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Angesichts der vielfältigen Krisen unserer Zeit, aber auch in unserem persönlichen Leben stoßen wir immer wieder an Grenzen. Gibt es eine Möglichkeit, zu lernen, so mit ihnen umzugehen, dass sie nicht nur Hindernisse für die Erfüllung unserer Vorstellungen sind? Auf Grundlage der Erfahrungen aus vielen Jahreskursen schlägt Bertram Dickerhof dazu eine tägliche Zeit des Innehaltens vor: 20 Minuten stille Meditation und 10 Minuten Betrachtung eines Textpaares – einem Hinweis zum Meditieren aus einer der Weltreligionen und einem dazu korrespondierenden Abschnitt aus der Bibel. Die bei dieser Praxis gemachte Erfahrung: Im Innehalten wirkt eine Kraft, die Grenzen entmachtet und uns so befähigt, ein Leben in innerer Freiheit und Verantwortung führen zu können. Vorangestellt ist den Textpaaren eine theoretische und praktische Einleitung in die "Zeit der Stille". Kommentare zu allen Textpaaren schließen den Band ab. Ein Lese- und Übungsbuch zu den Themen "Innehalten", "Meditation", "Stille" und "Gebet".
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Seitenzahl: 407
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Bertram Dickerhof
Innehalten an GrenzenGrenzen überwinden
BERTRAM DICKERHOF
EINE GRUNDLEGUNG DER MEDITATION
Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2024
© 2024 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: wunderlichundweigand.de
Coverbild: shutterstock / WezTylkoSpojrz
Innengestaltung: Crossmediabureau
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05950-7
978-3-429-06652-9 (PDF)
978-3-429-06653-6 (ePub)
Vorwort
Stille Zeit – Grundlegung
Es ist Zeit, innezuhalten
Meditation und ihre Auswirkungen im Alltag
Ein schützender Mantel
Selbsterkenntnis
Kreative Problemlösungen
Erfüllung, die eine nachhaltigere Lebensweise ermöglicht
Innere Freiheit
Beziehungsfähigkeit
Sich-mitteilen- und Zuhören-Können
Resilienz
Basics der Meditationsübung
1.Der Meditierende wendet sich nach innen
2.Der Meditierende hört in seiner Übung auf zu denken
3.Der Meditierende hört auf, in seiner Übung etwas zu wollen oder zu erstreben
4.Der Meditierende öffnet sich für Grenzerfahrungen
Los gehts!
Die Praxis der Meditation
Die Praxis der Schriftbetrachtung
Bei Bedarf zu lesen
Sehnsucht und Angst
Sich eingestehen, was hier und jetzt ist
Der Prozess der Annahme dessen, was ist
Wie aus Konzentration Gewahrsein wird
Schwerpunkte des Meditationsprozesses
Bin ich erleuchtet?
Meditation und Gebet im Sinne Jesu
Die Wochentexte
1.Woche:Das Ziel meiner Sehnsucht sucht nach mir
2.Woche:Die Wende nach innen
3.Woche:Die Bedeutung des Atems
4.Woche:Die Arbeit der Meditation
5.Woche:Die erste Phase kontemplativen Betens
6.Woche:Die rechte Anstrengung
7.Woche:Die rettende Wahrheit liegt in dir selbst!
8.Woche:Über das Denken in der Meditation
9.Woche:Gedanken und Gefühle machen nicht unsere Identität aus
10.Woche:Wie man beten soll
11.Woche:Fortschritt durch Geduld
12.Woche:Die Vorstellungen aufgeben, wie die Meditation sein sollte
13.Woche:Der Buddha – das bist du!
14.Woche:Wohnen in sich selbst
15.Woche:Das Problem der „guten“ Meditation
16.Woche:Ich bin nicht geflohen
17.Woche:Wer durchs Feuer geht
18.Woche:Der Weg des getrennten Selbst zu seinem wahren Wesen
19.Woche:Auf der Suche nach wahrer Erfüllung
20.Woche:Haften an Geist und Körper aufgeben
21.Woche:Die 2. Phase der Meditation: Vom Opfer zum Zeugen
22.Woche:Durchleben der gegenwärtigen Wirklichkeit
23.Woche:Das Gasthaus
24.Woche:Umgang mit Gefühlen
25.Woche:Der Stachel
26.Woche:Meditation ist Nicht-Aktivität oder Nicht-Übung
27.Woche:Das Mysterium des Elends
28.Woche:Es ist alles da
29.Woche:Gedachter und wesenhafter Gott
30.Woche:Die Auferstehung
31.Woche:Die Früchte der Widerstände
32.Woche:Das Tor ins „Stille Land“ ist eine Wunde
33.Woche:Die wahre Freude
34.Woche:Bin ich bewusst?
35.Woche:Bewusstheit der Vergänglichkeit bewirkt Entschlossenheit
36.Woche:Wahres Hören
37.Woche:Die Lebensweise, die den spirituellen Fortschritt unterstützt
38.Woche:Die Befreiung des Geistes
39.Woche:Alles ist unbeständig, unbefriedigend, leer von Selbst
40.Woche:Das Wichtigste: lasst los, lasst los, lasst los!
41.Woche:Die 3. Phase der Meditation: Gewahrsein
42.Woche:Die Erkenntnis des wahren Selbst
43.Woche:In allem habe ich Ruhe gesucht
44.Woche:Meditation ist das Aufhören des Tuns
45.Woche:Der in Weisheit und Versenkung Gefestigte
46.Woche:Nibbana: alles zurückwerfen können
47.Woche:Wahre Meditation
48.Woche:Erleuchtung
Woche, in der Weihnachten liegt:Gott ist dein Sein
Woche des Jahreswechsels:Befriedigung (piti) und Freude (sukha)
Karwoche:Wachen und Loslassen
Osterwoche:Unbedingte Bejahung
Pfingstwoche:Die Ausgießung des Geistes
Kommentare zu den Wochentexten
Zur 1.Woche:Annehmen, dass ich angenommen bin
Zur 2.Woche:Wie nehme ich mich selbst an?
Zur 3.Woche:Atmen und die Unterbrechung des Denkens
Zur 4.Woche:Anhaften durchbrechen
Zur 5.Woche:Die Übung, geschehen zu lassen, was geschieht, bringt von selbst Frucht
Zur 6.Woche:Anstrengung vor, gelöste Offenheit in der Meditation
Zur 7.Woche:Die Rettung liegt in der eigenen inneren Wahrheit. Wie diese erkannt wird
Zur 8.Woche:Auf-hören zu bewerten und zu verstehen, um zu hören
Zur 9.Woche:Gedanken und Gefühle machen nicht unsere Identität aus
Zur 10.Woche:Lass geschehen, was geschieht, und lass das Denken bleiben
Zur 11.Woche:Das überragende Mittel der Befreiung ist, sich selbst auszuhalten an Grenzen
Zur 12.Woche:Was ist eine gute Meditation?
Zur 13.Woche:Ich genüge! Darum kann ich meiner selbst bewusst werden
Zur 14.Woche:Zu sich selbst kommen
Zur 15.Woche:Meditation: sich einrichten in oder ausziehen aus der Idiopolis?
Zur 16.Woche:Grenzen als Chancen der Entkoppelung
Zur 17.Woche:Über das Gefällige hinaus
Zur 18.Woche:Meditation mündet nicht in eine Gipfelerfahrung, sondern in offene Bewusstheit
Zur 19.Woche:Der Weg zur „Seligkeit“
Zur 20.Woche:Aufwachen zur Vergänglichkeit
Zur 21.Woche:Sich seiner Gefühle bewusst werden
Zur 22.Woche:Aushalten im Vertrauen
Zur 23.Woche:Heiße das Missfällige willkommen!
Zur 24.Woche:Gefühle fühlen
Zur 25.Woche:Die Erfahrung unbedingter Liebe
Zur 26.Woche:Das Verschwinden des Objekts
Zur 27.Woche:Das Mysterium der Grenze
Zur 28.Woche:Vorrang des Empfangens
Zur 29.Woche:Der Wille Gottes
Zur 30.Woche:Meditation – Einübung des Sterbens
Zur 31.Woche:Widerstand aushalten
Zur 32.Woche:Das Tor ins Stille Land ist eine Wunde
Zur 33.Woche:Wahre Freude und wahre Liebe
Zur 34.Woche:Erfahrende Nicht-Erfahrung und erfahrene Erfahrung
Zur 35.Woche:Unlust – und wie lange ich täglich üben soll
Zur 36.Woche:Wahres Hören
Zur 37.Woche:Unterstützender Lebensrahmen
Zur 38.Woche:Wer bin ich?
Zur 39.Woche:Hinsetzen und sich selbst in den Blick nehmen ist der Weg zum Leben
Zur 40.Woche:Der Prozess des Loslassens
Zur 41.Woche:Worin unser Bewusstseinsstrom erscheint
Zur 42.Woche:Objektlosigkeit der Meditation
Zur 43.Woche:Anstrengung
Zur 44.Woche:Die Nicht-Erfahrung der Gegenwart
Zur 45.Woche:Sein aus und in sich selbst
Zur 46.Woche:Nibbana – Kreuzigung des Egos
Zur 47.Woche:Von der leeren zur wahren Meditation
Zur 48.Woche:Erleuchtung
Zur Weihnachtswoche:Gott – Grund und Sein der Welt
Zur Woche des Jahreswechsels:Der spirituelle Weg: Vom Suchen zum Geschehen-lassen
Zur Karwoche:Wachen und Loslassen
Zur Osterwoche:Unbedingte Liebe
Zur Pfingstwoche:Mystik und Politik
Dieses Buch möchte seinen Leserinnen und Lesern nahebringen, innezuhalten. Darin wirkt eine Kraft, die Grenzen entmachtet, so dass in Würde, innerer Freiheit und Verantwortung gelebt werden kann, erfüllt von Sinn und Freude.
In unseren Tagen spitzen sich die Herausforderungen des Lebens in einer Weise zu, die die meisten von uns so nicht kennen. Für die Klimakatastrophe, die Verknappung der Ressourcen, das Artensterben, den hohen Migrationsdruck, das Ringen Chinas, Russlands, Indiens und der USA um globale Einflusssphären und die damit einhergehenden Kriege und Krisen gibt es keine einfachen und schnellen Lösungen. Wir werden lernen müssen, mit Unsicherheiten politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und meteorologischer Art zu leben. Wenn der äußere Rahmen des Lebens destabilisiert wird und die gewohnte Weise, mit Belastungen zurechtzukommen, nicht mehr möglich ist oder nicht mehr hilft, dann ist es an der Zeit, Halt und Grund in sich selbst zu finden und eine Praxis des Innehaltens zu etablieren.
Das Buch ist erwachsen aus Jahreskursen im Ashram Jesu. Deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren gehalten, eine tägliche stille Zeit einzurichten: Auf 20 Minuten Meditation folgten zehn Minuten Betrachtung eines Textes. Derselbe Text war jeweils eine halbe Woche lang Gegenstand der Betrachtung, sodass für jede Woche zwei Texte benötigt wurden: Der erste bezog sich jeweils auf die Methode des Meditierens, der zweite war ein Text aus der Bibel, der mit dem ersten in einem inneren Zusammenhang stand. Diese Textpaare sollten die Übenden auf ihrem Weg begleiten, sie anregen und ermutigen, ihnen helfen zu verstehen, was in ihrer Meditation geschieht, um in der Komplexität der Bewusstseinsvorgänge die Orientierung nicht zu verlieren. Denn die Übenden waren, abgesehen von regelmäßig per Video stattfindenden Treffen mit ihren Mitmeditierenden, über Wochen auf sich selbst gestellt. So sind 53 Textpaare entstanden, die mit jedem neuen Kurs besser an die Bedürfnisse der Übenden und ihre Fortschritte im Verlauf des Jahres angepasst werden konnten.
Die meisten Teilnehmenden reagierten sowohl auf die Struktur der stillen Zeit – 20 Minuten Sammlung, 10 Minuten Textbetrachtung – als auch auf die Zusammenstellung der Texte sehr positiv. Manche Texte begleiteten die eine oder andere Person viel länger als die vorgesehenen drei Tage. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben nach Ende des Kursjahres weitermeditiert, manche haben dabei mit den Texten wieder von vorne angefangen. Hie und da hatte ich einen der Texte, der mir besonders schwierig zu verstehen schien, mit ein paar Hinweisen zur Interpretation versehen; für einige waren das die besten Texte.
Diese Erfahrungen haben mich ermutigt, die 53 Textpaare einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Sie bilden als das Kapitel „Wochentexte“ das Zentrum dieses Buches. Alle Textpaare sind nun mit einem kleinen Kommentar versehen, der im Kapitel „Kommentare zu den Wochentexten“ zu finden ist. Im letzten Kapitel werden die Autoren und Quellen der Texte kurz vorgestellt. Das erste Kapitel bietet eine praxisorientierte Grundlegung des Innehaltens. So ist dieses Buch nicht nur ein Lesebuch zum Thema Meditation, sondern auch ein Übungsbuch, von dem ich hoffe, dass es viele Menschen anregt, täglich innezuhalten. Meditieren lernt man nur durch Meditieren. Es ist eine Übung, die nur durch Üben zu meistern ist. Die positiven Auswirkungen, die sehr schnell zu spüren sind, sollen dabei Ansporn sein.
Bei mir persönlich hat sich die Meditation aus dem Beten entwickelt, als dieses immer innerlicher, stiller und passiver werden wollte – eine Entwicklung, die dem Beten natürlicherweise innewohnt. Darum ist Meditation für mich Gebet. Eine wichtige Entdeckung auf diesem Weg war, dass das Ziel des Übens – das Transzendente, der Grund aller Wirklichkeit, Gott – mir in allem begegnet, was mir im Leben und erst recht in der Stille der Meditation widerfährt. Das bedeutet, dass es in der Meditation nicht auf Streben und Wollen ankommt, sondern auf eine gelassene und liebevolle Offenheit. Diese empfängt alles und nimmt alles an, was sich in der Meditation zeigt, Angenehmes und Unangenehmes, positiv wie negativ Bewertetes. Bis zu dieser Entdeckung hatte ich oft ignatianische Exerzitien gemacht, dabei zweimal, inzwischen dreimal die Dreißigtägigen, christliche Kontemplation mit dem Jesus-Gebet praktiziert und Erfahrungen mit Zen gesammelt. Durch Zufall lernte ich nun Vipassana (Erkenntnis-)Meditation kennen, die Methode, nach der Siddhartha Gautama geübt haben soll und so zum Buddha wurde, d. h. zu dem Bewusstsein erwachte, dass die Phänomene, die bei der Meditation auftreten, kommen und gehen und weder bleibende Erfüllung stiften können noch die Identität des Menschen konstituieren. In der Vipassana-Meditation erkannte ich den methodischen Rahmen für meine Erfahrung, dass Gott in allem, also auch in jedem Bewusstseinsphänomen, auf mich zukommt. Denn Vipassana macht alle Empfindungen, Gefühle, geistigen Gegebenheiten, die in der Übung auftreten, zum Gegenstand der Meditation. Es vermindert damit die Gefahr, dass der ernsthaft Praktizierende nicht gesünder und integrierter, sondern zerrissener und kränker wird, weil seine rein konzentrative Meditationsmethode Störungen nicht zulässt und er auf diese Weise Verdrängtes, das in sein Bewusstsein kommen will, wieder verdrängt. Hingegen fördert Vipassana durch das Durchleben der Phänomene, die in der Meditation auftauchen, deren Integration. Auf diese Weise wachsen Stille und Absichtslosigkeit. Eine entspannte, geschehen lassende Offenheit reift heran, die von keiner Konzentration auf irgendein Objekt oder eine Beschäftigung damit begrenzt wird. Der Meditierende beginnt zu verstehen, dass in der Stille eine geheimnisvolle Kraft wirkt, die seine Übung leitet und ihn zu ihrem Ziel hinzieht. Er hat dann, nachdem er sich zu seiner Meditation hingesetzt hat, in dieser nichts mehr zu tun. Er kann sich entspannen, sinken lassen und öffnen. In reiner Offenheit weiß er sich in nicht-wissendem Wissen im Geheimnis und Grund der Wirklichkeit, der sich hingebende Liebe ist und ihn zu sich selbst befreit.
Noch ein Wort dazu, wie die Textbetrachtungen meiner Ansicht nach am fruchtbarsten zu handhaben sind: Der Übende liest den Text so, dass er merkt, welche Stellen ihn ansprechen. Eine davon wählt er aus. Bei ihr bleibt er für die zehn Minuten Betrachtungszeit. Diese Stelle bringt offenbar etwas in ihm in Bewegung. Sie versetzt seine Person, nicht nur seinen Verstand, in Schwingung. Diese Resonanz ist Wirkung der Textstelle auf die Person, d. h., in ihr spiegeln sich Text und Person, an der es liegt, dass der Text diese Wirkung auf sie entfaltet. Auf eine andere Person würde dieselbe Stelle gar nicht oder ganz anders wirken. Die Person kann dadurch zu wahren Einsichten über sich selbst kommen. Das ist kostbar! Deswegen empfehle ich, sich erst einmal selbst mit den Texten zu beschäftigen und erst danach, am Ende der Woche, den Kommentar dazu zu lesen. Um dies und damit reicheren Gewinn zu begünstigen, wurde der Kommentar nicht unmittelbar nach den Texten abgedruckt, auf die er sich bezieht. Allerdings macht es auch wenig Sinn, die Kommentare losgelöst von ihren Texten hintereinander weg zu lesen. Das Inhaltsverzeichnis enthält die Themen der einzelnen Kommentare, so dass mit seiner Hilfe Antworten auf Fragen zu finden sind, die sich den Lesenden und Übenden stellen.
Die Vorgänge im Inneren des Menschen und in seinem Geist sind komplex und subtil. Um ihre sprachliche Darstellung nicht noch mehr zu komplizieren, verwende ich meist das grammatikalische Maskulinum und möchte damit alle Leser:innen ansprechen. Ich bin mir bewusst, dass diese nicht nur Männer, sondern auch Frauen und queere Menschen sind.
Schließlich möchte ich allen danken, die zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Das sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Ashram-Jahreskursen „Spirituelle Spurensuche“ und an den Meditationsgemeinschaften in der Advents- und der Fastenzeit. In besonderer Weise möchte ich meiner Kollegin Petra Maria danken, die das Manuskript kritisch gelesen und mir wertvolle Hinweise gegeben hat. Und schließlich ein Extra-Dank an meinen Lektor Heribert Handwerk, der, wiewohl im Ruhestand, es sich nicht nehmen ließ, aus meiner Vorlage wieder ein Buch zu machen, das in seiner Ausstattung und Gestaltung den Wert seines Inhalts widerspiegelt.
Ashram Jesu,Weihnachten 2023
Wir Bürger der reichen Staaten dieser Erde sind nun in einer Situation angekommen, in der offenbar wird, dass unser Leben nicht so weiterlaufen kann, wie wir es seit vielen Jahren führen. Wir waren gewohnt, dass der Wohlstand wächst, dass wir immer neue und immer mehr Konsumangebote und Möglichkeiten haben, das Leben zu genießen in einem Gefühl der Unbeschwertheit und Sicherheit und im Vertrauen, dass es genauso „nach oben“ immer weitergeht.
Nun blicken jedoch entsprechend einer repräsentativen und tiefenpsychologischen Untersuchung von 20211 zwei Drittel der Deutschen ängstlich in die Zukunft. 61 Prozent stimmen der Studie zufolge dem Satz zu: „Deutschland steht vor einem Niedergang“. Die größte Zukunftsangst betrifft den Klimawandel mit seiner fortschreitenden Polarisierung der Gesellschaft. Die These „Durch Krisen wie Corona und den Klimawandel stehen uns drastische Veränderungen bevor“ hielten 88 Prozent der Befragten für richtig. Das Regierungshandeln während der Corona- und in der Klimakatastrophe erlebten und erleben viele Bundesbürger als unzulänglich. Das Zutrauen in die Problemlösekompetenz der Politik ist gebrochen. Im Sommer 2022 hatten nur noch 49 Prozent der Befragten eher Vertrauen in die Regierung, während 46 Prozent eher kein Vertrauen hatten.
Am 24. Februar 2022 überfiel die russische Armee die Ukraine und sorgte für weitere Krisen: Lebensmittelknappheit vor allem in Afrika, Energieknappheit und Teuerung bei uns sowie Neuausrichtung der Politik auf vielen Feldern.
Wie verhalten sich die Menschen in dieser Situation? Den Krieg vor unserer Haustür und die Angst, in diesen Krieg hineingezogen zu werden, versuchen die Deutschen weitgehend zu verdrängen. Zu diesem Fazit kommt eine weitere Studie des Rheingold-Instituts vom 24. Mai 2022.2 Zentral sind für viele Menschen der Zusammenhalt und das Beisammensein in der Familie und im Freundeskreis sowie genussvolle Momente. Hier haben die Forscher und Forscherinnen auch hedonistische Ausprägungen im Stile der 1920er-Jahre gefunden: Lust an Lebensgenuss und Party, als gäbe es kein Morgen. Doch sei eine solche dauerhafte Verdrängung seelisch zutiefst anstrengend. Natürlich könne man Ängste und Sorgen „wegfeiern“, aber die Unbeschwertheit fehle. Denn das Verdrängte bleibe dabei als unheimlicher Ton stets im Hintergrund, verhalte sich gar wie ein seelischer „Kriegs-Tinnitus“. Die Studie beobachtet eine latente Gereiztheit und Aggressivität. Der „Kriegs-Tinnitus“ sorge für Spannungen, die sich nicht selten in Streit und unversöhnlichen Meinungsverschiedenheiten entlüden. Das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg haben diese Situation noch weiter angeheizt.
Neben der Ablenkung durch Party suchten in diesen Krisenzeiten, so das Ergebnis des Rheingold-Instituts, andere den Zusammenschluss mit Gleichgesinnten, mit denen sie ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl und gemeinsame Rituale entwickeln, um so Halt und eine gewisse Sicherheit zu finden. Wieder andere stürzten sich in einen Aktionismus, in dem sie mit ihren Diagnosen oder Problemlösungen Dritte zu missionieren suchen. Man denke an die vielen Verschwörungstheorien, die die Corona-Krise erklären sollten, oder den Veganismus als Therapie für die Klimaerwärmung. Dieser Aktionismus gebe das gute Gefühl, etwas gegen die Krise zu tun, und leite darüber hinaus die Problemspannung ab: „Wenn es brennt, renn ich im Kreis und schrei wie der Teufel.“ Das Im-Kreis-Rennen löst das Problem nicht wirklich, aber man fühlt sich besser!
Allerdings zeige sich im Kleinen, so die Studie weiter, auch eine hoffnungsstiftende Graswurzel-Mentalität: Auch wenn die verschiedenen Ansätze noch nicht genügend vernetzt und sichtbar seien, trügen viele etwas Sinnvolles zu einer Welt bei, in der die Menschen ihr Leben gestalten, ohne die Natur hemmungslos auszubeuten und den Planeten zu zerstören.
Zerstörung des Planeten und Vernichtung großer Teile auch der Menschheit, ob durch Klimakatastrophe oder Atomkrieg, steht nun als reale Möglichkeit vor uns. Dazu stellt sich angesichts der zu geringen Fortschritte, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, ein Gefühl der Ohnmacht ein, zumal schon kleine Änderungen des Lebensstils, die jeder Einzelne beitragen könnte, vielerorts am Können oder Wollen scheitern. Rasen wir in einem Zug Richtung Abgrund, dessen Fahrt gesäumt wird von Extremwetterereignissen, wachsendem Migrationsdruck, Schuldgefühlen, Umkippen der gesellschaftlichen und politischen Ordnungen und den unabsehbaren Folgen davon, dass der Mensch selbst zum proaktiven Macher des Klimas wird? Und sitzt der Einzelne hilflos und hoffnungslos auf seinem Sitzplatz, erfüllt von Ekel und Hass auf die Mitreisenden, die den Planeten zwar zerstören, aber nicht retten können? All das umhüllt wie ein Mantel die gewöhnlichen Probleme des persönlichen Lebens, die ja oft auch schon reichen: die hohe Belastung gerade der tragenden Generation durch Beruf, Familie und die Sorge um die alt gewordenen und immer älter und gebrechlicher werdenden Eltern, Beziehungsstress, Sorge um die Zukunft der Kinder, Krankheit, Verluste aller Art bis hin zum Tod geliebter Menschen.
1Rheingold-Institut, Köln, URL (https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/515136/Studie-sieht-Zeitenwende-Deutsche-haben-extreme-Zukunftsangst) vom 25.01.2023.
2URL (https://www.rheingold-marktforschung.de/rheingold-studien/psychologische-zeitenwende-krieg-brodelt-im-hintergrund/) vom 25.01.2023.
In dieser Situation der Verunsicherung und der Zukunftsangst ist Innehalten nötig. Denn wie bisher kann es nicht weitergehen. Aber ein Innehalten, das vor allem in Nachdenken besteht, greift zu kurz. Im günstigsten Fall endet es bei guten Vorsätzen. Da die Konzentration darauf den meisten Menschen im Alltag je länger, je mehr abhandenkommt, folgen aus ihnen oft keine effektiven Veränderungen. Wie heißt es so treffend: „Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert.“ Demgegenüber eröffnet Innehalten in Form von Meditation die Möglichkeit, zu kreativen Handlungsmöglichkeiten jenseits von Verdrängung, Flucht und blindem Aktionismus zu finden. In der Kraft der Meditation kann ein Mensch sich seinem Leben stellen. Sie schenkt eine Erfüllung, die jenseits von Konsum liegt, und macht daher einen nachhaltigeren Lebensstil möglich.
Das Wort „Meditation“ stammt vom lateinischen „meditari“ ab, was „nachdenken“, „nachsinnen“, „überlegen“, „zur Mitte finden“ bedeutet. Der Begriff „Meditation“ bietet Raum für eine ganze Fülle von Methoden aus verschiedenen Religionen: Die ruhige Betrachtung eines Schrifttextes oder eines Bildes, das gesammelte Hören eines Musikstücks wird ebenso als Meditation bezeichnet wie z. B. die buddhistische Vipassana- oder Zen-Meditation, Yoga im Hinduismus oder die christliche Kontemplation.
„Meditation“ zielt auf eine bleibende Erfüllung des Menschen. Diese wird verwirklicht in der Transformation der Person, die die Übung bewirkt. Wir erfahren immer wieder Erfüllung, Befriedigung, Glück im Leben. Doch dauern diese Erfahrungen nur kurz, sie bleiben nicht. Keine Erfahrung bleibt. Deshalb kann das Ziel der Meditation – bleibende Erfüllung – keine Erfahrung sein, kein Etwas, kein Objekt in unserem Bewusstsein. Das Ziel ist sprachlich nicht beschreibbar. Es liegt jenseits der Grenzen von Sprache und damit jenseits der Grenzen unserer Welt. Es ist transzendent. Infolgedessen kann bleibende Erfüllung auch nicht durch Suchen oder Herstellen von irgendwelchen Bewusstseinsobjekten und Konzentration auf sie zu erreichen sein, sondern, wenn überhaupt, durch eine Offenheit, die sich immer mehr entgrenzt, mit nichts beschäftigt ist und nichts erstrebt. Offene Bewusstheit, ein nicht-fokussiertes, ungeschäftiges, reines Gewahrsein ist die Disposition für die Erfüllung, die bleibt.
Nun weiß jeder Mensch, dass er in Gedanken immer wieder mit irgendwelchen Themen, Erinnerungen, zukünftigen Ereignissen, Bildern, Szenen und der Verbesserung seines jeweiligen Zustandes beschäftigt ist und eine solche anstrebt. In welchem Ausmaß dies der Fall ist, erschließt sich erst dem Meditierenden: Er stellt fest, dass er fast pausenlos mit Denken und Wollen beschäftigt ist. „Kein Atemzug ohne Gedanken“, sagte mein Vipassana-Lehrer in Bodh Gaya. Wir leben unser Leben in einer Welt, die wir durch Denken und Wollen konstituieren. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ lautet zu Recht der Titel von Schopenhauers Hauptwerk. Zwischen dem Menschen im Alltagszustand, der voller Aktivität des Denkens und Wollens ist und infolgedessen nicht oder nur sehr wenig offen, und dem Ziel unbegrenzter Offenheit und Nichtaktivität liegt der lange Weg der Übung des Meditierens.
Diese Übung besteht äußerlich in einem bewegungslosen, stillen Sitzen, möglichst an einem ruhigen Ort ohne Ablenkungen mit geschlossenen Augen oder, wenn das nicht leicht möglich ist, auch halb geöffneten Augen, die vor dem Übenden auf dem Boden ruhen, ohne diesen zu fokussieren. Die Meditierenden verwenden bei dieser Übung keinen äußeren Meditationsgegenstand, keinen Text, kein Bild, nichts Äußeres, worauf sie sich konzentrieren.
Innerlich besteht die Übung kurz gesagt darin, das ständige spontane Denken und Wollen durch ein Wahrnehmen zu unterbrechen, dessen Konzentration der Übende in dem Maße reduzieren kann, wie er das Wahrgenommene annimmt und sein lassen kann. Dann wandelt sich die auf das Objekt des Wahrnehmens gerichtete Aufmerksamkeit zum ungeschäftigen Gewahrsein des Ganzen – und der Übende ist in diesem Prozess mehr geöffnet worden.
Da Offenwerden nicht durch Streben zu erreichen ist – im Streben richte ich mich immer auf etwas aus –, sind Sich-Entspannen, Loslassen, Aufhören des Sich-Anstrengens und Sein-Lassen, was ist und wie es ist, wesentliche Elemente des Meditierens. Diese erste Orientierung über Meditation, wie ich sie verstehe, wird natürlich im weiteren Verlauf der Ausführungen Zug um Zug ergänzt und vertieft.
Die Nicht-Erfahrung der bleibenden Erfüllung ist da, wenn die im Bewusstsein auftauchenden Objekte ihre Kraft, Denken und Wollen zu aktivieren, weitgehend eingebüßt haben und der Meditierende wach in eine Art traumlosen Schlaf versinkt. Das Ziel wird nicht erfahren. Es geschieht – und dann entsteht daraus eine erfahrene Erfahrung. Es selbst ist in der Unmittelbarkeit der erfahrenden Nicht-Erfahrung. Der Meditierende weiß darum in einem Wissen, das nicht weiß. Wer in diese Unmittelbarkeit eingetaucht ist, wacht auf zu einem befreiten Leben aus dem immanent-transzendenten Grund aller Wirklichkeit, der unbedingte Liebe ist. Dieser macht seine Person aus. Er ist ihr Kern. Aber die Person ist nicht der Kern aller Wirklichkeit.
Je mehr ich die Früchte des Innehaltens am eigenen Leib erfahren habe, ein umso größeres Anliegen ist es mir geworden, Menschen dazu anzuhalten, eine tägliche Zeit der Stille und des Ihrer-selbst-Innewerdens in ihren Alltag einzubauen. Das ist für viele anfangs nicht leicht. Wenn sich die Praxis jedoch einigermaßen stabilisiert hat und zu einem Teil des Lebens geworden ist, macht sich die Kraft des Innehaltens in vielfacher Weise im Alltag bemerkbar.
Durch die Zeit der Stille entsteht etwas wie ein Puffer zwischen der eigenen Person und den Kräften, die im Alltag herrschen und einen vereinnahmen wollen; eine kleine Distanz wie durch einen gefütterten Mantel, die jedoch nicht Distanziertheit, sondern die Voraussetzung für Zuwendung ist. Dieser Mantel bewirkt, dass das, was geschieht, nicht ungebremst auf die eigene Person durchschlägt und sie in automatisch ablaufende Reaktionen verstrickt. Wenn z. B. der Chef kommt und Druck macht mit einer neuen Aufgabe, die „gestern schon hätte fertig sein sollen“, muss der in Meditation Geübte nicht alles stehen und liegen lassen, sich selbst vergessen und sich schuldbewusst an die neue Arbeit machen, sondern kann durchatmen und überlegen, wie er mit der Situation umgeht, und seine Prioritäten abwägen. Ähnlich muss er eine vielsagende Bemerkung eines Kollegen nicht gleich auf sich selbst beziehen und aus Verunsicherung (über-)reagieren. Er hat Zeit, sich zu entscheiden, ob er die Bemerkung auf sich beruhen lässt oder ob er nachfragt, und wenn ja, wann, wo, bei welcher Gelegenheit und wie er das tut.
In der Stille kommen Gedanken, Gefühle, Wünsche und Bewertungen ans Licht, die dem Alltagsbewusstsein verborgen sind. Der Meditierende wird sich seiner inneren Bewegungen hier und jetzt bewusst. Schon auf diese Weise kreiert die stille Zeit Selbsterkenntnis. Aber es geschieht noch mehr: Durch das aufmerksame Verweilen bei den inneren Bewegungen geht dem Meditierenden auf, wieso diese entstehen konnten; nicht nur, welches Ereignis sie ausgelöst hat, sondern welche Vorstellungen, Botschaften, Glaubenssätze der eigenen Person die konkreten inneren Bewegungen bedingen. Solche Selbsterkenntnis ist die Grundlage wahren Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens.
Selbstbewusstsein hat ja nicht, wer mit Willen und Kraft eine Fassade, Pose oder sonstige Selbstinszenierung aufrechtzuerhalten vermag. Solches Verhalten ist starr und unflexibel und schützt ein Selbst, das sich nicht traut zu sein, was es ist und wie es ist, und dazu zu stehen. Selbstbewusstsein ist der Mut zur Bewusstheit seiner selbst. Ohne Courage ist es nicht möglich, sein Verhalten mit dem anderer Menschen fein abzustimmen, einen Konflikt konstruktiv auszutragen und etwas mit anderen auszuhandeln.
Selbstvertrauen resultiert aus der Auflösung der „blinden Flecken“. Das sind dysfunktionale Verhaltensmuster, die andere an mir wahrnehmen, für die ich selbst jedoch blind bin. Wenn sich dem Meditierenden die Bedingungen seines Fühlens und Verhaltens erschließen, lösen sich die blinden Flecken auf. Dann kann er darauf vertrauen, dass er sich und seinen Absichten durch sein ihm unbewusstes Benehmen nicht im Wege steht und zielorientiert handeln kann.
Wie Selbsterkenntnis die subjektive, auf das eigene Selbst bezogene Frucht des Innehaltens ist, ist Problemlösung ihre objektive, auf die gegebene Situation bezogene Seite. Das möchte ich erklären: Als Student mühte ich mich wochenlang ab, den Beweis für einen mathematischen Satz zu führen, von dem auch meine Lehrer und Kollegen vermuteten, dass er stimmte. Wie ich es auch versuchte, welche Geschütze ich auch auffuhr, am Ende kam ich immer auf dieselben zwei, drei Denkwege, von denen ich mittlerweile schon wusste, dass sie zum Beweis der These nicht taugten. Ich musste die Angelegenheit liegen lassen und mich mit dem Gedanken anfreunden, meine Arbeit ohne diese Sache fertigzustellen. Wochen später kam mir bei einem Spaziergang ein Einfall zu diesem noch offenen Beweis. Er war ganz einfach und lag so nahe, dass ich bis dahin immer darüber hinweggesehen hatte. Ich eilte nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und eins nach dem anderen ergab sich aus diesem Einfall der gesuchte Beweis.
Für einen kreativen Prozess sind in der Tat drei Momente wesentlich: zum einen die Beschäftigung mit dem gegebenen Problem; es muss analysiert, bewertet, soweit möglich verstanden werden. Zum Zweiten müssen Lösungsmöglichkeiten erdacht und geprüft werden. Und drittens braucht es eine Distanz zum Milieu des Problems und der Lösungsideen. Dann kann eine kreative Idee einfallen. So hatte ich das ja tatsächlich erlebt.
Diese drei Momente birgt nun auch der Prozess des Innehaltens in sich: Die Beschäftigung mit dem Problem und seinen Lösungsmöglichkeiten findet spontan statt. Wenn nämlich der Problemdruck hoch ist, denkt der Kopf immer wieder wie von selbst über das Problem und seine Lösung nach, auch beim Meditieren. In der Meditation ist nun aber entscheidend, die gedankliche Beschäftigung mit dem Problem zu beenden, sie zumindest zu unterbrechen durch Wahrnehmen der vom Problem und seiner Beschäftigung damit ausgelösten inneren Bewegungen. Das Eingeständnis des Problemdrucks und die Zuwendung zu den Gefühlen verringert den Problemdruck und erzeugt eine Öffnung, in der sich Fixierungen auf ein bestimmtes Verständnis des Problems, auf bestimmte Bedingungen für seine Lösung sowie die Dringlichkeit des Ganzen verflüssigen. Damit ist der Boden bereitet, dass dem Meditierenden etwas ganz Neues zum Problem aufgehen kann, das eine echte Lösung voranbringt. Die Übung, Probleme loszulassen, schafft den nötigen Abstand für Kreativität.
Unsere Wohlstandsgesellschaft verheißt ein glückliches Leben durch eine Fülle von Angeboten. Diese können zu einem Shopping-, Erlebnis- und Konsum-Rausch führen, in den der Einzelne hineingezogen wird wie in einen Strudel, in dem er – letztlich unerfüllt – untergeht. Die Meditation hingegen bringt den Menschen in Kontakt mit sich selbst. Sie zentriert ihn und gibt ihm Boden unter seine Füße. Er erfährt die Wohltat der Nüchternheit – wie Tannhäuser, der beglückt und befreit wieder die schlichte Melodie eines Hirten vernehmen kann, als er dem Rausch der Sinne entsagt. Leben-Können in Ruhe bei sich selbst, sein Genüge finden an den einfachen Dingen des Lebens, an dem Gesang der Vögel, dem freundlichen Wort eines Mitmenschen, dem Gepräge einer Landschaft, der sanften Berührung des Windes …, entbunden davon, auf der Lauer nach dem nächsten Kick liegen zu müssen. Das ist eine tiefe Freude.
Meditation integriert die Person. Die abgespaltenen Bezirke werden weniger. Die Person fühlt sich dadurch mehr im Besitz ihrer selbst und ganz. Sie weiß, was sie will, und kann authentisch sein. Das heißt nicht, dass ein Mensch, der meditiert, unverwundbar und immer happy ist. Doch die Ausschläge seines in Versöhntheit, Nüchternheit, Einfachheit, Dankbarkeit und Vertrauen geführten Lebens werden geringer. Die Praxis der stillen Zeit hellt die Grundstimmung des Lebens auf. Die Freude im Leben kommt von innen, die Befriedigung durch die Must-haves der Gesellschaft verliert an Reiz. In der Kraft des Innehaltens wird ein materiell bescheideneres und nachhaltigeres Leben möglich, wie es die drohende Klimakatastrophe und die begrenzten Ressourcen der Erde verlangen.
Der Puffer, von dem oben schon die Rede war, jene kleine Distanz zu Dingen und Personen, verschafft dem in Meditation Geübten den Freiraum, sich selbst und sein Handeln in der gegebenen Situation zu bestimmen. Er wird nicht so leicht von seinen gewohnten Reaktionsweisen auf diese Situation ergriffen. Der Puffer ist die äußere Bedingung für eine personale Entscheidung. Die innere Voraussetzung dafür besteht zum einen darin, mehr und mehr die Bedingungen zu erkennen, von denen die Person des Meditierenden glaubt, dass sie gegeben sein müssen, damit sie leben kann und darf. Was sind solche Bedingungen? Der eine muss überall dabei sein, der andere muss Erfolg haben, eine Dritte muss brillante Auftritte hinlegen oder gut aussehen – dann fühlen sich diese Personen lebendig und gut. Solche Bedingungen müssen jedoch nicht nur erkannt, sondern auch gelassen werden können: Die Person muss die Erfahrung machen, dass sie befreit von diesen Bedingungen leben kann. Dann wächst der innere Freiraum. Sie wird unabhängiger von den Kräften, die durch die gegebene Situation auf sie einwirken und sie binden wollen, und kann in ihr intuitiv und kreativ handeln. Ihre Authentizität, ihr Mehrbei-sich-selbst-angekommen-Sein geben ihrem Verhalten und Handeln Gewicht. Sie wird erfahren, dass sie etwas bewirken kann und nicht nur ein Rädchen ist, das im Getriebe der herrschenden Umstände, des Mainstreams oder auch der eigenen Muster funktioniert.
Je mehr Meditierende auf ihrem Weg voranschreiten, je mehr sie geöffnet und in die Sphäre des transzendenten Ziels ihrer Übung gezogen werden, desto mehr stellen sie fest, dass sich die Dinge dieser Welt relativieren. Sie werden, wie Ignatius von Loyola das nennt, „indifferent“, so dass sie „Gesundheit nicht mehr verlangen als Krankheit, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Schmach, langes Leben nicht mehr als kurzes, und folgerichtig so in allen übrigen Dingen.“3 Dieser Gleichmut aus innerer Freiheit ist nicht Gleichgültigkeit, sondern Ausdruck davon, dass wahrhaft erfüllendes Leben aus dem transzendenten Ziel der Meditation fließt und nicht im Haben glücklicher Lebensumstände besteht. Immer wichtiger wird, in allen Geschehnissen des Lebens, ob angenehm oder unangenehm, Gott zu finden, d. h. innezuhalten und bei den von ihnen ausgelösten inneren Bewegungen achtsam zu verweilen, ohne diese verstehen oder anders haben zu wollen. Auf diese Weise werden sie transparent für den Grund der Wirklichkeit, der den Meditierenden zu sich befreit und ihm zeigt, was hier und jetzt zu tun ist.
Wer sich selbst besser versteht, wer die Gefühle und Bedürfnisse wahrnimmt, die sein Reden und Wirken steuern, wer die Grenzen seines guten Willens kennt, der kann sich in andere einfühlen, sie verstehen und Verständnis auch für ihre Behinderungen und Grenzen aufbringen. Brüskierungen, Missverständnisse, Konflikte müssen daher nicht durchweg so „gelöst“ werden, dass man dem Widersacher aus dem Weg geht, schlecht über ihn spricht, ihn womöglich hintenherum bekämpft und schließlich die Beziehung abbricht. Die Meditation lässt den Übenden sich dahin entwickeln, dass er in der Lage ist, zwischenmenschliche Spannungen zu besprechen, zu verstehen und zu versöhnen, wenn auch die anderen Beteiligten sich darauf einlassen.
Nahe Beziehungen sind oft davon bestimmt, dass die beiden Partner symbiotisch miteinander identifiziert sind: Man möchte alles mit dem andern teilen, alles gemeinsam tun, alles mögen, was der andere mag. Das ist auf Dauer bei verschiedenen Personen allerdings unmöglich. Die Unterschiedlichkeiten verlangen immer machtvoller nach ihrer Anerkennung, sodass die Symbiose irgendwann zusammenbricht und die beiden Partner verkracht Abstand voneinander halten. Unterschiede dürfen eben nicht aus der Beziehung weggedrückt werden, sondern müssen in die Beziehung integriert werden. Das fällt demjenigen leichter, der sich kennt und weiß, was er braucht, auch wenn das dem Partner möglicherweise nicht gefällt. Je länger er zögert, zu sich zu stehen, umso mehr wächst der Druck, umso schwieriger wird es, sein Bedürfnis vorzubringen, ohne den anderen zu brüskieren oder gar zu verletzen. Sorgt er jedoch frühzeitig für sich und sein Bedürfnis, solange er nämlich noch flexibel und ohne Vorwurf ist, kann er zusammen mit dem Partner eine Lösung finden, die beiden entspricht. Damit haben die beiden gewagt, sich auf so etwas Heikles wie eine Beziehungsstörung einzulassen, und die Erfahrung gemacht, dass ihre Beziehung dadurch lebendiger und stärker wurde. Wer weiß, dass er Raum für die eigenen Bedürfnisse braucht, wird diesen auch dem anderen zugestehen. Dann kann das Pendel der Beziehung frei hin- und herschwingen zwischen Nähe und Distanz, zwischen gemeinsamen und unterschiedlichen Wünschen, zwischen Raum, der miteinander geteilt wird, und Raum, den jeder für sich braucht.
Ohne Gespräch und Dialog ist Beziehung nicht zu leben und zu gestalten. Das ist eine Binsenweisheit, doch die Sache selbst ist alles andere als einfach. In vielen Partnerschaften kommt das Gespräch über das Management des Alltags, die Planung des Urlaubs, die Instandhaltung der Wohnung und die Erziehung der Kinder nicht hinaus. Wenn die beiden Partner keinen Zugang zu dem haben, was sie innerlich bewegt, was sollen sie einander auch sagen? Sie werden einander fremd. Auch die alltäglichen Missverständnisse und Spannungen, nicht zu reden von Konflikten und Krisen, lassen sich nicht ausräumen, ohne über sein Erleben und seine inneren Bewegungen zu sprechen. Meditation befähigt zur Meta-Kommunikation, zum Gespräch darüber, wie man miteinander spricht. Ohne Meta-Kommunikation ist Kommunikation auf Dauer unmöglich.
Die Meditation übt nicht nur das Wahrnehmen der inneren Bewegungen, sondern schult auch die Fähigkeit, Empfindungen und Gefühle auszuhalten, die einen in Spannung versetzen. Daran hängt das Zuhören-Können, das Zweite, was für ein Gespräch nötig ist. Für einige ist Zuhören nur ein Warten, bis der andere mit Reden aufhört, damit man selbst wieder zu Wort kommt. Andere picken ein Stichwort aus der Rede des Sprechers heraus und planen ihre Einlassung, während jener noch spricht. Wirkliches Zuhören, Aufnehmen, was der Redner meint, Nachfragen, um ihn richtig zu verstehen, persönliches Erwidern ist eine seltene Kunst. Diese verlangt, dass der Zuhörer die Worte seines Gegenübers nicht nur mit dem Verstand aufnimmt, sondern zugleich auch bemerkt, welche Resonanz sie bei ihm auslösen, d. h., welche inneren Bewegungen bei ihm selbst entstehen. Aus diesem Gemenge von Gedanken und Gefühlen formt der Zuhörer seine Erwiderung. Dafür hat er es gewagt, sich in eine untergeordnete Position zu begeben. Das gilt erst recht, wenn die Resonanz den Zuhörenden in Spannung oder Erregung versetzt, z. B. wenn der andere ihn konfrontiert oder ihm Vorwürfe macht. Dann kann es zu einer echten Herausforderung werden, die Offenheit aufrechtzuerhalten. Wenn jedoch der Hörer nicht an sich heranlässt und in gewissem Maß auch aushält, was der Sprecher mitteilt, stellt sich bei diesem das Gefühl ein, nicht verstanden zu werden. Die beiden berühren sich nicht wirklich, haben sich eigentlich nichts zu sagen und verlieren auf Dauer das Interesse aneinander.
Die Kunst, sich mitzuteilen und zuzuhören, spielt nicht nur im Privaten eine Rolle, sondern auch in unserer Gesellschaft. Wir hören fast täglich, dass die Fähigkeit abnimmt, einander zuzuhören, insbesondere demjenigen, der anderer Meinung ist. Seine Kultur wird gecancelt, seine Person abgewertet, beschimpft, bedroht, bloßgestellt, man möchte ihn (mund-)totmachen – bei gleichzeitig immer hehrer werdenden Ansprüchen von Moral und Political Correctness. So werden die Gegensätze immer schroffer und unversöhnlicher. Je weniger ein Mensch aus dem Kontakt mit seinem Inneren lebt, umso mehr sucht er Halt in äußeren Dingen, auf die er sich fixiert. Dann wird es lebenswichtig, ob der eigene Fußballclub gewinnt, der Urlaub den Erwartungen entspricht usw. Noch teilen viele das Ziel, unsere Demokratie zu bewahren und zu verteidigen. Doch sehen sie nicht, wie sie es untergraben durch ihre Unfähigkeit, nach innen zu hören. Der Soziologe Hartmut Rosa hat ein viel beachtetes Buch mit dem Titel „Resonanz“4 geschrieben, in dem der Resonanzfähigkeit des Menschen, seiner Fähigkeit also, „mit dem Herzen hören zu können“, eine Schlüsselrolle zukommt für ein lebenswertes Leben und die Lösung der gesellschaftlichen und globalen Probleme.
Seit einigen Jahren wird häufig über „Resilienz“ gesprochen. „Resilienz“ meint Widerstandsfähigkeit, Elastizität, Spannkraft und bezeichnet die Fähigkeit, mit belastenden Situationen zurechtzukommen. Dabei spielen vorgegebene Umstände eine Rolle, wie z. B. die Umwelt oder kognitive Möglichkeiten, die der Einzelne hat oder nicht hat, und Faktoren, die eine Person entwickeln kann, um ihre Resilienz zu stärken. Unter den entwickelbaren Resilienzfaktoren werden meist folgende genannt: eine positive Selbstwahrnehmung, eine angemessene Selbststeuerungsfähigkeit, die Überzeugung, etwas bewirken und gestalten zu können, soziale Kompetenzen, vernünftiger Umgang mit Stress, Problemlösekompetenz, Entwicklung von Deutungs- und Sinngebungsmodellen der Realität.
Am Ende der Erörterungen, wie kraftvoll sich das Innehalten auf den Alltag auswirkt, lässt sich feststellen: Meditation stärkt die Resilienz und damit die Fähigkeit, in Würde und Verantwortung zu leben.
3Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 23, Hrsg.: Adolf Haas, Freiburg 21976; ich zitiere daraus zukünftig in der Form: GÜ <Nr.>.
4Hartmut Rosa: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019.
Im nächsten Kapitel, „Los gehts!“, schildere ich, wie die Übung des Innehaltens konkret angegangen werden kann. Im jetzigen Kapitel möchte ich folgende vier Grundprinzipien dieser Praxis herausstellen:
1.Sich nach innen richten
2.Aufhören, zu denken
3.Aufhören, etwas zu wollen oder zu erstreben
4.Sich öffnen für Grenzerfahrungen
Diese vier Maximen sind alle unserem Alltagsverhalten entgegengesetzt. Daher bedürfen sie der besonderen Aufmerksamkeit des Übenden, dessen gewohnte Art und Weise ja nicht dadurch endet, dass er sich zur Meditation hinsetzt. Im Licht dieser vier Grundsätze bedeutet Meditieren, das übliche Gebaren zu bemerken, es bewusst zu durchkreuzen, die Macht des Gewohnten ab- und Offenheit zunehmen zu lassen.
Wer sich einer solchen Praxis verschreibt, muss kleine Brötchen backen. Er kann nicht damit rechnen, dass er sich hinsetzt, und schon ist ungeschäftiges Gewahrsein da. Jedoch: Jedes Bemerken des gewohnten Verhaltens, jede noch so kurze Unterbrechung davon darf der Übende als Erfolg verbuchen.
Wenden wir uns nun diesen vier Grundprinzipien im Einzelnen zu.
Wir leben in einer Zivilisation, in der das Außen ungeheuer wichtig ist, nicht nur z. B. für den Lebensunterhalt, der dort verdient werden muss, oder für Beziehungen. Etwas zu erreichen, medial präsent zu sein und in der Öffentlichkeit etwas darzustellen ist für viele Zeitgenossen bedeutsam. Für wen das die Hauptsache ist, wird etwas – und verliert sich selbst. Im Alltag ist auch der Meditierende mit dem Außen beschäftigt, mit anderen Menschen, der Familie, der Arbeit, den Problemen, mit der Politik, dem nächsten Urlaub oder den Hobbys. Wir alle haben in unserem Leben gelernt, unser Befinden, unsere Gefühle, unser Inneres – das, was uns innerlich bewegt – zurückzustellen, um zu funktionieren, um uns nicht verwundbar zu machen oder um unsere Mitmenschen nicht mit unseren „Innereien“ zu belästigen: „Wie es da drinnen (im eigenen Herzen) aussieht, geht niemanden was an“, war ein Spruch meiner Mutter und die Rechtfertigung dafür, auch selbst nicht danach zu schauen. Wenn wir bei der Meditation aufhören, uns mit dem Außen zu beschäftigen, rückt der vernachlässigte Bezirk des Inneren in das Licht unserer Aufmerksamkeit. Wir merken, was uns gedanklich umtreibt, spüren unser Befinden, unsere Gefühle und Stimmungen, Empfindungen des Körpers wie Schmerz, Schwitzen oder Frieren, Rumoren der Verdauung usw. – all das beginnt, uns bewusst zu werden. Um diese scheinbar so banalen Dinge geht es bei der Übung der Meditation.
Aber sind sie wirklich so unbedeutend? Es sind doch Äußerungen der Person des Übenden, die einzigen hier und jetzt vorhandenen, alles, was er von sich selbst gerade hat. Weist er sie zurück, vertut er die Chance, sich selbst, dem Menschen, der er ist, nahezukommen. Die Weisheit aller Völker kennt unzählige Geschichten, wonach der Schatz des Lebens, das wahre Glück, nicht draußen gefunden wird, sondern im eigenen Selbst. Werden die inneren Bewegungen also ernst genommen, sind sie ein Weg zu diesem Selbst – und darüber hinaus zu jenem geheimnisvollen Grund, der der Kern des Selbst ist. In dessen Unmittelbarkeit eingetaucht zu werden, das ist dieser Schatz, der das Leben mit Freude erfüllt, ihm Halt und Hoffnung gibt und die Kraft, zu vollbringen, was jetzt und hier zu tun ist, heilsam für die Mitmenschen, die Umwelt und den ganzen Planeten. Diesen Schatz nennen Christen „Gott“ und seine Erkenntnis „ewiges Leben“ (Joh 17,3).
„Kein Atemzug ohne Gedanken“, hatte ich oben schon meinen Lehrer zitiert und gesagt, dass wir dieses Geschnatter im Kopf bei der Meditation nicht bekämpfen, es aber dadurch beenden, zumindest immer wieder unterbrechen, indem wir in die Wahrnehmung gehen. Wenn die Stille in der Meditation allmählich wächst, erkennen wir innere Bewegungen wie Empfindungen, Gefühle, Wünsche als Bedingungen unserer Gedankentätigkeit. Auch mit diesen Bedingungen beschäftigen wir uns idealerweise in der Meditation gedanklich nicht, ganz anders als im Alltag, wo wir alles, was sich im Bewusstsein regt, spontan begrifflich fassen.
Das ist schon so auf der basalen Ebene der Sinneswahrnehmungen. Was wir sehen, sind z. B. Autos, Häuser, Bäume, Menschen … Es ist uns nicht bewusst, dass dies das Ergebnis eines kognitiven Verarbeitungsprozesses ist, der aus dem von den Augen dem Bewusstsein unmittelbar Gegebenen – das ist etwas Ausgedehntes mit Farbmustern – mit Hilfe der Erinnerung eine Gestalt macht, Vorder- und Hintergrund unterscheidet, eventuell verschiedene Hypothesen prüft und schließlich feststellt, dass auf diese Weise z. B. das Konzept „Mensch“ erfüllt wird. Etwas benennen, verstehen, einordnen zu können entlastet uns, löst die Spannung, die Fremdes, Unerklärliches oder gar Ungewünschtes und Störendes in uns hervorruft. Diese Spannung ist eine hauptsächliche Triebfeder dafür, dass sich unsere Gedanken mit der Erfahrung „das ist ein Mensch“ weiter beschäftigen. Sie versuchen sie einzuordnen: Mann oder Frau? Kenne ich ihn/sie? Wenn ja, wer ist das? Was macht er/sie hier? Soll ich auf ihn/sie zugehen oder wegschauen? … Wenn ich das Phänomen einordnen und Lösungen für die Rätsel finden kann, die es mir aufgibt, kann sich meine Spannung lösen. Allerdings gelingt uns das nicht immer und dann zwingt uns das Rätsel, uns noch eine ganze Weile weiter gedanklich damit zu beschäftigen.
In der Meditation trainiere ich das Gegenteil des Alltagsverhaltens: Ich übe, in der Wahrnehmung eines Gefühls oder einer Empfindung zu verweilen, ohne dass ich mich damit gedanklich beschäftige: Ich „bin“ mein Gefühl bzw. meine Körperempfindung. Ich verzichte darauf, sie verstehen oder ihre Problematik lösen zu wollen. Die gedankliche Beschäftigung mit einem Gefühl oder einer Empfindung verursacht Kaskaden weiterer Gedanken, ein Sumpf aus Fantasien, Assoziationen, Hypothesen, Bildern und Erinnerungen entsteht, sodass der feste Boden außer Sicht gerät. Allmählich stellen sich zusätzlich Überforderung und Hilflosigkeit ein und machen den Sumpf noch größer: Das ist das Gegenteil des Spannungsabbaus, der durch die gedankliche Beschäftigung ursprünglich intendiert war. Das Bild vom Sumpf macht deutlich: Wer ihn trockenlegen will, muss ihm das Wasser abgraben. Und das geschieht dadurch, dass das Gefühl oder die Empfindung, welche die gedankliche Beschäftigung bedingen, mehr und mehr angenommen werden. Dazu muss der Meditierende sie in den Blick nehmen, ihnen seine Aufmerksamkeit zuwenden, bei ihnen aushalten.
Sich z. B. gedanklich mit seiner Angst zu beschäftigen, macht die Angst nur größer: Denn die Gedanken, die, angetrieben von Angst, um die Angst und ihre Objekte kreisen, sind quasi mit Angst imprägniert. Sie halten die Angst lebendig und verstärken sie. Deswegen ist die halbe Miete, seine Angst zu bewältigen, die gedankliche Beschäftigung mit der Angst zu beenden. Die andere Hälfte besteht im bewussten Fühlen der Angst. Es reduziert diese auf einen unangenehmen, aber aushaltbaren Zustand innerer Spannung und deckt die Einstellungen der Person auf, welche der Angst zugrunde liegen.
In den seltenen Momenten unseres Lebens, in denen wir wunschlos glücklich sind, sind wir nicht nur wunschlos, sondern auch gedankenlos: Das ständige Getriebe in unserem Kopf ist zur Ruhe gekommen, wir sind entspannt, in der Gegenwart und ruhen in uns selbst. Unsere dauernde gedankliche Beschäftigung führt uns aus der Gegenwart heraus und ist kein Teil des Glücks; das Beenden der unwillkürlichen Gedankentätigkeit hingegen schon.
Dass unser Wollen und Wünschen einmal stillsteht, das ist nur der Fall, wenn wir restlos erfüllt und glücklich sind und uns nichts fehlt. Aber das sind nur kurze Momente. Wenn die Glücksmomente nur kurz sind, machen folglich die Zeiten, in denen das Glück fehlt, die Zeiten, in denen das Leben also irgendwie un-glücklich ist, in denen irgendeine Art von Mangel vorherrscht, den Normalzustand des Lebens aus. Diese Einsicht formuliert der Buddhismus als seine erste edle Wahrheit: die Wahrheit vom Leiden. Wer sie sich eingestände, würde damit schon den ersten Schritt zur Beendigung des Leidens machen. Doch die meisten Menschen schlagen zunächst einen anderen Weg ein: Sie setzen auf Wünschen, Wollen und Erstreben.
Als Kind war einmal mein größter Wunsch an das Christkind ein batteriebetriebenes Auto, das durch ein Kabel mit der Steuereinheit verbunden war. Ich bekam es und war glücklich. Ein, zwei Tage lief ich hinter meinem Mercedes her. Aber das Glücksgefühl ließ schnell nach und das Gefährt stand immer häufiger in der Ecke. So geht uns das leider immer mit den erfüllten Wünschen. Auf eine mehr oder weniger kurze Zeit der Befriedigung und Freude, in der wir uns erst gesättigt und dann müde fühlen, folgen Langeweile und Leere. Dann hält Unzufriedenheit Einzug, unsere Augen beginnen Ausschau zu halten nach etwas, was uns befriedigen könnte, und mit der Zeit finden sie Möglichkeiten. Irgendwann setzt sich eine davon im Kopf fest und dann wollen und erstreben wir sie. Wir richten uns auf die von ihr als befriedigender verheißene Zukunft aus und nehmen ihre Verwirklichung in Angriff. Die Arbeit daran erfüllt uns mit Vorfreude, fordert uns heraus und lenkt uns von uns selbst ab. Diese Funktionen hat beispielsweise auch unsere berufliche Tätigkeit. Sie gibt uns eine Aufgabe und stützt unsere Identität, wir gehören dazu, treffen Kollegen, sind von uns selbst abgelenkt. Genau das sagte einmal eine Therapeutin ihrer Klientin. Diese wehrte das entschieden ab. Nein, sie setze sich beruflich für Menschen ein, wolle helfen, bewirke Gutes. Das mag ja durchaus stimmen. Doch nach kurzer Zeit in Rente musste sie eingestehen, dass ihre Therapeutin recht hatte.
Unser fast ununterbrochenes Streben weist darauf hin, dass es das Problem der prinzipiell als ungenügend und unbefriedigend empfundenen Gegenwart nicht lösen kann. Wer sich diese Realität nicht eingestehen kann, gerät unweigerlich in die Sucht. Er ist immer auf der Suche nach der nächsten Befriedigung. Solange es dem Süchtigen gelingt, zum Kick zu kommen, fühlt er sich stark, bestätigt, überlegen, souverän. Nichtsdestotrotz läuft er im Hamsterrad der Sucht. Dieses muss sich immer schneller drehen, weil die erstrebte Befriedigung immer dürftiger ausfällt. Das laugt aus, überfordert, Erschöpfung und das Gefühl der Hilflosigkeit nehmen zu. Diese Phänomene verbreiten sich auch in unserer Gesellschaft, sodass sich die Frage stellt, ob unser sogenannter „freiheitlicher Lebensstil“ nicht ein erhebliches Suchtproblem hat.
Wollen und Streben lösen nicht das Problem der prinzipiell un-glücklichen Gegenwart, sie verschaffen uns nur vor allem Ablenkung und einen Trostpreis. Deswegen übt der Meditierende, sein Denken, Wollen und Streben in Ferien zu schicken, sobald er es bemerkt. Damit lässt er seine Vorstellung von Erfüllung und dass sie durch Wollen und Streben zu erreichen ist los. Das bringt ihn sanft in Kontakt mit der Gegenwart, die ihn zunächst mit dem Gefühl eines Mangels konfrontiert. Er gesteht sich dieses Gefühl ein und übt, es anzunehmen. Dadurch verliert es an Macht. Er selbst erfreut sich am Gewinn innerer Freiheit. Es löst sich etwas, er kann sich entspannen und loslassen und wird geöffnet. Reines Gewahrsein aber ist die Disposition zur Nicht-Erfahrung der Unmittelbarkeit des Ganzen und bleibender Erfüllung.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass Grenzerfahrungen zur Übung der Meditation dazugehören und der Übende sich auf sie einlassen muss. Grenzerfahrungen sind Erfahrungen, in denen die eigenen Vorstellungen und Erwartungen, das Wollen und Streben an eine Grenze stoßen. Es geht nicht wie gewohnt oder gewollt. Etwas kommt in die Quere und stört. Wir mögen keine Grenzen. Sie lösen in uns Gefühle der Enttäuschung, Verunsicherung und Niedergeschlagenheit, vielleicht auch Wut aus. Wir möchten, dass es reibungslos nach unseren Vorstellungen geht. Daher tun wir spontan alles, um eine Grenze zu beseitigen oder ihr auszuweichen.