Rafael bestellte sich gleich einen dreifachen Espresso.
Und dann sah er sie.
Ihr anmutiger Gang im Dämmerlicht des Spätnachmittags brachte eine Saite in ihm zum Klingen, die schlagartig sämtliche Weihnachtslieder ringsum zum Schweigen brachte. Obwohl es fünf Jahre her war, erkannte er diesen Gang sofort. Dieser unnachahmliche, verführerische Hüftschwung, als sie an dem Fenster des Cafés vorbeiging. Rafael erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf ihr Profil. Aber dieser Gang …
Das muss aufhören, befahl er sich. Lily ist tot.
„Alles in Ordnung, Mr. Castelli?“, erkundigte sich die Vertreterin des örtlichen Winzerverbandes besorgt. Rafaels Bruder Luca, der als globaler Marketing Director von Castelli Wine ebenfalls anwesend war, telefonierte gerade auf seinem Handy und warf ihm nur einen zerstreuten Blick zu.
„Alles bestens. Entschuldigen Sie mich nur für einen Moment.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Rafael das Café und drängte sich durch die Passanten. Einen Moment glaubte er schon, sie verloren zu haben, was vermutlich das Beste gewesen wäre. Dann entdeckte er sie wieder, am anderen Ende der Ladenpassage. Die Frau mit diesem unverwechselbaren Gang, der die Erinnerung an Lily in ihm wachrief.
Doch es würde natürlich nicht Lily sein. Nie war es Lily. Jedes Mal lief Rafael einer völlig fremden Frau hinterher und machte sich zum Narren.
Dies ist das letzte Mal, dass du dieser Schwäche nachgibst, schwor er sich, während er sich weiter an die Verfolgung des jüngsten Trugbilds der Frau machte, von der er doch wusste, dass er sie nie wiedersehen würde. Ein letztes Mal, um auch den letzten Hoffnungsfunken zu ersticken. Ein letztes Mal, um zu beweisen, was er doch längst wusste: dass Lily fort war, dass sie nie mehr zurückkommen und er nie wieder jemand wie sie finden würde.
Rafael bezweifelte, ob es ihm je gelingen würde, seine Schuldgefühle, die ihm schwarz und drückend auf der Seele lagen, loszuwerden, aber heute Abend, in dieser idyllischen amerikanischen Kleinstadt, die er vermutlich nie wieder besuchen würde, wollte er wenigstens so weit wie möglich mit seiner unseligen Vergangenheit abschließen. Er erwartete sich davon keinen Seelenfrieden. Den verdiente er nicht. Aber er wollte einfach keinen Phantomen mehr nachjagen. Damit musste Schluss sein.
Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, als sie sich immer weiter von ihm entfernte. Aber unter dem langen dunklen Mantel war eine vertraute gertenschlanke Figur zu erahnen, und unter der schwarzen Strickmütze lugten goldblonde Locken hervor.
Rafael wurde von Erinnerungen bestürmt. Lily, die einzige Frau, die ihn je so ganz und gar gefangen genommen hatte. Lily, die er verloren hatte. Lily, seine heimliche Geliebte, seine verbotene Leidenschaft, die er vor der Welt versteckt hatte. Und die er dann betrauern musste, als wäre sie nie mehr für ihn gewesen als seine Stiefschwester, die Tochter der vierten Frau seines Vaters.
Längst waren Selbstverachtung und Schmerz eins für ihn geworden. Dieser Schmerz, der ihn völlig verändert hatte – vom viel zu reichen Söhnchen, dem es genügt hatte, mit dem Geld seiner Familie um sich zu werfen, zu einem der erfolgreichsten, gefürchtetsten Geschäftsmänner Italiens. Es hatte Jahre in Anspruch genommen und war eine andere Form von Sühne gewesen.
„Tief in dir steckt der Keim zu einem viel besseren Mann“, hatte Lily ihm gesagt, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Als er sie erst zum Höhepunkt und dann zum Weinen gebracht hatte, was geradezu eine Spezialität von ihm geworden war … „Ich weiß es, Rafael. Aber wenn du so weitermachst, wirst du ihn abtöten, bevor er wachsen kann.“
„Damit setzt du voraus, ich würde überhaupt wachsen wollen“, hatte er mit der für ihn so typischen arroganten Gleichgültigkeit geantwortet, für die er sich zeit seines Lebens hassen würde. „Aber ich muss kein verdammter Garten sein. Ich bin zufrieden, so wie ich bin.“
Sein Herz hämmerte schmerzhaft in seiner Brust, während er Lilys Trugbild weiter folgte und den Anblick dieses Ganges einsog, als könnte er ihm Erlösung bringen. Er folgte der Frau in eine Seitenstraße, ohne den Blick von dieser ihm so vertrauten Silhouette zu wenden, die er im Schlaf hätte zeichnen können, die perfekte Gestalt jener Frau, die nicht Lily war und doch genauso aussah, wie er sie in Erinnerung hatte.
Seine Lily, wie sie im Nebel von San Francisco vor ihm davonlief, nachdem sie behauptet hatte, sie wolle endgültig weg von ihm und ihrer perversen Beziehung. Damals hatte er nur gelacht, war sich so verdammt sicher gewesen, dass sie wie immer zu ihm zurückkommen würde. Wie sie es immer getan hatte, seit ihrem neunzehnten Geburtstag, als sie jene Grenze zum ersten Mal überschritten hatten.
Und danach immer wieder. Ein heißer Quickie in einer Besenkammer abseits der Eingangshalle, während ihre Familien im Salon in unmittelbarer Nähe versammelt waren. Eine heimliche Nacht in ihrem Schlafzimmer in der Luxusvilla ihrer Mutter in den Hügeln von Sausalito, wo die ganz Reichen wohnen. Ein Hotelzimmer hier, ein Gartenschuppen auf einer Sommerresidenz da – jetzt in seiner Erinnerung erschien alles so billig. Völlig unangemessen. Aber er war sich ja so sicher gewesen, dass es immer ein nächstes Mal geben würde.
Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Entweder sein Assistent oder sein Bruder, die wissen wollten, wo zum Teufel er steckte. Rafael ignorierte es.
Er war jetzt ein anderer als vor fünf Jahren. Er hatte Verantwortung und stellte sich ihr gern. Längst war er nicht mehr der unverbesserliche Frauenheld, der die pikante Beziehung mit seiner Stiefschwester im Verborgenen genoss, während er gleichzeitig all seine anderen Eroberungen im Rampenlicht der Öffentlichkeit zur Schau stellte. Ohne sich darum zu kümmern, wie sehr es Lily verletzte.
Ohne sich um überhaupt irgendetwas zu kümmern! Es muss so sein, cara, hatte er ihr eingeredet. Niemand darf wissen, was zwischen uns ist, denn sie würden es nicht verstehen.
Heute war er nicht mehr dieser selbstsüchtige, oberflächliche junge Mann, dem es einen besonderen Kick versetzt hatte, geradewegs unter den Augen ihrer blinden Familien diese fragwürdige Affäre mit seiner Stiefschwester zu haben. Einfach, weil er es konnte. Weil Lily ihm nicht widerstehen konnte.
Doch wenn er ehrlich war, hatte er ihr genauso wenig widerstehen können. Nur hatte er das erst begriffen, als es zu spät war.
Seit jenen Tagen hatte er sich sehr verändert. Aber er war immer noch Rafael Castelli. Zum allerletzten Mal würde er sich in seinen Schuldgefühlen suhlen. Es war höchste Zeit, zu akzeptieren, dass er die Vergangenheit nicht mehr ändern konnte, und aufzuhören, an jeder Ecke eine tote Frau zu sehen. Nichts würde ihm Lily zurückbringen. Ihm blieb nur, so gut wie möglich mit dem, was er getan hatte, zu leben.
Die Frau vor ihm hatte ihre Schritte verlangsamt, zog einen Schlüssel aus der Tasche und richtete ihn auf ein Auto, das in der Nähe stand. Rafael hörte das Piepsen, als die Lichter aufblinkten und die Frau sich der Fahrertür näherte. Das Licht der Straßenlaterne erleuchtete hell ihr Gesicht …
Rafael war wie vom Schlag getroffen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, musste er etwas gerufen haben, denn sie drehte sich ruckartig herum und lehnte sich gegen die Fahrertür, ohne sie zu öffnen. Stand wie vom Donner gerührt da und blickte ihn sprachlos über die Motorhaube eines amerikanischen Kombis an.
Es konnte keinen Zweifel geben, wer die Fremde war.
Lily.
Unverkennbar! Dieses ebenmäßige, perfekt herzförmige Gesicht, das eines Gemäldes in den Uffizien würdig gewesen wäre, die verträumten blauen Augen, die vollen, sinnlichen Lippen, die er tausendmal geküsst hatte. Unter dem Rand ihrer schwarzen Strickmütze fielen ihre Locken in sattem Goldblond über die Schultern. Auch ihre zierlichen Brauen waren von diesem sanften Honigton, was ihrem Gesicht den Ausdruck einer Madonna aus dem siebzehnten Jahrhundert verlieh. Sie schien in den vergangenen fünf Jahren keinen Tag gealtert zu sein.
Schlug sein Herz noch? Rafael atmete tief ein, dann noch einmal. Jeden Moment erwartete er, dass sich ihr Gesicht in das einer Fremden verwandeln würde. Dass er aufwachen und feststellen würde, alles nur geträumt zu haben.
Er atmete noch einmal tief ein und aus. Sie war es immer noch.
„Lily“, flüsterte er.
Mit wenigen Schritten stand er vor ihr und griff mit zitternden Händen nach ihren Schultern. Sie gab einen überraschten Laut von sich, doch er achtete nicht darauf, sondern erkundete wie gebannt ihr zartes Gesicht nach Hinweisen. Das kleine, helle Muttermal an ihrem linken Mundwinkel, das Grübchen in ihrer Wange, wenn sie lächelte.
Seine Hände erinnerten sich an die Form ihrer Schultern, selbst durch den dicken Wintermantel. Schon fiel ihm ein, wie perfekt sie sich ergänzt hatten, als wären ihre Körper füreinander geschaffen gewesen. Schon erinnerte er sich, wie sie in Erwartung seines Kusses den Kopf zurückgelehnt, die Lippen einladend geöffnet hatte …
„Was tun Sie?“
Er las die Worte von ihren Lippen, ohne den Sinn zu verstehen. Er wusste nur, dass es ihre Stimme war, Lilys Stimme, die Stimme, die er nie wieder zu hören erwartet hatte. Ihr unverkennbarer Klang erschütterte ihn zutiefst und baute ihn gleichzeitig auf. Dazu kam der Duft, ihr Duft, ebenso einzigartig. Ganz Lily. Seine Lily. Sie lebte. Oder er erlitt gerade eine akute Nervenkrise. Doch Rafael war es in diesem Moment ziemlich egal.
Er zog sie einfach an sich und küsste sie. Das Gefühl war sofort vertraut. Diese Sehnsucht, dieses Verlangen. Er begann vorsichtig und zögernd, wollte nicht glauben, was er im Lauf der Jahre unendliche Male geträumt hatte, um dann jedes Mal allein und verlassen aufzuwachen.
Doch dann passierte, was immer zwischen ihnen geschehen war: Diese elektrisierende Spannung zwischen ihnen entflammte zu einem verzehrenden Feuer, das ihn alle Beherrschung vergessen ließ. Er presste sie an sich und nahm leidenschaftlich von ihren Lippen Besitz.
Seine verlorene Liebe. Seine einzig wahre Liebe. Endlich, schoss es ihm durch den Kopf. Endlich.
Er hielt ihr Gesicht mit beiden Händen umfasst, als sie sich von seinen Lippen losriss, und schaute suchend in ihre blauen Augen, deren Blick ihn in den vergangenen fünf Jahren verfolgt hatte. „Wo zum Teufel hast du gesteckt? Was soll das alles?“
„Lassen Sie mich los!“
„Wie?“
„Hören Sie, Sie scheinen mir sehr aufgewühlt zu sein …“ Ein Ausdruck von Panik huschte über ihr Gesicht. „Aber Sie müssen mich jetzt loslassen. Sofort. Ich verspreche Ihnen, ich werde nicht die Polizei rufen.“
„Die Polizei?“ Rafael hatte Mühe, ihr zu folgen. In seinem Kopf herrschte eine große Leere. „Warum solltest du die Polizei rufen?“ Er betrachtete sie verständnislos. Ihre Wangen waren jetzt zart gerötet, aber sie schmiegte sich nicht an ihn, wie sie es früher bei der leisesten Berührung getan hatte. Im Gegenteil, wenn er sich nicht täuschte, versuchte sie, ihn mit beiden Händen wegzustoßen. Ihn.
Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, ließ er sie los. Für einen Moment rechnete er fest damit, dass sie einfach in der hereinbrechenden Dunkelheit verschwinden oder sich buchstäblich in Luft auflösen würde. Doch nein, sie sah ihn nur durchdringend an und wischte sich dann ganz bewusst mit dem Handrücken den Mund ab.
„Was zum Teufel soll das?“, fragte er in einem Ton, bei dem jeder, der ihn kannte, in Deckung gegangen wäre.
Zwar erstarrte sie sichtlich, aber ihr Blick blieb seltsam verständnislos.
„Bitte treten Sie zurück“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Oder ich schreie so laut, dass mich jemand hört.“
„Schreien?“ In Rafael herrschte ein Chaos aus Wut, Schmerz und Verzweiflung. Und diese schreckliche Hoffnung, die er all die Jahre für seine gerechte Sühne gehalten hatte. Doch nun stand Lily vor ihm. Lily lebte.
„Wenn Sie sich noch einmal an mir vergreifen …“
Dass sie jetzt hier in einer Seitenstraße in Charlottesville, Virginia, vor ihm stand, machte für ihn genauso wenig Sinn wie ihr angeblicher Tod vor fünf Jahren. „Wie hast du diesen Unfall überlebt?“, fragte er, ohne auf ihre Worte zu achten. „Wie bist du ausgerechnet hier gelandet? Wo hast du all die Zeit gesteckt?“ Erst da begriff er, was sie gesagt hatte, und blinzelte verwundert. „Sagtest du vergreifen?“
Er hatte es sich also nicht eingebildet. Sie wich vor ihm zurück, eine Hand an ihrem Wagen, und ihr Blick war von Panik erfüllt. Nicht gerade die Begrüßung, die er von seiner Lily erwartet hätte – wenn er sich je erlaubt hätte, sich vorzustellen, dass sie noch lebte. Doch sie war kein Geist. Lily stand leibhaftig vor ihm in dieser kalten, dunklen Straße. Auch wenn sie ihn ansah, als wäre er ein Monster.
„Warum?“, fragte er leise. „Warum siehst du mich an, als würdest du mich nicht kennen?“
„Weil ich Sie nicht kenne.“
Rafael lachte freudlos. „Du … kennst mich nicht?“
„Ich steige jetzt in meinen Wagen“, sagte sie betont sanft, als spräche sie zu einem gefährlichen Tier oder einem Verrückten. „Ich habe einen Paniknotruf an meinem Schlüsselring. Sollten Sie sich mir noch einmal nähern …“
„Lily, hör auf!“, befahl er ungeduldig.
„Ich heiße nicht Lily.“ Sie betrachtete ihn besorgt. „Sind Sie vielleicht gestürzt und haben sich den Kopf gestoßen? Die Gehwege sind bei diesen Temperaturen glatt …“
„Ich habe mir nicht den Kopf gestoßen, und du bist zweifellos Lily Holloway“, fiel er ihr ins Wort. „Ich kenne dich, seit du sechzehn warst.“
„Mein Name ist Alison Herbert.“ Sie beäugte ihn misstrauisch. „Sie sehen wie ein Mann aus, an den man sich erinnern müsste, aber ich kenne Sie leider wirklich nicht.“
„Lily …“
Sie wich zurück und öffnete die Fahrertür, sodass sie eine Barriere zwischen ihnen bildete. „Ich kann Ihnen einen Krankenwagen rufen. Vielleicht sind Sie ja doch verletzt.“
„Dein Name ist Lily Holloway!“ Sie sah ihn nur unbeeindruckt mit ihren großen blauen Augen an. Offenbar hatte er ihr bei dem Kuss die Mütze vom Kopf gezogen, denn ihre goldblonden Locken schimmerten zerzaust im Licht der Straßenlaterne. Die Farbe war unverkennbar. Lilys. „Du bist in der Nähe von San Francisco aufgewachsen. Dein Vater starb, als du noch klein warst, und deine Mutter hat meinen Vater, Gianni Castelli, geheiratet, als du sechzehn warst.“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„Du hast Höhenangst und eine Spinnenphobie. Du hast auf der Universität von Berkeley einen Abschluss in Englischer Literatur gemacht mit einer absolut nutzlosen Abschlussarbeit über angelsächsische Totenklagen, die dir auf dem Arbeitsmarkt niemals irgendwelche Vorteile bringen wird. Auf deiner rechten Seite trägst du das Tattoo einer Lilie, das von der Hüfte aufwärts rankt und einem Akt betrunkener Rebellion entsprungen ist. Auf einem Trip nach Mexiko in den Semesterferien hattest du zu viel Tequila getrunken. Glaubst du, ich denke mir das alles nur zu meinem Spaß aus?“
„Ich glaube, dass Sie Hilfe brauchen“, erwiderte sie. „Medizinische Hilfe.“
„Mit neunzehn hast du deine Unschuld verloren“, fuhr Rafael brutal fort. „An mich. Mag sein, dass du dich nicht mehr daran erinnerst. Aber ich tue es. Verdammt, ich bin die Liebe deines Lebens!“
Er war hier.
Fünf Jahre später war er tatsächlich hier. Rafael. Ausgerechnet hier.
Er stand vor ihr und sah sie an, als wäre sie ein Geist, sprach von Liebe, als würde er die Bedeutung dieses Wortes kennen.
Am liebsten wäre Lily auf der Stelle gestorben … und diesmal wirklich. Der Kuss hatte Erinnerungen in ihr geweckt, die sie tief und endgültig vergraben geglaubt hatte. Schon wollte sie sich wieder in seine Arme schmiegen, genauso krankhaft besessen, so süchtig nach ihm, wie sie immer gewesen war. Immer, egal, was zwischen ihnen passiert oder nicht passiert war. Sie wollte sich in ihm verlieren …
Doch dieses Mädchen war sie nicht mehr. Sie trug jetzt Verantwortung, musste an wichtigere Dinge denken als an ihre berauschende Lust oder an diesen so zerstörerisch egozentrischen Mann, der viel zu lang ihr Leben überschattet hatte.
Rafael Castelli war der Dämon, den sie in sich trug, das dunkle, selbstsüchtige Etwas, gegen das sie jeden Tag ankämpfte. Symbol ihres fragwürdigen Verhaltens, all ihrer falschen Entscheidungen, ihrer Unfähigkeit, an etwas anderes als an sich selbst zu denken. Der Schmerz, den sie, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, verursacht hatte … all das war unauflöslich mit Rafael verknüpft. Er war der Grund, warum sie dieses neue Leben gewählt hatte. Rafael war ihr Schreckgespenst. Ihr Albtraum.
Lily hatte nicht damit gerechnet, dass er zufällig an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag im Dezember wieder in ihrem Leben auftauchen würde, hier in Charlottesville, wo sie sich sicher gefühlt hatte. Gerade hatte sie angefangen zu glauben, dass sie das Leben, das sie sich als Alison Herbert aufgebaut hatte, wirklich annehmen konnte. Dass sie diese andere, bessere Version ihrer selbst werden könnte und nie wieder zurückblicken müsste.
„Willst du noch mehr hören?“, fragte Rafael in einem Ton, den sie gar nicht von ihm kannte. Hart, kompromisslos, rücksichtslos. „Ich könnte ein ganzes Buch über dich schreiben.“
Lily hatte nicht bewusst so getan, als würde sie ihn nicht kennen. Sie hatte kaum Zeit gehabt, ihn anzusehen … ein schwarzer Mantel, der maßgeschneidert auf seinen breiten Schultern saß und seine athletische Figur ahnen ließ, das dichte schwarze Haar, das er jetzt kürzer trug, das markante, männliche schöne Gesicht mit dem sinnlichen Mund, der so unbekümmert lachen konnte und ihr so viel Lust und Qual bereitet hatte … und nicht zuletzt seine faszinierenden dunklen Augen, in denen sich nun eine Mischung aus Verblüffung, Schmerz und Zorn spiegelte.