Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung -  - E-Book

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung E-Book

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Beschreibung

Der Umgang mit Verhaltensstörungen bildet einen der Brennpunkte der Schulentwicklung in den nächsten Jahren und eine Nagelprobe der Inklusion. Verhaltensstörungen sind nicht nur verbreitet und vielfältig; sie stellen die Lehrkräfte auch vor erhebliche Probleme. Das Buch zeichnet zunächst ein exaktes Bild der gegenwärtigen schulischen Situation in diesem Förderschwerpunkt und arbeitet die wichtigsten Entwicklungs- und Leitlinien zusammen mit den sich heute abzeichnenden Zukunftsperspektiven heraus. Anschließend geht es um wirksame Maßnahmen im Hinblick auf spezifische Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben und die Organisationsformen inklusiver Förderung. Der Bogen wird dabei von der schulischen Prävention bis zur intensiven Intervention gespannt.

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Inklusion in Schule und Gesellschaft

 

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 5

Roland Stein, Thomas Müller (Hrsg.)

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032962-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032963-8

epub:   ISBN 978-3-17-032964-5

mobi:   ISBN 978-3-17-032965-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Vorwort der Reihenherausgeber

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

 

Die Buchreihe umfasst die folgenden Einzelbände:

 

Band 1:

Inklusion in der Primarstufe

Band 2:

Inklusion im Sekundarbereich

Band 3:

Inklusion im Beruf

Band 4:

Inklusion im Gemeinwesen

Band 5:

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band 6:

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band 7:

Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band 8:

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band 9:

Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12:

Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

 

Die Herausgeber

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort der Reihenherausgeber

Danksagung

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung – zur Einleitung

Roland Stein/Thomas Müller

Verhaltensstörungen und emotional-soziale Entwicklung: zum Gegenstand

Roland Stein/Thomas Müller

1 Ausgangslage und Entstehung einer Disziplin

2 Begrifflichkeit und Erscheinungsweisen

3 Kriterien und Normen

4 Einteilung, Klassifikation und Epidemiologie

5 Erkennen von emotionalen und sozialen Problematiken

6 Anthropologische Aspekte

7 Fazit und Ausblick: Verhaltensstörungen im Kontext schulischer Inklusion

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Zur geschichtlichen Entwicklung der schulischen Erziehungshilfe

Marc Willmann

1 Grundprobleme eines historiographischen Zugangs

2 Ideengeschichte des pädagogischen Umgangs mit ›schwierigen‹ Kindern

3 Geschichte der schulischen Institutionen

4 Sonderpädagogische Professionalisierungsgeschichte

5 Historische Entwicklungslinien in Bildungspolitik und Behindertengesetzgebung

6 Implikationen für die schulische Inklusion bei emotional-sozialen Schwierigkeiten und Verhaltensstörungen

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Zwischen Separation und Inklusion: zum Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Roland Stein/Stephan Ellinger

1 Einleitung

2 Methodisches Vorgehen

3 Ergebnisse zum Forschungsstand

4 Diskussion

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Organisationsformen inklusiver Förderung im Bereich emotional-sozialer Entwicklung

Thomas Hennemann/Heinrich Ricking/Christian Huber

1 Problemaufriss: Inklusion und sonderpädagogische Förderung

2 Schulische Erziehungshilfe: Inklusion, Expansion und Diversifikation

3 Bildungspolitisch-institutionelle Rahmenbedingungen für den Aufbau inklusiver Strukturen

4 Überblick über bestehende Organisationsformen

5 Zukunftsweisende institutionelle Formate

6 Ausblick

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Beziehung statt Erziehung? Psychoanalytische Perspektiven auf pädagogische Herausforderungen in der Praxis mit emotional-sozial belasteten Heranwachsenden

Birgit Herz/David Zimmermann

1 Beziehung und Erziehung bei Kindern und Jugendlichen in Risikolagen

2 Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

3 Gestörte Beziehungs- und Erziehungsprozesse als Re-Inszenierungen biografischer Erfahrungen

4 Folgen für die Erziehungsarbeit in variablen Kontexten

Kommentierte Literaturhinweise

Literatur

Evidenzbasierte Praxis im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung

Clemens Hillenbrand

1 Einführung

2 Das Grundproblem: zur Kausalität pädagogischen Handelns

3 Das Programm evidenzbasierter Praxis

4 Evidenzbasierung als wissenschaftlicher Auftrag

5 Verfahren evidenzbasierter Praxis zur Unterstützung emotionaler und sozialer Entwicklung

6 Umsetzung evidenzbasierter Praxis

7 Ergebnis

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Inklusion und Verhaltensstörungen: zu Grundsatzfragen

Pierre-Carl Link

1 Inklusion: eines der Bernfeld’schen ›großen Worte‹

2 Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

3 Pädagogik der Inklusion und ihre Ver-Ortung zwischen ›Liebe‹ und ›Leistung‹

4 Fazit: Problemhintergrund eines normativen Verständnisses radikaler Inklusionsbefürworter

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Erziehung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Thomas Müller/Roland Stein

1 Einführung

2 Zu einem Verständnis von Erziehung

3 Erziehung als Prozess und Dialog

4 Besondere Aspekte und Problemstellungen

5 Ausblick

Kommentierte Literaturempfehlungen

Literatur

Schulische Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung – quo vadis?

Thomas Müller/Roland Stein

Literatur

Autorenverzeichnis

 

Danksagung

 

Dass dieses Buch entstehen konnte, ist zu allererst der Initiative und dem Vertrauen der Reihenherausgeber der Universitäten München und Würzburg – Erhard Fischer, Ulrich Heimlich, Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann – zu verdanken. Dass es dabei möglich war, für den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ein derart vielschichtiges Spektrum an Beiträgen, Perspektiven und Positionen zu den Herausforderungen um Inklusion mit diesem spezifischen Fokus zusammenzuführen, ist der Fachkompetenz, dem großen Engagement sowie der Diskursbereitschaft aller durch die Buchherausgeber eingeladenen Autoren1 geschuldet.

Nachdem die erste Auflage 2015 eine gute Akzeptanz fand, wurde eine zweite Auflage möglich. Hierzu wurden die Beiträge des Buches von den Autoren überarbeitet und aktualisiert. Des Weiteren wurde ein zusätzlicher Beitrag aufgenommen, der sich Grundsatzfragen von Inklusion, bei spezifischem Blick auf den hier thematisierten Förderschwerpunkt und Themenbereich, widmet.

 

Würzburg, im Juli 2017

Roland Stein und Thomas Müller

1     Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in der Regel die männliche Schreibweise verwendet. Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass sowohl die männliche als auch die weibliche Schreibweise für die entsprechenden Beiträge gemeint ist.

 

 

 

 

 

 

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung – zur Einleitung

Roland Stein/Thomas Müller

Verhaltensstörungen und der Umgang mit ihnen stellen mit Sicherheit einen der Brennpunkte und eine der größten Herausforderungen im Hinblick auf die Schulentwicklung der kommenden Jahre dar. Dies gilt umso mehr angesichts der Zielsetzung, die Entwicklung hin zu einem stärker inklusiven Erziehungs- und Bildungssystem voranzutreiben, wie es die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorgibt.

Die Entwicklung hin zu einer inklusiven Gesellschaft – und in diesem Kontext auch zu einem inklusiven Schulsystem – wird im Sinne dieser Konvention als Auftrag verstanden. Dabei gilt es, die Konvention nicht auf einzelne ihrer Artikel zu beschränken, sondern in ihrem Gesamtbild zu sehen. Ziel ist die uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Während sich Bestrebungen um Integration darauf ausrichten, Menschen in bestehende Systeme einzupassen, besteht das Ziel nach Maßgabe der UN-Konvention nun darin, die Systeme so weiterzuentwickeln, dass sie allen Menschen gerecht werden und alle Menschen von vorne herein aufnehmen, auch Menschen mit Behinderungen, deren Wohlergehen Thema dieser Konvention ist. Dabei sind besondere Maßnahmen zur Beschleunigung oder Herbeiführung von Gleichberechtigung explizit mitgedacht, und das Wohl des Kindes soll im Hinblick auf die Abwägung von Maßnahmen Vorrang haben. Es ist davon auszugehen, dass hier ein fernes gesellschaftliches Ziel beschrieben und ein langfristiger Prozess in Gang gesetzt wird, der große Umsicht erforderlich macht. In einer ersten Phase gestaltete sich die Diskussion um die UN-Konvention in Deutschland sehr polarisiert, emotionalisiert und eng auf die institutionelle Frage der Zukunft von Sonder- bzw. Fördereinrichtungen beschränkt. Es wäre wünschenswert, diese Diskussion sachlicher und differenzierter weiterzuführen, um den individuellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen bzw. besonderem Förderbedarf wirklich und effektiv gerecht zu werden. Hierzu möchte das vorliegende Buch einen Beitrag leisten, indem der Blick zugleich auf einen der zentralen Brennpunkte, möglicherweise eine ›Nagelprobe‹ des Prozesses hin zu stärker inklusiven schulischen Strukturen gelenkt wird.

Denn aus der epidemiologischen Forschung ergibt sich deutlich, dass psychische Problematiken wie Ängstlichkeit und Angststörungen, Dissozialität und Aggressivität, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen sowie auch Depressivität bei Kindern und Jugendlichen außerordentlich verbreitet sind. Aber auch weitere Phänomene wie Schulabsentismus, verschiedene Formen von Drogenmissbrauch und Abhängigkeit, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen oder auch Bindungsproblematiken spielen eine bedeutende Rolle. Sie stellen Lehrkräfte verschiedenster Schularten vor erhebliche Probleme und sind schon immer ein Thema aller Schulformen und Schulen, auch wenn nicht alle Schulformen bisher ein ausreichendes Bewusstsein hierfür entwickelt haben und sich in vertiefter Form um einen pädagogischen Umgang damit bemühen. Das Spektrum dieser Problemlagen will das vorliegende Buch differenziert und aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven beleuchten sowie Möglichkeiten des Umgangs mit solchen Herausforderungen, aber auch Schwierigkeiten und Begrenzungen pädagogischen Handelns aufzeigen.

Das Buch folgt dabei einem interaktionistischen Verständnis von Verhaltensstörungen – diese werden als Störungen im Person-Umwelt-Bezug betrachtet. Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen oder auch ein emotional-sozialer Förderbedarf sind aus dieser Perspektive Signale für dahinterstehende Störungen – Störungen in der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt. Damit rücken neben Schülern mit auffälligen Persönlichkeitsanteilen auch Aspekte der Situation in den Vordergrund; des Weiteren geraten komplexere systemische Zusammenhänge in den Blick, unter anderem die Folgenden:

•  Die Forschung zu Schul- und Unterrichtsklima weist auf bedeutsame Zusammenhänge zu psychischen Störungen hin;

•  Untersuchungen zum Klassenmanagement verweisen auf bedeutsame Einflüsse der Gestaltung des Unterrichts auf das Verhalten der Schüler;

•  in vielen Elternhäusern finden sich Bedingungen, die Auffälligkeiten bei Kindern hervorbringen oder befördern.

Verschiedenste belastende, aber auch provozierende Bedingungen und Kontexte müssen daher in den Blick genommen werden. Erst aus den Interaktionen von Menschen mit ihren Lebensbedingungen innerhalb verschiedener Situationen und Systeme entwickeln sich Problematiken, die als störend empfunden und erfahren werden. Ein solches interaktionistisches Verständnis des Problembereiches beinhaltet auch viele Möglichkeiten einer präventiven Sicht und Arbeit im Hinblick auf Störungen, so dass diese gar nicht erst entstehen oder sich möglichst wenig verfestigen.

Ziel des Buches ist es, die gegenwärtige schulische Situation im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung in Deutschland aus ihrer historischen Entwicklung heraus zu verstehen, sie im Hinblick auf wesentliche Leitlinien darzustellen sowie dann aus wissenschaftlicher Perspektive sinnvolle und mögliche Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung zu umreißen. Im (scheinbaren) Spannungsfeld zwischen inklusiver und besonderer, separierender Beschulung sollen zentrale Aspekte des aktuellen Forschungsstandes betrachtet werden. Dabei geht es nicht allein um Fragen der Leistungsfortschritte, sondern ebenso um Leistungsmotivation, emotionale und soziale Entwicklung und Veränderungen des Selbstkonzepts. Aber auch die Einbindung der durch den Förderschwerpunkt beschriebenen Schüler in die Gruppe oder Klassengemeinschaft, die resultierende Gruppenatmosphäre und die Wirkung auf andere Schüler – ein Aspekt, der von vielen Eltern sehr kritisch hinterfragt wird – spielen eine wichtige Rolle.

Eine solche nüchterne Bestandsaufnahme der aktuellen schulischen Situation im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung ist unverzichtbare Grundlage für die Frage, welche Maßnahmen aus empirischer Perspektive wirksam sind, wobei ein Bogen von schulischer Prävention (für alle Schulen) bis zur intensiven Intervention (in besonderen Settings) ebenso gespannt werden muss, wie die Frage der Wirkung von Konzepten und Maßnahmen im Hinblick auf spezifische Problematiken zu stellen – eines enormen und eine Diversität der Handlungsformen erfordernden Spektrums der Problemstellungen: Ängstlichkeit und Ängste, Aggressivität und Gewalt, ADHS, Depressivität, selbstverletzendes Verhalten, Abhängigkeit, Schulunlust und andere Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens.

Neben dem Interesse an Evidenzbasierung, an dem, was ›wirkt‹, stellt sich aber gerade in diesem Förderschwerpunkt die zentrale Frage nach der Bedeutung von Erziehung – auch im Hinblick auf maßgebliche Aspekte, die teilweise schwer oder kaum messbar sein dürften und dennoch einen großen Bedeutungs- und Sinngehalt haben. Dabei gilt es, besonders die Perspektive der Psychoanalyse nicht nur in ihrer historischen Relevanz für den Förderschwerpunkt, sondern gerade auch in ihrer Aktualität aufzugreifen. Leitlinien dessen, was hier unter Erziehung verstanden werden kann, spielen eine zentrale Rolle für Allgemeine Schulen, in denen allzu oft die Fragen auf ein stark kognitiv orientiertes Bildungsverständnis und auf Lernfortschritte hin fokussiert sind – und sie sind von intensiver Bedeutung für spezielle Formen schulischer Erziehungshilfe. Aus den hier angerissenen Aspekten ergibt sich der Aufbau dieses Buches, der im Folgenden erläutert wird.

Das Bemühen um die inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf zieht unweigerlich die Frage nach sich, um wen es sich dabei genau handelt und ob mit der Bezeichnung ›emotional-sozialer Förderbedarf‹ auch alle Kinder und Jugendlichen gemeint sind, die zum Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen gezählt werden können. Roland Stein und Thomas Müller entwerfen daher ein begriffliches Konzept, das im Sinne von Inklusion nicht nur interventive, sondern gerade auch präventive Perspektiven eröffnet. Emotional-sozialer Förderbedarf erweist sich dabei als ein Aspekt im Rahmen eines interaktionistischen Verständnisses, welches von einer spezifischen Sicht auf Verhaltensstörungen ausgeht und dabei mögliche Beiträge der Person, der Situationen, der jeweiligen Interaktion und der beurteilenden und diagnostizierenden Beobachter zum Entstehen und zur weiteren Entwicklung von Störungen beleuchtet. Mit Blick auf die Ausgangslage und Entstehung der Disziplin ›Pädagogik bei Verhaltensstörungen‹ erscheint es notwendig, Begrifflichkeiten und Erscheinungsweisen in den Blick zu nehmen und ausgehend von diesen nach den zugrundeliegenden Kriterien und Normen zu fragen. Im Anschluss an Möglichkeiten der Einteilung, Klassifikation und Epidemiologie wird die Frage nach einer inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf schließlich unter anthropologischer Perspektive in ihrer Komplexität diskutiert.

Die Erkenntnis, von woher und auf welchen Entwicklungswegen die institutionelle Organisation und die pädagogische Arbeit für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten ihre aktuelle Form gewonnen hat, ist unverzichtbar für den Blick auf das Gegenwärtige sowie das mögliche (zu befürchtende, zu erwartende, wünschenswerte) Zukünftige. Daher zeichnet der Beitrag von Marc Willmann, an das Verständnis von Verhaltensstörungen und sozial-emotionalem Förderbedarf anschließend und dieses vertiefend, die Geschichte der schulischen Erziehungshilfe systematisch anhand von vier Entwicklungslinien nach. Betrachtet wird die Ideengeschichte des pädagogischen Umgangs mit ›schwierigen‹ Kindern und Jugendlichen, die Geschichte der schulischen Institutionen und organisatorischen Versuche, die Historiographie der sonderpädagogischen Profession und Disziplin sowie Tendenzen in der Bildungspolitik und Behindertengesetzgebung. Daraus werden Schlussfolgerungen zu den Implikationen für die aktuelle Inklusionsdebatte gezogen. Die Diskussion gegenwärtiger und in die Zukunft zielender Fragen hinsichtlich Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ließe sich ohne historische Auseinandersetzung nur verkürzt führen und ist daher von besonderer Bedeutung.

Der aktuelle Forschungsstand zu Effekten unterschiedlicher institutioneller Beschulungsformen von Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf im emotional-sozialen Bereich wird von Roland Stein und Stephan Ellinger systematisch zusammengetragen. Als ›Folie‹ dieser Analyse dient eine Orientierung an zentralen Aspekten entsprechender Förderung, die neben Lernfortschritten auch den einschlägigen Förderbedarf berücksichtigen muss. Des Weiteren werden die Wirkungen aus der sozialen Lerngruppe heraus sowie in diese hinein mit einbezogen. Auf diese Aspekte hin wird der internationale wie nationale Forschungsstand untersucht. Die Bedeutung einer solchen differenzierten Sicht wird angesichts dessen offenkundig, indem eine komplexe Befundlage zutage tritt, aus der sich kein grundsätzlicher Vorteil einer exklusiven, separierenden oder einer inklusiven Unterrichtung ergibt. Unverzichtbar sind offenkundig erstens ein differenzierter Blick auf das, was (kurz-, mittel- und langfristig) angezielt werden sollte, zweitens oft auch ein Abwägen derjenigen Ziele, die man in den Vordergrund stellen will – und drittens die Aufrechterhaltung eines breiten Angebotsspektrums gerade im Hinblick auf Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens und die resultierenden, sehr unterschiedlichen individuellen Bedarfe. Zugleich wird deutlich, dass weitere intensive Forschungsbemühungen dringend vonnöten sind.

Im Hinblick auf die herausgearbeitete Notwendigkeit eines breiten Spektrums der Angebote ist es logisch und bedeutsam, dass sich der Beitrag von Thomas Hennemann, Heinrich Ricking und Christian Huber den Organisationsformen inklusiver Förderung im Bereich emotional-soziale Entwicklung widmet und zunächst die Ausgangslage im Förderschwerpunkt beschreibt. Dabei werden die besonderen Herausforderungen im Rahmen der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten näher beleuchtet. So zeigt sich in den bundesländerübergreifenden Statistiken der letzten Jahre für diesen Förderschwerpunkt, trotz großer Anstrengungen integrativer Beschulungsbemühungen, wie in kaum einem anderen Förderschwerpunkt eine drastische Zunahme der Förderquote. Auch internationale Erfahrungen zur inklusiven Beschulung belegen unisono die besonderen pädagogischen Herausforderungen im Rahmen einer angemessenen und förderlichen Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung. Nach einer näheren Fokussierung der Besonderheiten in diesem Förderschwerpunkt stellt der Beitrag wichtige bildungspolitisch-institutionelle Rahmenbedingungen für den Aufbau inklusiver Strukturen vor. Auf dieser Grundlage erfolgt zunächst eine Bestandsaufnahme der bestehenden Organisationsformen schulischer Erziehungshilfe. Im Anschluss werden exemplarisch zukunftsweisende nationale wie internationale institutionelle Organisationsformate vorgestellt – bis hin zu Modellen der dezentralen Erziehungshilfe, die ohne eine bestehende Förderschule auskommen.

Von den Organisationsformen, ihren Möglichkeiten und Entwicklungen führt ein wichtiger Schritt in die erzieherische Arbeit innerhalb der Institutionen. Die Psychoanalytische Pädagogik ist ein gerade für den Kontext Verhaltensstörungen sehr bedeutsamer Theorierahmen, der von Birgit Herz und David Zimmermann gewählt und erörtert wird, um die biographischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt der Erziehungs- und Bildungsarbeit zu rücken. Armutslagen, dysfunktionale familiäre Sozialisation, Gewalterfahrungen oder Trennungserleben zeigen sich auf der Verhaltensebene der hiervon betroffenen Heranwachsenden. Die resultierenden problematischen Verhaltens- und Erlebensformen der unter solchen Belastungen leidenden Kinder und Jugendlichen führen oft zu Krisen und Konflikten im Schulalltag und belasten Lehrkräfte. Der psychodynamisch-interaktionelle Zugang zur Beziehungsgestaltung mit dieser Zielgruppe ist von zentraler Bedeutung, um den Reinszenierungen solcher biographischer Verletzungen in institutionellen Systemen professionell zu begegnen. Pädagogische Handlungskompetenz zeichnet sich demnach durch eine hermeneutische Diagnostik und die Selbstreflexion in schwierigen Phasen der Erziehungsprozesse aus. Der Beitrag versteht sich als Erweiterung der fachlichen Kompetenzen von Lehrkräften und als Plädoyer für das Primat der Beziehungsarbeit. Damit wird die aktuelle Inklusionsdiskussion um eine wesentliche Dimension erweitert, die nicht nur, wenn auch besonders, für den Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung von großer Relevanz ist.

Auf einen anderen, ebenso bedeutsamen Theorierahmen greift Clemens Hillenbrand zurück, der sich in seinem Beitrag evidenzbasierten Verfahren im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung widmet. Evidenzbasierte Praxis meint die Ausrichtung des Handelns an wissenschaftlich fundierten sowie überprüften Maßnahmen bezogen auf die spezifische, professionelle Situation. Angesichts der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die reale Verbesserungen für Personen mit Benachteiligungen und Behinderungen verlangt, stellt sich die Frage des wirksamen Handelns und der effektiven sonderpädagogischen Unterstützung dringlicher denn je. ›Evidenzbasierung‹, aus der medizinischen Forschung übernommen, drückt generell die Anforderung an Vorgehensweisen, Methoden, Verfahren und Programme aus, bestimmten wissenschaftlichen Überprüfungen Stand zu halten und dabei zu positiven Wirkungen zu führen. Evidenzbasierung als Anforderung wird in der deutschsprachigen Sonderpädagogik bisher wenig thematisiert und nur allzu selten werden Studien zur Überprüfung nach entsprechenden Maßgaben durchgeführt. Daher gilt es, Grundlagen und Kriterien für Evidenzbasierung zu klären, bevor ein Überblick über jene Verfahren geboten wird, die den Kriterien zumindest näherungsweise genügen. In der internationalen, englischsprachigen Forschung stellt die Ausrichtung an einer evidenzbasierten sonderpädagogischen Praxis einen breit akzeptierten Standard dar, der als Auswahlkriterium für sonderpädagogische Vorgehensweisen dient. Für den Einsatz evidenzbasierter Verfahren in inklusiven Bildungssystemen ist jedoch ein schlüssiges Rahmenkonzept notwendig, das eine den Bedürfnissen der Lernenden gemäße und wirksame Unterstützung bietet. Das international anerkannte Rahmenkonzept eines responsiven Handlungsmodells entspricht nach den vorliegenden Studien diesen Anforderungen. International besteht Konsens dahingehend, dass erst durch den Einsatz evidenzbasierter Verfahren in einem wirksamen Rahmenkonzept tatsächlich das Recht auf inklusive Bildung, nämlich eine den Bedürfnissen angemessene Unterstützung, verwirklicht werden kann.

Pierre-Carl Link weitet den Blick auf den Inklusionsdiskurs mit besonderem Fokus auf das Subjekt der sonderpädagogischen Disziplin Pädagogik bei Verhaltensstörungen und unter Bezug auf die Psychoanalytische Pädagogik sowie die Psychoanalyse. Dabei stellt er durch die Annahme eines gespaltenen Subjekts die Inkludierbarkeit des Menschen grundsätzlich in Frage. Auf den Grenzen einer Inklusion des Subjekts aufbauend diskutiert Link in einem zweiten Schritt die Frage nach Möglichkeiten von Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung auf ethischer Ebene.

Abschließend nehmen Thomas Müller und Roland Stein die Frage nach den erzieherischen Herausforderungen vor dem Hintergrund der Bemühungen um ein inklusives Schulsystem noch einmal grundsätzlich auf. Es wird dabei zunächst ein Verständnis von Erziehung im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und den erzieherischen Umgang mit auffälligem Verhalten und Erleben grundgelegt. Davon ausgehend werden herausfordernde besondere erzieherische Problemlagen und Aufgaben beschrieben. Im Ergebnis liegt ›schwierige‹ Erziehung dann vor, wenn Bemühungen erheblich intensiviert werden müssen, obgleich sich schwerlich Kennzeichen zusammentragen lassen, die diese trennscharf von regulären Problemstellungen abgrenzen würden. Es handelt sich letztlich um ein Kontinuum der Problemstellungen und um eine Potenzierung von Schwierigkeiten. Eine solche Potentialität lässt sich im Ergebnis auch als emotional-sozialer Förderbedarf beschreiben, obgleich verstärkt und mit hohem Bewusstsein darauf zu achten ist, dass damit nicht schwierige und herausfordernde Aspekte von Erziehung auf den Edukanden ›abgeschoben‹ werden. Auch hier bietet daher wiederum das interaktionistische Konzept von Verhaltensstörungen den Hintergrund der Betrachtung und Erörterungen, und das Hervortreten von Förderbedarf im emotionalen und sozialen Bereich wird als Ausdrucksform und Signal für eine dahinter stehende Störung betrachtet. Besonders dann, wenn sich inklusive schulische Rahmungen Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf widmen, gilt es, dies durch ein auf gemeinsam geteilte Situationen und Interaktionen erweitertes Verständnis des Förderbegriffs zum Ausdruck zu bringen und als Prozess einer ebenso gemeinsamen Daseinsgestaltung immer wieder neu zu akzentuieren. Der Beitrag weist auf Erziehung als ein prozesshaftes, dialogisches Geschehen hin und lotet auch Schwierigkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns aus, in dem Sinne, dass für alle erzieherischen Arbeitskontexte in einem sich zunehmend als inklusiv verstehenden Schulsystem auch Aspekte wie Grenzen, Scheitern, Begrenzungen bis hin zu Kontexten der Geschlossenheit offen und kritisch in den Blick genommen werden müssen. In einen so gearteten Blick muss aber auch der schulische wie persönliche Erziehungsauftrag, gesellschaftlich vermittelt, mit aufgenommen und in verantwortungsvolles, ethisch verantwortbares pädagogisches Handeln überführt werden.

 

 

 

 

 

 

Verhaltensstörungen und emotional-soziale Entwicklung: zum Gegenstand

Roland Stein/Thomas Müller

Das Bemühen um die inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf zieht unweigerlich die Frage nach sich, um wen und was es sich dabei genau handelt und ob mit der Bezeichnung ›emotional-sozialer Förderbedarf‹ auch alle Kinder und Jugendlichen gemeint sind, die zum Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen gezählt werden können. In diesem Rahmen soll ein begriffliches Konzept entworfen werden, das im Sinne von Inklusion nicht nur interventive, sondern auch präventive Perspektiven eröffnet. Daher ist es notwendig, mit Blick auf die Ausgangslage und Entstehung der Disziplin ›Pädagogik bei Verhaltensstörungen‹ Begrifflichkeiten und Erscheinungsweisen in den Blick zu nehmen und ausgehend von diesen nach den zugrundeliegenden Kriterien und Normen zu fragen. Im Anschluss an Möglichkeiten der Einteilung, Klassifikation und Epidemiologie wird die Frage nach einer inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf schließlich unter anthropologischer Perspektive in ihrer Komplexität diskutiert.

1           Ausgangslage und Entstehung einer Disziplin

Es lässt sich nur vage ausmachen, wo, durch wen, unter welchen Bedingungen und Intentionen die pädagogische Arbeit mit solchen Kindern und Jugendlichen ihren Ausgangspunkt nahm, die man heute als verhaltensauffällig, als erziehungsschwierig oder als förderbedürftig hinsichtlich ihrer sozial-emotionalen Entwicklung bezeichnet. Sicher ist, dass beispielsweise Personen wie Pestalozzi (1799; 1801), Wichern (1853; 1863) und Trüper (1909; 1920), aber auch Aichhorn (1957) und Fuchs (1930), Redl (1978) und Bettelheim (1950) durch ihr eigenes Tun entscheidende Impulse setzten, die auch heute noch die Pädagogik bei Verhaltensstörungen und die pädagogische Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Auch wenn sich bei den erstgenannten Persönlichkeiten gesinnungs- und verantwortungsethische Anteile in der Intention der Auseinandersetzung mit so genannten sittlich verwilderten, verwahrlosten oder kranken Kindern und Jugendlichen teils noch vermischen, so ließe sich ihr Wirken im Hinblick auf das Anliegen ›Inklusion‹ durchaus als inklusiv charakterisieren und verstehen: Sie nahmen sich Kindern an, mit denen sich sonst niemand auseinandersetzen wollte, die, im Falle Pestalozzis, hungernd und bettelnd über das Schweizer Land zogen, die, im Falle Wicherns, auf sich selbst angewiesen durch die Hamburger Hinterhöfe trieben oder an vielen anderen Orten als lästig, überflüssig und störend empfunden wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg war es vor allem Fuchs, dem es zu verdanken ist, dass Kinder und Jugendliche, welche durch die Kriegserfahrungen seelisch geschädigt – heute würde man sagen: traumatisiert – waren, beschult wurden. Gleichzeitig fand die Psychoanalyse durch die Arbeit von Aichhorn (1925; 1957) eine frühe ›Anwendung‹ bei ›verwahrlosten‹ Kindern, in der Form, dass erstmals zwischen den Erscheinungsweisen des Verhaltens und den Ursachen unterschieden wurde. Die Annahme, dass jedes Verhalten aus dem Kontext seiner Verursachung heraus verstehbar und damit subjektiv sinnvoll ist, trug wesentlich zu einer veränderten Haltung in der pädagogischen Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen bei. In den USA waren es Redl (1979) und Bettelheim (1950), die durch psychoanalytische Einsichten und die konkrete Arbeit mit auffälligen und traumatisierten Kindern, welche sonst nirgendwo (mehr) Platz fanden, Erfahrungen sammelten, die bis in die heutige Pädagogik bei Verhaltensstörungen hineinwirken.

Während des Nationalsozialismus kam der Ausbau der von Fuchs begründeten Erziehungsklassen zum Erliegen (Liebrich, 1986). Erhalt und Vermittlung von Zucht und rigider Ordnung waren von Bedeutung. Verhaltensauffälligkeiten stellten diesbezüglich eine Gefährdung dar, galten als ›genetisch fixierte Minderwertigkeit‹ und wurden daher als pädagogisch nicht beeinflussbar angesehen. Nur dem Arbeitsdienst schrieb man eine positive Wirkung zu und teilweise wurde die Hitlerjugend als Besserungsanreiz in Aussicht gestellt. Jugendliche, die als sozial auffällig und sittlich verwahrlost galten, wurden ab 1940 bzw. 1942 den ›Jugendschutzlagern‹ Moringen und Uckermark zugeführt und zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Nach 1945 setzte man die vor dem Zweiten Weltkrieg begonnene Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen im Westen fort, obgleich die Psychoanalytische Pädagogik nach und nach an Einfluss verlor. Es war nun nicht mehr von sittlich verwahrlosten oder kranken Kindern, sondern vom ›verhaltensgestörten Kind‹ die Rede, wobei selbst bei relativ einheitlichem Sprachgebrauch die Sichtweisen auf diese Kinder und Jugendlichen auseinanderliefen. Sonderschulbedürftigkeit, seelische Belastungen und »Haltschwäche« (Moor, 1960) wurden ebenso diskutiert wie frühkindliche Hirnschädigungen als Auslöser auffälligen Verhaltens und Anpassungsprobleme an bestehende Strukturen. Seit den 1970er Jahren wurde als Folge davon problematisiert, inwiefern ›verhaltensgestörte‹ Kinder und Jugendliche tatsächlich ›gestört‹ sind und inwieweit sie ›nur‹ Opfer von gesellschaftlichen wie individuellen Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozessen seien.

In der DDR dagegen entstand ab 1965 eine ›Verhaltensgestörtenpädagogik‹ mit eigenem, staatskonformem Verständnis. Gesellschaftliche Erklärungen für Verhaltensstörungen waren darin nicht anerkannt. Auffälliges Verhalten wurde auf intra- und interpersonelle Gründe zurückgeführt. Erst im März 1981 gab das Ministerium für Volksbildung eine »Anweisung über Grundsätze bei der Förderung von Kindern mit wesentlichen physisch-psychischen Störungen im Bereich des Sozial- und Leistungsverhaltens (Verhaltensstörungen)« (1981) heraus. Es entstanden Spezialkinderheime für schwererziehbare Kinder (Zimmermann, 2004). Vormundschaftsgerichte und die Fürsorge waren bis in die Berufsausbildung hinein für Kinder aus ›erziehungsuntüchtigen Milieus und daraus resultierenden sozialen Fehlentwicklungen‹ verantwortlich. Zudem gab es Jugendwerkhöfe, in die Jugendliche, welche als sehr erziehungsschwierig galten, eingewiesen wurden. Wer mit den dortigen Vorstellungen von Disziplin und Ordnung nicht zurechtkam und/oder mehrfach entwich, wurde in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen, der einer Strafanstalt glich. Jugendliche waren in diesen Formen der Unterbringung in erheblichem Maße Willkür, Misshandlungen und Machtmissbrauch durch Erwachsene ausgesetzt (Beyer/Strobl/Müller, 2016).

In den 1980er Jahren wurden die bestehenden Positionen durch Ansichten der Humanistischen Psychologie, vor allem unter Rückgriff auf Rogers, ergänzt. In den folgenden Jahren kamen stark systemische und konstruktivistische, aber auch lösungsorientierte Positionen zur Fachdiskussion hinzu. Darüber hinaus erkannte man auch verstärkt die Bedeutung soziologischer Beiträge durch die Befassung mit Subkultur- und Anomietheorie (Lamnek, 1979; Böhnisch, 1999). Mit der UN-Konvention von 2006 nahm die kritische Auseinandersetzung über die Notwendigkeit einer gesonderten Beschulung für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche zu. Dennoch verdoppelte sich die Zahl der in diesen Schulen geförderten Schüler zwischen 2005 und 2014 nahezu (KMK, 2016). Versuche integrativer Beschulung (z. B. regelschulintegrierte Klassen, Kooperationsklassen, temporäre Lerngruppen, ambulante und mobile Dienste und Hilfen, etc.) nahmen zugleich zu, fielen aber im Ergebnis sehr unterschiedlich aus (Goetze, 2008). Darüber hinaus und in diesem Zusammenhang muss sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit einer zunehmenden Dominanz des kinder- und jugendpsychiatrischen Zugriffs auf ihren Gegenstandsbereich auseinandersetzen (Schmid, 2012; Willmann, 2012).

Hervorgehoben werden soll hier noch, was Göppel in Abgrenzung zu anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen festhielt. Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen befasst sich erst in jüngerer Zeit näher mit der Frage geeigneter Beschulung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher. »In der Geschichte der Bemühungen um Kinder, die, ohne offensichtlich behindert zu sein, mit ihrem Verhalten aus dem Rahmen fallen, die vorgegebene Ordnungen verletzen und sich gegen die üblichen erzieherischen Maßnahmen sperren, spielt dagegen die Schule nur eine sehr untergeordnete Rolle« (Göppel, 1989, S. 327). Es waren vor allem verschiedene Formen von Heimen, Verwahranstalten und Spezialeinrichtungen, die sich dieser Kinder annahmen und in denen Schule auch eine, aber nicht die primäre Rolle spielte. Umgekehrt lässt sich aus einer erzieherischen Perspektive auf Verhaltensstörungen auch festhalten, dass es diese schon so lange geben muss, wie es Formen und Ideen der Erziehung gibt. »Dass es freilich Kummer, Konflikte und Katastrophen zwischen Eltern und Kindern schon immer gegeben hat, dass Erziehung durch alle Epochen hindurch nicht selten auch mit heftigen Emotionen verbunden war, mit Gefühlen von Ärger, Wut, Empörung, Enttäuschung, mit Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen, mit Sorgen, Zukunftsängsten, mit Gefühlen der Hilf- und Ratlosigkeit (…) davon ist auszugehen« (Göppel, 2010, S. 11).

Auch wenn dies eine sehr verkürzte und sicherlich nicht vollständige Darstellung bedeutsamer Entwicklungen, Strömungen und Tendenzen sein mag, wird deutlich, dass der Umgang und die Auseinandersetzung mit verhaltenssauffälligen Kindern und Jugendlichen, historisch betrachtet, von verschiedensten Überlegungen geprägt war, sich auf diejenigen einzulassen, die unerwünscht und unverstanden blieben und die man als störend, lästig oder auffällig bezeichnete: letztlich Kinder und Jugendliche mit mannigfachen Exklusionserfahrungen. Erst mit den 1970er und 1980er Jahren wächst das Bewusstsein, dass die Beschulung und Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen in speziellen Institutionen nicht (nur) zum Abbau dieser Erfahrungen beitragen könnte, sondern umgekehrt zu deren Erhalt – oder sogar Teil des Exklusionsprozesses selbst ist. Umgekehrt muss auch Göppel Recht gegeben werden, wenn er heraushebt: »Es galt nicht nur, das einzelne Kind zu ›bessern‹, sondern es ging auch meist darum, die anderen vor den verderblichen Einflüssen ›verwahrloster‹, ›verkommener‹ oder aber ›psychopathischer‹, ›moralisch-schwachsinniger‹ bzw. ›devianter‹, ›delinquenter‹ oder ›verhaltensgestörter‹ Kinder zu schützen« (1989, S. 328). Dies ist ein nicht zu übersehender Aspekt, der vor allem im Hinblick auf die Debatte darüber, wie Inklusion im Kontext dieser Kinder und Jugendlichen zu verstehen ist, mitdiskutiert werden und unbedingte Beachtung finden muss. Gerade unter den Fragestellungen von Inklusion wird das in dieser Zeit entstandene Gutachten von Bittner, Ertle und Schmid wieder neu bedeutsam (1974). Sie empfahlen dem Deutschen Bildungsrat nämlich keinesfalls den flächendeckenden Auf- und Ausbau eigener Schulen für verhaltenssauffällige Kinder, sondern sprachen sich hinsichtlich des Gros dieser Kinder für den Besuch der Regelschule aus: »Daher sind Hilfen für Verhaltensgestörte vorrangig Aufgabe der allgemeinen Schulen und Gegenstand der allgemeinen Pädagogik« (Bittner/Ertle/Schmid, 1974, S. 91; kursiv im Original). Für Kinder und Jugendliche mit schweren psychischen Störungen schlugen sie »klinisch therapeutische Ganztagsschulen« (ebd.) vor. Zudem empfahlen sie Schulen an und in Heimen für jene Kinder, die aufgrund eines Sorgerechtsentzugs nicht mehr in ihren Familien leben können. Lindmeier stellt heraus, dass die fachlichen Empfehlungen der noch jungen Disziplin nicht zum Tragen kamen: »Die Befunde dieses Gutachtens, die bis in die Gegenwart nicht an Aktualität verloren haben, konnten aber nur geringe Wirkung entfalten, weil sie einen scharfen Gegensatz bildeten zu den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1972, in denen (…) an der Möglichkeit einer klaren Abgrenzung der Schülerschaft und einem entsprechenden Ausbau der Schulen festgehalten wurde« (Lindmeier, 2010, S. 23).

Kehrt man noch einmal zu den historischen Wurzeln zurück, so wäre aus heutiger Sicht auch die Frage berechtigt, was die Kinder und Jugendlichen, mit denen sich Pestalozzi, Wichern und andere in der Vergangenheit auseinandersetzten, mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen gemein haben, die unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts aufwachsen. Bei allen auszumachenden Unterschieden lässt sich dennoch als roter Faden erkennen, »daß Kinder und Jugendliche gegen allgemeine Vorstellungen und Erwartungen vom ›angemessenen‹, ›durchschnittlichen‹, ›normalen‹ Verhalten verstoßen, daß eine Diskrepanz besteht zwischen der im pädagogischen Sinn wünschenswerten und der tatsächlichen Entwicklung, daß Eltern, Lehrer und Erzieher dies als Problem wahrnehmen und nach Gründen für solche Abweichungen sowie nach den erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten suchen« (Göppel, 1989, S. 9). Dies macht den Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen aus.

2           Begrifflichkeit und Erscheinungsweisen

Die deutsche Bildungslandschaft ist im beginnenden 21. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Beschulung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher, ebenso wie die wissenschaftliche Disziplin ›Pädagogik bei Verhaltensstörungen‹, geprägt von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, Perspektiven und Entwicklungen, die in verschiedenen Modellen, Konzepten und Bezeichnungen ihren Ausdruck finden. So waren die ersten Lehrstühle in Deutschland psychoanalytisch besetzt. Hillenbrand zeigt in seiner historischen Analyse der Begriffsvielfalt vor allem in Abgrenzung zu Havers’ Begriff der »Erziehungsschwierigkeit« (Havers, 1978), »dass Verhaltensstörung ursprünglich kein pädagogischer Begriff ist, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch in der Pädagogik adaptiert und zur Grundlegung einer spezialisierten Teildisziplin verwendet wird« (Hillenbrand, 2008, S. 9). Letztgenannter stellt den Begriff der Verhaltensstörung, in der Tradition des Verständnisses von Myschker (2009), als besonders geeignet dar, da er für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen als interdisziplinärer Wissenschaft die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Disziplinen wie der Medizin, der Psychologie oder der Soziologie für gegeben sieht. Daher kritisiert er den Begriff der Verhaltensauffälligkeit, der streng genommen auch positive Auffälligkeiten mit meint, ohne dass diese aber disziplinär berücksichtigt würden. Er wie viele andere orientieren sich an Myschkers Verständnis von Verhaltensstörungen als ›maladaptivem Verhalten‹ mit erheblichem Schweregrad der Fehlanpassung und multiplen problematischen Folgen für die betroffene Person und/oder ihr Umfeld (ebd).

Allerdings ist erstens zu bedenken, dass der Begriff der Störung in den unterschiedlichen, für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen relevanten Disziplinen höchst different aufgefasst und angewandt wird. Zweitens richtet ein solches Störungsverständnis, auch wenn es die Milieubedingungen berücksichtigt, den Fokus sehr stark auf die Kinder und Jugendlichen. Drittens ist es eher interventiv als präventiv ausgerichtet.

Die Auseinandersetzung der Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit Begriffen wie Störung, Auffälligkeit, Schwierigkeit oder gar Originalität kann nicht als disziplinäre oder semantische Spielerei abgetan werden, sondern erfährt besonders im Hinblick auf die Herausforderung der inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit sozial-emotionalem Förderbedarf erhöhte Bedeutung: Es macht pädagogisch und erzieherisch einen Unterschied, ob man mit ›gestörten‹ Kindern und Jugendlichen arbeitet, ob man versucht, mit auffälligem Verhalten in der Schule umzugehen oder ob man sich mit Störungen auseinandersetzt, die im schulischen Kontext auftreten, nicht unbedingt aber an Kindern und Jugendlichen ursächlich festzumachen sind. Aber auch der Begriff des sozialen und emotionalen Förderbedarfs muss in diese Diskussion mit einbezogen werden: Er steht ähnlich oder möglicherweise sogar noch stärker als der Störungsbegriff in der Gefahr, Verhaltensweisen ursächlich zu personalisieren und verhindert so beispielsweise eine interaktionistische Sichtweise von Verhaltensstörungen (Stein, 2017).

Gerade in den letzten Jahren haben Begriffe wie ›verhaltensoriginelle Kinder‹, ›Kinder mit überraschendem Verhalten‹ oder auch ›Kinder mit herausforderndem Verhalten‹ erhebliche Verbreitung gefunden. Kobi führte 1996 den Begriff der »Verhaltensoriginalität« (Kobi, 1996) ein und wollte damit in bester Absicht Kinder und Jugendliche aus Stigmatisierungstendenzen lösen. Damit ging er allerdings das ernst zu nehmende Risiko ein, dass sein Begriff zu einer Nivellierung biografischer Erfahrungen führt. In einer spezifischen Situation ein Verhalten an den Tag zu legen, das nicht üblich ist, nicht erwartet wird und daher überrascht oder originell, vielleicht sogar kreativ erscheinen mag, ist das eine. Das andere sind die hoch belastenden und traumatisierenden Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen, die zu auffälligen Verhaltensweisen führen, welche ontogenetisch, aber auch aktualgenetisch oftmals mit viel Leid, Schmerz und Verzweiflung verbunden sind. In diesem Zusammenhang von Verhaltensoriginalität zu sprechen führt zu fragwürdigen Verkürzungen im Blick auf diese Kinder und Jugendlichen und im Umgang mit ihnen. Es droht eine Verharmlosung von gravierenden Problemen der Betroffenen sowie ihres Umfeldes – der Mitschüler und anderen Gleichaltrigen sowie auch der Pädagogen. Im Übrigen trifft der Begriff, ebenso wie derjenige des ›überraschenden Verhaltens‹, nicht den vollständigen Gegenstand, denn keineswegs immer sind die Verhaltensgewohnheiten der gemeinten Kinder und Jugendlichen wirklich originell oder überraschend, teilweise ganz im Gegenteil oft stereotyp und voraussehbar. Aber auch der Begriff der Herausforderung zieht die Gefahr einer eingeschränkten Sicht nach sich, denn als herausfordernd wirken oft Aggressivität und Dissozialität, allenfalls versteckt jedoch internalisierende Problematiken wie Ängstlichkeit oder Depressivität.

Mit den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung von 1994 durch die Kultusministerkonferenz (KMK, 1994; 2000) wurde der Themenkomplex Verhaltensstörungen als »Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung« bezeichnet. Das Ziel war dabei insbesondere, Abstand von einer Zentrierung auf Defizite zu nehmen und das zu Fördernde im Sinne eines pädagogischen Auftrages zu bezeichnen. Der Förderbereich der kognitiven Entwicklung wurde dabei eher den Förderschwerpunkten Lernen sowie Geistige Entwicklung (Geistige Behinderungen) zugeschlagen. Im Rahmen sonderpädagogischer Diagnostik kann ein besonderer Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung attestiert werden. Dieser kann, auf die Person eines Kindes oder Jugendlichen zugeschnitten, einen ›Förderschwerpunkt‹ für dieses Kind ausmachen – er kann allerdings auch parallel zu anderen Förderbedarfen – etwa im Lernen – stehen, welche für dieses Kind festgestellt werden. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Inklusion im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung muss unter dem Fokus des Gegenstandsbereichs auch der Terminus »Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung« selbst kritisch geprüft werden. Denn diese begriffliche Orientierung könnte sich aus einer komplexeren und interaktionistischen Sicht aus drei Gründen durchaus als problematisch erweisen: Erstens drohen kognitive Kompetenzen in den Hintergrund zu geraten, die auch für den Kontext Verhaltensstörungen von großer Bedeutung sind: Wahrnehmung sozialer Situationen, die Fähigkeit zum sozialen Problemlösen oder auch zur differenzierten Reflexion von Handlungsfolgen. Zweitens werden Verhaltensstörungen auf den Radius von Entwicklungsproblematiken und etwas ›Nachzuholendem‹ reduziert; psychische Krisen oder emotionale Blockaden passen in dieses Verständnis nicht recht hinein (siehe hierzu auch die nachfolgende Unterscheidung von Kompetenz- und Performanzproblemen). Drittens wird durch eine solche Bestimmung von ›Förderbedarf‹ rein auf die Entwicklungsproblematiken der Person von Kindern und Jugendlichen fokussiert; der Beitrag der aktuellen Lebensumstände bzw. des Umfeldes zum Entstehen von Störungen sowie ein Verständnis von Person-Sein, das über den Gedanken der ›bloßen‹ Entwicklung hinausreicht, geraten völlig aus dem Blick. Aus diesen Gründen wird hier konzeptionell dem Begriff Verhaltensstörungen, allerdings in einem bestimmten, noch zu erläuternden Verständnis, der Vorzug gegeben.

Nichtsdestotrotz orientieren sich die nachfolgenden Darstellungen und Überlegungen an dem durch die KMK bestimmten schulischen Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, denn es geht um den Themenkomplex Verhaltensstörungen im schulischen Kontext des Förderschwerpunkts emotionale und soziale Entwicklung.

Der Begriff der Förderung selbst ist ursprünglich kein pädagogischer, wie Speck aufzeigt (1995). Einerseits wirkt er allgemein und damit unspezifisch, andererseits zielt er auf einzelne, begrenzte Aspekte und seltener auf den Menschen als Ganzheit. Damit droht entweder eine diffuse Verallgemeinerung oder aber eine Verkürzung des Erziehungsverständnisses, indem ›von außen‹ etwas herangetragen wird, was durchaus als Etikettierung bezeichnet werden könnte und wodurch zudem Kinder nicht (länger) als Akteure ihrer Entwicklungs- und Lernprozesse wahrgenommen werden. Darüber hinaus zielt Förderung auf Individuen und kaum auf Systeme, die für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Reduzierung von Problematiken mitverantwortlich sind. ›Förderung‹ repräsentiert im Unterschied zu ›Erziehung‹ eine eingeschränkte anthropologische Perspektive und müsste nicht nur, aber im Besonderen für die Frage der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit so genanntem sozial-emotionalem Förderbedarf kritisch reflektiert werden (Speck, 1995).

Ausgehend von der KMK-Begrifflichkeit können jenseits der angesprochenen Kritikpunkte verschiedene ›emotionale‹ und ›soziale‹ Kompetenzen bestimmt werden. Mit Blick auf die Entwicklungspsychologie werden solche Kompetenzen in Tab. 1 zusammengestellt (Stein, 2006). Zu bedenken ist die etwas künstliche Trennung, denn emotionale und soziale Kompetenzen weisen oft enge Verschränkungen auf.

Tab. 1: Emotionale und soziale Kompetenzen (Stein, 2006, S. 26)

emotionale Kompetenzensoziale Kompetenzen

Aus dieser Sicht können Verhaltensauffälligkeiten als Entwicklungsprobleme beschrieben werden. Dies schränkt jedoch den Blick ein, denn im Hinblick auf die meisten der hier zusammengetragenen Kompetenzen ist noch einmal eine Bereitschaftskomponente zu unterscheiden: nicht nur fähig, sondern auch grundsätzlich bereit zur Realisierung dieser Fähigkeit zu sein. Von erheblicher Bedeutung ist also eine Unterscheidung von Kompetenz- und Performanzproblemen. Möglicherweise hat ein Kind oder Jugendlicher etwa erforderliche soziale Kompetenzen erworben, setzt sie jedoch nicht um. Gründe könnten emotionale Blockaden sein, Hilflosigkeitserfahrungen – oder auch eine mangelnde moralische Entwicklung, die zu unsozialem Verhalten führen, weil die Bereitschaft fehlt, sich sozial konstruktiv zu verhalten. Diese Unterscheidungen sind insofern von großer Bedeutung, als sich erhebliche Konsequenzen für die Frage des pädagogischen Ansetzens, für die erzieherische Arbeit ergeben.

Als Alternative zu den bisher angesprochenen, stark auf die Person der Kinder und Jugendlichen fokussierten Sichtweisen des Problemfeldes bietet sich eine interaktionistische Perspektive an: Verhaltensstörungen werden aus dieser Sicht als ›Störungen im Person-Umfeld-Bezug‹ betrachtet (Stein, 2017): Irgend etwas in der Interaktion zwischen einem Kind oder Jugendlichen und den situativen Bedingungen, in denen sich diese Person befindet, läuft nicht regelgerecht. Dabei können Beiträge der Person (im Sinne einer ›schwierigen‹ Persönlichkeit) sowie der Situation (im Sinne von Belastungen oder auch Provokationen) eine Rolle spielen, oft wiederum in einem komplexen, wechselseitigen Verhältnis. Solche Störungen manifestieren sich ›an‹ den Kindern und Jugendlichen als Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens, also als Verhaltensauffälligkeiten, welche jedoch wiederum nur als ein Signal für die dahinter liegende Störung aufzufassen sind. In besonders konsequenter Form tritt eine solche Sichtweise in systemischen Störungsmodellen zutage. Insofern hier jedoch ein Kind oder Jugendlicher mit Auffälligkeiten nur noch als ›Symptomträger‹ für eine Störung im System betrachtet wird, droht der mögliche Beitrag der Person selbst zu den Problemen völlig aus dem Fokus zu geraten.

Ein solches, interaktionistisches Verständnis von Verhaltensstörungen ist auch anschlussfähig an die aufkommenden Anforderungen an ein stärker inklusives Schulsystem, weil über dieses Verständnis Probleme nicht erst identifiziert werden, wenn sie verfestigt sind, sondern dann, wenn sie sich – als Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen, von Schülern – anbahnen. Der Blick auf die möglichen Ursachen fokussiert nicht allein die Person, sondern auch ihr Umfeld, ihre Lebenssituation und die Anforderungen, die an sie gestellt werden. Dies eröffnet Möglichkeiten der Prävention und Frühintervention mit zugleich breitem Blick auf die verfügbaren Ansatzpunkte (vgl. etwa Hennemann/Hövel/Casale/Hagen/Fitting-Dahlmann 2015).

3           Kriterien und Normen

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen sind zugleich ein ›hartes‹ Problemfeld im Sinne gravierender Schwierigkeiten für die Betroffenen selbst (etwa im Falle von Depressivität oder Ängstlichkeit) oder auch für ihr Umfeld (etwa im Falle massiver Aggressivität) – sie sind aber zugleich auch ein ›weiches‹ Problemfeld in dem Sinne, dass ein objektivierbares ›Substrat‹ im Sinne einer Schädigung wie etwa bei Sinnesbehinderungen nicht vorliegt – sondern die Bestimmung vielmehr abhängig ist von durchaus nicht unumstrittenen Kriterien und Normen, die angelegt werden (Stein, 2017, S. 24ff.). Zunächst stellt sich die Frage des Bezugsmaßstabes, der meist im interindividuellen Vergleich oder dem Vergleich mit einer Art Durchschnitt gesucht wird: Als auffällig werden dann diejenigen bestimmt, die stärker von dem Verhalten und Erleben abweichen, welches die meisten anderen Menschen zeigen. Eine andere Möglichkeit liegt im Kriterium des ›Leidensdrucks‹ der betroffenen Person selbst oder ihres Umfeldes: Auffällig wäre dann das Verhalten und Erleben, welches auf der einen oder anderen Seite (häufig beiden) ein erhebliches Leiden nach sich zieht. Unter Bezugnahme intraindividueller Bezugsnormen würde man dann von Auffälligkeiten sprechen, wenn eine Person ›im Vergleich zu sich selbst‹ auffällt, also sich erheblich anders verhält als sie es ansonsten tut.

Auch aus einer anderen Perspektive sind Verhaltensauffälligkeiten ein ›relatives‹ Phänomen (Bach, 1989): sie ergeben sich im Hinblick auf die Normen der jeweiligen Zeit und Epoche, soziokulturelle Erwartungen des Beurteilers, die soziale und kulturelle Verortung der beurteilten Person selbst (etwa ihren subkulturellen oder kulturellen Hintergrund, auch im Unterschied zur ›Mehrheitskultur‹), Erwartungen an die Person in ihrer Geschlechtsrolle oder auch altersbezogene Normen (von einer fünfjährigen Person wird man im Hinblick auf die gleiche Situation anderes erwarten als von einer fünfzigjährigen). Neben den ›impliziten‹ soziokulturellen Normen, die in einer Gesellschaft gelten und als Maßstab für eine Einschätzung des Verhaltens und Erlebens herangezogen werden, sind auch ›explizite‹, fixierte Normen von besonderer Bedeutung – solche Normen, die eine Gesellschaft dezidiert festlegt, etwa in Formen von Gesetzen (und den Abweichungen davon als Gesetzesverletzung bzw. -bruch) oder auch institutionellen Regeln, wie sie sich etwa in Schulordnungen finden.

Dass zur Beurteilung von Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens ein solches Spektrum der Kriterien und Maßstäbe herangezogen werden kann, muss keine Beliebigkeit der Beurteilung nach sich ziehen. Es handelt sich um ernstzunehmende Problematiken, mit denen auch entsprechend umgegangen werden muss. Allerdings ist es von großer Bedeutung, sich bewusst zu machen, welche Kriterien – wohl begründet – zur Beurteilung herangezogen werden. Dies gilt nicht allein für pädagogische Handlungsfelder. Auch im medizinisch-psychiatrischen Bereich werden zur Beurteilung psychischer Störungen wohl ausgewählte Kriterien genutzt, wie sie etwa in internationalen Klassifikationssystemen wie der ICD oder dem DSM festgelegt wurden. Deren kritische Analyse ist ebenso bedeutsam wie ihre Formulierung. So wird in jüngerer Zeit über eine möglicherweise problematische Ausweitung psychiatrischer Diagnosen als Folge des Wechsels vom DSM-IV zum neuen Klassifikationssystem DSM-5 diskutiert (etwa Frances, 2013; Mary, 2013).

4           Einteilung, Klassifikation und Epidemiologie

Verhaltensstörungen, wie hier verstanden, sind ein pädagogischer Terminus bzw. eine pädagogische Kategorie. Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens umfassen allerdings ein sehr breites Spektrum von Ausprägungsformen. Diese können zum einen individuell betrachtet werden, als ganz persönliche Erscheinungsweisen (siehe 6.). Zum anderen könnten sie in Untergruppen geordnet werden. Dabei fehlt es bislang an Kriterien für eine ›Klassifikation‹ im engeren Sinne, denn hierfür müssten Gruppen gebildet werden, für die klare Zuordnungskriterien vorliegen und die trennscharf gegeneinander sind. Ein Kind mit einer bestimmten Problematik müsste sich dann einer dieser Gruppen genau zuordnen lassen. Internationale medizinische und psychiatrische Klassifikationssysteme wie ICD oder DSM versuchen dies, kommen aber auch an Grenzen; eine Lösung besteht dann darin, Doppel- oder Mehrfachdiagnosen zu vergeben.

Für die Pädagogik liegen solche strengen Klassifikationssysteme nicht vor. Es ist auch fraglich, ob sie notwendig und wünschenswert sind, bedenkt man das pädagogische Anliegen, Kinder und Jugendliche als einzigartige Individuen anzusehen und sie entsprechend zu begleiten. Für eine grundsätzliche Ordnung genügen möglicherweise vorliegende Versuche, die mit dem gegenüber ›Klassifikation‹ offeneren Begriff der ›Einteilung‹ beschrieben werden können. Grundsätzlich könnte eine solche Einteilung gemäß dem Erscheinungsbild der Problematiken erfolgen, also rein beschreibend. Aber auch eine Einteilung nach Erklärungen wäre möglich: etwa solche Auffälligkeiten, die durch Erziehungseinflüsse entstehen, und solche, die organisch bedingt sind. Schließlich wäre auch eine Einteilung nach indizierten Fördermaßnahmen denkbar und für die Praxis sehr hilfreich (Stein, 2017, S. 38ff.).

Die existierenden Einteilungssysteme sind stark beschreibend orientiert. Als beispielhaft können Befunde aus der epidemiologischen Forschung herangezogen werden, weil damit zugleich auch Aussagen über die Häufigkeit bestimmter Formen von Verhaltensauffälligkeiten möglich werden. Dabei muss allerdings ein Rückgriff auf die Forschung zu ›psychischen Störungen‹ erfolgen, welche begrifflich-konzeptionell nicht hundertprozentig identisch mit ›Verhaltensauffälligkeiten‹ sind. – Grundsätzlich kann mittlerweile recht gesichert davon ausgegangen werden, dass zwischen 12 und 18 % aller Kinder und Jugendlichen in einem recht eng umschriebenen Zeitintervall ausgeprägte psychische Problematiken aufweisen (Ihle/Esser, 2002, 2008; Barkmann, 2004; Hölling u. a., 2007, 2014); die Rate längerfristig