Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung -  - E-Book

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung E-Book

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Schülerinnen und Schüler mit körperlichen und mehrfachen Behinderungen nehmen in der Diskussion über Inklusion bisher nur eine Randposition ein. Sie werden als Zielgruppe inklusiver Schulentwicklungsprozesse nur pauschal in den Blick genommen, wobei die bloß motorische Behinderung als leicht zu kompensieren erscheint. Anhand unterschiedlicher Zugänge greift das Buch wesentliche Aspekte dieser Diskussion in systematischer Weise auf. Einführend wird die historische Entwicklung dieses Prozesses nachgezeichnet und auf die gegenwärtige Situation Bezug genommen. Neben einem grundlagentheoretischen sowie einem pädagogischen Beitrag zur Inklusion dieser Schülergruppe werden anschließend aktuelle praxisrelevante Forschungsergebnisse vorgestellt. Anhand zahlreicher schulpraktischer Beispiele finden sich abschließend hilfreiche Instrumente für die Weiterentwicklung inklusiver Schulstrukturen.

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Seitenzahl: 334

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Inklusion in Schule und Gesellschaft

 

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 8

Reinhard Lelgemann, Philipp Singer und Christian Walter-Klose (Hrsg.)

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17- 024283-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024284-5

epub:    ISBN 978-3-17-024285-2

mobi:    ISBN 978-3-17-024286-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort der Reihenherausgeber

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

Die Buchreihe wird die folgenden Einzelbände umfassen:

Band 1:

Inklusion in der Primarstufe

Band 2:

Inklusion im Sekundarbereich

Band 3:

Inklusion im Beruf

Band 4:

Inklusion im Gemeinwesen

Band 5:

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band 6:

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band 7:

Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band 8:

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band 9:

Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12:

Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

Die Herausgeber

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Körperbehindertenpädagogik und Inklusion

    

Körperbehindertenpädagogik: Exklusives Bildungsangebot in inklusiven Zeiten – Gedanken zur Geschichte, Gegenwart und nahen Zukunft

Reinhard Lelgemann

II Theorie und Praxis der Inklusion

    

Theoretischer Anspruch und praktische Wirklichkeit des inklusiven Ansatzes im pädagogischen Diskurs. Zu Konsequenzen der normativen Einseitigkeit und des Umgangs mit Fremdheit

Philipp Singer

III Pädagogische und medizinische Reflexionen zur schulischen Inklusion

    

Pädagogische Unterstützung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Körperbehinderung in inklusiven Bildungsangeboten

Volker Daut

IV Empirische Untersuchungen zur schulischen Inklusion und ihre Bedeutung für die Schulentwicklung

    

Empirische Befunde zum gemeinsamen Lernen und ihre Bedeutung für die SchulentwicklungChristian Walter-Klose

Christian Walter-Klose

    

Heterogene Schülerschaft – heterogene Bedingungen. Befunde eines empirischen Forschungsprojektes zur schulischen Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Philipp Singer

    

Die Schule vom Kind aus denken – Ein Leitfaden für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit körperlicher Beeinträchtigung

Christian Walter-Klose

V Inklusion: Beispiele aus der Schulpraxis und Beratung

    

Vorbemerkung

    

Das Kardinal-von-Galen-Haus auf dem Weg zur inklusiven Schule

Guido Venth

    

»Inklusive Partnerklassen« der Astrid-Lindgren-Schule an der Grundschule Nord in Kempten/Allgäu

Helmut Kirsch

    

Inklusion – Den Anfang wagen und gemeinsam wachsen

Irene Roth

    

»Barrieren in den Köpfen abbauen« – Das Kompetenzzentrum Albatros-Schule in Bielefeld

Manfred Palm

    

Das LWL-Beratungshaus Münster

Arno Grothus

    

Beratung und Unterstützung im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Schleswig-Holstein

Rainer Dräger/Tobias Schubert

Autorenverzeichnis

Vorwort

 

Chancengleichheit und das Recht auf Selbstbestimmung und soziale Teilhabe von Menschen mit körperlichen Behinderungen und chronischen Erkrankungen ist vor dem Hintergrund von Menschenrechten und Bürgerrechten keine Erfindung der Inklusionsbewegung seit den 1990er Jahren. Sie sind vielmehr handlungsleitende Maximen humanen soziologischen, sozialpsychologischen und pädagogischen Denkens seit Beginn der »modernen« Förderpädagogik (Sonderpädagogik) etwa 1960, allerdings mit grundsätzlich einseitiger Anpassungsrichtung an Normen von Menschen ohne spezifischen Förderbedarf – Stimmen, die darüber hinaus argumentierten, wurden noch nicht gehört. Gleichwohl erfolgte durch die neuere Entwicklung inklusiver Denkschemata in der Pädagogik und die konkrete Formulierung der Leitziele der UN-Behindertenkonvention 2006 und deren gesetzliche Verankerung in Deutschland 2009 ein kraftvoller Schub für die theoretische Diskussion und die Umsetzung der Forderungen in die pädagogische Praxis. Dabei ist ein normatives Theoriegebäude mit einem Totalanspruch entstanden, das die sonderpädagogische Diskussion und Innovation inzwischen vollständig dominiert, nicht zuletzt unter dem Druck der gesetzlichen Vorgaben – die es allerdings »eindeutig« zurzeit nur in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt (Der Spiegel, 12/2014); ein Zeichen, dass unser föderalistisches Schulsystem nicht genug spezifische Vorbereitungszeit hatte. Wissenschaftlich wird schon seit Ende der 1990er Jahre ein pädagogischer Paradigmenwechsel konstatiert, der sich auf der Theorieebene spätestens seit 2009 durchgesetzt hat und die Inklusion grundsätzlich gegen die Integration abgrenzt.

Im Hinblick auf die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung besteht allerdings weiterhin Bedarf an Diskussion auf allen Ebenen und insbesondere ganz schlicht an Aufklärung über die Natur dieses Paradigmenwechsels: Es geht nicht mehr um Inklusionsfähigkeit oder gar die portionsweise »Zuteilung« von Inklusion wie anfänglich bei der Integration; vielmehr ist der Komplex von Erziehung und Bildung aller Kinder ein ganzheitliches soziales System mit einer Gesamtdynamik.

Jetzt kommt es darauf an, den rein normativen Ansatz an der schulischen Praxis zu messen und anhand realistischer organisatorischer und menschlicher Dimensionen zu relativieren. Auf der Ebene der praktischen Umsetzung von pauschal formulierten theoretischen Zielen der UN-Konvention (die vom allgemeinen Menschenrecht ausgeht) gilt es, die Forderungen so zu differenzieren und an Realitäten zu orientieren, dass bei inklusiver Förderung nicht ständig defizitäre Praxis entsteht, weil beispielsweise nicht alle »Sondereinrichtungen« in das Schema passen und abgeschafft werden müssten (was in der Konvention allerdings nirgends gefordert wird) – eine solche Situation widerspräche geradezu den Forderungen nach Chancengleichheit vieler Kinder mit körperlichen Behinderungen. Hier will die vorliegende Schrift ansetzen und vor allem unter Betonung von Praxiserfahrungen einen Beitrag leisten.

Hinsichtlich der Legitimation und Theoriebildung der Inklusion können wir uns insbesondere wieder an etablierten handlungsleitenden Konzepten orientieren, die längst in allgemeinen sonderpädagogischen Denkmustern selbstverständlich geworden sind (spätestens seit Ulrich Bleidick als »Behindertenpädagoge« 1987 offiziell das royale Zepter an Otto Specks »System Heilpädagogik« übergeben hat): Systemisch-konstruktivistisches Denken bestimmt inzwischen unser aller Menschenbild. Es wurde offensichtlich auch bei der Entwicklung und Abfassung der UN-Konvention wirksam und ist damit spätestens seit 2006 (UN) bzw. 2009 (D) hoch »legitimationshaltig« sowohl für die Theoriediskussion als vor allem auch die bildungspolitische Umsetzung der Inklusion in die Praxis.

Systemisch-konstruktivistisch ist das erste von mehreren zentralen Schlagworten, die die Grundlage bilden für handlungsleitende theoretische Annäherung an diesen Komplex. Es besagt, dass jeder Teil eines sozialen Systems in zirkulärer Beziehung steht zu allen anderen Teilen. Das bedeutet für die schulische und vorschulische Inklusion nicht nur, dass jedes betroffene Kind in diesem System dort abgeholt wird, wo es in seiner Entwicklung (körperlich, sozial-emotional, leistungsmäßig) steht, sondern auch dass jedes einzelne Kind das ganze System in allen mikro- und makrosozialen Elementen beeinflusst und damit auf seine eigene Entwicklung und pädagogische Förderung implizit einwirkt. In systemischer inklusiver Verantwortung stellen wir dem »Teil-System« Kind alle pädagogischen Errungenschaften je nach Bedarf zeitweise oder dauerhaft zur Verfügung. Dazu gehört parallel zu inklusiv arbeitenden Institutionen der Erhalt aller bewährten bestehenden Angebote (z. B. die über Jahrzehnte entwickelte Förderschule mit ihren Strukturen). Das mag in letzter organisatorischer Konsequenz eine gesellschaftliche Utopie darstellen, liefert jedoch praktikable Rahmen- und Zielvorstellungen (auch für die Gestaltung des Unterrichts). Lelgemann spricht von bereitgestellten Ressourcen, »die nicht leichtfertig aufgegeben werden dürfen«.

Kennzeichen dieser im weitesten Sinne »Pädagogik der Vielfalt« (Prengel) sind Heterogenität und die Auflösung von Untergruppen in pädagogischen Systemen (Vorschule, Schule). Die Kinder und Jugendlichen werden individuell in ihrer Einzigartigkeit respektiert. Organisationseinheit Schule bedeutet ein Primat von Gemeinsamkeiten bei individueller Verschiedenheit (Hinz). Eine gruppenspezifische Perspektive bleibt jedoch erforderlich, um Schule gesellschaftlich zu organisieren – und nicht zuletzt um in diesem Zusammenhang generalisierbare handlungsleitende Forschungsergebnisse zu erreichen.

Grundsätzlich stellt sich die Frage nach dem generellen Stellenwert »besonderter« (Gruppen- oder Einzel-)Förderung bzw. der Förderschule. Das betrifft vor allem Kinder mit hohem Fürsorge- und Pflegebedarf, der die allgemeine Schule in vielerlei Hinsicht (personell, baulich usw.) überfordert. Sie stellt sich aber auch, weil gegenwärtig viele betroffene Kinder in allgemeinen und Stadtteilschulen (besonders in sozialen Brennpunkten) den oftmals in ihrer Vorentwicklung ungewohnten Belastungen, die sie dort als solche erfahren, nicht gewachsen sind. In diesem Zusammenhang wird eine Umschulung (oder eine Rückkehr) in die Förderschule von den Kindern (und ihren Eltern) oft als soziales Trauma erlebt. Im oben skizzierten systemisch-konstruktivistischen Bild ist die »Förderschule« (oder eine homogene Fördergruppe in inklusiv arbeitenden Schulen), die ggf. im Austausch mit zuständigen allgemeinen Schulen steht, im Grunde keine Besonderung, sondern eine angezeigte individuelle Maßnahme, etwa als »geschützter Raum«, der im Rahmen der Inklusion bereitgehalten wird und in dem betroffene Kinder bildende und stabilisierende gemeinsame Erfahrungen mit ähnlich Betroffenen machen können – und zwar nur dort; »für die eigene Identitätsentwicklung scheint dies besonders wichtig zu sein« (Daut).

Im Zentrum historischer Reflexion im deutschsprachigen Raum steht vor allem die Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Integration und der Inklusion. Seit den 1970er Jahren standen Prinzipien der Integration im Vordergrund. In Europa war es zunächst Italien, das 1977 gleich radikale Tatsachen geschaffen hat. Per Gesetz wurden Kinder mit Behinderungen den nichtbehinderten Kindern gleichgestellt, und es wurden kurzerhand die »Sonderschulen« (mit Ausnahme von Institutionen zur Förderung sehr schwer behinderter Kinder) aufgelöst, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Dabei wurde die Struktur der Regelschule allerdings grundsätzlich nicht verändert, und Kinder mit Behinderungen mussten sich dort einpassen. Dieses Missverständnis von Integration (und später in der Inklusion) hat sich bis heute vielfach erhalten. Und die 1977 fehlenden integrationspädagogischen Erkenntnisse mussten über Jahrzehnte parallel zur Praxis erarbeitet und formuliert werden. Mediterraner Abenteuerlust abhold, rief man im föderalistischen Westdeutschland zur selben Zeit langjährige Forschungsprojekte zur Integration ins Leben (mit steilem Nord-Süd-Gefälle an Enthusiasmus). Dabei widmete sich das einzige offiziell nur auf Kinder mit Körperbehinderung zugeschnittene Projekt ausschließlich der Integration ins Gymnasium (Neuwied). Haupt entwickelte ein Modell (mit Vorauswahl der Kinder und zielgleicher Förderung), das nach dessen Ablauf in die Regelform übernommen wurde. In der Rückschau zeigten sich schon damals Probleme, die noch heute bei der Inklusion eine Rolle spielen und ungelöst sind: die Tendenz zur Vereinsamung von Kindern mit besonderem Förderbedarf, ihre Isolation und die als besonders schmerzhaft erlebte Nichtbeachtung durch die Mitschüler. Außerdem wurde deutlich, wie wichtig regelmäßige professionelle Beratung in Einzel- und Gruppengesprächen mit Pädagogen an der Schule waren – heute in großem Stil in die Organisation erfolgreicher Inklusion eingeflossen, in erster Linie auch im Rahmen spezifischer Fortbildung und vor allem zur Motivierung. Denn »Voraussetzung für einen positiven sozialen Umgang zwischen Schülern ohne und mit Behinderung ist zunächst sicherlich, dass die Lehrkräfte eine positive Haltung zur schulischen Inklusion vorleben« (Singer).

In den 1990er Jahren erfolgte der Paradigmenwechsel zur Inklusion, begleitet von erneuter Begriffsdiskussion (tragischerweise nachdem die Begrifflichkeit der Integration gerade mehr oder weniger abgeklärt war). Dabei wurde mindestens bis zum gesetzlichen Einschnitt 2009 unter beiden Begriffen häufig das Gleiche verstanden (Inklusion als optimierte Integration). Das war in diesen Jahren zunächst begründet durch die missverständliche Übersetzung amerikanischer Begrifflichkeit in der UN-Konvention – inclusion wurde als die vertraute Integration übersetzt und als solche aufgefasst. Grundsätzlich aber muss vereinfachend unterschieden werden zwischen Integration als Methode und Inklusion als gesellschaftlichem Weg, bei dem es nicht mehr nur um Anpassung an vorhandene Systeme geht, sondern »die Systeme selbst ihre Standards verändern« (Hinz).

Die inklusive pädagogische Förderung von körperbehinderten Kindern ist weiterhin charakterisiert durch das Schlagwort Komplexität aufgrund der extremen Heterogenität der Betroffenen bezüglich Erscheinungsbild, Entwicklungsverlauf, Förderbedürftigkeit und vor allem Kommunikation. Das stellt auch an speziell ausgebildete Förderpädagogen hohe Anforderungen: beispielsweise bei Verweigerungshaltungen als Ausdruck emotionalen Protests oder Auseinandersetzung mit begrenzter Lebenserwartung und plötzlichem Tod – Faktoren, die auch zur individuellen Vereinsamung in der Inklusion beitragen können. Insbesondere das Erkennen von Signalen der Befindlichkeit und der Leistungsbereitschaft der Betroffenen erfordert große persönliche Vertrautheit. Dabei ist ein weitgehend unterschätztes Problem bei Kindern mit leichter oder minimaler körperlicher Behinderung, dass sich Auffälligkeiten erst unter Leistungsdruck zeigen.

Ein entscheidendes drittes Schlagwort der Inklusionspädagogik ist alternativlos die selbstverständliche Transparenz des zwischenmenschlichen und pädagogischen Geschehens durch Verbalisierungen (die Teil der Lehrerausbildung sind), um »Besonderungen« und aufkommende Befürchtungen durch deren Benennung aufzulösen. Dazu gehört auch eine Form spezifischer Thematisierung vermeintlich fachfremder Gegenstände im Unterricht wie Information über Behinderungen und Befindlichkeiten (»Behinderung als Unterrichtsgegenstand« für alle Kinder). Und schließlich auch die Bewusstheit und Umsetzung von Kontaktpflege und Empathie.

Allgemein ist festzuhalten, dass die genannten übergeordneten Schlagworte systemisch-konstruktivistische Perspektive, Komplexität und Transparenz im Hinblick auf Schuleingangsdiagnostik, Schulorganisation, Unterrichtsgestaltung und Kommunikation von allen Beteiligten größtmögliche Flexibilität erfordern – die gelernt werden kann.

Idealerweise werden zwei Pädagogen pro Klasse tätig sein und wird professionelle Beratung für das Kollegium geboten. Besonders erfolgreich scheinen bisher Konzepte offenen Unterrichts zu sein, die sich aller möglichen Formen bedienen: von freier Arbeit (für Kinder mit Körperbehinderung ggf. geleitet) bis Frontalunterricht und von Einzelarbeit bzw. -betreuung bis zur Arbeit in Klein- und Großgruppen; außerdem Elemente wie individuelle Erziehungs- und Lehrpläne, Ungleichzeitigkeit des Lernens und individueller Rhythmus. Alltagspraktisches Lernen steht für alle Schüler mit Körperbehinderung zumindest gleichwertig neben dem Erwerb der Kulturtechniken. Der Unterricht findet in gemischten Alters- und Lerngruppen statt mit Förderung auf unterschiedlichem Niveau (Bedeutung des passiven Mitlernens); Verzicht auf Benotungen.

Schule mit Respekt vor der einzigartigen Biographie und Persönlichkeit des Individuums »ist nicht nur ein frommer Wunsch, sondern ein menschenrechtlicher Anspruch« (Singer). Dieser Weg bedeutet, Schule vom Kind aus zu denken – »die Inklusion hat begonnen!« (Walter-Klose).

 

Im Sommer 2014

Harry Bergeest

Einleitung

 

»Voll krank, auf ’ne andere Schule zu müssen!«, heißt es auf einem Werbeplakat der »Aktion Mensch«. Abgebildet sind drei jugendliche Schülerinnen, von denen eine in einem Rollstuhl sitzt. Die Botschaft ist eindeutig: Körperbehinderte junge Menschen gehören auf eine allgemeine Schule, sie gehören inklusiv unterrichtet. Die Werbung bestätigt unbeabsichtigt ein Ergebnis eines Forschungsprojektes, das die Herausgeber dieses Bandes im Rheinland durchführen konnten. Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung, die keine größeren Unterstützungsleistungen benötigen und sich in sozialen Beziehungen aktiv einbringen und durchsetzen können, besuchen erfolgreich diese sehr engagiert arbeitenden allgemeinen Schulen. Doch was ist mit den Schülerinnen und Schülern1, die nicht so charmant wirken wie die drei jungen Frauen auf dem Werbeplakat der »Aktion Mensch«? Was ist mit jungen Menschen, die Probleme haben, soziale Beziehungen konstruktiv zu gestalten, oder die keine Eltern haben, die sich aktiv in Schulprozesse einbringen können oder wollen?

Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung berichten immer wieder davon, dass sie viele Schülerinnen und Schüler aufnehmen müssen, die aus der Integration/Inklusion zurückkommen, weil allgemeine Schulen ihnen kein passendes schulisches Bildungsangebot machen konnten und sie dort großen Belastungen ausgesetzt waren. Ein Sachverhalt, der bis vor wenigen Jahren nicht empirisch untersucht wurde.

Kinder und Jugendliche mit einer Körperbehinderung sind eine ausgesprochen heterogene Schülergruppe. Es sind eben nicht nur diejenigen, die Rollstuhl fahren und die vor allem körperlich beeinträchtigt sind. Es sind auch Schülerinnen und Schüler, die weitere Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten haben, die nicht direkt sichtbar sind, die sich aber als bedeutsam erweisen, wenn sie erfolgreich lernen und am sozialen Leben teilnehmen wollen. Ebenso zählen hierzu Schülerinnen und Schüler mit komplexem Unterstützungsbedarf, die bisher fast überhaupt nicht in die Debatte einbezogen werden. Themen wie Gesundheit, Pflege und Therapie haben für viele dieser Kinder und Jugendlichen eine besondere Bedeutung in ihrem leiblichen Dasein. Wenn auch sie am inklusiven Schulentwicklungsprozess teilhaben sollen, müssen diese Themen in inklusiven Schulen als bedeutsam erkannt und berücksichtigt werden.

Die schulpolitischen Entwicklungen in den Bundesländern sind bezogen auf den hier angesprochenen Personenkreis derzeit außerordentlich unterschiedlich. Einerseits scheint die Bedeutung der Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung durch die aktuellen Entwicklungen in den meisten Bundesländern nicht in Frage gestellt zu werden. Andererseits werden die Möglichkeiten der Schulen zumeist nicht ernsthaft in inklusive Schulentwicklungsprozesse einbezogen. Initiativen entstehen eher aus einigen Schulen selbst heraus, als dass diese systematisch gesucht werden. Die Inklusionsquote dieser Schülergruppe bleibt in den meisten Bundesländern relativ stabil bei etwa 20–30%, obwohl die Gruppe »der« Schülerinnen und Schüler mit einer Körperbehinderung allgemein als leicht »inkludierbar« gilt. Nationale und internationale Studien weisen zudem darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler vorwiegend außerhalb des allgemeinen Schulwesens unterrichtet werden, sobald zu einer Körperbehinderung weitere Probleme in Bereichen wie der Wahrnehmung und des Lernens oder eine höhere Therapie- oder Pflegebedürftigkeit hinzutreten. Dies sollte und kann nicht automatisch als aussondernd bezeichnet werden, wird hiermit doch häufig im Sinne des Artikels 24, Abs. 1, Satz 1 das Recht der Schüler auf bestmögliche schulische Bildungsangebote anerkannt und gesichert. Die hier nur skizzierte Situation verweist auf eine Komplexität der Inklusionsentwicklung, die in diesem Band theoretisch und praxisorientiert für die Personengruppe der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung differenziert reflektiert wird.

Die Systematik des vorliegenden Bandes spiegelt die Vielfältigkeit der aktuellen Diskussionen wider, die sich mit dem Begriff der Inklusion verbinden. Er baut auf einem Forschungsprojekt auf, das von den Herausgebern in den Jahren 2010 bis 2012 durchgeführt wurde. Der Band nimmt das Problemfeld der Inklusion aus der Perspektive von fünf unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Zugängen in den Blick:

Das erste Kapitel skizziert historische Entwicklungen der Körperbehindertenpädagogik in Deutschland und stellt den Prozess und die Situation der inklusiven Schulentwicklung in diesem Förderschwerpunkt bis zum Herbst 2013 dar.

Aus einer theoretisch-philosophischen Perspektive und anhand empirischer Daten diskutiert Kapitel zwei die Grundlagen des inklusionspädagogischen Ansatzes in ihrer Relevanz für (schwerer) körperlich und geistig behinderte Menschen. Das Potenzial des inklusiven Ansatzes wird durch die einseitig normative Sichtweise auf Inklusion nicht nur aufs Spiel gesetzt – diese Ausrichtung könnte gravierende Konsequenzen haben und der Anerkennung und Teilhabe schwerer körperlich und geistig behinderter Menschen auf paradoxe Weise zuwiderlaufen.

Kapitel drei widmet sich wesentlichen durch eine Körperbehinderung bedingten Auswirkungen und stellt deren pädagogische Bedeutsamkeit für inklusive Situationen heraus. Im Fokus stehen dabei besonders Kinder und Jugendliche mit cerebralen Bewegungsstörungen und Jungen mit fortschreitenden Muskelerkrankungen.

Im vierten Kapitel legen zwei Artikel den empirischen Forschungsstand der inklusiven Schulentwicklung in Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung dar. Ausgehend von der Auswertung nationaler und internationaler Studien zum Gemeinsamen Unterricht der vergangenen 40 Jahre, leitet Walter-Klose Empfehlungen für den Aufbau inklusiver Bildungssysteme ab. Es zeigt sich, dass eine spezifische Perspektive auf Schülerinnen und Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung notwendig ist, um Fragen bestmöglicher Unterrichts- und Schulqualität differenziert beantworten zu können. Singer stellt die Ergebnisse des Forschungsprojektes »Ermittlung von Qualitätsbedingungen für den Ausbau gemeinsamer Beschulung (schulische Inklusion) und Sicherung des bestmöglichen schulischen Bildungsangebots (Art. 24, 2e der UN-Konvention) von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung« vor. Neben den Erfahrungen von Schülern, ihren Eltern und Lehrkräften in gelingenden inklusiven Schulsituationen wurden in diesem Projekt ebenso die Erfahrungen von Schülern, die an eine Förderschule wechselten, berücksichtigt. Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen vor allem sozial-integrative Aspekte einer gelingenden schulischen Inklusion. Aus der Perspektive der Schulentwicklung stellt Walter-Klose in seinem zweiten Kapitel von IV einen Leitfaden vor, der den Unterstützungsbedarf der Schülerinnen und Schüler sowie die individuellen schulorganisatorischen Anpassungsnotwendigkeiten in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Er kann in der Praxis für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit Körperbehinderung in die allgemeine Schule sowie zur Reflexion der Anpassung von Schule und Unterricht an das jeweilige Kind verwendet werden und wurde auf Basis der empirischen Arbeiten entwickelt.

Im fünften Kapitel berichten sechs Autorinnen und Autoren von unterschiedlichen praktischen Beispielen. Vorgestellt werden zum einen Beispiele, in denen allgemeine Schulen im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses inklusive Bildungsangebote eröffnen, erproben oder bereits über viele Jahre hinweg praktisch anbieten. Zum anderen werden Beispiele beschrieben, in denen Förderschulen körperliche und motorische Entwicklung neue Beratungsangebote entwickeln, die Bildungsmöglichkeiten in inklusiven, allgemeinen Schulen initiieren und unterstützen.

Der Band richtet sich insbesondere aufgrund seiner vielfältigen Zugänge zur Thematik der Inklusion gleichermaßen an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, an Studierende und Lehramtsanwärter, ebenso an Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und in der Schulaufsicht Tätige, die hier zahlreiche theoretische und praktische Anregungen finden. Die Herausgeber und die Autorinnen und Autoren hoffen, mit diesem Band sowohl einen Beitrag zu einer intensiven Fortführung der wissenschaftlichen Diskussion um Inklusion als auch zu einer verstärkten Entwicklung schulischer Inklusionsangebote zu leisten. Unser Dank gilt besonders allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge zu diesem Band. Für Rückfragen und Diskussionen stehen alle Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.

Würzburg im August 2014

Reinhard Lelgemann

Philipp Singer

Christian Walter-Klose

1     Im vorliegenden Buch wurde es den Autoren überlassen, weibliche und/oder männliche Geschlechtsbezeichnungen in ihren Texten zu verwenden. Mit der jeweils verwendeten Sprachform geht ein Respekt für die Vielfalt aller Menschen einher.

 

 

 

 

 

I

Körperbehindertenpädagogik und Inklusion

Körperbehindertenpädagogik: Exklusives Bildungsangebot in inklusiven Zeiten – Gedanken zur Geschichte, Gegenwart und nahen Zukunft

Reinhard Lelgemann

Die schulisch orientierte Körperbehindertenpädagogik ist innerhalb der Sonderpädagogik ein kleines Fachgebiet, welches dadurch herausgefordert ist, dass sich die Schülerschaft in allen Schulen unterschiedlich darstellt und in ständigen Veränderungsprozessen befindet, auch wenn die weiterhin größte Einzelgruppe Schülerinnen und Schüler mit einer infantilen Cerebralparese sind (vgl. Hansen, 2012; Lelgemann/Fries, 2009). In der Inklusionsdebatte wird die Schülerschaft vor allem als Gruppe der vornehmlich körperbehinderten Kinder und Jugendlichen wahrgenommen, die scheinbar, außer einem Mobilitätsproblem, nur geringe Lern- und Lebenserschwernisse bewältigen müssen. In vielen Förderschulen dagegen finden sich vor allem mehrfach oder stark beeinträchtige Schülerinnen und Schüler.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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