Inklusive Pädagogik - Ulrich Heimlich - E-Book

Inklusive Pädagogik E-Book

Ulrich Heimlich

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Beschreibung

Wenn die konkrete Utopie einer inklusiven Gesellschaft in Kindertageseinrichtungen, Schulen, im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich Wirklichkeit werden soll, dann sind alle pädagogischen Fachkräfte aufgefordert, sich mit den Grundlagen einer inklusiven Pädagogik auseinanderzusetzen. Hier setzt das Buch an: Es stellt die inklusive Pädagogik als Basiselement für alle pädagogischen Handlungsfelder heraus und macht deutlich, dass die gesamtgesellschaftliche Inklusion eine Querschnittsaufgabe der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Teildisziplinen der Allgemeinen Pädagogik und Bildungsforschung, der Andra- und der Geragogik sowie der Schulpädagogik, der Sonderpädagogik und Sozialpädagogik ist. Denn obwohl Inklusion in aller Munde ist, mangelt es trotzdem immer noch an der praktischen Umsetzung, deren Ziel die Inklusion aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung in alle gesellschaftlichen Bereiche von der Kita über die Schule bis hin zum Berufsleben ist. Entsprechend weist das Buch nicht nur Wege der Inklusion in Bildungsinstitutionen auf, sondern vermittelt auch pädagogische Kompetenzen für die inklusiven Aufgaben begleitend zum gesamten Lebenslauf von Menschen mit Behinderung. Anschließend werden - theoretisch fundiert - grundlegende Handlungskonzepte der inklusiven Pädagogik vorgestellt: von der inklusiven Spielförderung über die inklusive Diagnostik bis hin zur inklusiven Beratung.

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Der Autor

Prof. Dr. Ulrich Heimlich ist Universitätsprofessor für Lernbehindertenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Ulrich Heimlich

Inklusive Pädagogik

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033495-3

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-033496-0

epub:     ISBN 978-3-17-033497-7

mobi:     ISBN 978-3-17-033498-4

Vorwort

 

 

 

Meine erste Publikation zum Thema Integration/Inklusion erschien im Jahre 1985 unter dem Titel »Integration behinderter Kinder im Regelkindergarten – Wo bleiben die sozial benachteiligten Kinder?« Seither hat mich das Thema Integration und später Inklusion nicht mehr losgelassen. Ich konnte Integrations- und Inklusionsentwicklungen in Kindertageseinrichtungen, Schulen und darüber hinaus im Arbeits- und Wohnbereich sowie im Gemeinwesen in Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Bayern wissenschaftlich begleiten. Dabei habe ich immer versucht, nicht nur aus dem »Elfenbeinturm« in der »reinen Luft« der wissenschaftlichen Reflexion über praktische Entwicklungen zur Integration und Inklusion zu urteilen. Vielmehr war es mir stets ein Anliegen, die begleiteten Einrichtungen zu besuchen und die alltäglichen Nöte und Sorgen der praktisch pädagogisch Tätigen vor Ort kennenzulernen. Dies hilft meiner Erfahrung nach, einen realistischen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Integration bzw. Inklusion zu werfen. Dieser kritische Realismus bleibt nicht bei der vorhandenen Wirklichkeit stehen, sondern geht nur von dieser aus. Zugleich schafft dieser Blickwinkel aber eine Sensibilität für das, was ich »nächste Schritte« nenne. Integrations- und jetzt Inklusionsentwicklungen zu unterstützen heißt zu lernen, auf das zu schauen, was als nächstes möglich ist. Es heißt nicht, vor Grenzen zu kapitulieren und diese in jedem Fall zu akzeptieren. Grenzen sind vielmehr Aufgaben, wie mir eine Schulleiterin einmal als Motto ihrer Schule mit auf den Weg gegeben hat. Das bedeutet nicht, dass jeweils unmittelbar eine Lösung der Aufgabe parat sein muss. Aber es heißt, dass wir in Zusammenhang mit Integration und Inklusion ständig aufgefordert sind, Grenzen zu überschreiten und Grenzen zu verschieben. Zu viele Denkverbote existieren noch in Bezug auf das, was im integrativen bzw. inklusiven Zusammenhang möglich ist. Wer sich jedoch von vornherein mit der angeblichen Unmöglichkeit zufrieden gibt, der verstellt sich selbst den Blick für überraschende Einsichten.

Mir liegt sehr viel daran, mich als Sonderpädagoge mit dem Thema »Inklusion« zu beschäftigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ohne sonderpädagogische Fachkompetenz die Aufgabe der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung und ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben nicht in der nötigen Qualität umgesetzt werden können. Ich habe mich deshalb in meiner eigenen Forschungstätigkeit als Sonderpädagoge auch speziell mit dem Zusammenhang von Inklusion und Qualität beschäftigt. Nach meiner Erfahrung schafft ein qualitativ hochstehendes Bildungs- und Unterstützungsangebot die Voraussetzungen für eine gelungene Inklusion. Dies ist nur mit sonderpädagogischer Fachkompetenz zu erreichen. Insofern konzentriere ich mich in meinem Beitrag zur inklusiven Pädagogik auf diesen engen Inklusionsbegriff, in dem Menschen mit Behinderung besonders im Vordergrund stehen. Zu groß erscheint mir die Gefahr, dass das Thema »Behinderung« in einem breit angelegten Diversitäts- Diskurs ausgeblendet wird.

Gleichzeitig müssen wir akzeptieren, dass alle Bemühungen um mehr gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung ihre Grenzen an deren Selbstbestimmungsrechten finden. Im Extremfall haben Menschen mit Behinderung das Recht, sich nicht inkludieren zu lassen, wie mir ein Vertreter einer Selbsthilfegruppe von Menschen mit Behinderung einmal entgegengehalten hat. Inklusion als Zwangsmaßnahme auf dem Weg über politische Verordnungen im Sinne von top-down-Prozessen schafft meiner Erfahrung nach keine Entwicklungsmöglichkeiten, sondern fördert eher Widerstände. Insofern setze ich mich für das Wahlrecht der Eltern bezogen auf den Förderort und die Betreuungsform ein. Und auch die pädagogisch Tätigen sollten sich selbst entscheiden können, inwieweit und v. a. in welcher Geschwindigkeit sie sich in inklusive Prozesse hineinbegeben. Dieses Prinzip der Freiwilligkeit ist meiner Erfahrung nach unabdingbar für eine nachhaltige Inklusionsentwicklung, die auf Dauer tragfähig ist. Und diese Entwicklung benötigt gute Rahmenbedingungen im Sinne einer guten personellen und auch einer materiellen Ausstattung des jeweiligen inklusiven Settings. Allen anderen Verlautbarungen zum Trotz ist die inklusive Haltung der pädagogisch Tätigen nicht die einzige Ressource für inklusive Prozesse. Sie ist zudem eine Ressource, die umsichtig behandelt sein will, da sie schnell verschleißen kann, wenn sie nicht eine entsprechende Absicherung durch Unterstützungssysteme erfährt. Inklusion ist als Einsparungsmaßnahme jedenfalls gründlich missverstanden und würde hinter erreichte Standards in der Hilfe für Menschen mit Behinderung zurückfallen. Ich plädiere deshalb für eine langfristige Perspektive der Inklusion und einen langen Atem. Andernfalls stehen wir in der Gefahr, das Kind mit Behinderung einmal mehr mit dem inklusiven Bade auszuschütten.

Und nun hoffe ich, dass der Band »Inklusive Pädagogik« eine hilfreiche Rolle bei der Vorbereitung auf eine inklusive Praxis im Bildungssystem und in der Gesellschaft spielen kann.

München, im April 2019

Ulrich Heimlich

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

Inklusive Pädagogik im Rahmen der Bildungs- und Erziehungswissenschaft – eine Einleitung

1 Von der Exklusion zur Inklusion – die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und ihre bildungspolitischen Folgen

1.1 Behinderung und Inklusion in der UN-BRK

1.2 Inklusion als bildungspolitisches Leitbild in der UN-BRK

1.3 Exklusion, Separation, Integration, Inklusion – ein historischer Rückblick

1.3.1 Anfänge der Inklusion im Bildungssystem

1.3.2 Geschichte der Integrationsbewegung nach 1945

1.4 Zusammenfassung: Inklusion als Bildungsreform

2 Teilhabe entwickeln – Arbeitsfelder inklusiver Pädagogik

2.1 Kindertageseinrichtungen (Elementarbereich)

2.1.1 Praxis inklusiver Bildung im Elementarbereich

2.1.2 Konzeptionelle Bausteine inklusiver Bildung im Elementarbereich

2.1.3 Organisation inklusiver Bildung im Elementarbereich

2.1.4 Unterstützungssysteme inklusiver Bildung im Elementarbereich

2.2 Allgemeine Schulen (Primar- und Sekundarbereich)

2.2.1 Praxis des inklusiven Unterrichts

2.2.2 Konzeptionelle Bausteine des inklusiven Unterrichts

2.2.3 Organisation des inklusiven Unterrichts

2.2.4 Unterstützungssysteme für inklusiven Unterricht

2.3 Hochschulen und Erwachsenenbildung (Tertiär- und Quartärbereich)

2.3.1 Inklusive Erwachsenenbildung/ Weiterbildung

2.3.2 Inklusive Hochschule

2.4 Inklusion im Beruf

2.4.1 Indirekte berufliche Inklusion

2.4.2 Direkte berufliche Inklusion

2.5 Inklusion im Gemeinwesen

2.5.1 Inklusives Wohnen

2.5.2 Inklusive Regionen

2.6 Zusammenfassung: Inklusionsnetzwerke

3 Gemeinsamkeit erfahren – Handlungskonzepte inklusiver Pädagogik

3.1 Inklusive Spielförderung

3.1.1 Inklusive Spielsituationen

3.1.2 Methoden inklusiver Spielförderung

3.2 Inklusive Didaktik

3.2.1 Prinzipien des inklusiven Unterrichts

3.2.2 Methoden des inklusiven Unterrichts

3.2.3 Didaktische Modelle des inklusiven Unterrichts

3.2.4 Planung des inklusiven Unterrichts mit Hilfe der inklusionsdidaktischen Netze

3.3 Inklusive Schulentwicklung

3.3.1 Pädagogische Schulentwicklung und Inklusion

3.3.2 Inklusive Schulentwicklung als Projektlernen

3.3.3 Qualitätssicherung und Evaluation in der inklusiven Schulentwicklung

3.4 Normalisierung und Inklusion

3.4.1 Elemente und Ebenen des Normalisierungskonzepts

3.4.2 Entwicklungsperspektiven des Normalisierungskonzepts

3.5 Zusammenfassung: Inklusive Erfahrungen

4 Voneinander lernen – Theoriemodelle inklusiver Pädagogik

4.1 Behinderung und Inklusion – Begriffliche Klärung 195

4.1.1 Von der Behinderung zum sonderpädagogischen Förderbedarf

4.1.2 Von der Integration zur Inklusion

4.2 Grundkonzeptionen integrativer Pädagogik – ein Rückblick nach vorn

4.2.1 Materialistisches Modell der Integration (Georg Feuser)

4.2.2 Interaktionistisches Modell der Integration (Hans Eberwein)

4.2.3 Integration als Prozess (Helmut Reiser)

4.2.4 Ökosystemisches Modell (Alfred Sander)

4.3 Auf der Suche nach der Grundlagen inklusiver Bildung

4.3.1 Pädagogik der Vielfalt (Annedore Prengel)

4.3.2 Inklusive Pädagogik als demokratische Pädagogik

4.4 Zusammenfassung: Inklusive Situationen

5 Zusammen arbeiten – Qualifikation für inklusive Pädagogik

5.1 Kompetenzprofil inklusiver Pädagogik

5.2 Qualifikation frühpädagogischer Fachkräfte für inklusive Bildung

5.3 Inklusive Lehrerbildung

5.4 Inklusive Pädagogik im erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudium (B.A./M.A.)

5.5 Zusammenfassung: Inklusive Kompetenzen

Ausblick: Inklusive Momente im Bildungsprozess – Aspekte einer inklusiven Bildungstheorie

Literaturverzeichnis

Sachregister

Inklusive Pädagogik im Rahmen der Bildungs- und Erziehungswissenschaft – eine Einleitung

 

 

»Dass Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefasst wird, das ist ein Ziel, um das es uns gehen muss.« (Richard von Weizsäcker 1993)

Inklusion ist in aller Munde und offenbar als Thema mitten in der Gesellschaft angekommen. Das Menschenrecht auf soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben bedarf allem Anschein nach noch weiterer gemeinsamer Anstrengungen zu seiner praktischen Durchsetzung und kann nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden – auch nicht in einer demokratisch verfassten Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland. Inklusion geht uns alle an, als Arbeitskollegen, als Mitbürger und als Nachbarn. Es steht schlicht und ergreifend die Frage im Raum, wie wir in unserer Gesellschaft mit Unterschieden umgehen wollen – oder wie die »Aktion Mensch« es treffend formuliert hat: »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« (https://www.presseportal.de/pm/43707/795865). Und diese Frage betrifft keineswegs nur Menschen mit Behinderung. Diskriminierung von Frauen, soziale Benachteiligung von Menschen in Armut, Ausgrenzung von Menschen aus anderen kulturellen Hintergründen, aufgrund von sexueller Orientierungen oder von alten Menschen – all das findet in unserer Gesellschaft tagtäglich statt und zeigt uns so, dass das Recht auf soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben keineswegs für alle Mitglieder einer Gesellschaft in gleicher Weise gilt. Insofern tun wir als Gesellschaft gut daran, das Thema Inklusion in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu stellen.

In der zu Ende gehenden ersten Dekade nach Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Deutschland im Jahre 2009 häufen sich allerdings mittlerweile auch die kritischen Stimmen. Von einer »Inklusionsfalle« (vgl. Felten 2017) und einer »Inklusionslüge« (vgl. Becker 2016) oder gar einer »Bruchlandung« (vgl. Nöldeke 2018) ist da die Rede. Grundsätzlich wird die Idee der Inklusion dabei nicht infrage gestellt. Kritisiert wird allerdings die politische und insbesondere die bildungspolitische Umsetzung. Eine infas-Studie im Auftrag der »Aktion Mensch« und der Wochenzeitschrift »DIE ZEIT« kommt zu dem Ergebnis, dass die Idee der Inklusion sehr wohl von einer Mehrheit der repräsentativ Befragten unterstützt wird. Allerdings gibt es nach wie vor eine große Skepsis bezogen auf die Bereitschaft der politisch Verantwortlichen, dafür die nötigen Ressourcen bereitzustellen (vgl. DIE ZEIT Nr. 14 vom 28.03.2019, S. 62). Auch auf die Grenzen in der Gesellschaft und v. a. die ökonomischen Restriktionen z. B. auf dem Arbeitsmarkt wird dabei hingewiesen. Zugleich dämmert uns allen langsam, dass wir hier nicht nur ein bisschen »Kosmetik« benötigen, an einem ansonsten unverändert bleibenden Bildungssystem z. B. oder gar einer Gesellschaft, in der sich nach wie vor Tendenzen zur Exklusion und Marginalisierung von Menschen zeigen. Den Anspruch einer inklusiven Gesellschaft und eines inklusiven Bildungssystems in die Tat umzusetzen bedarf einer gemeinsamen Kraftanstrengung, die nicht auf kurzfristige Erfolge beschränkt bleiben darf. Hier ist ein langer Atem gefordert, wenn tatsächlich nachhaltige Inklusionsentwicklungen angestoßen werden sollen.

Der bundesdeutsche Inklusionsdiskurs krankt allerdings nach wie vor an einer weit verbreiteten Verwechslung von Konzept im Sinne von Zielsetzungen und Soll-Zuständen auf der einen Seite und praktischer Umsetzung im Sinne von alltäglichen nächsten Schritten auf der anderen Seite. Konzept und Praxis der Inklusion unterscheiden sich jedoch häufig sehr weitgehend. Möglicherweise ist es sogar eine der wichtigsten Herausforderungen für pädagogische und soziale Berufe, dieses Spannungsverhältnis von Konzept und Praxis auszuhalten. Ideale Formen der Umsetzung dürften auch im Feld der Inklusion selten sein. Zu akzeptieren wäre deshalb, dass Inklusion ein Prozess ist, ein gemeinsamer Weg, der von einem real existierenden Bildungssystem und einer real existierenden Gesellschaft ausgeht.

Dies auszublenden würde den Blick verstellen auf die Mühen der tagtäglichen Umsetzung von Inklusion und die Notwendigkeit, in kleinen Schritten zu denken und zu handeln. Gerade in dem Maße, wie das Thema »Inklusion« mitten in der Gesellschaft angekommen ist, stehen wir nunmehr auch vor der Aufgabe, alle Menschen auf diesem Weg mitzunehmen, auch diejenigen, die sich mit diesem Thema bislang überhaupt noch nicht beschäftigt haben. Einseitige Polemik – von welcher Seite auch immer – hilft da nicht weiter (vgl. Schumann 2018; Speck 2011). Angesichts eines jahrzehntelangen einseitigen Ausbaus der separierenden Bildungsangebote verfügen die meisten Erwachsenen bislang nicht über inklusive Lernerfahrungen in einem Bildungssystem, in dem die Heterogenität der Lernenden als Grundlagen jeglichen Bildungsangebotes ernst genommen worden wäre. Insofern haben viele Menschen in dieser Gesellschaft bislang keine inklusiven Erfahrungen sammeln können. Auch darauf sollte die Inklusionsentwicklung im Bildungssystem und in der Gesellschaft Rücksicht nehmen.

Es muss in diesem Zusammenhang immer wieder betont werden: Auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung haben das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben in umfassender sozialer Teilhabe. Mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung von 2006 (vgl. Vereinte Nationen 2009) ist dieser Anspruch völkerrechtlich verbindlich geworden. Die Tatsache, dass dieser Anspruch auch gegenwärtig noch immer durch schriftliche Fixierung und Ratifizierung in Erinnerung gerufen werden muss, ist selbst schon Symptom eines gesellschaftlichen Missstandes. Wenn diese konkrete Utopie einer inklusiven Gesellschaft in Kindertageseinrichtungen, Schulen, im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich Wirklichkeit werden soll, so sind alle pädagogischen Fachkräfte aufgefordert, sich mit den Grundlagen einer inklusiven Pädagogik auseinander zu setzen.

Der vorliegende Band ist als Einführungsband in die vielfältigen Arbeitsfelder, Handlungskonzepte und Theoriemodelle einer inklusiven Pädagogik entstanden. Er soll vorrangig auf den Erwerb von pädagogischen Kompetenzen für die inklusiven Aufgaben begleitend zum Lebenslauf von Menschen mit Behinderung vorbereiten (Inklusion im engeren Sinne). Inklusion zielt allerdings auch auf andere Formen von Heterogenität: Geschlecht, kultureller Hintergrund, sexuelle Orientierung, Alter, soziale Herkunft usf.). Dieses weite Verständnis von Inklusion (Inklusion im weiteren Sinne) ist hier jedoch nur am Rande mit eingearbeitet. Es soll damit deutlich gemacht werden, dass gerade Menschen mit Behinderung in einem modernen Diversitäts-Diskurs besonders beachtet werden sollten. Dabei müssen die weiteren Heterogenitätsdimensionen (Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale und kulturelle Herkunft usf.) durchaus weiter bewusst bleiben, zumal auch Menschen mit Behinderung als Frauen, als alte Menschen, als sozial Benachteiligte zusätzlichen Exklusionsgefahren ausgesetzt sind. Der Diversitäts-Diskurs zeigt jedoch bereits jetzt, dass erneut die Gefahr besteht, Menschen mit Behinderung im Verhältnis zu den anderen Heterogenitätsdimensionen zu vernachlässigen. Deshalb gibt es gute Gründe, sich mit den Rechten auf gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung in besonders intensiver Weise zu beschäftigen (vgl. Hedderich/Biewer/Hollenweger/Markowetz 2016).

Inklusive Pädagogik wird hier als Basiselement für alle pädagogischen Qualifikationsprozesse angesehen. Mit dem Begriff »Inklusive Pädagogik« ist dabei weniger eine eigenständige erziehungs- und bildungswissenschaftliche Disziplin angesprochen, wie das der Begriff »Inklusionspädagogik« (vgl. Textor 2015) nahelegt, sondern vielmehr eine Querschnittsaufgabe der erziehungs- und bildungswissenschaftliche Teildisziplinen der Allgemeinen Pädagogik und Bildungsforschung, der Andra- und der Geragogik sowie der Schulpädagogik, der Sonderpädagogik und der Sozialpädagogik gemeint. Inklusive Pädagogik kann dabei keineswegs ahistorisch etwa erst im Nachgang zum Inkrafttreten der UN-BRK entwickelt werden. Vielmehr entsteht diese Querschnittsaufgabe in jüngster Zeit in Deutschland auf der Basis einer über 40-jährigen Geschichte der Bemühungen um mehr Integration und Inklusion für Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft. Auf diesen Erfahrungen gilt es aufzubauen, allerdings nicht ohne den weiteren Schritt zu gehen, der mit dem Konzept der Inklusion ansteht. Während Integrationsmaßnahmen stets eine vorausgegangene Separation beinhalten und darauf abzielen, etwas vorher Getrenntes wieder zusammenzuführen, geht es bei Inklusionsmaßnahmen darum, dass von vornherein auf jegliche Aussonderung verzichtet wird und alle Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen (und auch im Bildungssystem) willkommen geheißen werden. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff »Integration« im weiteren Verlauf der Darstellung im Sinne eines Rückblicks auf die Bemühungen um eine Wiederherstellung von mehr Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung verwendet. Der Begriff »Inklusion« steht mit dem Inkrafttreten der UN-BRK eher für die neue Zielsetzung der umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe in Verbindung mit der Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Der Band baut auf dem Vorläuferband »Integrative Pädagogik – eine Einführung« von 2003 auf und soll insbesondere vor dem Hintergrund der UN-BRK aktualisiert sowie durch eigene Forschungs- und Entwicklungsprojekte ergänzt werden. Angesichts der Fülle der Publikationen zur Inklusion allein im Bildungsbereich seit 2009 ist allerdings hier Vollständigkeit von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Insofern ist es notwendig, hier eine Auswahl zu treffen, in die sicher auch subjektive Aspekte eingeflossen sind. Im Vordergrund steht bei der Neugestaltung des Bandes eine didaktisch-methodische Überarbeitung, um den Lehr- bsw. Studienbuchcharakter noch stärker hervorzuheben. Der grundlegende Aufbau des Buches ist jedoch beibehalten worden: Ausgehend von den Arbeitsfeldern inklusiver Pädagogik werden die Handlungskonzepte und die Theoriemodelle einer inklusiven Pädagogik dargestellt.

Abb. 1: Ebenen der Theoriebildung in der inklusiven Pädagogik

Vorangestellt werden in Kapitel 1 (Kap. 1) zunächst die zentralen Aussagen der UN-BRK. Neben der menschenrechtlichen Perspektive steht im pädagogischen Zusammenhang sodann der Leitbildcharakter der Inklusion für die Bildungspolitik zur Diskussion. Um das Neue an dem Konzept der Inklusion nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, einen Rückblick auf die historische Entwicklung in der Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu wagen. Erst dabei kann deutlich werden, inwiefern Inklusion im Kontrast zu Tendenzen der Exklusion, der Separation und der Integration steht. Im Ergebnis soll dabei deutlich werden, in welchem Maße Inklusion als Teil einer Bildungsreform angesehen werden kann

Kapitel 2 (Kap. 2) beinhaltet den Versuch, von der Praxis der Inklusion vorrangig im deutschsprachigen Raum auszugehen und die Arbeitsfelder einer inklusiven Pädagogik angefangen bei den Kindertageseinrichtungen über die Schulen des Primar- und Sekundarbereichs bis hin zum Übergang in den Beruf und der Inklusion in das Gemeinwesen in ihrer organisatorischen Struktur aufzuzeigen. Hier steht der Ort der inklusiven Entwicklungen im Vordergrund (Frage nach dem »Wo?«). An dieser Stelle werden auch aktuelle empirische Daten zur Inklusionsentwicklung im deutschsprachigen Raum eingearbeitet. Im Bild des Netzwerkes werden diese Entwicklungen der vergangenen vier Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum zusammengeführt.

Die Frage, wie pädagogische Fachkräfte in inklusiven Settings handlungsfähig werden können, steht im Mittelpunkt des Kapitels 3 (Kap. 3) (Frage nach dem »Wie?«). Inklusive Spielförderung, inklusiver Unterricht, inklusive Schulentwicklung sowie das Konzept der Normalisierung fungieren hier als ausgewählte Beispiele für pädagogische Handlungskonzepte, die sich für die inklusive Entwicklung als hilfreich und effektiv erwiesen haben. All diese pädagogischen Bemühungen zielen darauf ab, inklusive Erfahrungen zu ermöglichen, in welchem Kontext auch immer.

Erst aufbauend auf diesen Einblicken in die Praxis und die Handlungskonzepte sollen die Begründungszusammenhänge einer inklusiven Pädagogik in Kapitel 4 (Kap. 4) thematisiert werden (Frage nach dem »Warum?«). Auch in der Praxis werden pädagogische Fachkräfte mit der Situation konfrontiert, ihre professionelle Tätigkeit zu rechtfertigen. Sie müssen deshalb nicht nur wissen, wie inklusive pädagogische Maßnahmen praktisch funktionieren. Sie müssen diese auch begründen können. Immer dann, wenn wir versuchen, Begründungszusammenhänge für pädagogisches Handeln zu entdecken, betreten wir das Feld der Theorie. Damit ist nicht mehr und nicht weniger als »Betrachtung« im Sinne der Bedeutung des griechischen Wortursprungs »theoria« gemeint. Handeln und Reflektieren gehören auch im Zusammenhang inklusiver Pädagogik unauflöslich zusammen. Das reicht bis hin zu der faszinierenden Möglichkeit des menschlichen Gehirns, über das eigene Nachdenken nachzudenken (sog. »Metatheorie«). Theoriekonzepte einer inklusiven Pädagogik unterscheiden sich also von bloßen Handlungskonzepten durch die Thematisierung von Handlungs- und Reflexionsprozessen. In diesem Zusammenhang erfolgt nicht nur ein Rückblick auf zentrale Theorienentwürfe einer integrativen Pädagogik und deren Relevanz für eine inklusive Pädagogik. Es werden auch neuere Beiträge insbesondere zur Grundlegung einer inklusiven Bildungskonzeption vorgestellt.

Kapitel 5 (Kap. 5) enthält einige Überlegungen zu den Konsequenzen aus dem gegenwärtigen Entwicklungsstand einer inklusiven Pädagogik für die Qualifikationsprozesse von pädagogischen Fachkräften. Dabei dürfte unmittelbar nachvollziehbar sein, dass die gemeinsame Kraftanstrengung der Inklusionsentwicklung im Bildungssystem und in der Gesellschaft nur auf der Basis einer angemessenen professionellen Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte für diese Aufgabe gelingen kann. Hier gilt es zu klären, welche inklusiven Kompetenzen in diesen Qualifizierungsprozessen bei frühpädagogischen Fachkräften und bei Lehrkräften anzubahnen sind und wie letztlich eine inklusive Haltung ausgebildet werden kann.

Im Ausblick zum Abschluss wird die offene Frage nach einer inklusiven Bildungstheorie aufgeworfen. In Anlehnung an Friedrich Copeis Überlegungen zum »fruchtbaren Moment im Bildungsprozess« (vgl. Copei 1930) wird hier der Vorschlag gemacht, von »inklusiven Momenten im Bildungsprozess« (vgl. Heimlich 2017b; Platte/Krönig 2017) als Kern einer inklusiven Bildungstheorie auszugehen. Auch wenn die Planbarkeit von solchen Momenten durchaus in Zweifel steht und allein der Begriff »inklusive Momente« implizit bereits zu Bescheidenheit auffordert, dürfte es doch genau darum gehen, sich Klarheit über diese kleinen Momente zu verschaffen, deren inklusiven Gehalt zu definieren und so bereits die Anfänge inklusiver Prozesse aufmerksam verfolgen zu können.

Leitend für den Band ist in theoretischer Hinsicht das ökologische Paradigma im Anschluss an Urie Bronfenbrenner (1989). Damit ist v. a. eine konsequente Person-Umfeld-Orientierung angesprochen, in der Behinderung und andere Heterogenitätsdimensionen nicht nur als Frage an den Einzelnen (personaler Aspekt), sondern ebenso in ihrer Beziehungsstruktur (sozialer Aspekt) und in der je konkreten Situation (ökologischer Aspekt) gesehen wird. Zusammengeführt werden die theoretischen Überlegungen im Begriff der inklusiven Situationen, die es in den unterschiedlichen Settings zu gestalten und zu begründen gilt.

Jedes Kapitel wird mit einem kurzen Überblick »Zum Einstieg« im Sinne eines Advance Organizers eingeleitet, um die Leserinnen und Leser auf die folgenden Überlegungen einzustimmen. Die Zitate zu Beginn der einzelnen Kapitel sollen darüber hinaus jeweils einen wesentlichen Aspekt der Inklusion verdeutlichen. In den einzelnen Kapiteln sind inklusive Situationen aus der inklusiven Praxis und wichtige Forschungsprojekte (Forschung inklusiv) aus der empirischen Bildungsforschung zur Inklusion in Kurzporträts für die vertiefende Lektüre eingearbeitet. Da in diesem Zusammenhang häufig Gelingensbedingungen von Inklusion im Vordergrund stehen, sollen auch die möglichen Schwierigkeiten nicht unerwähnt bleiben und in der Rubrik »Baustellen der Inklusion« skizziert werden. Kommentierte Literaturtipps zu grundlegenden Aspekten inklusiver Pädagogik, aber auch zur praktischen Umsetzung befinden sich jeweils am Ende eines Kapitels. Dialogfragen ergänzen den jeweiligen Abschnitt, um den Einstieg in ein Gespräch über Inklusion anzuregen. Es handelt sich hier um Gesprächs- und Denkanlässe, die nicht einfach mit »Ja« oder mit »Nein« beantwortet werden können, sondern vielmehr die Komplexität der konkreten Arbeit an dem Leitbild Inklusion im Bildungsbereich und in der Gesellschaft veranschaulichen sollen.

In der Regel werden im folgenden Text beide Geschlechter genannt. Nur da, wo es geschlechtsneutrale Bezeichnungen gibt, wird auf diese zurückgegriffen. Es sind in jedem Falle alle Beteiligten angesprochen, auch wenn das nicht immer explizit erwähnt wird.

1          Von der Exklusion zur Inklusion – die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und ihre bildungspolitischen Folgen

 

 

»Politik … sollte … den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« (Adorno 2001, S. 184f.)

Zum Einstieg

Inklusion als neues Leitbild der Bildungs- und Sozialpolitik unterscheidet sich von den bisherigen Bemühungen um mehr Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft. In diesem Kapitel soll der Unterschied zwischen Inklusion und Integration herausgearbeitet werden. Inklusion wird dabei insbesondere der real existierenden Exklusion in der Gesellschaft gegenübergestellt. Zunächst soll deshalb die UN-BRK in ihren Grundzügen und in ihrer menschenrechtlichen Bedeutung vorgestellt werden (Kap. 1.1). Sodann wird das Neue am Konzept der Inklusion hervorgehoben (Kap. 1.2), um schließlich in einem historischen Rückblick den Wandel von der Exklusion zur Inklusion sichtbar zu machen (Kap. 1.3). Der Begriff »Integration« wird im Folgenden im Wesentlichen für die Darstellung der Bemühungen um die Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderung in allgemeine Bildungseinrichtungen und die Gesellschaft bis zum Inkrafttreten der UN-BRK benutzt. Der Begriff »Inklusion« steht hingegen für die Weiterentwicklung der bildungs- und sozialpolitischen Maßnahmen zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Bildung und Gesellschaft.

Mit der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (auch: UN-Behindertenrechtskonvention oder UN-BRK 2009) und der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde bei den Vereinten Nationen in New York im März 2009 sind die Bemühungen um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland in ein neues Entwicklungsstadium eingetreten (vgl. Vereinte Nationen 2006). Seither ist die UN-BRK in Deutschland verbindliches Völkerrecht. Aus diesem Grunde wird sie seinerzeit auch im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Sie gilt überdies für alle staatlichen Gliederungen bis hin zu den 16 Bundesländern und den Kommunen wie Art. 4, Abs. 4 der UN-BRK zum Ausdruck bringt. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung vom Dezember 2008 auch das Fakultativprotokoll zur UN-BRK verabschiedet, in dem Einzelpersonen oder Personengruppen die Möglichkeit der Mitteilung an den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung eingeräumt wird. Über die Umsetzung der UN-BRK berichten die Unterzeichnerstaaten regelmäßig und legen diese Berichte dem Generalsekretär der Vereinten Nationen vor. Für die Überprüfung der Durchführung der UN-BRK wird gem. Art. 33, Abs. (2) der UN-BRK eine nationale Monitoringstelle eingerichtet, in Deutschland das »Deutsche Institut für Menschenrechte« in Berlin (URL: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/ueber-uns, letzter Aufruf: 21.03.2018). Konventionen der Vereinten Nationen sind für die ratifizierenden Länder aber nicht nur unverbindliche Absichtserklärungen. Da das Grundgesetz (GG) in Deutschland bewusst dem internationalen Völkerrecht unterstellt worden ist, ergibt sich daraus die Verpflichtung zur ›völkerrechtsfreundlichen‹ Umsetzung der UN-BRK, wie das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat (vgl. Tolmein 2014, S. 6). Die UN-BRK schreibt zwar keinen Zeitplan der Umsetzung vor. Insofern gilt der Grundsatz der schrittweisen Umsetzung besonders für das Bildungssystem (vgl. Poscher/Langer/Rux 2008, S. 32f.), d. h. die Länder sind nicht verpflichtet die einzelnen Regelungen der UN-BRK unmittelbar in die Tat umzusetzen. Allerdings müssen auch substantielle Schritte zu deren Umsetzung erkennbar sein (sog. »progressive realization«, vgl. ebd.).

Die UN-BRK enthält das neue bildungs- und sozialpolitische Leitbild der Inklusion. Was aber ist das Neue an dem Konzept der Inklusion? Wie unterscheidet es sich von den bisherigen Bemühungen um mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft? Und welche Bedeutung hat es für andere Heterogenitätsdimensionen oder Diversitätsaspekte?

1.1       Behinderung und Inklusion in der UN-BRK

Am 3. Mai 2008 ist das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kraft getreten, nachdem die Vereinten Nationen (UN) im Jahre 2006 einen entsprechenden Beschluss gefasst haben. Deutschland ratifiziert das Übereinkommen am 24. Februar 2009 und hinterlegt die Ratifizierungsurkunde im März 2009 bei den Vereinten Nationen in New York. Insofern nähern wir uns im Jahre 2019 bereits dem Ende der ersten Dekade der Umsetzung bezogen auf die UN-BRK in der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Rückblick wird sichtbar, dass die UN-BRK weitreichende Einflüsse auf die nationale Bildungspolitik in Deutschland hat.

Ausgehend von der »Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen von 1948, in der in Artikel 26 bereits das Recht auf Bildung für alle verankert wurde (vgl. Vereinte Nationen 1948), hat die UNESCO im Jahre 1990 in ihrer »World Declaration On Education For All« diesen Grundsatz noch einmal bekräftigt. Dabei werden die grundlegenden Lernbedürfnisse (basic learning needs) aller Personen als Bezugspunkt einer Bildung für alle in den Mittelpunkt gestellt. Von Kindern mit besonderen Bedürfnissen (special educational needs) ist hier allerdings noch nicht die Rede. Bereits die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 hat sich in Artikel 23 mit der »Förderung behinderter Kinder« befasst und die Zielsetzung einer »möglichst vollständigen sozialen Integration« proklamiert. Aber erst auf der UNESCO-Konferenz von Salamanca wird eine Erklärung verabschiedet, die sich ausschließlich auf Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen bezieht und die Vertragsstaaten auffordert, inklusive Schulen zu entwickeln. Damit wird der Begriff »Inklusion« in den internationalen Bildungsdiskurs eingeführt, auch wenn dies in Deutschland durch die Übersetzung von inclusionmit »Integration« zunächst nicht wahrgenommen wird (vgl. Österreichische UNESCO-Kommission 1994). Die »International Conference on Education (ICE)« in Genf im Jahre 2008 unter der Thematik »Inclusive Education: The Way Of The Future« stellt schließlich in ihrer Abschlusserklärung die inklusive Bildung in den Mittelpunkt der Aktionsplans »Bildung für alle«. »Bildung für alle« kann demnach nur erreicht werden, wenn ein breiteres Konzept von inklusiver Bildung zugrunde gelegt wird.

In einem Satz gesagt

Inklusive Bildung hängt eng mit der Qualität pädagogischer Angebote zusammen, die von einer Achtung vor der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit von Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgeht sowie alle Formen von Diskriminierung verhindert.

Darauf wird erneut Bezug genommen in den »Leitlinien für die Bildungspolitik« zur Inklusion der UNESCO-Kommission (vgl. Deutsche UNESCO-Kommission 2014).

Die UN-BRK und ihr Verständnis von inklusiver Bildung stehen also in einer langen Reihe von Erklärungen und Appellen der Vereinten Nationen an die Vertragsstaaten zur »Bildung für alle«. Trotz dieses eindeutigen Bekenntnisses der UN-Vertragsstaaten zum Grundsatz der inklusiven Bildung und darauf bezogener Maßnahmen zur Umsetzung bleibt das Konzept inklusiver Bildung in all diesen Erklärungen nach wie vor inhaltlich unbestimmt. Das gilt auch für Kinder mit Behinderung bzw. besonderen Bedürfnissen.

In Art. 3, Abs. c) wird unter der Überschrift »Allgemeine Grundsätze« die »Full and effective participation and inclusion in society« hervorgehoben, allerdings ohne explizite Ausführungen zum Begriff »inclusion«. In der deutschen Übersetzung sind diese Begriffe mit »Teilhabe« (participation) und »Einbeziehung« (inclusion) übersetzt, wobei der Begriff »Inklusion« bereits hier nicht übernommen wird. Man kann die UN-BRK zwar durchgängig als konkrete Ausgestaltung dieses zentralen Grundsatzes der Partizipation und Inklusion lesen. Die Unbestimmtheit des Begriffes Inklusion in der UN-BRK lädt allerdings zu mannigfaltigen Interpretationen und abweichenden Einschätzungen zu seiner Bedeutung geradezu ein. An mehreren Stellen in der Konvention ist allerdings von »full inclusion« die Rede [Art.3, Abs. c); Art. 19; Art. 24, Abs. e); Art. 26, (1)], was wiederum darauf hindeutet, dass hier Teilhabe und Einbeziehung ohne Einschränkungen gemeint ist.

Forschung inklusiv

In Zusammenhang mit der Umsetzung der UN-BRK wird der Aspekt der Teilhabe (participation) betont. Menschen mit Behinderung wollen jedoch nicht nur einfach dabei sein und einbezogen werden. Sie wollen auch für sich selbst sprechen und etwas beitragen. Mit dieser Zielsetzung hat sich eine neue Forschungsrichtung zur Inklusion entwickelt, die mit Teilgabeforschung bezeichnet wird. Mit Teilgabe ist dabei im Sinne von Gronemeyer (2009) gemeint, dass jedes Gesellschaftsmitglied zum Miteinander beitragen kann, insbesondere wenn es um sein eigenes Leben geht. Die Verbindung von Teilhabe und Teilgabe macht deutlich, dass Menschen mit Behinderung aktiv an der Inklusion beteiligt sein müssen und selbst etwas geben wollen. In ersten Studien zur Teilgabeforschung (vgl. Krope u. a. 2009) zeigt sich überdies, dass bei den Bemühungen, die Teilhaberechte von Menschen mit Behinderung zu erfüllen, ihre Teilgabe-Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen werden.

In der UN-BRK wird der Begriff »Disabilities« (deutsch: Behinderung) weiter verwendet, allerdings in einem veränderten Verständnis.

In einem Satz gesagt

Das Behinderungsverständnis der UN-Konvention baut auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf, da Behinderung nicht mehr als subjektives Defizit und Personeigenschaft verstanden wird, sondern vielmehr als Prozess der Interaktion zwischen Person und Umwelt.

Die UN-BRK erkennt damit an,

»… dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern, …« (Vereinte Nationen 2006, Präambel, Abs. e).

Demnach sind Menschen nicht behindert, sondern sie werden aufgrund von gesellschaftlichen Barrieren behindert. Der Abbau von Barrieren für die umfassende Teilhabe im Bildungssystem gilt somit als eine zentrale Konsequenz aus dieser Auffassung von Behinderung.

Dahinter steht ein ökologisches Verständnis von Behinderung und Inklusion, wie es im wesentlichen Alfred Sander (s. Kap. 4.2.4) konzipiert hat. Auf dem Hintergrund der ökologischen Entwicklungstheorie von Urie Bronfenbrenner (1989) definiert Sander Behinderung als ungenügende Integration in das Umfeldsystem (vgl. Sander 2009, S. 106). Immer dort, wo Behinderungen in der Gesellschaft stattfinden, werden Maßnahmen der Integration erforderlich. Gelingen Maßnahmen der Integration, können Behinderungen wiederum verhindert werden. Behinderung und Integration sind in diesem Begriffsverständnis in reziproker Weise aufeinander bezogen. Daraus folgt, dass pädagogische und heilpädagogische Maßnahmen in einem Kind-Umfeld-System stattfinden. Weder diagnostische noch fördernde Maßnahmen dürfen sich demnach ausschließlich auf das Kind beziehen (Diagnose und Förderung des Kindes). Stets gilt es das Umfeld mit in die Diagnostik und in die Förderung einzubeziehen (Diagnose und Förderung des Umfeldes).

Bereits die sozialwissenschaftliche Wende in der Heil- und Sonderpädagogik zu Beginn der 1970er Jahre (vgl. Jantzen 1974) hat ein interaktionistisches Verständnis von Behinderung hervorgebracht, das über rein subjektorientierte Vorstellungen hinausweist (Kap. 4.2.2). Behinderung kann seither nicht mehr als individuelle Abweichung von einer Erwartungsnorm betrachtet werden. Im Sinne des labeling approach (vgl. Homfeldt 1996) ist deutlich geworden, dass die Behinderung eher als soziale Folge einer individuellen »Schädigung« bzw. Beeinträchtigung eintritt. Kinder, die von gesellschaftlichen Normalvorstellungen abweichen, werden als solche etikettiert, in der Regel an den Rand der Gesellschaft gedrängt und z. B. in Sondereinrichtungen überwiesen. Dieser Prozess der sozialen Ausgrenzung bleibt allerdings nicht ohne Folgen für die Person. Mit der Übernahme der gesellschaftlichen Erwartungshaltung in die eigene Persönlichkeit verhalten sich Kinder und Jugendliche schließlich entsprechend, was letztlich die Abweichung von den gesellschaftlichen Normalvorstellungen noch verstärkt. Damit ist der Teufelskreis Behinderung in Gang gesetzt, zu dem Sondereinrichtungen als System – auch wenn sie konzeptionell andere Ziele verfolgt haben – im Sinne unerwünschter Nebenwirkungen mit beitragen. Eine der wichtigsten Maßnahmen, um aus diesem Teufelskreis aus Etikettierung und Ausgrenzung auszubrechen, ist deshalb die vermehrte Entwicklung integrativer bzw. inklusiver Bildungsangebote. Etikettierungen sind damit zwar noch nicht ausgeschlossen. Zumindest ihren negativen Folgen wird jedoch auf diese Weise entgegengetreten.

Die medizinische Sichtweise von Behinderung, die von einer Gleichsetzung zwischen Behinderung und Krankheit geleitet war, scheint gegenwärtig in der Fachdiskussion als überwunden gelten zu können. Gleichwohl sind Medizinerinnen und Mediziner wesentlich an der Feststellung von Behinderung gem. § 53 und 54 SGB XII beteiligt und leiten aus der medizinischen Diagnose nicht selten sogar pädagogische Konsequenzen bezogen auf den Förderort oder den Bildungsweg ab. Mittlerweile dürfte jedoch im Rahmen regionaler Netzwerke der Informationsstand auf medizinischer Seite soweit gesichert sein, dass auch integrative bzw. inklusive Angebote im Bildungssystem bekannt sind. Gerade Familien von Kindern mit Behinderung sind auf diese begleitenden Dienste unabdingbar angewiesen. Mit dem Konzept der Salutogenese (vgl. Antonovsky 1997) zeichnet sich jedoch auch im medizinischen Bereich eine veränderte anthropologische Sichtweise ab, in der Kinder nicht mehr nur unter dem Aspekt ihrer Krankheit betrachtet werden, sondern vielmehr im Rahmen multidimensionaler Diagnose- und multimodaler Therapieansätze in ihrer Komplexität als ganze Person in den Blick kommen (vgl. Schlack 2000).

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihre rein medizinische Betrachtungsweise von Behinderung als Grundlage für internationale Klassifikationssysteme (z. B. ICD 10 vgl. Deutsches Institut 2018; DSM-V vgl. American Psychiatric Association 2018) inzwischen revidiert. Stand noch 1980 seitens der WHO die Verknüpfung von »Schädigung«1, Beeinträchtigung und Behinderung im Vordergrund, so gilt ab 1997 die Situation von Menschen mit Behinderung als entscheidender Focus. An dieser Situation sind sie aktiv beteiligt.

In einem Satz gesagt

Aktivität und Partizipation werden deshalb zu neuen Koordinaten des Begriffsfeldes »Behinderung,das auf dem Hintergrund einer individuellen »Schädigung« die sozialen Folgen für den Einzelnen und sein Umfeld thematisiert.

Hier ist das Kind mit einer Behinderung allerdings nicht mehr weitgehend passiv sozialen Einflüssen ausgesetzt. Es gestaltet vielmehr aktiv seine gesellschaftliche Teilhabe mit. Diese veränderte Sichtweise von Behinderung in der International Classification of Functionality (ICF) der WHO fordert also bereits dazu auf, die Partizipationsstrukturen in Bildungsangeboten für Kinder mit Behinderung zu verändern und sie aktiv mit einzubeziehen (vgl. zur Adaptation für Kinder und Jugendliche: Hollenweger/Kraus de Carmago 2011). Die Forderung nach einer inklusiven Bildung durch die UN-BRK ist vor diesem Hintergrund nur ein weiterer Schritt.

1.2       Inklusion als bildungspolitisches Leitbild in der UN-BRK

In Art. 24 der UN-BRK werden die Vertragsstaaten darauf verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu entwickeln. Kinder und Jugendliche sollen dabei nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und sowohl den Grundschulunterricht als auch den Unterricht an weiterführenden Schulen unentgeltlich besuchen dürfen. Außerdem soll der Unterricht inklusiv und qualitativ hochwertig sein. In Verbindung mit Art. 7 der UN-BRK, in dem die Gültigkeit der Menschenrechte und aller Grundfreiheiten auch für Kinder mit Behinderungen sowie der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben sind, ergibt sich ebenfalls die Pflicht, Kindertageseinrichtungen und Frühförderung mit in den Entwicklungsprozess hin zu einem inklusiven Bildungssystem auf allen Ebenen hineinzunehmen. Insofern bezieht sich der Art. 24 der UN-BRK nicht nur auf Schulen, sondern ebenso auf Kindertageseinrichtungen.

Dies entspricht auch den vorausgehenden Verlautbarungen der UNESCO zur »Bildung für alle« und zur inklusiven Bildung. In den »Leitlinien für die Bildungspolitik« der UNESCO zur Inklusion wird das bildungspolitische Programm konkretisiert, das die UN-BRK fordert. In der Gesamtperspektive der politischen Umsetzung ist dabei zunächst der Akzent auf »systemweite« und »multisektorale« Entwicklungen gelegt (vgl. UNESCO 2010, S. 14). Auch die enge Zusammenarbeit aller Akteurinnen und Akteure im bildungspolitischen Bereich erfährt hier noch einmal eine besondere Hervorhebung. Neben Situationsanalysen zur Ausgangslage im Bildungssystem und der Initiierung von Gesetzgebungsverfahren in Abstimmung mit internationalen Verlautbarungen zur inklusiven Bildung geht es vor allem darum, einen Konsens über die Konzepte Inklusion und Bildungsqualität zu entwickeln. Dazu zählen dann auch die notwendigen Ressourcen für die Transformation eines Bildungssystems, die Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte und die Entwicklung von Methoden zur Messung der Wirkungen einer qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildung (vgl. ebd.).

In den Empfehlungen zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems erfolgt in den Leitlinien eine besondere Herausstellung der frühen Lern- und Entwicklungsprozesse (vgl. ebd.). Auch die frühkindliche Förderung weit vor dem Schuleintritt gilt als wichtige Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft. Auf dieser Ebene des Bildungssystem gilt gleichermaßen das zentrale Prinzip eines inklusiven Bildungssystems: Nicht das Kind ist das Problem, sondern die Bildungseinrichtung als System und deren Veränderung:

»Inklusive Bildung von hoher Qualität ist das beste Mittel, um zukünftigen Lerndefiziten unter Jugendlichen und Erwachsenen vorzubeugen« (ebd.).

Bei der Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems sind außerdem die »angemessenen Vorkehrungen« für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu berücksichtigen, wie sie schon in Artikel 2 der UN-BRK definiert werden. Es handelt sich dabei um

» … notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können.« (Art. 2, UN-BRK).

Auch in Artikel 24 zum inklusiven Bildungssystem wird erneut auf die angemessenen Vorkehrungen hingewiesen, wobei die je individuelle Konkretisierung offen bleibt.

Unter Rückbezug auf die International Conference on Education (ICE) in Genf im Jahre 2008 zum Thema »Inclusive Education: The Way Of The Future« sieht die UNESCO-Kommission folgende Hauptanliegen und Handlungsfelder in der Umsetzung der UN-BRK auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem:

1.  Einstellungsänderung und politische Entwicklung,

2.  Inklusion durch frühkindliche Bildung sicherstellen,

3.  Inklusive Curricula,

4.  Lehrer und Lehrerausbildung,

5.  Ressourcen und Gesetzgebung.

Einige dieser Handlungsfelder werden in den Leitlinien konkreter ausgeführt und mit Check-Listen versehen.

Auf nationaler Ebene hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Kooperation mit dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung die Federführung für die Umsetzung der UN-Konvention in Deutschland übernommen. Der »Nationale Aktionsplan« (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011) aus dem Jahre 2011 enthält in der Umsetzung der UN-BRK eine Reihe von Maßnahmen in 12 Handlungsfeldern begleitend zum Lebenslauf von Menschen mit Behinderung (Arbeit und Beschäftigung; Bildung; Prävention, Rehabilitation, Gesundheit und Pflege; Kinder, Jugendliche Familie und Partnerschaft; Frauen; Ältere Menschen; Bauen und Wohnen; Mobilität; Kultur und Freizeit; Gesellschaftliche und politische Teilhabe; Persönlichkeitsrechte und Internationale Zusammenarbeit) und in sieben Querschnittsthemen (Assistenzbedarf, Barrierefreiheit, Gender Mainstreaming, Gleichstellung, Migration, Selbstbestimmtes Leben und Vielfalt von Behinderung). Dabei wird von vornherein großer Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft gelegt. Einen Schwerpunkt bildet die berufliche Inklusion mit dem Ziel, die Perspektiven von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. In einem Zeithorizont von zehn Jahren soll es in über 200 Projekten im Alltag der knapp zehn Millionen Menschen mit Behinderung (9,6 Millionen bzw. 11,7% der Bevölkerung) spürbare Verbesserungen geben. Ausdrückliches Ziel ist insgesamt, die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft (vgl. a. a. O., S. 8). Im Jahre 2014 greift die Arbeitsgruppe zum Nationalen Bildungsbericht erstmals als Schwerpunktthema »Menschen mit Behinderung im Bildungssystem« auf und führt die seinerzeit verfügt Daten zusammen (vgl. Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung 2014). Auch der Teilhabebericht der Bundesregierung zur Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen wird vor dem Hintergrund der UN-BRK neu gefasst (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017).

Inklusive Situation

Die Behindertenbeauftragte des Freistaats Bayern, Irmgard Badura, selbst blind, regt an, die Wahlunterlagen zur Landtagswahl in Leichte Sprache zu übersetzen und auf ihrer Homepage allen Interessentinnen und Interessenten zur Verfügung zu stellen. Vorrangiges Ziel dieser Aktion ist es, auch Menschen mit Behinderung in die Lage zu versetzen, ihre verfassungsmäßig verbrieften Rechte auf Teilnahme an einer demokratischen Wahl wahrnehmen zu können. Nach der Veröffentlichung im Internet erreichen das Büro der Behindertenbeauftragten per e-mail zahlreiche Rückmeldungen von Wählerinnen und Wählern ohne Behinderung, die diese Aktion ausdrücklich begrüßen und dabei immer wieder betonen, dass sie nun auch endlich den Wahlvorgang ohne zusätzliche fremde Hilfe verstanden hätten.

Auf der gesetzlichen Ebene werden in der Bundesrepublik Deutschland bereits im Jahre 1994 mit der Änderung des Grundgesetzes (GG) und der Aufnahme des Artikels 3, Abs. 3 die Rechte von Menschen mit Behinderungen gestärkt:

»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« (GG, Art. 3, Abs. 3).

In der Folge wird mit dem Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) ein eigenes Gesetzbuch für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geschaffen. Hier ist insbesondere der Grundgedanke der Integration in den Arbeitsmarkt ausgeführt (Kap. 2.4). Außerdem wird im Jahre 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) verabschiedet, in dem neben dem Benachteiligungsverbot die Barrierefreiheit als zentrale Zielsetzung der Behindertenpolitik festgeschrieben worden ist. Ebenfalls ist hier das Amt der bzw. des Behindertenbeauftragten des Bundes festgeschrieben, die die Bundesregierung in ihrer Verantwortung für die Gestaltung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung unterstützen sollen. Die Bundesländer folgen dieser Gesetzesänderungen mit eigenen Ländergleichstellungsgesetzen und eigenen Behindertenbeauftragten.2 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) tritt im Jahre 2006 in Kraft, in dem der Antidiskriminierungsschutz im Einzelnen ausgeführt wird – auch über Menschen mit Behinderungen hinaus. Allerdings haben die Anfragen zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die auf der Basis des AGG (Abschnitt 6) eingerichtet worden ist, den größten Anteil. Im Jahre 2016 erlässt der Bund schließlich das »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen« (auch: Bundesteilhabegesetz, BTHG), das stufenweise ab 2017 in Kraft tritt. Es enthält zum größten Teil Änderungen vorhandener Gesetze im Bereich der Sozialgesetzgebung. Die Hoffnung vieler Behindertenverbände auf eine Neuregelung der Eingliederungshilfe durch eine Zusammenführung der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung mit der Sozialhilfegesetzgebung (sog. ›große Lösung‹) erfüllt sich dabei jedoch nicht. Angestrebt ist ursprünglich eine Abkehr vom ›Fürsorgesystem‹ bei gleichzeitiger Stärkung der Wahl- und Mitbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderung. Dies wird im BTHG nun über die Neuregelung der Eingliederungshilfe im SGB IX angestrebt, die verstärkt personenzentriert erfolgen soll. Als großer Streitpunkt erweist sich der sog. »Vermögensschutz« für Menschen mit Behinderungen, der zwar angehoben wird, allerdings nicht – wie von den Behindertenverbänden gefordert – ganz gestrichen wird. Nach wie vor können Menschen mit Behinderung deshalb in Deutschland keine private Altersvorsorge betreiben, auch wenn sie aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit und eines entsprechenden Einkommens dazu in der Lage wären. Insofern zeigt sich auch auf dem Weg zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft in der BRD, dass zwischen dieser anspruchsvollen Zielsetzung, die von allen Seiten nur Zustimmung erhält, und der konkreten Umsetzung im Sinne der Schaffung angemessener gesetzlicher Grundlagen und der Bereitstellung von entsprechenden Ressourcen noch große Lücken klaffen.

Die Kultusministerkonferenz beschäftigt sich im Jahre 2011 mit der Umsetzung der UN-BRK im schulischen Bereich. In ihrem Beschluss vom 20.10.2011 wird aufbauend auf den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung von 1994 (Kap. 1.3) der Bildungsaspekt bei Schülerinnen und Schülern mit SPF in den Vordergrund gestellt. Die Empfehlungen zielen auf einen Perspektivenwechsel zum inklusiven Unterricht und die Verwirklichung der vollen und selbstbestimmten Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit SPF im schulischen Bereich ab. Dabei wird der sonderpädagogischen Förderung und der sonderpädagogischen Fachkompetenz in inklusiven Schulen eine bedeutsame Rolle zugewiesen. Die Empfehlungen zur inklusiven Bildung durchzieht eine klare Orientierung an der Individualität aller Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig wird die Bedeutung des gemeinsamen Lernens deutlich betont. Die Gestaltung eines differenzierten und individualisierenden Unterrichts, die individuelle Förderplanung einschließlich einer flexiblen Leistungsbewertung bis hin zu den Schulschulabschlüssen, die Durchsetzung der Barrierefreiheit und die Gestaltung des Nachteilsausgleichs im schulischen Bereich werden als Aufgaben der inklusiven Schulentwicklung konkret benannt. Ebenso erkennen die Kultusministerinnen und -minister die besonderen Herausforderungen bei der Gestaltung von Übergängen in einem mehrgliedrigen, differenzierten Bildungssystem an – einschließlich des Übergangs von der Schule in den Beruf. Schließlich wird auch die Bedeutung der Prävention hervorgehoben, wobei die besondere Relevanz regionaler Netzwerke der beteiligten Partner bewusst ist. Den Förderschulen bzw. Förderzentren wird in diesem Zusammenhang die Rolle eines zeitlich befristeten Bildungsangebotes zugewiesen. Insgesamt wird in diesen Empfehlungen der Bildungsaspekt deutlich betont. Ähnlich wie bei den Empfehlungen von 1994 bezogen auf die sonderpädagogische Förderung operiert die KMK allerdings in den Empfehlungen zur inklusiven Bildung mit einem ungeklärten Bildungskonzept und -begriff.

Im historischen Rückblick auf die bisherigen Bemühungen um mehr Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen soll nun gezeigt werden, inwiefern das Leitbild der Inklusion in der UN-BRK über die vorhandenen Bemühungen um mehr Integration im Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland hinausweist.

1.3       Exklusion, Separation, Integration, Inklusion – ein historischer Rückblick

Das Neue an der Inklusion speziell im Bildungsbereich wird besonders im historischen Rückblick deutlich. Alois Bürli hat vorgeschlagen, die Phasen der Exklusion, der Separation, der Integration und der Inklusion zu unterscheiden (vgl. Bürli 2009, S. 27f.).

In einem Satz gesagt

Zunächst sind Kinder und Jugendliche vom Bildungssystem völlig ausgeschlossen (Exklusion), da erst in der Aufklärungszeit ihre Bildungsmöglichkeiten entdeckt worden sind, denen allerdings zunächst in eigenständigen Bildungseinrichtungen entsprochen wird (Separation).

Das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe wird hier zwar schon anerkannt, als Weg allerdings die Förderung in Sondereinrichtungen bevorzugt (indirekte Integration). Als Reaktion auf die Aussonderung in separaten Bildungseinrichtungen entwickeln sich erste Alternativen im Sinne des gemeinsamen Lernens, die dann besonders nach 1945 im internationalen Zusammenhang deutlich ausgebaut werden (direkte Integration).

Abb. 2: Von der Exklusion zur Inklusion

In einem Satz gesagt

Getrennte Bildungsangebote für unterschiedliche Kinder und Jugendliche werden zusammengeführt, so dass Integration Weg und Ziel ist (Integration), während mit dem Inkrafttreten der UN-BRK sich nun weltweit die Aufgabe stellt, ein Bildungssystem zu entwickeln, in dem alle Kinder und Jugendlichen willkommen sind (Inklusion).

Dieser Weg von der integrativen Bildung zur inklusiven Bildung soll nun im Detail nachgezeichnet werden. Dabei existieren die großen historischen Entwicklungsphasen teilweise nebeneinander oder gehen ineinander über.

1.3.1     Anfänge der Inklusion im Bildungssystem

Die Anfänge der integrativen Bildung liegen in der Entdeckung der Bildungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. In dem Maße, wie dieser Nachweis der Bildungsfähigkeit gelingt, werden sie auch in öffentliche Bildungs- und Erziehungseinrichtungen einbezogen.

Die Geschichte integrativer Bildung beginnt nach Andreas Möckel (1999, S. 40) in dem Moment, als »behinderte Kinder öffentliche und solidarische Beachtung als Schüler gefunden haben«. Der erste Schritt zur Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft bleibt ihre bewusste Einbeziehung in öffentliche Bildungs- und Erziehungseinrichtungen – und d. h. zunächst einmal ihre Aufnahme in Schulen (vgl. Sander 1995, S. 94). Dieser Schritt kann allerdings immer erst dann vollzogen werden, wenn der Nachweis der Effektivität von entsprechenden Fördermaßnahmen erbracht worden ist. Vielfach sind diese Methoden zunächst einmal buchstäblich zu ›erfinden‹. Bildungs- und Erziehungsinstitutionen für Menschen mit Behinderung entstehen deshalb im einem zweiten Schritt zum »Schutze bewährter Methoden« (Möckel 1988, S. 27). In einem umfassenden Sinne sind solche Bildungs- und Erziehungsbemühungen bei Menschen mit Behinderung erst im Zeitalter der Aufklärung zu verzeichnen. Dies gilt besonders für den Einsatz von berufsmäßigen pädagogischen Fachkräften in dieser Aufgabe (vgl. a. a. O., S. 23). Der von Immanuel Kant (1724–1804) formulierte Slogan der Aufklärungsphilosophie vom »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« beinhaltet im Grunde ein verändertes Menschenbild. Die Fähigkeit, »sich seines eigenen Verstandes zu bedienen«, ist allen Menschen zu eigen und bedingt so auch die Notwendigkeit der Erziehung als Voraussetzung für die Menschwerdung des Menschen (vgl. Schmid 1997, S. 19f.). Dieser Optimismus der Aufklärungsphilosophie schafft letztlich auch die Voraussetzung für die ersten Versuche zur Bildung und Erziehung von Menschen mit Behinderung.

In einem Satz gesagt

Behinderung wird nicht mehr als schicksalhafte bzw. »göttliche« Fügung und damit als unveränderlich angesehen, sondern es wird nunmehr vermehrt anerkannt, dass Menschen mit Behinderung sich entwickeln und etwas zur Verbesserung ihrer Lebenssituation beitragen können.

Hier kommt zugleich der Gedanke der ›bürgerlichen Brauchbarkeit‹ bzw. gesellschaftlichen Nützlichkeit zum Tragen. Eine erste Bedingung für mehr gesellschaftliche Teilhabe sind sicher grundlegende Formen von Bildung. Am Beispiel der verschiedenen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte sollen nun die Anfänge inklusiver Bildung genauer vorgestellt werden (zur Weiterentwicklung vgl. die Übersicht bei Myschker/Ortmann 1999 und die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft«, hrsg. von Heimlich/Fischer/Kahlert/Lelgemann 2016ff.). Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in der Regel am Rande der Gesellschaft stehen und größtenteils in völliger Armut leben. Die »Rettungshausbewegung« schafft für verwahrloste Kinder Bildungs- und Versorgungsangebote. Sie wird deshalb als Ausdruck der »Solidarität mit den Armen« (vgl. Möckel 1999, S. 42) besonders seitens der evangelischen Kirche gesehen (z. B. Johann Heinrich Wichern [1808-1881], der Gründer des »Rauhen Hauses« im Jahre 1833, ebd.).

Um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert lassen sich erste Bemühungen zur integrativen Bildung von Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt Hören (seinerzeit als »Taubstumme« bezeichnet) feststellen (vgl. Braun 1999a, S. 86ff.). Innerhalb der sog. »Verallgemeinerungsbewegung« sollen Volksschullehrkräfte schon in ihrer Ausbildung auf die Unterrichtung von »Taubstummen« vorbereitet werden. Zu diesem Zweck sind den Lehrerseminaren Übungsschulen zugeordnet worden, in denen Taubstumme und Hörende gemeinsam am Unterricht teilnehmen (z. B. in Erfurt 1822). Die Volksschullehrkräfte sollen dadurch ihre pädagogischen Fähigkeiten erweitern (»Allgemeinmachung«). Der Kreisschulrat von Bamberg, Johann Baptist Graser (1766–1841), propagiert beispielsweise das von Samuel Heinicke (1727–1790) entwickelte Konzept der »Lautspracherziehung« (vgl. Braun 1999a, S. 87) und fordert die Einrichtung von Klassen für Gehörlose an Volksschulen (für weitere Beispiele: vgl. Löwe 1983, S. 22ff.). Allerdings scheitert die Verallgemeinerungsbewegung an den großen Klassen in den Volksschulen (teilweise über 100 Schülerinnen und Schüler) und den damit verbundenen Einschränkungen für die notwendige individuelle Förderung (vgl. Leonhardt 2001; Leonhardt/Ludwig 2017; Leonhardt 2018).

Bereits bei der Gründung der ersten Blindenschulen ab 1820 wird die Forderung nach integrativer Bildung für Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Sehen laut (vgl. Rath 1999, S. 39ff.). Johann Wolfgang Klein (1765–1848), der Leiter der ersten Blindenschule im deutschsprachigen Raum in Wien, setzt sich auf der politischen Bühne für die Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher in der Volksschule ein. Ebenfalls befürwortet er eine entsprechende Veränderung der allgemeinen Lehrerausbildung. Bezüglich der gesellschaftlichen Integration werden von Klein aber seinerzeit noch eher große Probleme gesehen (vgl. Rath 1983, S. 57). Ab 1839 verbreitet der Direktor der Breslauer Blindenanstalt, Johann Knie (1795–1859), mit ministerieller Genehmigung seine Konzeption einer Unterrichtung blinder Kinder in der Volksschule. Auch Friedrich Adolf Wilhelm Diesterweg (1790–1866) wird auf diese Schrift aufmerksam und übernimmt einen Beitrag zur Methodik des Unterrichts bei blinden Kindern in seinem »Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer« (1835). Eine Literaturanalyse ergibt, dass das Problem der integrativen Bildung blinder Kinder trotz des Ausbaus der eigenständigen Blindeneinrichtungen kontinuierlich in der Diskussion bleibt (vgl. Rath 1999, S. 41). Begründet wird die Forderung nach integrativer Förderung blinder Kinder und Jugendlicher im Wesentlichen mit den positiven Wirkungen des Kontakts zu Gleichaltrigen ohne Behinderung (vgl. Rath 1983, S. 64).

Im Jahre 1820 veröffentlicht Traugott Weise (1793–1859), ein Lehrer aus Zeitz im heutigen Sachsen-Anhalt, seine Schrift »Betrachtung über geistesschwache Kinder in Hinsicht der Verschiedenheit, Grundursachen, Kennzeichen und der Mittel, ihnen auf leichte Art durch Unterricht beizukommen« (vgl. Klink 1966, S. 44ff.). Neben Überlegungen zur Einteilung der sog. »Geistesschwäche« und deren Ursachen entwickelt Weise hier erstmalig ein durch den Nachhilfegedanken bestimmtes Unterrichtskonzept für solche Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht der Volksschule nicht folgen können. Er ist jedoch weiterhin dafür, diese Kinder und Jugendlichen am Unterricht der Volksschule teilnehmen zu lassen. Weise richtet sich in seiner Schrift folglich auch direkt an Volksschullehrkräfte. Damit ist in den Anfängen der Geschichte der Lernbehindertenpädagogik (vgl. Myschker 1983, S. 124ff.) zugleich der Anstoß für die integrative Bildung im Förderschwerpunkt Lernen gegeben. Die Kinder erhalten hier stundenweise zusätzlichen Unterricht und kehren wieder in den Unterricht der Volksschule zurück. Nachhilfeklassen werden ebenfalls in Chemnitz (1835), Halle a. d.S. (1859), Dresden (1867), Gera (1874), Apolda (1875) und Elberfeld (1879) gegründet. Etwa ab 1850 entwickeln sich die Nachhilfeklassen zunehmend zu eigenständigen Sonderklassen und werden dann unter dem Eindruck der Schrift »Schulen für schwachbefähigte Kinder. Erster Entwurf zur Begründung derselben« (1864) des Leipziger Taubstummenlehrers Heinrich Ernst Stötzner (1832–1910) mehr und mehr durch den Gedanken der eigenständigen »Hilfsschule« abgelöst (ab 1881 in Braunschweig und Leipzig, vgl. a. a. O., S. 127ff.). Mit den Berliner Nebenklassen und den Mannheimer Förderklassen (beide ab 1898) werden zwar noch einmal intensive Versuche gemacht, eine integrative Alternative zur »Hilfsschule« zu etablieren (Sonderklassen als Bestandteil der Volksschule, Kap. 1.2). Aber an der bildungspolitischen Entscheidung für den weiteren Ausbau der »Hilfsschule« ändern diese Versuche nichts mehr (vgl. Schröder 1999, S. 197; Benkmann/Heimlich 2018).