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Julius von Voß

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Beschreibung

Mit dem dritten Band der Reihe »Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction« wurde ein wahrer Schatz gehoben: Herausgeber Hans Frey hat schon in seinem Buch »Fortschritt und Fiasko« (Memoranda, 2018) festgestellt, dass Mary Shelley's Roman »Frankenstein. Oder der moderne Prometheus« zwar häufig als der erste Science-Fiction-Roman genannt wird, doch bereits achtJahre früher veröffentlichte der deutsche Schriftsteller Julius von Voss mit »Ini. Roman aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert« ein Buch, welchem dieser Titel gebührt. Die Liebe der titelgebenden Jungfrau Ini und ihres Liebhabers Guido, der sich als Protagonist hervortut, verändert die Welt. Und während ihre Geschichte erzählt wird, erfahren Leserinnen und Leser viel von der Entwicklung der Gesellschaft bis zur Gegenwart des Romans im 21. Jahrhundert. Dabei besonders ist das Interesse des Autors an wissenschaftlichen Entwicklungen und Ideen.

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Seitenzahl: 317

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JULIUS VON VOSS

Ini

Roman aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert

Originalausgabe

© 2022 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

[email protected]; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Oktober 2022

Die Erstauflage erschien 1810 bei Karl Friedrich Amelang, Berlin.

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Herausgeber: Hans Frey

Lektorat: Klaus Farin

Korrektorat: Christian Winkelmann-Maggio

Layout:benSwerk

ISBN:

PRINT: 978-3-949452-34-5

PDF: 978-3-949452-36-9

EPUB: 978-3-949452-35-2

Hirnkost versteht sich als engagierter Verlag für engagierte Literatur.

Mehr Infos: https://www.hirnkost.de/der-engagierte-verlag/

Dieses Buch erschien als Band III der Reihe »Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction«. Alle Titel und weitere Informationen finden Sie hier: https://shop.hirnkost.de/produkt/schaetze/

Julius von Voß . 1768 – 1832

wurde am 24. August 1768 in Brandenburg geboren und starb am 1. November 1832 in Berlin. Er war ein deutscher Schriftsteller und wird als Vater der Berliner »Lokalposse« bezeichnet, einem auf lokalen Dialekten basierendem Theatergenre des 19. Jahrhunderts, bekannt vor allem aus dem Wiener Volkstheater. Ini. Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert gilt als erster deutschsprachiger Science-Fiction-Roman.

benSwerk

geboren 1970, lebt in Berlin. Studierte Werbegrafik und freie Kunst. Wenn sie nicht für Hirnkost layoutet, porträtiert sie das kleine Volk und andere Wesenheiten der Anderswelt, ersinnt Orakelkarten oder gestaltet andere Bücher – mit Vorliebe in den Bereichen WeirdFiction oder Phantastik. www.benswerk.com

Hans Esselborn

lehrte seit 1987 Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, 2008-2011 an der Jagiellonen-Universität Krakau; war Gastprofessor in Lawrence (Kansas), Nancy, Paris und Lyon. Spezialgebiete: Aufklärung und Jean Paul, Expressionismus und Weimarer Republik, Literatur und Film, Interkulturelle Aspekte, Literatur und Naturwissenschaft bzw. Technik (Science Fiction). Autor von Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik (Köln/ Wien 1981); Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls (Tübingen 1989); Die Erfindung der Zukunft in der Literatur (2. Aufl., Würzburg 2019). Herausgeber von Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts (Würzburg 2003); Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Künsten (Würzburg 2009) und der Werkausgabe von Herbert W. Franke (Murnau seit 2014).

Hans Frey

geboren 1949, Germanist, Lehrer und Ex-NRW-Landtagsabgeordneter, ist in seinem »dritten Leben« Autor und Publizist. Seine Spezialität ist die Aufarbeitung der Science Fiction. Bisherveröffentlichte er ein umfangreiches Werk über Isaac Asimov, das Sachbuch Philosophie und Science Fiction und Monographien über Alfred Bester, J. G. Ballard und James Tiptree Jr. Seit 2016 arbeitet er an einer Literaturgeschichte der deutschsprachigen SF. Drei Bände sind bislang bei Memoranda erschienen (Fortschritt und Fiasko, Aufbruch in den Abgrund und Optimismus und Overkill). Für die ersten beiden Bände erhielt er den Kurd Laßwitz Preis 2021.

Zum Geleit

Vorwort von Hans Frey

Erster Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Nachwort von Hans Esselborn

Zum Geleit

Wir leben in einer Gegenwart des radikalen Umbruchs, der alle Bereiche der menschlichen Zivilisation durchdringt. Die Probleme scheinen uns über den Kopf zu wachsen. Wir brauchen kluge Ideen, tragfähige Lösungen, vielleicht sogar Utopien, die neue Perspektiven aufzeigen.

Vielleicht ist es gerade in dieser aufwühlenden Situation auch hilfreich, einmal innezuhalten und zurückzublicken. Denn vieles, was uns heute beschäftigt, ist nicht wirklich neu. Schon vor über einhundert Jahren machten sich Autoren und Autorinnen Gedanken über das Klima, über Armut, Wohnen, Ernährung und das Bildungssystem, ob und wie weit Technik ein Motor für den Fortschritt oder eine existenzielle Gefahr darstellen kann (beispielsweise Atomkraft, Geo-Engineering, Gentechnik). Vor allem die Autoren und Autorinnen der einst »Zukunftsliteratur« genannten Science Fiction entwarfen wie in keinem anderen Genre sonst gesellschaftliche Utopien und Dystopien, die noch heute so gegenwärtig wirken, als wären sie gerade erst entstanden. Sie sind trotz oder vielleicht gerade wegen ihres oberflächlich antiquiert wirkenden Charmes heute noch mit Gewinn und Genuss zu lesen sind. Vierzig Perlen aus der deutschsprachigen Science Fiction möchte Ihnen diese Edition im Laufe der nächsten Jahre präsentieren.

Jedes Buch der Edition enthält den Roman selbst sowie in einigen Fällen ergänzende Texte der jeweiligen Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Umrahmt werden die Originaltexte von einem Vorwort namhafter Autoren und Autorinnen der Gegenwart und einem historisch-analytischen Nachwort von anerkannten Expertinnen und Experten, das vornehmlich die literaturhistorischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe des Textes beleuchtet.

Parallel zur gedruckten Version erscheinen EPubs in allen Formaten und Vertriebsoptionen, die in der Regel zusätzliche ergänzende Materialien (etwa dazugehörige weitere Romane, Sachbücher und Essays der Autoren und Autorinnen, zeitgenössische Rezensionen und andere Leserstimmen sowie weitere Analysen) enthalten und so vor allem für die wissenschaftliche Beschäftigung eine wertvolle Bereicherung darstellen. Damit werden nicht nur die Originaltitel wieder für ein größeres Lesepublikum zugänglich gemacht, sondern auch der Forschung in bislang einzigartiger Weise sowohl historisches Quellenmaterial als auch aktuelle Analysen aufbereitet zur Verfügung gestellt.

Besonderen Wert legen wir auf die Gestaltung. Auch sie soll zum Lesen einladen, denn die von uns herausgegebenen Werke haben es allemal verdient, neue Leser und Leserinnen zu finden. So werden die Werke nicht einfach als Faksimile reproduziert, sondern komplett neu Korrektur gelesen und gesetzt.

Wir, der Verleger Klaus Farin (*1958) und der Herausgeber Hans Frey (*1949), beide Sachbuchautoren, kennen uns schon seit Jugendjahren. Wir stammen beide aus dem Herzen des Ruhrgebiets, aus Gelsenkirchen, engagier(t)en uns für eine bessere, gerechtere Gesellschaft und sind seit unserer Jugend leidenschaftliche Science-Fiction-Leser. Als wir uns nach Jahren zufällig in Berlin wiedertrafen, wurden sofort Pläne geschmiedet. Angeregt durch die deutschsprachige SF-Literaturgeschichte von Hans Frey im Memoranda Verlag wurde die Idee geboren, eine langfristig angelegte Reihe mit wichtigen, aber fast vergessenen Originaltexten der deutschsprachigen Science Fiction zu veröffentlichen.

Aus dieser Idee ist Realität geworden. Die Reihe leistet einen wesentlichen Beitrag zur lebendigen Aufarbeitung und Bewahrung bedeutender Werke der deutschsprachigen SF. Zudem ist sie ein einzigartiges Dokument für die Vielfalt und Vielschichtigkeit des über die Jahre gewachsenen Genres.

Wahr bleibt indes auch: Ohne engagierte Leser und Leserinnen, die die Bücher kaufen und sich an ihnen erfreuen, kann das Projekt nicht gelingen. Empfehlen Sie es bitte weiter. Abonnieren Sie die Reihe. Wir unterbreiten Ihnen ein verlockendes Angebot. Greifen Sie zu!

Hans Frey, Klaus Farin

Wer hat den ersten SF-Roman der Welt geschrieben?

von Hans Frey

Gemeinhin gilt in der SF-Community die Erkenntnis als gesichert, dass die Engländerin Mary Wollstonecraft Shelley mit Frankenstein oder Der neue Prometheus (1818) den ersten originären Science-Fiction-Roman der Welt geschrieben hat. Diese Auffassung geht auf den berühmten britischen SF-Autor Brian W. Aldiss zurück, der die These in seiner großartigen SF-Literaturgeschichte Billion Year Spree (1973) überzeugend dargelegt hat. Auch ich habe längere Zeit die Meinung von Aldiss vertreten, z. B. in meinem Sachbuch Philosophie und Science Fiction (2013).

Das änderte sich, als ich mit der Arbeit zum ersten Band meiner Literaturgeschichte zur deutschsprachigen SF begann. Ich war nämlich auf die Spur des DDR-Literaturwissenschaftlers Dr. Claus Ritter (1929-1995) gestoßen und durch ihn auf die des Preußen Julius von Voß (1768-1832). Ritter entdeckt im zweiten Buch seiner dreibändigen SF-Geschichte der wilhelminischen Epoche den Ex-Offizier und Schriftsteller Julius von Voß neu und weiß Erstaunliches zu berichten. Darauf detailliert einzugehen, ist hier nicht der richtige Ort. Das alles kann bei Claus Ritter (Anno Utopia, 1982) und bei mir (Fortschritt und Fiasko, 2018) nachgelesen werden.

Für den momentanen Kontext ist die Tatsache wichtig, dass Voß schon acht Jahre vor Shelley (!) einen Roman vorgelegt hat, der den Titel trägt Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigstenJahrhundert (1810). Was der Titel verspricht, hält er auch. Eingebettet in eine abenteuerliche Liebesgeschichte zwischen der blutjungen Ini und dem kaum älteren Guido (der eigentlichen Hauptperson des Romans) und einer Reise bis nach Nordamerika und zum Nordpol entfaltet sich ein Kaleidoskop von politischen, sozialen und wissenschaftlich-technischen Fiktionen, das in vielen Dingen ein weit perfekteres Zukunftseuropa imaginiert, als es das zeitgenössische Europa des Julius von Voß war.

Es wäre übertrieben, Ini zu einem literarischen Kunstwerk hochzustilisieren. Auch sind viele Einwände gegen bestimmte Vorstellungen des Preußen aus heutiger Sicht durchaus berechtigt. Sie dürfen allerdings nicht den Blick auf die historische Bedingtheit des Textes trüben. Alles in allem ist die Voß‘sche Kreation durchdrungen von den Idealen der Aufklärung und gehört damit zu den fortschrittlichen und humanen Werken der Zeit. An Weit- und Einsicht überflügelt Ini so manches spätere Produkt der deutschsprachigen SF um Längen.

Neben seinem Eigenwert liegt eine wichtige Bedeutung des Romans in der spannenden Frage, wie der Roman genregeschichtlich einzuordnen ist bzw. welchen Stellenwert man ihm zuordnen soll oder sogar muss. Ein Blick in das sehr empfehlenswerte Nachwort von Prof. Dr. Hans Esselborn genügt, um festzustellen, dass er Ini für einen Vorläuferroman der SF hält. Ich dagegen bin der Meinung, dass Ini der erste echte SF-Roman der Weltliteratur ist. Womit wir wiederum bei Brian Aldiss sind, der Selbiges Mary Shelley zuschreibt. Will meine Behauptung Bestand haben, muss sie sich also an zwei Fronten bewähren.

Um entscheiden zu können, ob Ini ein SF-Vorläufer oder ein originärer Genre-Roman ist, muss geklärt werden, was man überhaupt unter Science Fiction als Genre versteht. Das bedeutet wiederum nicht, dass ich mich jetzt in einen Definitionsstreit über die SF begebe, der bereits seit Jahrzehnten mehr oder weniger qualifiziert ausgefochten wird. Stattdessen mache ich einen Vorschlag, der aus meiner Sicht einen tragfähigen Zugang zur Problemstellung ermöglicht.

Ab dem Jahr 1500, das viele Historiker als Beginn der Neuzeit datieren, erscheinen in der Literatur vermehrt Werke, in denen sich bereits politisch-soziale und wissenschaftlich-technisch gefärbte Zukunftsoptionen finden lassen. Derartige Elemente, Strömungen und Versatzstücke verteilen sich aber noch unsystematisch und/oder in rudimentärer Form auf voneinander getrennte Literaturrichtungen. Gemeint sind im Wesentlichen der utopische Staatsroman, der abenteuerliche Reiseroman, die belehrende Wissenschaftserzählung und der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende bürgerlich-romantische Schauerroman. Als Folge der Aufklärung im 18. Jahrhundert und dann endgültig mit dem Durchbruch der industriellen Revolution geschieht um 1800 herum in der Literatur etwas grundständig Neues. Das, was zuvor verstreut über mehrere Genres hier und da aufblitzte, synthetisiert sich zu einem neuen, eigenständigen und erkennbaren Genre, das wir Science Fiction nennen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand von SF gesprochen hat.

Die geschilderte Metamorphose von einem verstreuten Stückwerk zu einem nachvollziehbaren Regelwerk klingt nach einem magischen Vorgang. Selbstverständlich ist er das nicht. Vielmehr entspringt der Prozess dem schöpferischen Geist sensibler, fantasievoller und kreativer Menschen, die die realen Novae aufnehmen und im mythisch-metaphorischen Gewand der Belletristik Antworten auf die ungeheuren Herausforderungen suchen, welche sich immer stärker am Horizont abzeichnen.

Exakt an dieser Stelle kommt Julius von Voß ins Spiel. Eine Analyse seines Romans Ini belegt, dass er geradezu idealtypisch die Integration der o. g. Elemente zu einem geschlossenen Ganzen vollzieht (das Reisemotiv, ein Romanpersonal, das SF-Inhalte transportiert, politisch-soziale und wissenschaftlich-technische Möglichkeiten samt mitgelieferten Erklärungen, utopische Momente, die Konfrontation der Gegenwart mit einer erdichteten Zukunft usw.). Das Ergebnis ist ein Werk, das erstmalig alle Anforderungen an einen originären SF-Roman erfüllt. Da es meines Wissens so etwas vorher noch nicht gegeben hat, gebührt dem Preußen das Erstgeburtsrecht an dem neuen Genre Science Fiction.

Gleichwohl ist das Resultat meiner Überlegungen kein Dogma. Gerade bei Texten, die an literaturhistorischen Schnittstellen liegen, ist ein Interpretationsspielraum legitim. Insofern kann ich trotz einer anderen Meinung mit der Position von Hans Esselborn gut leben. Unterschiedliche Standpunkte z. B. über die Genese der SF machen Diskussionen ja erst richtig interessant.

Kommen wir abschließend zu Aldiss, für den Frankenstein den erste originäre SF-Roman der Weltliteratur ist. Ohne jede Frage hat Brian W. Aldiss recht, in Frankenstein einen lupenreinen SF-Roman zu sehen – das Buch wurde erst durch die späteren Verfilmungen zu einer platten Horror- und Gruselgeschichte verfälscht. Bei der Argumentation des Briten ist zu berücksichtigen, dass er von dem international völlig unbekannten und selbst in Deutschland jahrzehntelang vergessenen Julius von Voß noch nie etwas gehört hatte, ihn somit auch nicht berücksichtigen konnte. So musste er fast zwangsläufig auf Mary Shelley kommen. Nichtsdestotrotz liegt er in diesem Punkt falsch, vorausgesetzt man akzeptiert, dass Voß das Genre durch seinen Roman begründet hat. Entscheidend ist hier der Zeitfaktor. Wie schon gesagt erschien Mary Shelleys Roman 1818, der Voß‘sche Roman aber schon 1810. Es ist eben auch in der Literatur so: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Verschiebt man die Perspektive in Richtung Relevanz, verändert sich das Bild graduell. Fakt ist: Mary Shelley hat den ersten weltweit bekannten SF-Roman erschaffen. Shelleys literarische Durchschlagskraft ist ungleich größer und mächtiger als die des Preußen. Während die Motivstruktur von Frankenstein als klar zuzuordnendes Metapherngeflecht bis heute wirkmächtig ist, kann man das von Ini nicht behaupten. Der Einfluss der Voß‘schen SF ist durchgehend namenlos und verhalten indirekt, der Einfluss von Mary Shelley dagegen eindeutig identifizierbar und überwältigend direkt. Das ist ebenso wahr wie die Einsicht, dass die überragende Bedeutung des Romans Frankenstein und der Anspruch eines nicht zur Kenntnis genommenen Deutschen, der Erste im blutjungen Genre gewesen zu sein, nicht unbedingt als Gegensatz begriffen werden muss. Es liegt auf der Hand. Voß kann man als Vater und Shelley als Mutter der Genre-SF bezeichnen. Mehr noch! Ist die Vorstellung nicht berührend und amüsant zugleich, dass eine wunderbare Engländerin und ein preußischer Haudegen ein Kind gezeugt haben, das gute einhundert Jahre später Science Fiction heißen sollte?

Vorrede

Jean Paul sagt:

»Friede mit der Zeit! sollte man öfter in sich hineinrufen. Wie uns ein quälender Tag nicht in den Hoffnungen unsers Lebens irret, so sollte uns ein leidendes Jahrhundert nicht die entziehen, womit wir uns die weite Zukunft malen.«

Wenn nun aber die Zeit gar unfriedlich ist, sollte da nicht ein Blick in die Zukunft das bedrängte, oft zagende Herz trösten, beleben, erheitern? Und eine bessere Zukunft naht so gewiss, als die Vergangenheit von der Gegenwart übertroffen wird. Wenigstens gilt die Behauptung, insofern wir von der immer mehr entwickelten Kultur das Heil der Sterblichen erwarten. Was wir aber noch nicht sehen können, träumen, ist ja wohl poetisch und religiös. Und

Sind‘s gleich nur Welten aus Ideen,

So baut man sie so herrlich als man will.

Der Verfasser

Ich Unglücklicher soll dich meiden«, rief Guido wehmütig. »Wozu die Klage!«, entgegnete Ini. »Mögen dich rüstige Adler zum Pol tragen, magst du dich in die Tiefen des Ozeans senken, mein Bild bleibt dir nahe. Frei durchfliegt der Gedanke des Liebenden die Ferne, und die Region der Phantasie ist eine wirkliche. Auch wäre daheim dein Ziel nicht zu umarmen. Das Anschauen der Welt, die Übung der Kraft in Taten müssen jene Bildung der Schönheit vollenden, deren Lohn meine Gegenliebe sein wird. Darum scheide männlich!«

Guido war ein Jüngling von etwa zwanzig Jahren. Seine Herkunft blieb ihm noch immer geheim. Die Sage machte ihn zum Findling, und als solchen wollten die Gesetze, dass die Landespflege ihn erziehen ließ. Früh hatte man ihn in das große Knabenhaus gebracht, das am Meeresstrand unweit Palermo angelegt war und wo die sinnigen Vorsteher, bis zum zwölften Jahre, für die Entwicklung des Körpers durch Laufen, Ringen, Schwimmen und für die Stärkung des Denkvermögens durch Gymnastik des Kalküls Sorge trugen. In vergangenen Jahrhunderten würde auch der tiefsinnigste Geometer nicht geahnt haben, was im Felde der Rechnung junge Knaben hier schon vermochten. Allein, es war überhaupt so weit damit gekommen (zudem die mechanischen und optischen Handwerke so leicht durch Maschinen, so einfach durch neue Entdeckungen, so allgemein bekannt durch Schulen), dass Hirten, welche die Sternkunde gleich ihren Altvätern wieder trieben, sich bei Tage Teleskope fertigten, zur Nacht den Himmel beobachteten und die Finsternisse der vielen neugewahrten Planeten und ihrer Trabanten ausmittelten.

Von da ward Guido dem treuen Gelino übergeben, dessen Villa nicht weit von dem großen Lustgarten, der den Ätna einschließt, lag. Dieser Mann hatte, ehe er sich nach dem Wohnplatz der Ruhe zurückgezogen, am Hofe zu Rom ein Amt bekleidet und umfasste die Kunst, zarte Jünglinge auf die Bahnen der Tugend zu leiten, mit Liebe.

Der Kaiser, gewohnt, wenn ihn nicht wichtigere Dinge abhielten, den lieblichen Februar auf Sizilien zu verleben, hatte den jungen Guido gesehen und – wie es schien – Behagen an dem Knaben gefunden und ihm Fürsorge zugesagt. Ehrender Antrieb für ihn.

Doch möchte es vielleicht nicht gelungen sein, die mit Guidos flammender Lebenskraft verbundenen wilden Neigungen zeitig zu entwaffnen, wenn nicht folgender Umstand hinzugetreten wäre.

Neben Gelino wohnte seit einiger Zeit die edle Athania, Witwe des afrikanischen Helden Medon. Sie hatte nach des Gatten Tode ihren Sitz auf dem lieblichen Eilande genommen und eine Pflegetochter mitgebracht, über deren Geburt auch viele Dunkelheit lag. Guido sah das Mädchen in seinem siebzehnten Jahre. Ini zählte kaum vierzehn, doch prangte ihre Schönheit in üppiger Fülle, ihr Verstand entzückte.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert hatte man die Erziehungskunde einer Arithmetik unterworfen, die schon lange genaue Anzeigen ergab und sich immer mehr erweiterte. Streben und Erfahrung hatten die Linie gefunden, bis an welche die Natur Freiheit zu reinen Ausbildungen der Formen bedingt, und wieder das Maß von Gegenwirkungen entdeckt, mit welchem ihr am glücklichsten zu begegnen ist. Da nun zugleich die Chemie der höheren Arzneikunst diejenigen Krankheiten nach und nach vertilgt hatte, welche sonst das Geschlecht entstellten, da die edlere Verfassung jene Eigensucht mit ihren leidenschaftlichen Ausgeburten Neid, Hass, niedrige Sinnlichkeit meistens entfernte, so konnte sie auch nicht mehr wie ehedem Antlitz und Haltung verunbilden. So musste von Geschlecht zu Geschlecht die menschliche Schönheit sich lieblicher entfalten, und jene harmonischen Gestalten, welche einst Bildner in Athen ersannen, erblickte die Wirklichkeit da lange schon lebend, wo die Kultur waltete. Ja, jene Statuen wurden bereits auf eine nie zuvor geahnte Weise übertroffen, denn eine ganz neue Ideenmasse hatten die Menschen in sich aufgenommen, welche der Schönheit einen neuen irdisch-göttlichen Ausdruck zulegte. Wie würden die Phidias und Raphael gestaunt haben, wäre ihnen vergönnt gewesen, aus dem Totenlande wiederzukehren und die Formen dieses Zeitalters zu betrachten.

Die Schädelkunde, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts entdeckt, sparsam im neunzehnten vervollkommnet, doch im zwanzigsten und einundzwanzigsten zur tiefen Wissenschaft erhoben, leistete auch zur allgemeinen Veredlung bedeutende Hilfe, wie wir in der Folge zeigen wollen.

Guido sah die junge Ini kaum, als er ahnte, von den Strahlen dieser Schönheit werde ein neuer Frühling in seinem Gemüte aufblühen. Süße Betäubung, schmachtende Unruhe stellten sich als Vorboten der Liebe ein, holde Träume umgaben ihn wachend.

Guido war im siebzehnten Jahre so stark und gewandt, dass er manches Raubtier mit unbewaffneten Händen würde überwunden haben. Er sprang in die See, wenn ein Orkan ihre Wogen erhob, und kämpfte dann lächelnd mit der empörten Flut. Er konnte im Laufen das fliehende Reh ereilen und den Gemsen des Hochgebirges nachklimmen. Dabei war er ein fleißiger Mathematiker, hatte eine Karte von dem Meeresgrunde zwischen Sizilien und Kalabrien gefertigt, die Beifall fand. Kriegerische Künste beschäftigten seine Einbildungskraft, und mit Chemie vertraut, gab er die Konstruktion einer dichten Gewitterwolke an, die ein künstlicher Wind über ein feindliches Heer treiben, wo sie in so viel Blitzen niederwärts sich entladen sollte, als das Heer Köpfe zähle. Anmaßend, wie es unerfahrener Jugend wohl eigen ist, hatte er, ohne seines Lehrers Wissen, den Entwurf nach Rom gesandt und dem Strategion zur Prüfung übergeben. Die Männer aber, welche diesen Rat bildeten, lachten allgemein, indem sie einwandten, die Gegner dürften sich ja nur sämtlich mit Ableitern versehen und der Wolke spotten. Doch setzten sie hinzu: Der Jüngling möge nicht ohne gute Anlage sein, und ihm gebühre einige Aufmunterung.

Manches andere Wissen dagegen war unserem Guido noch fremd. Besonders konnte er sich immer nicht an die Geschichte ketten, weil ihm gar zu winzig und unbedeutend schien, was die vergangenen Jahrhunderte vollbracht hatten.

Nachdem er lange in sich verschlossen gewesen war, eilte er an einem schönen Sommerabend zu Ini. Sie hatte den kleinen Marmorsaal in ihrem Hause zum Aufenthalt während der Tageshitze bestimmt. Hier strömte ein Springbrunnen geläutert Quellwasser, der andere gepressten Orangensaft, der dritte Zuckeressenz, aus mancherlei Wurzeln des Gartens gezogen. Einen niedlichen Goldbecher mit Sorbet, aus den Flüssigkeiten gemengt, in der Hand, stieg nun Ini auf das platte Marmordach, wo aus Vasen Blumen dufteten und ihr Webstuhl sich befand. Sie malte fertig, und bei der kunstvollen Einrichtung des Stuhles ahmte sie ihre Malereien in Seidenarbeit nach. Wo blieben die Gobelintapeten, lange zuvor berühmt, neben diesen Geweben!

Guido kam ihr nach auf die Zinne.

»Mädchen«, rief er, »seit ich dich sah, bin ich erkrankt und genesen, die Lüge wird mir Wahrheit, die Wahrheit Lüge; immer drängt es mich, dich zu sehen wie das Sehenswerteste, und ich fliehe dich wie das Furchtbarste. Ich bin in des Ätna Tiefe gestiegen, doch die Flammen deines Auges trag ich nicht. Deute mir das, hohe Schönheit!«

Das Mädchen zog dunkle Falten der Stirne, die aber ihr frohes Auge Lügen strafte. Mit verstelltem Unwillen entgegnete sie:

»Ich glaube, du willst mir gar mit Liebe nahen!«

Guido rief:

»Ich bin mir keines Willens bewusst. Dem Zuge deiner Schönheit folge ich unterwürfig.«

Ini sann einen Augenblick mit hochgeröteter Wange nach. Dann sagte sie lächelnd:

»Den Worten soll ich Liebe glauben? Beweise sie durch die Tat und ich will mich fragen, ob ich sie hören darf.«

Entzückt von dem holden Strahl einer aus weiten Fernen schimmernden Hoffnung flehte Guido mit Ungestüm, ihm die Tat zu nennen, wodurch er seine Liebe zu bewähren hätte.

»Tritt näher«, sagte Ini. »Nimm Platz dort auf den Sessel von Elfenbein, dass ich dein Haupt von der Seite erblicke.«

Guido gehorsamte still.

Ini zog ein anderes Seidenzeug auf ihren kunstreichen Webstuhl, und in wenigen Minuten hatte sie Guidos Abbild darin gewirkt.

»Hier«, rief sie, »des sichtbaren Guido Umriss, wie er zeugt von dem unsichtbaren, die Urkunde seines geheimen Lebens, der Tag seiner innen waltenden Nacht.«

Guido blickte hin. Die höchste Wahrheit hatte die Bildnerin getroffen.

»O webe mir dein Bild«, flehte er wehmütig. »Mit Entzücken will ich es von hinnen tragen.«

»Das steht weit hinaus«, erwiderte sie. Doch will ich nun ein zweites Gewebe fertigen.«

Sie ging wieder an die Arbeit, während der Jüngling sich mit trunkenen Blicken an der hohen Gestalt weidete und bisweilen ärgerlich auf sein Konterfei sah. Denn es wollte ihm nicht gefallen, obwohl er nicht wusste, warum.

Nach einer Viertelstunde hatte Ini geendet. Sie zeigte ihm ein neues Seitenbild, das Guido in den Zustand der höchsten Verwunderung brachte. Er sah seine Grundzüge wieder, aber in einer bezaubernd schönen Idealität. Höher strebte des Schädels Mitte empor, regelmäßig wölbte sich das Hinterhaupt, weit drang die reine Wellenlinie der Stirn hervor, eine unbeschreibliche Veredlung wohnte in dem ganzen Profil, liebliche Anmut um den Mund, in dem klarer, tiefer, strahlender gewordenen Auge redete der volle, Ehrfurcht gebietende Ausdruck jugendlicher Weisheit, der in früheren Zeiten nicht lebend anzutreffen war, den auch die Künstler, welche einst den Apollon vom Belvedere oder den Antinous fertigten, noch nicht dargestellt hatten. Indessen konnte ihn die Entwicklung der Menschheit erst spät hervorbringen.

Guido blickte bald verlegen auf das Kunstwerk, bald auf die hochsinnige Meisterin.

»Ich sehe mich hier in ein Gedicht verklärt«, hub er an. »Was willst du mir deuten?«

»Kein Gedicht«, entgegnete das Mädchen, »erreichbare Wahrheit. Du hast mir süßen Schmerz der Liebe geklagt. Gestalte dich nach diesem Bilde um; ich gebe dir zwei bis drei Jahre Zeit, hast du dann diese Schönheit dir anerzogen, soll meine Gegenliebe dein Lohn sein.«

»Wie soll ich das anfangen!«, rief der Befremdete. »Bin ich Herr über meine Gestalt?«

»Du bist es.«

»Bin ich ein Schöpfer?«

»Wenn dein Lieben wahr ist! Ich sage dir nichts mehr. Dem Geist deiner Liebe hast du das Geheimnis zu entwinden. Doch nicht allein sollst du umwandeln. Ich werde mir auch ein Ideal meiner Gestalt entwerfen.«

»Eitles Mühen! Wie könnte deine Phantasie einen schöneren Traum erschaffen als die Wirklichkeit!«

»Schmeichelei, oder, wenn es dir so scheint, Unvollkommenheit in deinem Urteil. Es wird sich stärken, dein Tadel erwachen, und das Streben, mich vor dem Tadel zu retten, mir wohltun. Der Augenblick, wo einem Mädchen zum ersten Male Liebe bekannt wird, gibt neue Aussichten in die Welt höherer Anmut. Nach einem Jahre sollst du mein Ideal sehen. Eher nicht. Bis dahin begnüge dich auch, an mich zu denken.«

»Wie, ich soll dich in dem langen Zeitraume nicht erblicken?«

»Die erste Prüfung! Auch eine notwendig ungestörte Frist!«

»Unbegreifliche! Und dennoch erwacht mir die Hoffnung, ich werde den hohen Sinn deiner Worte fassen lernen.«

»Frage den Geist der Liebe, sein Orakel tönt in deiner Brust. Und nun nichts weiter. Lebe wohl!«

Ehrerbietig entfernte sich Guido, irrte umher in den lieblichen Tälern, bis Nachtviolen die Orangenblüte überdufteten und der Vollmondschein durch die Ölbäume und Mandelsträuche des blumigen Hügels winkte. Wie auch der Sturm heiliger Empfindungen in ihm wogte, immer ward die Frage laut. Und der Liebe Geist antwortete ihm leise:

»So du der Seele Schönheit pflegst, wird sie sich in der Gestalt verkünden.«

Guido kniete nieder vor der Gottheit in seiner eigenen Brust und flehte innig um Lehre.

Wer so innig fleht, wird erhört. Aus dunklen Nachtgewölken enthüllte sich mit jedem Tage die Mysterie reiner, bis die Pfade ihm von tausend Morgensternen erhellt schienen.

Er machte sich mit den Schriften neuer gerühmter Weisen bekannt. Im einundzwanzigsten Jahrhundert gab es wenige, die es zu dem Namen bringen konnten, denn die Weisheit galt keine Seltenheit mehr. Auch sah man nur wenige Bücher, in der allgemeinen Sprache von Europa vor hundert Jahren eingeführt, als man hier endlich die Torheit beseitigte, ein und dasselbe Ding auf so verschiedene Arten zu nennen, und dem, der bedeutendes Wissen umfangen will, das halbe Leben im Studium der Mundarten abzufordern. Es gab dagegen unermessliche Büchersammlungen in den alten Sprachen, aber sie galten meistens Denkmäler vorzeitlicher Irrtümer. Die wenigen, welche in den Tagen höher gediehener Bildung noch den Namen Weise errangen, waren Männer, die mit rüstiger Kraft aus den Schätzen der Vergangenheit das Beste, das Allgemeingültige sonderten, was sich denn auf wenige Blätter bringen ließ, nun aber auch die Mitwelt desto leichter in Stand setzte, die Höhe des vorhandenen Wissens schnell zu erfliegen und mit starken Schritten weiter zu dringen.

Auch die Geschichte des Menschengeschlechts hatten tiefe Forscher so bearbeitet, dass die Erscheinungen sich immer deutlicher in ihrem Ursprung erklärten und daraus sowohl die Kräfte als der Zweck des Lebens deutlicher wurden.

Guido erbeutete nach und nach reiche Summen von Wissen. Eine schon durch die Mathematik gestärkte Denkkraft, eine durch die Liebe entzündete Phantasie nehmen leicht auf, bewahren dauernd und fühlen mit jedem Tage mehr, wie des Genius Fittig sich regt.

Bei diesem Geschäft, das er mit heiligem Eifer trieb, kamen Empfindungen über ihn, deren Hoheit und Würde er nie geträumt hatte. Stark fühlte er alles Große, edle Tat sprach ihn an, dass er lebhaft sich in den Zustand dessen denken musste, der sie verrichtet hatte; mit tief liebender Ehrfurcht füllte ihn die Religion, er schwärmte für alle Schönheit der Natur, umso mehr, als er Inis Verwandtschaft darin zu erkennen wähnte.

So floh denn das Jahr eilig dahin, und hatte sich Guido schon bei seinem Anfang durch die Wunder der Liebe verändert gefunden, so schien er jetzt gar nicht mehr das Wesen von ehedem zu sein. Trat er seit einem halben Jahre an den Spiegel, meinte er auch schon, hie und da hätten sich seine Formen umgewandelt. Doch war er mit sich selbst nicht einig, ob er hier an Wahrheit oder Täuschung glauben sollte.

Das Jahr war endlich um, und er eilte mit hochklopfendem Busen zu Ini. Wie gespannt ist das junge Herz, wenn es nach einer so langen Abwesenheit dem Gegenstand heiliger Liebe wieder nahen darf.

Ini saß eben im Garten und rührte die Zephirharmonika. Es war dies ein Instrument, mit vielen langen Harfensaiten bespannt, die hoch in die Luft reichten. Zu jedem Ton gehörten hundert gleich gestimmte Saiten, hintereinander an widerhallende Laden gefügt und vorne mit einer Blende versehen. Unten befand sich ein Tastenwerk, wodurch jedes Mal, nachdem man schwache oder starke Töne hervorrufen wollte, die Blende weniger oder mehr entfernt ward. Nun berührten die aufgefangenen Luftströme die Saiten und man vernahm jene reizende ätherische Schwingungen, welche früherhin schon an den sogenannten Äolsharfen bezauberten, nur dass damals noch niemand Herr der Melodien zu werden verstand.

Guido trat in das Gartentor, leicht aus Porphyr gearbeitet, und nahm seinen Weg durch einen von hohen blühenden Rosensträuchen beschatteten Gang, an dessen Ende die Zephirharmonika auf einem frei emporragenden, nur mit niedrigen Lilien und Anemonen bepflanzten Hügel stand. Die Töne wehten ihm her durch die balsamhauchende Abendluft, ehe er noch das Instrument sah. Er wähnte, sie stiegen von glücklicheren Sternen nieder.

Endlich erblickte er Ini. Das Piedestal des Instruments, etwa zwanzig Schuh hoch, war aus hell durchsichtigen Glassäulen erbaut. Ein Maschinenwerk hob auf den Sitz. Dieser, wie auch die Laden und Blenden, waren mit goldfarbigem dünnem Zeuge bedeckt und wolkenartig gestaltet. Über sie weg in gefälliger Rundung wölbten sich diese Zeuge. Die Saiten gewahrte das Auge in einiger Entfernung nicht, und so schien es, Ini schwebe über dem Hügel auf einem Wolkenthron.

Eine Umgebung der Art müsste jede Schönheit erhöhen, um wie mehr, wenn erquickende Blumendüfte und zaubervolle Harmonien bestachen, um wie mehr, wenn die wirklich hohe Schönheit mit dem Blick der Liebe angestaunt ward.

Guido erschrak freudig, da er um die letzte Krümmung des Rosenganges trat und nun Ini ersah. Nieder musste er anbetend sinken. Ihre Gestalt lag in so hoher Vollkommenheit in seiner Einbildung verwahrt, aber das erste Anschauen jetzt belehrte ihn von neuer Trefflichkeit.

Sie wandte bald das Auge nach ihm hin. Nicht konnte man diese Bewegung eben zufällig nennen, wohl hatte sie Tag und Stunde gemerkt, da das Jahr umgelaufen wäre; sie hoffte jetzt den Jüngling erscheinen zu sehen, und wenn sie ihn gerade so empfing, sind wir berechtigt, den Grund in ihrer Weiblichkeit aufzusuchen.

Sie errötete – da hätten Abendsonne und Rosen sich beschämt abwenden mögen. Sie beendete ihr Spiel, da konnte der Nachtigallenchor sich freuen, weil er nun gehört zu werden hoffte.

Sie stieg herab, winkte freundlich dem Jüngling aufzustehen. Lächelnd und gesammelter nahm sie seine Hand und führte ihn nach dem Zimmer im Wohnhause, das mit ihren malerischen Geweben umhängt war. Hier befand sich jenes Ideal von Guidos künftiger Schönheit, das sie gleich herbeilangte.

»Du wecktest schöne Kräfte in dir«, hob sie an. »Ihr Walten spricht in deinem Auge, ein reiner Sinn erzog dir diese Reinheit im Antlitz, edle Gefühle, hohe Einbildung, angenehme Affekten trugen den Ausdruck dieser Harmonie aus Linien, Farben, Zügen zusammen. Eile emsig weiter auf der hold betretenen Bahn, und das schöne Ziel wird dir nicht entfliehen.«

Guido empfand selige Wonne. Als sich seine Gefühle erst in Worte zu kleiden vermochten, sagte er Ini, wie auch ihre Schönheit, ob er sie schon auf den Gipfeln der Vollendung geträumt hätte, unendlich erhöht sei. Sie ward verlegen, lächelte und holte eine zweite Malerei, welche auch ihre Gestalt in einem Ideale bildete. Guido wollte die neue Versündigung gegen ihre dermaligen Reize schelten, doch Staunen und Bewunderung schlossen seinen Mund.

Von der Zeit an sahen sich die Liebenden öfter. Viel inniger noch wurden ihre gegenseitigen Beziehungen und noch mehr Verständigkeit hineingelegt. Die Rückwirkung war für jeden Teil segnend.

Gelino, der sorgsame Lehrfreund, hatte schon im Laufe jenes Jahres manche Veränderungen bemerkt, welche Guido in seinem Charakter zeigte. Der Übergang war zu plötzlich gewesen. Die Fortschritte im Guten hatten zu schnell geeilt, als dass der lebenserfahrene Greis nicht richtig auf den Grund davon hätte schließen sollen. Gleichwohl konnte er nichts weiter erspähen, da Guido in diesem Zeitraume fast seine Wohnung nicht verließ.

Auch Athania, die edle Erzieherin, war zu scharfsichtig, um nicht Ini bald aus ihren Umgestaltungen zu erraten, wenn ihr auch der Jüngling ihrer Liebe noch ein Geheimnis blieb.

Doch da die Liebenden sich nachher öfter zusammenstahlen, konnten sie der forschenden Beobachtung nicht entgehen. Beide Alten waren schnell mit ihrem Glauben aufs Reine, und bei einer Zusammenkunft entstand folgendes Gespräch.

Gelino:

»Werthe Athania, mein Zögling scheint Ini zu lieben.«

Athania:

»Eben wollte ich dir meine Bemerkungen über diesen Gegenstand vortragen.«

»Ich gerate in keine kleine Verlegenheit. Wohl hat diese Liebe, ohne Zweifel die erste und ebenso gewiss auf eine würdige Art erwidert, Veredlung im Gefolge; dennoch muss ich darauf sinnen, wie sie am bequemsten zu hindern sei.«

»Harte Strenge gegen die jungen Seelen.«

»Aber notwendig. Der Kaiser nimmt sich meines Guido, den er hier kennen lernte, an, hat mir bei seiner letzten Gegenwart vertraut, wie er ihn zu hohen Staatsämtern berufen wolle.«

»Und Ini ward mir von einer Afrikanerin übergeben, die ich nur verschleiert sah, die aber auf einen hohen Stand schließen ließ und bis dahin die Tochter in einem Findlinghause hatte erziehen lassen. Dass sie sich Inis Ehe zu bestimmen vorbehalten bat, lässt sich umso eher erwarten, als ich bald mit dem Mädchen nach Afrika beschieden bin. Gleichwohl dürften wir mit all unserer Sorge nicht so viel an den Pflegebefohlenen erziehen wie die Liebe.«

»Darin stimme ich vollkommen ein.«

»Gestatten wir den jungen Leuten sich zu lieben, den Frühling ihrer Jahre entzückt zu genießen. Doch werde ihnen auch gleich verkündet, wie Besitz nimmer das Ziel dieser Liebe sein könne, wie sie sich an den Freuden des Augenblicks und an wechselseitiger Erziehung zu genügen hat.«

Gelino wandte noch manches ein, gab aber endlich nach, wobei denn noch beschlossen ward, die jungen Personen sollten sich immer in einiger Entfernung bewacht finden.

Athania sprach mit Ini, welche errötete.

Bald sammelte sich aber das Mädchen und entgegnete, wie sie sich eine solche Ankündigung gar wohl gefallen lassen könne, da zwischen Guido und ihr eigentlich ja nur das bildnerische Problem gelöst werden sollte, die höchstmögliche Schönheit zu erringen.

Athania war nicht wenig befremdet, als ihr dies näher erklärt wurde, hoffte, dass dem feinen Sinn, der so etwas zu erfinden vermöge, auch die Selbstherrschaft nicht abgehen werde, wenn die Trennung geboten sei.

Gelino fand höhere Bestürzung an dem Jüngling, da sich dieser so unerwartet entdeckt sah. Doch fasste er sich auch und erklärte: Könne er Ini nimmer besitzen, solle doch das Geschäft, sich ihrer würdig zu machen, sein Glück heißen. Dies lobte sein Führer mit Wärme.

Die Liebenden eilten einander mitzuteilen, was jeder von ihnen eben gehört hatte. Guido war in trüben Kummer versenkt. Ini zeigte eben nicht ihren gewohnten heiteren Mut, doch sagte sie mit Festigkeit:

»Ich verhieß dir, wenn du mein Ideal erreicht haben würdest, dir mit Gegenliebe zu lohnen. Bis dahin erwarte nichts, dann alles, was das Schicksal auch einreden mag.«

Bald darauf kam ein Eilbote durch die Luft aus Afrika geflogen und meldete, wie Inis Mutter ihre Tochter zu sehen begehre. Er brachte zugleich ein bequemes Fahrzeug mit, das die Reisenden nach jener Küste tragen sollte. Es war dies ein Häuschen, von dünnem Schilfrohr geflochten und mit Fenstern aus einem ganz durchsichtig gemachten leichten Horne versehen. Zwei Kabinette, eine Kammer für die Dienerschaft und eine Küche mit dem nötigen kleinen Magazin von Speisen und Getränken waren im Innern abgeteilt. Kostbare Teppiche schmückten mit anderen Gerätschaften die Kabinette. Das Dach war platt, mit einem Geländer und Sitzen umgeben, sich dort bei angenehmer Witterung aufzuhalten. An dies Dach waren die seidenen Stränge befestigt, welche von der oben schwebenden Azotkugel niederhingen. Man wusste jetzt das Azot viel leichter und einfacher zu bereiten als im Anfang der Luftschifferei. Auch hatten lange schon die Versuche, Adler zu zähmen und an die Fahrzeuge zu spannen, Erfolg gekrönt. Man hielt auch viele Institute zur Zucht und Einlehrung dieser Tiere. Postämter befanden sich in allen Richtungen von Grad zu Grad, und wenn Reisende im Abstand einer Meile, bei Tag mit einer lang flatternden Fahne, bei Nacht mit einem Raketenschein, sich meldeten, trafen sie alles bereit.

Das Fahrzeug, worin die Schöne nach Afrika eilen sollte, war mit zwanzig rüstigen Tieren bespannt. Guido bat flehend um die Erlaubnis, sie einen Grad begleiten zu dürfen. Athania und Gelino willigten ein. Er mietete also eine kleine offene Gondel, wie sie zu Briefposten im Gebrauch war, die nur an einem kleinen Ball hing und von zwei Adlern fortgeschafft werden konnte. Diese ward an das größere Fahrzeug befestigt und die beiden Adler einstweilen vorne mitgebraucht.

Man stieg an einem herrlichen Morgen ein und ließ das Fahrzeug sich hoch erheben. Welch herrlich erquickende Empfindung, im reineren Äther oben, welch entzückendes Schauspiel, die Sonne, die dem Tale erst im Purpurhauche am Ost sich verkündet hatte, nun schnell am tiefen Erdrund zu gewahren, da der Flug ihr zuvoreilte. Die Reisenden sahen die klare Sonnenscheibe des unbewölkten Himmels, doch unter ihnen schwand noch alles in Dunkel, weil Siziliens hohe Fluren noch nicht erhellt wurden. Nur der Ätna, welcher eben Flammen auswarf, entdeckte sich ihnen in feurigen Verschlingungen. Bald aber trafen Föbos Strahlen die Höhen des Eilandes, und kurze Zeit darnach lag es in seiner ganzen Gestalt erkennbar unter ihnen, denn sie schwebten hoch genug, Sizilien, vom silberfarbenen Meere umgürtet, zu übersehen. Palermo, Messina und Syrakus waren kaum als Punkte bemerklich, die Orangen- und Pinienhaine zogen sich in blauen Streifen an den Gebirgen hin, die Täler waren in ein heiteres Gelb verschmolzen. Der Liebenden Busen wallte hoch auf in dem frohen Anschauen, und nur die nahe Trennung störte ihre erhabenen Gespräche über den erhabenen Gegenstand.

»Fürchte nichts«, sagte Ini. »Ich komme gewiss nach Sizilien zurück. Es wird meine erste Bitte an die Mutter sein, meine Erziehung hier zu vollenden. Ich schreibe dir, was sie beschließt, und du kommst mir dann wieder entgegen.«

Die Reise ging schnell, da die Tiere munter die Flügel regten und man sich in einer stillen Luftregion befand, wo sie keinem Widerstand entgegenzukämpfen hatten. Nach einigen Stunden lag die Bläue des Meeres unter ihnen und eine grüne Linie an seinem mittäglichen Rande bezeichnete Afrika.

»Der Grad ist bereits überschritten«, sagte Inis Erzieherin. »Es ist Zeit, dass du an die Rückkehr denkst, Guido.«

Diesem waren die Stunden wie Minuten entwichen, er flehte um eine Zugabe von Frist.

»Man muss den Vertrag halten«, antwortete jene; auch merkte der Knabe, den Guido von der Luftpost zu Palermo mitgenommen hatte, an, die Adler dürften ermüden.

Guido stieg in den kleinen Kahn, vor welchen der Knabe die zwei Adler gelegt hatte, die nun rückwärts gelenkt wurden. Tausend Lebewohl rief er Ini nach, die ihren tränenden Blick zu ihm wandte. Bald sah sie von der kleinen Kugel nur einen hellen Punkt, den sie so lange als möglich mit dem Sehrohre verfolgte.

Guido war sehr traurig als er wieder in seiner Wohnung anlangte. Nur die Hoffnung, bald einer Nachricht von Ini entgegensehen zu dürfen, richtete sein Gemüt auf.