Inkognito in Monte Carlo - Barbara Cartland - E-Book

Inkognito in Monte Carlo E-Book

Barbara Cartland

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Inkognito in Monte Carlo

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Inkognito in Monte Carlo

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1973

Gestaltung M-Y Books

1

Draußen auf dem Flur ertönten Schritte. Keuchend wurde ein Frühstückstablett auf einem Tisch abgesetzt. Dann klopfte es sacht an die Schlafzimmertür.

Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat Jeanne das Zimmer und eilte auf das Fenster zu, um die Vorhänge aufzuziehen. Emilie betrachtete ihre massige Figur im schwachen Morgenlicht und fragte sich, seit wie vielen Jahren sie dieses Morgenritual erlebte. Nie wurde sie durch das Öffnen der Tür geweckt, sondern immer durch das, was vorausging: Jeannes Schritte auf dem Flur, das Klirren des Frühstückstabletts und ihr Keuchen.

War es seit achtzehn Jahren, daß Jeanne in ihren Diensten stand? Nein, seit neunzehn. Im übrigen kannten sie sich von klein auf. Nachdem die Vorhänge zurückgezogen waren, blickte man in einen frostigen Morgen, sah die grauen Dächer von Paris unter einem trüben Himmel. Eine fahle Sonne verbreitete blasses Licht. Emilie richtete sich ruckartig im Bett auf. Sie war bereits lange wach, hatte nur ein oder zwei Stunden geschlafen. Als sie in ihren Frisierspiegel blickte, bemerkte sie, daß die schlaflose Nacht ihre Spuren hinterlassen hatte. Heute morgen sah sie alt aus, alt und häßlich, vielleicht trug auch ihre Haarfarbe dazu bei. Aber Emilie hatte keine Zeit, sich über ihr Aussehen Gedanken zu machen, andere, viel wichtigere Dinge erforderten ihre Aufmerksamkeit.

Emilie schlüpfte in ihre wollene Bettjacke, stopfte sich die Kissen in den Rücken und wartete, bis Jeanne das Frühstückstablett abgesetzt hatte. Sie schien dafür ungewöhnlich lange zu brauchen. Dann begann sie umständlich, alles zurechtzurücken: die Kaffeekanne etwas nach links, die Tasse und den Unterteller nach rechts.

Emilie ließ sich durch dieses Manöver nicht tauschen. Sie wußte genau, daß Jeanne darauf wartete, daß sie redete.

Da es sie immer ärgerte, wenn Jeanne ihren Entscheidungen zuvorkam, befahl sie in scharfem Ton: »Jeanne, mach die Tür zu!«

»Oui, Madame, ich wollte sie gerade schließen.«

»Dann beeil dich und setz dich hin, um mir zuzuhören, denn du mußt aufmerksam sein. Wir haben viel vor.«

Jeanne ging durch das Zimmer, als ob ihre Beine steif und ihre Fuße wund waren. Sie hatte die schweren Knochen und langsamen Bewegungen der Bauern im Norden. Ihr Haar war grau, aber seltsamerweise hatte sie ein faltenloses Gesicht und die glänzenden Augen eines Kindes. Mit ihren sechzig Jahren konnte sie noch mühelos die zartesten Stickereien anfertigen.

Jeanne schloß die Tür und kehrte zum Bett zurück, setzte sich auf einen harten Stuhl und faltete ihre abgearbeiteten Hände.

Emilie beobachtete sie über den Rand ihrer Kaffeetasse und ärgerte sich, weil Jeanne wie eine Schülerin dasaß, die darauf wartete, daß der Lehrer zu sprechen anfing. Jeanne war ihre Freundin, ihre Vertraute, doch manchmal zeigte sie die Demut und das unterwürfige Desinteresse einer gewöhnlichen Bediensteten. Das bedeutete im allgemeinen, daß sie gekränkt oder ärgerlich war. Emilie stellte fest, daß im Augenblick beides zutraf.

So wußte sie es also! Umsonst hatte sie sich letzte Nacht Mühe gegeben, leise zu sein, um sie nicht zu wecken. Jeanne war aufgewacht und spielte jetzt die Beleidigte, weil man sie nicht runtergerufen hatte.

Emilie setzte ihre Kaffeetasse klirrend ab.

»Jeanne, letzte Nacht ist etwas geschehen«, sagte sie. »Wir bekamen Besuch.«

»Gewiß, Madame.«

Jeanne zeigte keine Überraschung. Emilie mußte lachen.

»Jeanne, hör auf, die Beleidigte zu spielen. Du weißt genau wie ich, daß ich unerwarteten Besuch bekam, ich betone: unerwartet. Ich hatte keine Ahnung, daß sie jetzt schon kommen würde, ich rechnete frühestens in drei Wochen mit ihr. Bis dahin hätte ich dir alles erzählt. Das Kind sagte mir, es habe mir vor vier Tagen einen Brief geschrieben, aber die Post ist ja so langsam, daß der Brief noch nicht eingetroffen ist. Das arme Mädchen stand allein auf dem Bahnhof, niemand hieß es willkommen. Die Ärmste hatte kaum genug Geld für eine Kutsche.«

»Dann ist also Mademoiselle gekommen«, sagte Jeanne.

Emilie lächelte immer noch gutgelaunt.

»Du weißt genau, daß es Mademoiselle ist, denn wenn du noch nicht ihr Gepäck im Vorraum in Augenschein genommen hast, dann hast du doch bestimmt im Gästezimmer nach ihr geschaut. Ich vermute, sie schläft noch?«

Jeanne vergaß ihren Stolz.

»Oui, oui, Madame, sie schläft wie ein Engel. Als ich sie sah, setzte fast mein Herzschlag aus. Ein echter Engel, sagte ich zu mir, vom Himmel selbst herabgesandt.«

»Das Kind ist reizend«, gab Emilie zu. »Ich habe immer daran geglaubt, daß sie so würde. Dieses letzte Jahr bedeutete für sie den Durchbruch. Sie ist jetzt achtzehn. Ist es möglich, Jeanne, daß schon achtzehn Jahre seit Alices Tod vergangen sind?«

Emilies Stimme klang plötzlich rauh, sie kniff den Mund zusammen und ihre Augen verengten sich. Mit einer energischen Bewegung schob sie das Frühstückstablett zur Seite und fuhr fort zu sprechen: »Paß gut auf, Jeanne, denn es gibt eine Menge zu tun.«

»Ich höre, Madame.«

Jeannes Stimme klang ruhig. Sie ließ keinen Blick von Emilie. Sie bemerkte jede Veränderung des Gesichtsausdrucks, jedes Flackern der dunklen Augen, jede Bewegung der dünnen, harten Lippen. Manchmal sah Emilie Bleuet verführerisch gut aus, nicht so heute morgen. Das helle Licht gab erbarmungslos jede Falte, jede scharfe Linie in ihrem hageren Gesicht preis, die braunen Flecken an ihrem Hals, ihre schlaffen Wangen, die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen und die Furchen, die von der Nase zum Mund verliefen.

Doch daran war nichts Ungewöhnliches. Jeanne kannte Emilie in ihren guten und schlechten Zeiten. Zwischen den beiden Frauen, die fast gleich alt waren, gab es keine Geheimnisse. Jeanne war am 7. Januar 1814 geboren, Emilie am 7. Januar 1815.

Emilie war jetzt neunundfünfzig Jahre alt, und in diesem Alter kann keine Frau erwarten, daß die Zeit spurlos an ihr vorübergegangen ist. Neu an Emilie war die Nervosität, die sie erfüllte.

Jeanne hatte sie noch nie so erregt gesehen, so voller innerer Spannung, die ihre Augen glitzern und ihre Stimme unnatürlich klingen ließ. Nur in Augenblicken der Angespanntheit und der Selbstvergessenheit sprach sie mit Akzent. Ansonsten pflegte sie reines Pariserisch zu sprechen, mit gewählten Worten, etwas steif und leidenschaftslos. Aber heute morgen klang ihre Stimme wie die von Jeanne. Jeder Zuhörer hätte mühelos erkannt, daß sie beide aus der Bretagne stammten.

Emilie holte tief Luft und begann: »Ich wollte dir in den nächsten Tagen alles erzählen. Ich erwartete die Ankunft meiner Nichte Ende des Monats. Es überraschte mich sehr, daß sie bereits gestern ankam. Sie erzählte mir, daß die Mutter Oberin ihrer Klosterschule gestorben sei und die Nonnen deshalb beschlossen, die Schülerinnen drei Wochen früher nach Hause zu schicken. Das gute Kind hatte mir geschrieben, aber wie ich dir bereits sagte, ist der Brief nicht angekommen.«

Emilie hielt einen Augenblick inne, verschränkte die Finger ineinander. Sie schaute Jeanne an und senkte die Stimme zu einem Flüstern: »Jeanne, heute beginnt für dich und mich ein neues Leben«, sagte sie. »Die Vergangenheit ist begraben.«

»Ein neues Leben«, wiederholte Jeanne. »Was meinen Sie damit?«

»Wie ich es sagte: Wir werden ein neues Leben anfangen. Das sind keine leeren Worte, sondern das ist eine Tatsache«, sagte Emilie mit fester Stimme. »Vorgestern verkaufte ich das Geschäft.«

»Madame!«

Die Überraschung in Jeannes Stimme war nicht zu überhören.

»Ja, ich verkaufte es, und nicht schlecht. Ich glaube, behaupten zu können, daß es niemand hätte besser verkaufen können. Aber von heute an gibt es für uns die numero cinq in der Rue du Roi nicht mehr, auch Madame Bleuet ist tot.«

»Haben Sie deshalb Ihre Haarfarbe verändert?« fragte Jeanne.

»Genau«, antwortete Emilie und schaute sich im Spiegel an. »Meine Haare sind nach Gottes Willen grau. Das macht mich älter, aber es besteht kein Anlaß für mich, jünger oder anziehend auszusehen. Ich habe andere Plane, ganz andere Pläne. Ich werde mich in eine Gräfin verwandeln Madame la Comtesse. Das klingt doch gut, oder? Das ist mein neuer Titel, und du darfst ihn nicht vergessen.«

»Mon Dieu! Aber Madame, wie können Sie...? Ich meine . . .«

»Hör zu, Jeanne, und unterbrich mich nicht. Wir haben nur wenig Zeit. In Kürze wird Mademoiselle erwachen, und wir müssen uns einig sein. Ich bin Madame la Comtesse und Witwe. Du darfst nicht vergessen, Jeanne, daß Mademoiselle nichts von Monsieur Bleuet wußte. Ich habe ihr nie von ihm erzählt. Als ich sie im Kloster besuchte, trat ich als Mademoiselle Rigaud auf. Das war besser so, und ich bin jetzt froh, daß ich so vorsichtig war.

Nun zu dir. Als ich vor ein paar Tagen den Boulevard de la Madeleine entlangging, sah ich in einem Schaufenster Gepäck zum Verkauf. Es war ein kleiner, armseliger Laden, der vor allem gebrauchte Waren verkaufte. Dieses Gepäck bestand aus gutem Leder, in dem eine Krone eingraviert war. Du wirst dorthin gehen und es für mich kaufen. Es wird meine Geschichte untermauern.«

»Gepäck, Madame? Haben Sie vor zu verreisen?«

»Ja, Jeanne, ich gehe von hier fort, und du kommst mit uns mit, Mademoiselle und mir. Ich habe dir ja gesagt, die Vergangenheit ist begraben, die Zukunft beginnt.«

»Aber wohin gehen wir, Madame? Und warum dieses Spiel?«

»Ich werde dir nicht all meine Geheimnisse verraten, Jeanne. Das habe ich noch nie getan, oder? Ich ziehe es vor, allein zu arbeiten, das ist klüger. Wenn etwas schiefgeht, kann ich nur mir selbst Vorwürfe machen. Aber dieses Mal geht nichts schief! Seit achtzehn Jahren arbeite ich auf diesen Augenblick hin. Und es war harte Arbeit, das darfst du mir glauben. Meine ganzen Pläne bauten darauf auf.«

Emilies Stimme verwandelte sich in ein Zischen. Die Augen in ihrem blutleeren Gesicht waren nur noch Schlitze. Dann änderte sie plötzlich ihren Gesichtsausdruck. Sie wandte sich Jeanne zu: »Schau mich nicht so entsetzt an, Jeanne. Du brauchst mir nur zu vertrauen. Beeil dich und kauf das Gepäck, denn wir brauchen es. Dann müssen wir meine Kleider durchsehen; die meisten davon sind nutzlos.«

»Nutzlos?«

Jeannes Stimme klang ratlos.

»Aber ja doch, völlig nutzlos. Ich bin eine Aristokratin, eine Dame. Öffne die Schranktür und sage mir, wie viele der Kleider, die dort hängen, meiner jetzigen Stellung angemessen sind?«

Gehorsam, halb gelähmt, ging Jeanne zu dem riesigen Mahagonischrank, der eine ganze Wand des Schlafzimmers einnahm; Sie öffnete die Türen. Der Schrank hing voll mit Kleidungsstücken in allen Farben. Die Litzen, Borten und Spitzen bewegten sich im Luftzug und schillerten wie ein Regenbogen.

»Du kannst sie für mich verkaufen«, sagte Emilie vom Bett aus. »Sie werden nicht viel einbringen. Am besten, du bringst sie zu Witwe Wyatt am Markt, sie zahlt noch den besten Preis dafür. Sag ihr, was sie kosten, und versuche, ein gutes Geschäft zu machen. Das grüne Samtkleid habe ich erst vor drei Monaten gekauft und das zyklamenfarbene Seidenkleid eine Woche vor Weihnachten.«

»Aber Madame, Sie haben das zyklamenfarbene Kleid erst dreimal getragen!«

Jeanne nahm das Kleid liebevoll vom Bügel. Es war eine Robe mit üppigen Rüschen, Samtschleifen, das Oberteil und die engen Ärmel waren mit Pailletten besetzt. Es war offensichtlich, daß dieses Kleid teuer war, aber im Morgenlicht sah es grell aus, hatte etwas Gewöhnliches an sich.

»Nimm es weg!« befahl Emilie in strengem Ton. »Es wird mir nun klar, wie ich darin ausgesehen haben muß.«

Jeanne hängte das Kleid gehorsam zurück und schloß die Schranktür.

»Und wenn diese Kleider veräußert sind, was werden Madame dann tragen?« fragte sie.

»Neue Kleider für den Tag und den Abend, sie müssen sofort angefertigt werden. Mademoiselle benötigt das gleiche. Du wirst dich sofort zu Madame Guibout begeben und ihr auftragen, bei uns vorbeizukommen. Sag ihr, es sei von äußerster Dringlichkeit, für eine hochgestellte Persönlichkeit.«

»Madame Guibout ist aber sehr teuer.«

»Das weiß ich, Jeanne. In diesem Augenblick denken wir nicht ans Geld. Wie ich dir ja sagte, beginnt ein neues Leben.«

Emilies Stimme tönte wie eine Trompete durch den Raum. Plötzlich klopfte es an die Tür. Einen kurzen Augenblick lang trafen sich die Blicke von Herrin und Kammerfrau, keine sprach. Dann sagte Emilie mit Anstrengung: »Entrez!«

Die Tür ging auf, und Mistral kam herein. Sie trug noch ihr Nachtgewand, ein langes, weißes Batisthemd, das die Nonnen für ihre Schülerinnen anfertigten, um die Schultern hatte sie einen weißen Kaschmirschal. Sie trat langsam ins Zimmer. Ihre Augen leuchteten, ihr Mund lächelte. Als sie auf das Bett ihrer Tante zuging, glänzte die Sonne in ihrem Haar und verwandelte es in eine goldene Fackel, die den Raum zu erleuchten schien.

Ihr Haar, das in der Mitte gescheitelt war, fiel ihr in schweren Flechten über die Brüste und reichte bis zu den Knien. Es hatte die Farbe des reifen Korns oder der aufgehenden Sonne. Wie man ihr später sagte, war es mimosenfarben. Dieses Haar findet man nur bei den Angelsachsen, es ist das helle Flachsblond, das so gut zu den blauen Augen und blasser Haut paßt.

Doch erstaunlicherweise waren Mistrals Augen nicht blau, sondern dunkel, umrahmt von langen, dunklen Wimpern, die ihr einen seltsam geheimnisvollen Ausdruck verliehen.

Als Emilie sie betrachtete, fragte sie sich, wie sie je auf die Idee gekommen war, daß Mistral ihrer Mutter gleiche und doch, wenn sie sie länger ansah, entdeckte sie erneut die Ähnlichkeit. Eine Wendung des Kopfes, ein bestimmtes Lächeln, und aus Mistral wurde Alice, die am Fußende ihres Bettes stand. Ihre Augen blickten sie mit unverhüllter Freude an. Doch Alices Augen waren blau gewesen. Sie erschien immer als die, die sie wirklich war - eine Engländerin und Aristokratin.

Emilie gab widerwillig zu, daß Mistrals Schönheit noch strahlender war. Diese eigenartige Mischung aus Goldhaar und dunklen Augen war äußerst reizvoll, ihre vollkommenen Lippen kontrastierten in ihrem natürlichen Rot mit ihrer hellen Haut. Sie hatte etwas Unenglisches an sich, man fragte sich unwillkürlich, welches Geheimnis sich hinter diesen dunklen Augen verbarg.

Aber eines stand außer Zweifel: Mistral war genau wie ihre Mutter eine Lady. Sie war vom Kopf, den sie unbeschreiblich stolz und anmutig bewegte, bis zu ihren zarten Sohlen eine Aristokratin. Ihre Bewegungen, die Anmut ihrer schlanken Finger, ihre stolze, kleine Nase, zeugten von ihrem blauen Blut, als ob sie ihren Stammbaum vor sich hertragen wurde.

Emilie gab einen kleinen Seufzer von sich und streckte ihre Hand aus. Mistral flog ihr entgegen.

»Bonjour, Tante Emilie. Verzeih mir, daß ich so lange geschlafen habe, aber ich war letzte Nacht so müde, daß ich erst eben aufwachte und mich fragte, wo ich sei.«

Mistrals Französisch war vollkommen.

»Ich wollte dich lange schlafen lassen, mein Liebes«, antwortete Emilie. »Und jetzt wird dir Jeanne das Frühstück bringen. Erinnerst du dich an Jeanne?«

Mistral bewegte sich wie eine Gazelle durch den Raum und streckte Jeanne beide Arme entgegen.

»Natürlich erinnere ich mich an dich«, rief sie. »Ich erinnere mich an die Bonbons, die du mir immer gabst, wenn du mein Haar gebürstet hast. Als ich in die Klosterschule kam, vermißte ich dich und deine Bonbons über alles. Ich mußte mein Haar selbst bürsten und es war mir so lästig, daß ich es am liebsten abgeschnitten hatte.«

»Das wäre ein Verbrechen gewesen, Mademoiselle«, rief Jeanne aus und strahlte übers ganze Gesicht. »Daß Sie sich nach zwölf Jahren an mich erinnern! Aber Sie waren schon immer das entzückendste kleine Mädchen der ganzen Bretagne!«

»Ich vermißte auch die Bretagne«, fuhr Mistral sanft fort. Zu ihrer Tante gewandt, fügte sie hinzu: »Ach, Tante Emilie, es ist so aufregend, hier zu sein, und dieses Haus ist wundervoll. Warum durfte ich nicht schon eher zu dir kommen?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Emilie. »Im Augenblick müssen wir uns über wichtigere Dinge unterhalten. Jeanne wird dir das Frühstück bringen, und wir können reden, während du frühstückst.«

»Oh, darauf freue ich mich«, rief Mistral aus, als Jeanne aus dem Raum eilte. »Ich bin froh, mit dir reden zu können. Es gibt so viele Dinge, die ich wissen möchte. Ich möchte mich nicht beklagen, versteh mich nicht falsch, es gefiel mir bei den Schwestern, aber manchmal fühlte ich mich sehr einsam. All die anderen Mädchen schienen Familie und viele Verwandte zu haben. Ich hatte nur dich. Du warst immer gut zu mir, aber ich sah dich so selten, und es machte mich traurig, daß ich in den Ferien nicht nach Hause fahren konnte.«

»Das kann ich verstehen«, antwortete Emilie, »aber es gab Gründe, warum ich dich nicht bei mir haben konnte. Doch nun ist alles anders, wir sind zusammen.«

»Das ist herrlich, Tante Emilie. Wenn du nur ahnen könntest, wie glücklich mich das macht. Manchmal hatte ich große Angst, im Kloster bleiben und Nonne werden zu müssen.«

»Das hätte dir nicht gefallen?« fragte Emilie neugierig.

Mistral schüttelte den Kopf.

»Ich wußte in meinem tiefsten Inneren, daß ich dazu nicht berufen bin. Ich liebte die Nonnen. Man mußte sie lieben und bewundern. Die meisten von ihnen waren Heilige, und ich habe immer darum gebetet, so gut wie sie zu werden, aber eine innere Stimme sagte mir, daß ich nicht dort bleiben sollte. Ich wollte mehr von dieser Welt kennenlernen, ein anderes Leben leben. Vielleicht bin ich töricht und du lachst über mich, aber manchmal war mir, als ob eine Stimme mich aufforderte, dieses Leben voll auszukosten, bevor ich mich vorbehaltlos in den Dienst des Herrn begäbe.«

Mistrals Stimme klang sanft und geheimnisvoll. Emilie beobachtete sie und nahm neben ihren Worten vieles andere wahr: die fast hypnotisch klingende Stimme des Mädchens, die verführerischen Lippen, den ungeweckten Reiz seiner großen Augen und die Gefühlsbetontheit, die seine Worte verrieten.

»Deine Gedanken waren richtig«, sagte Emilie nach einer kurzen Pause. »Du bist jung, Mistral, und es wäre eine Sünde, ein junges, hübsches Mädchen hinter Klostermauern einzusperren.«

»Hübsch? Meinst du mich damit?« fragte Mistral. »Oh, Tante Emilie, meinst du das wirklich? Ich wünschte es mir so sehr, aber ich war mir nicht sicher. Ich sah so ganz anders aus als die anderen Mädchen.«

»Haben sie dir nicht gesagt, du seist hübsch?« fragte Emilie.

In Mistrals Wangen spielten zwei Grübchen. »Manchmal. Aber meistens zogen sie mich wegen meiner hellen Haare auf. Ich war das einzige englische Mädchen im Kloster, und das einzige, das nicht brünett war.«

»Das einzige englische Mädchen«, wiederholte Emilie. »Ja, Mistral, du bist Engländerin, denn deine Mutter war Engländerin.«

»Und mein Vater?«

Mistral stieß die Frage schnell hervor. Als ihr die Worte entschlüpft waren, sah sie, wie sich Emilies Gesicht überschattete. Die wohlwollend lächelnde Tante, die zu ihr gesprochen hatte, schien verschwunden zu sein, statt dessen war da eine Frau mit einem verzerrten Ausdruck. Mistral hatte sie noch nie so gesehen. Emilies Gesicht war haßerfüllt. Ihre Lippen waren nur noch ein Strich, die Augen schmale Schlitze, überall durchzogen Falten ihr Gesicht. Sie war so abstoßend wie eine Vogelscheuche. Doch gerade als Beklommenheit von Mistral Besitz zu ergreifen schien, änderte sich Emilies Miene erneut.

»Laß uns jetzt nicht über deinen Vater sprechen«, sagte sie. »Eines Tages werde ich dir von ihm erzählen, aber im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun. Du bist zu mir gekommen, Mistral, um bei mir zu wohnen, darüber freue ich mich sehr. Aber etwas muß von Anfang an klar sein. Ich erwarte Gehorsam. Du wirst mir gehorchen, auch wenn dir meine Anordnungen nicht immer vernünftig erscheinen. Von nun an folgst du mir vorbehaltlos, ist das klar?«

Emilies Stimme klang hart, und erneut fühlte Mistral Angst in sich aufsteigen, doch sie bekämpfte sie energisch.

»Natürlich, Tante Emilie. Ich habe nichts anderes vor, als dir zu gehorchen.«

»Das ist gut. Dann werde ich dir erzählen, was wir vorhaben. Heute werden wir uns um deine Kleider kümmern. Ich habe nach Madame Guibout, eine der besten Couturières von Paris, schicken lassen. Sie ist teuer, aber zu Recht, denn sie wurde von Monsieur Worth, dessen Gönnerin die Kaiserin Eugenie ist, ausgebildet. Sie wird dir alle Kleider, die du brauchst, anfertigen. Ja, deine Gewänder werden teuer kommen, aber sie werden dir schmeicheln, und wenn du sie trägst, fühlst du dich selbstsicher, bist dir deiner Wirkung bewußt.«

»Oh, vielen Dank, Tante Emilie«, hauchte Mistral. »Wenn du wüßtest, wie ich mich danach gesehnt habe ...«

»Laß mich fortfahren«, unterbrach sie Emilie. »Ich muß dir noch einiges sagen.«

»Ja, Tante Emilie.«

»Seit du vor zwölf Jahren auf die Klosterschule geschickt wurdest, haben wir uns immer nur in Abständen gesehen. Ich weiß nicht, inwieweit du dich an deine Kindheit erinnern kannst, an deine Familiengeschichte. Dein Großvater war der ehrenwerte John Wytham, der jüngste Sohn von Lord Wytham, einem englischen Adligen. Ich war seine älteste Tochter, aber er war mit meiner Mutter, einer Französin, nicht verheiratet. Deine echte Großmutter war eine Engländerin, die einer sehr vornehmen Familie entstammte. Sie starb, als deine Mutter fünf Jahre alt war. Diese wurde daraufhin von deren Eltern, Sir Hereward und Lady Burghfield aufgezogen. Deine Mutter wurde vernachlässigt und von den Verwandten schlecht behandelt. Als dein Großvater John dies entdeckte, brachte er sie in die Bretagne und übergab sie meiner Mutter... und mir. Dein Großvater war kein reicher Mann, aber sehr extravagant. Ich habe dich aufgezogen - ich allein. Ich habe in den letzten zehn Jahren dein ganzes Schulgeld bezahlt, dir Kleider gekauft, dir Privatunterricht zukommen lassen. Ich bezahlte deine Musik und Englisch-, Französisch und Deutschstunden. Hinzu kamen dein Rhetorikkurs, der Tanzunterricht und der Etikettekurs. Ich zahlte alles aus eigener Tasche.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Mistral. »Vielen Dank, Tante Emilie.«

»Du brauchst dich nicht zu bedanken«, sagte Emilie schnell. »Ich erzähle dir dies nur zur Information. Deine Verwandten in England unternahmen keinen Versuch, deine Mutter wiederzufinden, nachdem sie sie verlassen hatte, und da dein Großvater in seinen letzten Lebensjahren wenig Kontakt zu England hatte, zweifle ich daran, ob sie überhaupt von dir wußten. Deshalb bin ich deine einzige Verwandte, deine Tante, deine ganze Familie.«

»Ja, Tante Emilie.«

Mistral war verwirrt. Die Art, wie ihre Tante sprach, hatte etwas Feindseliges, Aggressives.

»Wir verstehen uns also«, fuhr Emilie fort. »Nun muß ich dir noch etwas erzählen - ich war verheiratet. Ich heiratete einen Grafen. Er ist tot und es besteht für uns kein Anlaß, über ihn zu sprechen; ich bin in Wirklichkeit Madame la Comtesse. Doch ich werde meinen Titel nicht benutzen. Ich werde dort, wohin wir uns begeben werden, einen anderen Namen angeben, inkognito bleiben aus ganz bestimmten Gründen.«

»Wir verreisen!« rief Mistral aus. »Wohin?«

»Darauf komme ich noch zu sprechen«, antwortete Emilie. »Wir werden eine lange Reise machen, die ich seit Jahren geplant habe.«

»Du plantest diese Reise .. . mit mir?« erkundigte sich Mistral.

»Ja, ich plante sie mit dir«, sagte Emilie. »Wir werden erst wieder darüber reden, wenn wir bereit sind, aber merke dir eines: Du wirst mit niemandem über meine Angelegenheiten sprechen, wer auch immer dich auszuhorchen versucht; du sagst kein Wort.«

»Aber wenn man mich fragt, wer ich bin?« fragte Mistral. »Was soll ich dann antworten? Muß ich auch einen anderen Namen angeben?«

»Höchstwahrscheinlich«, antwortete Emilie. »Niemand darf erfahren, daß du Wytham heißt. Ist das klar? Nie darf der Name Wytham über deine Lippen kommen. Ich werde Madame ... ja, ich werde Madame Secret sein. Das ist ein passender Name. Die Leute werden neugierig sein - ich möchte, daß sie neugierig sind. Sie werden Fragen stellen, das ist ganz in meinem Sinne; sie werden reden - sie sollen reden.«

»Aber Tante Emilie, ich verstehe dich nicht.«

»Ist das wichtig? Ich habe dir bereits gesagt, Mistral, daß du zu gehorchen hast. Außerdem mußt du mir vertrauen. Ich weiß, was das Beste für dich und was das Beste für mich ist. Ist das klar?«

»Ja, Tante Emilie.«

»Dann sind wir uns einig. Wir werden zusammen reisen, du und ich, und vorläufig bleiben die Gründe dafür mein Geheimnis.«

Mistral wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick klopfte es, und Jeanne trat ein.

»Madame, Madame Guibout ist da.«

»Schön«, sagte Emilie. »Bitte sie herein. Mistral, zieh deine Unterkleider an, damit Madame Maß an dir nehmen kann.«

»Aber Mademoiselle muß doch erst ihr Frühstück einnehmen«, rief Jeanne aus. »Ich habe es ihr vor ungefähr zwanzig Minuten in ihr Zimmer gestellt - ich dachte, das sei in Ihrem Sinne, Madame.«

»Wie dumm du doch bist, Jeanne. Mademoiselle sollte es hier einnehmen. Nun, dann nimm es halt in deinem Zimmer zu dir, Mistral, während du dich ankleidest, aber beeile dich.«

»In Ordnung, Tante Emilie«, sagte Mistral gehorsam und ging mit Jeanne aus dem Zimmer.

Emilie sah ihr nach. An der Tür schaute Mistral zurück und schenkte ihrer Tante ein scheues Lächeln. Sie winkte kurz zum Abschied, und einen Augenblick lang dachte Emilie, Alice lächle ihr zu. Fast hätte sie angesichts dieser Ähnlichkeit aufgeschrien. Da schloß sich die Tür hinter Mistral, und sie war allein.

»Alice.«

Sie flüsterte den Namen. Es schien erst gestern gewesen zu sein, daß sie sie so hatte lächeln sehen. Wie reizend war sie doch gewesen und wie liebenswert! Wie hatten sich ihre weichen Arme um ihren Hals geschlungen! Sie sah Alice vor sich, als John Wytham sie mit zehn von England herübergebracht hatte. Sie war ein mageres, ängstliches kleines Mädchen, dessen Gesicht von übergroßen, tränennassen Augen beherrscht wurde und dessen Lippen bei jedem groben Wort zu zittern anfingen.

Emilie fütterte gerade die Hühner, als ihr Vater eintraf. Er fuhr in den Hof, die schwarzen Pferde waren so frisch, als ob sie gerade aus dem Stall kämen. Er übergab die Zügel einem Stallknecht, sprang herunter und streckte die Arme einem kleinen Kind entgegen, das neben ihm gesessen hatte. Er nahm Alice auf den Arm, sie schlang die Arme um seinen Nacken, verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Außer ihrem langen, goldenen Haar konnte man nichts von ihr sehen.

John Wythams Begrüßung seiner ältesten Tochter Emilie war typisch für den Umgangston zwischen ihnen: »Nun, Emilie, hast du endlich einen Mann gefunden?«

Emilie hätte verschiedene Antworten parat gehabt. Sie hätte ihm sagen können, daß sie als uneheliches Kind von einem englischen Maler und einer französischen Bauerntochter nicht gerade die ideale Voraussetzung für eine Heirat hatte. Sie hätte ihm sagen können, daß die einzigen Männer, die sie in diesem düsteren, wenn auch reizvollen Teil der Bretagne kennenlernte, Bauern waren, von denen sie keiner interessierte, denn ihr englisches Blut machte sie völlig unberechtigt wählerisch. Sie hätte auch erwidern können, daß er, wenn er nicht so egoistisch wäre, sich daran erinnern würde, daß ein französisches Mädchen, wenn es einen Mann möchte, eine Aussteuer benötigt. Von dem Geld, das er ihrer Mutter in den letzten zehn Jahren gegeben hatte, hätte man nicht einmal ein Tier ernähren können.

Aber Emilie, die in Anwesenheit ihres Vaters immer die Sprache verlor, konnte nur stammeln: »N ... nein . . . Pa .. . Papa.«

John Wytham kniff ihr in die Wange, und sie lächelte ihn an.

»Du bist schon über dreißig. Du mußt dich schleunigst nach einem Liebhaber umsehen, sonst wird es zu spät. Wo ist deine Mutter?«

»Drinnen.«

Er ging an ihr vorbei ins Haus. Emilie folgte ihm in die große, mit Eichenholz ausgestattete Küche. Ihre Mutter bereitete gerade das Abendessen vor, und vom Herd her kamen verführerische Düfte. Marie Rigauds Gesicht war durch das Herdfeuer gerötet, und ihr Haar, das allmählich grau wurde, war unordentlich, aber ihre Figur war so schlank wie die eines jungen Mädchens. Als sie ihn entdeckte, klang ihre Stimme vor Freude so aufgeregt wie die eines Backfisches.

»John!«

»Ja, ich bin’s. Bist du überrascht, mich nach all den Jahren zu sehen?«

»Es sind erst vier Jahre her, seit du uns das letzte Mal besucht hast, und ich wußte, du würdest wiederkommen.«

»Wirklich, das wußtest du? Du hattest recht. Ich habe jemanden mitgebracht.«

Ganz behutsam setzte er Alice auf den Tisch. Sie gab einen unverständlichen Laut von sich und verbarg weiterhin ihr Gesicht an seiner Brust.

»Das ist Alice«, sagte er kurz zu Marie.

»Das dachte ich mir«, antwortete sie. »Als du das letzte Mal hier warst, hast du von ihr gesprochen. Du erzähltest, daß sich die Eltern deiner Frau um sie kümmerten.«

»Aber ich habe dir nicht erzählt, wie diese verdammten Schwiegereltern sie behandelten, oder? Mein überheblicher Schwiegervater, der immer zu gut für mich war, und seine erlauchte Gemahlin, die immer die Nase rümpfte und nur zwei Fingerspitzen zum Gruß reichte, aus Angst, man könne ihre Hand stehlen. Es überrascht nicht, daß das Kind sich bei ihnen nicht wohl fühlte. Aber ich wußte nicht, wie unglücklich die Kleine war, bis ich sie vor ein paar Tagen besuchte. Sie selber sagte nichts, dazu war sie viel zu schüchtern, aber ich brachte ihr Kindermädchen dazu, mir die Wahrheit zu sagen. Sie erzählte mir, daß Alice ständig eingeschüchtert würde und sich immer wieder sagen lassen müsse, sie sei nicht erwünscht und ihr Vater sei ein schlechter Mensch.

Ich zeigte ihnen, wie schlecht ich bin. Ich wünschte sie zum Teufel und nahm das Kind mit. Es ist krank und fühlt sich elend. Ich dachte, ich bringe es zu dir, Marie. Ich habe keine Rücksichten mehr zu nehmen, mit England bin ich fertig. Ich werde wieder malen, aber ich kann keine kranke Göre mit mir herumschleppen. Nimmst du sie?«

Emilie hörte kaum auf die Antwort ihrer Mutter, denn sie wußte sowieso, wie sie ausfallen würde.

»Das weißt du doch, John«, hörte sie sie sagen.

Ebenso wenig wie Marie Rigaud konnte sie den Blick von John Wytham abwenden. Seine Stärke schien den Raum zu füllen. Er war groß und attraktiv, und obwohl Emilie keine Erfahrung mit Männern hatte, wußte sie, daß er wild war. Er hatte etwas Ungebändigtes, Urwüchsiges an sich. Sein sinnlicher Mund, seine Augen schienen jeden in Bann zu halten.

»Das wäre also geregelt«, sagte er. »Hier ist etwas Geld. Ich schicke dir mehr, sobald ich kann.«

Er warf ein Bündel Banknoten auf den Tisch, und es schien Emilie, daß es eine ganze Menge war. Später wußte sie, daß es dabei bleiben und kein weiteres Geld nachfolgen würde.

»Bleibst du, John? Wenigstens zum Abendessen?« hauchte Marie Rigaud, als er sich zur Tür wandte.

»Nein, meine Liebe, ich habe anderweitige Verpflichtungen. Vielen Dank dafür, daß du Alice aufnimmst.«

Er küßte das Kind auf die Stirn, wandte sich dann der Frau zu, die er mit zwanzig geliebt hatte und die ihn seit dreißig Jahren liebte. Er bog ihren Kopf zurück. Sie schaute zu ihm hoch, sanft und verklärt.

»Du liebst mich also immer noch«, sagte er nach kurzer Stille. »Nun, ich war immer ein Glückspilz.«

Er küßte sie auf den Mund. Dann verließ er die Küche. Marie machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten. Sie stand da und starrte ihm nach, die Hand ans Herz gepreßt, das unter ihrer billigen Baumwollbluse wild schlug.

Emilie lief ihm nach, sah, wie er seine Kutsche bestieg, elegant die Zügel in die Hand nahm und ihr ein letztes Mal mit dem Hut zuwinkte.

Dann hörte sie den Ruf des Kindes: »Papa, Papa, verlaß mich nicht.«

Es war ein mitleiderregender Schrei, voll tiefer Verzweiflung. Eine kleine Gestalt kam aus der Küche in den Garten gerannt. Emilie nahm Alice in die Arme, hielt sie fest an sich gedrückt, fühlte, wir ihr kleiner Körper zitterte und salzige Tränen ihre Wangen hinunterliefen.

»Pauvre petite«, murmelte sie. »Ist ja schon gut, ist ja schon gut. Ich kümmere mich um dich.«

Damals wußte sie noch nicht, wie wahr ihre Worte werden sollten. Mit Alice wuchsen ihre Aufgaben: Alice aß nicht, hatte Angst in der Dunkelheit, vor den Kühen, wollte spazieren gehen, mußte getröstet werden, weil die Dorfkinder sie gehänselt hatten. Man mußte sich um ihre Lehrer, Ärzte, Medikamente, Bücher, Kleider, Schuhe, Vergnügungen kümmern, ihre langen goldenen Haare bürsten.

Emilie seufzte.

Sie hörte ein Geräusch vor der Tür, und es wurde ihr bewußt, daß sie ihren Erinnerungen nachgehangen hatte, die bestimmt nicht länger als ein paar Minuten in Anspruch genommen hatten, obwohl sie den Eindruck hatte, sie habe die Jahre nochmals durchlebt.

»Madame, hier ist Madame Guibout.«

Jeanne komplimentierte die Couturière in das Zimmer. Sie war eine kleine, lebhafte Frau. Ihre Gesichtsfarbe war infolge vieler Stunden in stickigen Raumen fahl, ihr Blick durch die Konzentration auf die Kleider, die sie so kunstvoll fertigte, überanstrengt.

»Bonjour, Madame.«

Die beiden Frauen hielten sich nur kurz mit Begrüßungsformeln auf und kamen dann gleich zur Sache.

»Reisekleider, Hauskleider, Ballroben, elegante Kleider, Mäntel, Dolmane und Kasacks. Mademoiselle braucht alles«, sagte Emilie.

»Und Sie selbst, Madame?«

»Eine völlig neue Garderobe.«

»Und wann?«

»Ich wünsche das Unmögliche. Das Ganze soll in drei Tagen, höchstens in einer Woche, fertig sein.«

»Das kommt teuer.«

»Ich bin mir dessen bewußt«, sagte Emilie, »aber ich werde darauf achten, daß Sie mich nicht übervorteilen.«

»Ich werde zusätzliche Näherinnen benötigen. Das ist nicht billig.«

»Einverstanden.«

»Sie und Mademoiselle werden sich unzähligen Anproben unterziehen müssen.«

»Wir werden zur Verfügung stehen, wann immer Sie es wünschen.«

»Dann ist alles klar, Madame.«

»Danke.«

Madame Guibout verließ das Zimmer. Draußen warteten zwei Assistentinnen auf sie und brachen fast unter der Last der mitgebrachten Stoffe zusammen: Seide, Samt, Kaschmir, Popeline, Musselin.

Madame Guibout ließ sie ins Zimmer kommen. Sie trug eine Rolle mit azurblauem Samt und ließ ihn über das Bettende rollen.

»Aus Lyon«, sagte sie kurz.

Emilie stellte sich Mistrals Haar dazu vor. Einst hatte Alice die gleiche Farbe getragen.

Die Tür stand noch offen, und Mistral stürzte herein.

»Ich bin bereit, Tante Emilie«, sagte sie. »Oh, welch herrliche Farben sind das.«

Sie streckte die Hand aus, um den blauen Samt zu berühren. Dabei bedeckte Madame Guibout ihren Arm mit grauem Flor. Er war so zart wie Morgennebel über einem Teich in der aufgehenden Sonne.

»Für Sie, Madame«, sagte Madame Guibout.

Emilie starrte auf den Stoff und wandte sich an Mistral.

»Nein, für Mademoiselle«, erwiderte sie ruhig.

»Für mich?« fragte Mistral überrascht.

»Ja, für dich«, wiederholte Emilie, »denn deine gesamte Garderobe wird in Grau angefertigt werden - phantomgrau.«

»Aber Tante Emilie, dann sehe ich ja wie ein Gespenst aus«, rief Mistral.

»Genau«, sagte Emilie. »Du wirst wie ein Gespenst aussehen, das Gespenst von Monte Carlo.«

2

Sir Robert Stanford schloß die Tür der Villa behutsam hinter sich und verharrte einen Augenblick, um das Meer zu betrachten.

Es war eine großartige Nacht, auch wenn der Mond immer mehr verblaßte. Im Osten sah man bereits einen schwachen Schimmer, der die Morgendämmerung ankündigte. Vom Meer kam eine stärkere Brise. Sir Robert fühlte sie in seinem Gesicht, er atmete tief durch, als ob er dadurch zu neuen Kräften käme. Er war in der morgendlichen Stimmung eines Mannes, der sein körperliches Verlangen gestillt hat und dessen Geist sich nun wieder regt.

In der Villa des Roses herrschte eine Dunkelheit voller Exotik, draußen regte ihn die kühle Luft, ein Gemisch aus Mimosen und Orangenblütenduft, seltsam an.

Sir Robert warf den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel, dann kehrte sein Blick zu dem Garten zurück, zu den Stufen, die von der Villa hinunterführten in eine bunte Pflanzenwelt, deren gedämpfte Farben auf den Anbruch des Tages warteten, um sich in voller orientalischer Pracht zu entfalten. Doch seltsam, Sir Robert sah in diesem Augenblick nicht die liebliche Mittelmeerlandschaft, sondern den gepflegten grünen Rasen seines Hauses in Northamptonshire. Er sah es ganz deutlich vor sich - das graue Haus mit seinen Terrassen, das Dach und den Kamin, der sich gegen den klaren Himmel abhob. Nur über einen kleinen See konnte man zur Säulenhalle dieses Hauses gelangen. Es war ein großartiges Haus, ein Heim, auf das jeder stolz wäre. Er konnte sich nicht erklären, warum gerade die Morgenbrise vom Mittelmeer ihn an Cheveron erinnerte.

Und doch war ihm, als läge es vor ihm und klage ihn stillschweigend an, fordere von ihm eine Erklärung. Wie alle Menschen in einer schwachen Stunde begann Sir Robert, nach Ausflüchten zu suchen. Warum sollte er an ein Haus gebunden sein, an einen Namen, an ein Erbe? Er würde sein Leben leben. Warum nicht? Er war alt genug, um seine Entscheidung zu treffen.

Dabei erinnerte sich Sir Robert daran, daß in seiner Hotelsuite ein Brief auf ihn wartete. Er war frühabends eingetroffen. Als er die Handschrift erkannte, ließ er ihn ungeöffnet auf dem Tisch liegen. Es war ein Brief seiner Mutter, und es schien ihm, als ob er etwas unerklärlich Drohendes an sich hatte.

Die letzte Unterredung mit seiner Mutter kam ihm ins Gedächtnis. Er konnte sich an jedes Wort erinnern, an jede Bewegung an das Flackern des Kaminfeuers auf ihrem Gesicht, an die ruhige Feierlichkeit des Schnees, der vor Cheveron lag und der die vertraute Landschaft unglaublich schon erscheinen ließ.

»Du gehst also nach Monte Carlo«, hatte seine Mutter gesagt, und er erkannte am Ton ihrer Stimme, daß sie damit nicht einverstanden war.

»Ja, nach Monte Carlo«, wiederholte er. »Zu dieser Jahreszeit wird es dort herrlich sein. Ich verstehe nicht, warum es dich nie in den Süden zieht. Das Klima dort ist sehr gut für die Gesundheit.«

»Daran zweifle ich nicht«, antwortete Lady Stanford, »aber ich habe viele Pflichten, die mich hier halten.«

Die Anspielung war unmißverständlich.

»Dann hoffe ich, du übernimmst auch die meinen, liebe Mutter«, erwiderte er.

»Wenn ich es könnte, würde ich es tun«, sagte Lady Stanford, »aber leider bin ich nur eine Frau. Du bist der Besitzer dieses Landgutes, das du von deinem Vater geerbt hast. Du bist das Familienoberhaupt, und die Stanfords haben immer sehr viel Wert auf Tradition gelegt.«

Sir Robert war durch den Raum gegangen und starrte hinaus auf den schneebedeckten Rasen. Hinter ihm herrschte für einen Augenblick Stille, und dann fragte seine Mutter mit fast erstickter Stimme: »Diese ... diese Frau ... geht sie mit dir?«

Sir Robert wandte sich ihr zu.

»Ich vermute, du meinst Lady Violet Featherstone. Sie wird in ihr Haus nach Monte Carlo fahren.«

»Oh, Robert, wie kannst du mit ihr dorthin fahren? Begreifst du denn nicht, daß sie dich ruiniert?«

Sir Robert ging zum Kamin zurück.

»Inwiefern?« fragte er. »Finanziell, intellektuell oder physisch? Nein. Natürlich kenne ich die Antwort: gesellschaftlich. Das ist es doch, was du sagen wolltest, nicht wahr, Mutter?«

Als Antwort führte Lady Stanford ein schwarzumrandetes Taschentuch an die Augen. Ihre Tränen, ihre Hilflosigkeit versetzten ihren Sohn in Wut. Er verspürte das Bedürfnis, sie zu kränken.

»Ich bitte dich, Mutter, sorg dich nicht«, sagte er. »Wie du soeben selbst sagtest, bin ich der Besitzer eines großen Gutes und eines beträchtlichen Vermögens. Die Leute werden meiner Frau alles verzeihen, wenn ihnen nur nicht die Türen von Cheveron verschlossen bleiben.«

Wenn er vorhatte, seine Mutter zu treffen, dann war es ihm gelungen.

»Robert!«

Die Betonung seines Namens drückte ihre Überraschung und ihren Schrecken aus.

»Robert, du wirst doch ... du wirst doch damit nicht sagen wollen, daß du ... daß du diese Frau zu heiraten gedenkst... und hierher bringen möchtest?«

»Und warum nicht?« fragte Sir Robert sanft. »Hast du vergessen, Mutter, daß Lady Violet die Tochter eines Herzogs ist?«

»Das habe ich nicht vergessen«, sagte Lady Stanford, »aber eine gute Herkunft macht ihr Verhalten noch weniger entschuldbar. Übrigens, wenn du Lady Violet heiraten möchtest, muß sie erst von ihrem Gatten geschieden werden. Hast du dir das überlegt, Robert? Eine Scheidung!«

»Ich habe es mir überlegt«, antwortete Robert.

Lady Stanford erhob sich. Einst war sie eine schöne Frau gewesen. Sie besaß immer noch Spuren dieser einstigen Schönheit und eine Anmut, die im Laufe der Jahre zugenommen hatte. Sie sah jetzt sehr würdevoll aus, obwohl sie kreidebleich war und die Tränen auf ihren Wangen Spuren hinterlassen hatten.

»Gut, Robert«, sagte sie ruhig. »Du bist alt genug, um dein eigener Herr zu sein. Wenn du dich dazu entschließt, diese Frau zu heiraten, kann dich niemand davon abhalten. Sie hat einen schlechten Ruf und ist zehn Jahre älter als du, aber ich weiß, weder ich noch ein anderer können dich von deiner Entscheidung abbringen. Doch das eine steht fest: Nie werde ich Violet Featherstone als deine Frau akzeptieren. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

»Ich verstehe.«

Lady Stanford wandte sich zur Tür. Sir Robert öffnete sie für seine Mutter. Ein ärgerliches, ironisches Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Mutter blickte ihn kurz an, hoffte vielleicht, sein Ausdruck würde sich mildern. Doch als sie ihm ins Auge blickte, sah sie Feindseligkeit, Mißtrauen und Verstimmung. Sie wandte ihren Kopf ab und verließ lautlos den Raum.

Er war grausam gewesen. Sir Robert war sich klar darüber. Doch er war machtlos gegen den bitteren Groll, der ihn erfaßt hatte, der ihn immer beherrschte, wenn es nicht nach seinem Kopf ging. Warum, fragte er sich wie so oft, warum war er Violet nicht begegnet, als sie jünger waren? Er dachte dabei nicht daran, daß er, als sie geheiratet hatte, noch in Eton war. Er erinnerte sich nur daran, daß sie eine zauberhafte Frau war und er sie begehrte.

Wie angenehm unterschied sie sich doch von den Mädchen, die seine Mutter als angemessene Partien ansah und die keinen Ton herausbrachten. Wie anders war sie als die anderen Frauen, mit denen er geflirtet oder geschlafen hatte, die ihn aber früher oder später mit ihren aufdringlichen Ansprüchen und ihren Liebesbezeugungen, die um so heftiger wurden, je mehr seine abnahmen, gelangweilt hatten.

Er war sich Violets nie ganz sicher. Sie konnte anschmiegsam, sanft sein, voller Hingabe, dann aber wieder machte sie sich über ihn und seine Leidenschaft lustig. Sie gehörte nicht ihm, sondern sich selbst. Sie war ein Irrlicht, das über einen Sumpf von Gefühlen flackerte.

Ihre Unbekümmertheit und ihre Herausforderung reizten ihn. Violet machte sich nichts aus dem Gerede anderer Leute. Sie wußte, daß man über sie klatschte, wußte, daß ihre Verwandten und die Mehrzahl ihrer Freunde offen mit ihrem Mann sympathisierten. Sie hatte ihn vor ein paar Monaten nach achtzehnjähriger Ehe verlassen, da sie, nach ihren Worten, inzwischen seine ganzen Geschichten kannte und anfing, sich zu langweilen.

Die Klatschbasen, deren Lieblingsthema Lady Violet jahrelang gewesen war, waren nicht überrascht, es überraschte sie lediglich, daß Lady Violet nicht mit einem bestimmten Mann auf und davon gegangen war. Sie hatte lediglich eine eigene Wohnung bezogen und sich weiterhin in die Herzen junger Männer geschlichen.

In dieser Situation hatte Sir Robert sie kennengelernt, und vom ersten Augenblick an dachte und träumte er nur noch von ihr. Er war kein Junge mehr, der die wichtigste Entscheidung seines Lebens unüberlegt getroffen hätte. Er war sich wohl bewußt, wenn er Lady Violet zur Frau begehrte, müßte er seine Zukunftspläne grundlegend ändern.

Auch wenn er seiner Mutter trotzte und sich vormachte, daß es ein leichtes sei, Lady Violet als seine Frau nach Cheveron heimzuführen, wußte er doch in seinem tiefsten Inneren, daß es nicht einfach sein würde. Und doch, wenn Violet ihn anlächelte, ihn unter ihren Wimpern anblickte, ihn auf die ihr eigene, charmante Art neckte, fand er, daß nichts auf der Welt mehr zählte als die endgültige Eroberung dieser faszinierenden, unberechenbaren Frau.

Doch jetzt im Augenblick hielt ihn, wie in den Zeiten, als er sie noch nicht gekannt hatte, die Schönheit Cheverons gefangen. Er konnte die Stimme seiner Mutter und die der anderen hören. Er dachte an die Pächter, an seinen Einzug ins Unterhaus, an seine Stellung in der Grafschaft, an seine Stellung bei Hof. Diese Gründe, die gegen eine Heirat mit Violet sprachen, türmten sich zu einem Berg auf, auch wenn sie im einzelnen noch so trivial erschienen. Sie standen im Gegensatz zur zarten Violet, die so reizend, faszinierend und verführerisch war und doch so wenig greifbar.

Plötzlich merkte Robert, daß er lange vor der Villa des Roses gestanden hatte und plötzlich fröstelte. Die Brise war kühler, als er gedacht hatte. Er ging den Garten entlang. Der Pfad schlängelte sich bis zu den Treppen, die zu einem Eisengatter zur Straße führten.

Er überquerte die Straße und betrat durch ein Tür den öffentlichen Park, der erst vor ein paar Jahren angelegt worden war. Ein Pfad führte unter Olivenbäumen und Palmen an Rosmarinsträuchern vorbei. Die Luft war erfüllt von schweren exotischen Düften. Bei Tag hätte ein Besucher scharlachrote Geranien, Veilchen und blauen Heliotrop erkennen können. Aber in der Stille der Nacht und im Schatten der Bäume schienen auch die Blumen zu schlafen.

Sir Robert achtete nicht auf die Schönheit um ihn herum. Er dachte immer noch an Cheveron. Er erinnerte sich an die Morgenstunden dort, wenn er vor dem Frühstück den taugetränkten Rasen betrat, wenn der Himmel golden leuchtete und die Vogel zwitscherten. Er erinnerte sich an die Rebhuhn Jagden über die Stoppelfelder, wenn sein Spaniel triumphierend die Beute apportierte. Er erinnerte sich, wie er bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause ritt und die Lichter von Cheveron ihn willkommen hießen. Cheveron, immer wieder Cheveron! Wenn er doch nur an Violet denken konnte, an ihre Lippen, ihre Arme, die sich um seinen Hals schlangen.

Er war am Ende der Treppenflucht angelangt, als plötzlich jemand gegen ihn stieß und ein spitzer Schrei ertönte. Er streckte die Hand aus, um sein Gegenüber vor dem Fall zu bewahren, und merkte, daß er eine Frau im Arm hielt.

»Seien Sie vorsichtig!« sagte er, und da er überrascht und in Gedanken in Cheveron war, sprach er unwillkürlich Englisch. Die Frau keuchte ein wenig.

»Pardon, Monsieur«, sagte sie und fugte dann auf Englisch hinzu: »Oh, Sie sind ja Engländer.«

»Ja, ich bin Engländer«, antwortete Sir Robert. »Ist irgend etwas?«

Es war schwierig, sie zu erkennen, doch er merkte, daß sie kurz atmete, als ob sie gerannt wäre und sich fürchtete.

»Nein, nein, jetzt, da Sie da sind, ist alles in Ordnung«, antwortete die Frau. »Es war nur so . . ., daß mich ein Mann ansprach. Ich dachte, er hätte vielleicht zu viel getrunken. Einen Augenblick lang verstand ich nicht, was er sagte . . . und ich blieb dummerweise stehen, um ihm zuzuhören. Dann, als ich ... als mir klar wurde, was er sagte . . . rannte ich weg.«

»Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte Sir Robert grimmig, doch kaum, daß er die Worte ausgesprochen hatte, kam ihm die Idee, daß dies eine Falle sein könnte. Hübsche Frauen, die nicht von Männern angesprochen werden wollten, vermieden es, im Morgengrauen allein im Park von Monte Carlo spazieren zu gehen. Er zögerte, und als ob sie seine Gedanken erraten hätte, wich die Frau vor ihm zurück.

»Es ist jetzt alles in Ordnung ... danke«, sagte sie. »Natürlich war es mein Fehler, alleine hier spazieren zu gehen. Ich weiß, es war nicht richtig von mir, aber... aber ich war wach, und ich wollte den Sonnenaufgang über dem Meer sehen.«

Ihre Erklärung und ihre Stimme klangen so kindlich, daß Sir Roberts Mißtrauen sofort wieder verschwand. Das war keine Falle und die Frau ... oder das Mädchen, denn er schätzte, daß sie noch sehr jung war ... war ehrlich, dessen war er sich sicher.

»Sie werden nicht lange zu warten brauchen«, sagte er. »Von hier aus können Sie ihn am besten sehen.«

Er zeigte etwas nach links, wo sich der Pfad gabelte.

»Oh, danke.«