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Pfullendorf, Sondershausen, Illkirch - während der Bundeswehrskandale des Jahres 2017 befand sich das Innenleben der deutschen Streitkräfte unter massivem Beschuss. In Politik und Öffentlichkeit zeigte man sich empört und überrascht von der angeblich so radikalisierten Truppe. Dabei warnen Experten schon seit vielen Jahren vor ungerichteten Identitätsbildungsprozessen in der Bundeswehr. Die Ursachen für die aufgedeckten Missstände liegen weitaus tiefer: Mit Ende des Kalten Krieges wurde eine Zeitenwende ausgelöst, die die Grundlagen soldatischen Dienens fundamental verändert hat. Anstatt das amtliche Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« an die neue Lage anzupassen, sollte es für die Soldatinnen und Soldaten auch im Kampfeinsatz verbindlich bleiben. Ein erheblicher Bedeutungsverlust der »Inneren Führung« war so vorprogrammiert. "Was für ein Mensch man wirklich ist, erkennt man erst, wenn die eigenen Entscheidungen einen Preis haben und man sie ungeachtet dessen dennoch trifft. Viel wichtiger als ein Generalsrang ist der Respekt von Menschen, auf deren Meinung man wert legt. Wer aus innerer Überzeugung das Richtige gewagt hat, kann darauf zu Recht stolz sein." Marcus Grotian, Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte "Dem Verfasser gelingt es überzeugend, eigene Erfahrungen in Afghanistan mit repräsentativen empirischen Studien und theoretischen Analysen zu einem stimmigen Bild zu verknüpfen." Prof. Dr. Rudolf Hamann, Führungsakademie der Bundeswehr "Generelle Zustimmung; sehr interessant und aufschlussreich. Zentrale Schwachpunkte der Inneren Führung sind benannt!" Dr. Klaus Naumann, Hamburger Institut für Sozialforschung "Besonders hervorzuheben ist, dass Major Bohnert die mit dem Konzept der Inneren Führung eng verwobenen aktuellen Probleme des beruflichen Selbstverständnisses der Soldaten sowie das Defizit an strategischen Vorgaben durch die Bundesregierung nicht ausspart, sondern klar, aber differenziert anspricht." Dr. Christian Richter, Führungsakademie der Bundeswehr Google: 200 Tage Kunduz
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GermanVeteransPublishing
Auszug aus einem Gutachten zum Band
„Dabei fällt allerdings seine Kritik an den Defiziten
der Inneren Führung sehr moderat aus, was vermutlich
seiner militärischen Sozialisation geschuldet ist.“
Prof. Dr. Rudolf Hamann
Führungsakademie der Bundeswehr
Vorwort
Geleitwort
von Gerhard Brugmann
Einleitung
Problemstellung
Methodik der Untersuchung
Referenzrahmen der Analyse
Konzeption der Inneren Führung
Charakteristika Neuer Kriege
Deutsche Streitkräfte als Teil von ISAF
Bewährung und Grenzen der Inneren Führung im ISAF-Einsatz
Erhebungsergebnisse
Bewährungsprüfung der Inneren Führung
Lehren aus dem ISAF-Einsatz
Erkenntnisse und Folgerungen für Politik und Militärführung
Erkenntnisse und Folgerungen für die Innere Führung
Schluss
Einschränkung der Studienergebnisse
Aktuelle Debatte um die Inneren Führung
Ausblick
Anhang
Buchautor/Autor des Geleitwortes
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anglizismen/Englischsprachige Termini Technici
Zusammenfassung/Summary/ Synthèse de l'étude
Anlagen
Ergänzende Informationen
„Soldat mit Herz!“ Das war die spontane Reaktion einer Bekannten, als ich ihr das auf dem Titel dieses Buches abgebildete Foto meines Afghanistan-Einsatzes präsentierte. Es zeigt einen Stabsfeldwebel meiner Kompanie, der während einer Patrouille im August 2011 Süßigkeiten an junge Afghanen verteilt. Wir befanden uns zu dieser Zeit im nördlichen Teil des gefährlichen Distriktes Chahar Darreh in der Kunduz-Provinz. Deshalb ist er – wie alle anderen Patrouillierenden auch – voll ausgerüstet; er trägt einen Helm, eine Schutzweste, ein Funkgerät.
Trotz sengender Hitze sind seine Ärmel heruntergekrempelt und seine Handschuhe angezogen. Der Kragen ist zum Schutz vor der glühenden Sonne aufgestellt. Eigentlich ist aus der Perspektive des Beobachters nichts Menschliches mehr an ihm zu erkennen. Und doch macht das Bild offenbar einen freundlichen, einen friedlichen Eindruck – eben den Eindruck eines »Soldaten mit Herz«.
Die Widersprüchlichkeit dieses Fotos steht sinnbildlich für die Debatte um die Innere Führung im Afghanistan-Einsatz. Einer ihrer Grundgedanken ist die Bewahrung der Menschlichkeit, des zivilen Denkens auch im Krieg.
Jahrelang gab sich die deutsche Bevölkerung der Illusion hin, dass der Bundeswehr nie das blühen könnte, was anderen westlichen Armeen in ihren Einsätzen schon seit mehreren Jahren widerfuhr: Kampf, Verwundung, Tod. Lieber sah man Bundeswehrangehörige als bewaffnete Wiederaufbauhelfer, die vor allem Brunnen bohrten und Schulen errichteten.
Die intensive Phase des ISAF-Einsatzes hat diese Illusion zerstört. Zwar spät, für den Geschmack vieler Soldatinnen und Soldaten zu spät, aber für einen kurzen Moment war im kollektiven Bewusstsein der Deutschen angekommen, wofür sie ihre Streitkräfte tatsächlich einsetzten.
Als ich während einer Erkundung im Jahre 2010 in einem afghanischen Außenposten das erste Mal auf kampferprobte Fallschirmjäger stieß, war es zunächst nur ein Instinkt, der mir signalisierte, dass diese Soldatinnen und Soldaten außerhalb dessen operierten, was mir seit knapp dreizehn Dienstjahren von offizieller Seite als soldatisches Leitbild an die Hand gegeben wurde. Mental befanden sie sich eindeutig im Krieg. Sie lebten im Dreck und kämpften tapfer in den Gräben und Feldern von Kunduz. Politische Begründungen für ihren Auftrag erschienen verblasst und merkwürdig surreal. Die Skepsis und die Unwissenheit der Heimat schmerzten zwar, der Stolz auf die eigene Bewährung und der enge Zusammenhalt halfen aber beim Ertragen von Widrigkeiten und Strapazen.
Nach den Erfahrungen meiner eigenen Einsatzzeit in Afghanistan tauchte ich tief in die militärwissenschaftliche Forschung und die Rückkehrerliteratur der »Generation Einsatz« ein, um die verschiedenen Positionen in der Debatte um das berufliche Selbstverständnis in den Streitkräften zu ergründen und einzuordnen. Dadurch fand ich eine Reihe von Erklärungen für meine Beobachtungen; es eröffneten sich allerdings auch viele neue Problemfelder. Kernthema dieses Buches ist die Frage, inwieweit eine friedliche geistige Grundorientierung von Soldatinnen und Soldaten dazu geeignet ist, in einem Kampfeinsatz zu tragen.
Einige Tage vor der offiziellen Drucklegung dieses Bandes erhielt ich eine Nachricht aus einer westlich von Hamburg gelegenen Klinik. Einer der in meiner Einheit in Afghanistan dienenden Offiziere war dort aufgenommen worden, nachdem er sich vor eine S-Bahn stürzen wollte. Er war den letzten Schritt nicht gegangen und sah die Wagons wenige Zentimeter vor seinem Gesicht an sich vorbeirauschen. Vieles danach lag für ihn im Nebel: Bruchstückhafte Erinnerungen an den erschrockenen Blick des Fahrers, die Notbremsung, die aufgebrachte Rangelei mit dem Sicherheitsdienst, seine Fixierung mit Kabelbindern. Eine halbwegs nachvollziehbare Gedankenklarheit setzte erst in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung des zivilen Krankenhauses wieder ein.
Unser gemeinsamer Einsatz am Hindukusch lag zu dieser Zeit bereits über fünf Jahre zurück. Er hatte die Bundeswehr einige Monate nach unserer Rückkehr auf eigenen Wunsch verlassen und zügig eine einträgliche Position in einem angesehenen Unternehmen gefunden. Seine Afghanistan-Erfahrungen hatten ihn dennoch nicht losgelassen. Im Gegenteil: Sie hielten ihn fest umklammert.
Auch wenn die Nachricht in Bezug auf seine Selbstmordabsichten sehr tragisch war, hat sie mich letztendlich nicht vollkommen überrascht. Dass es vielen meiner Einsatzsoldatinnen und -soldaten nicht gut ging, zeigten mir die vielen Stellungnahmen zu sogenannten Wehrdienstbeschädigungsverfahren, die ich seit unserer Einsatzrückkehr kontinuierlich für Angehörige meiner damaligen Kompanie geschrieben habe. Auch die vielen Gespräche in Kameraden- und Veteranenkreisen waren ein starkes Indiz dafür, dass viele mit der Rückkehr aus dem Ausland verbundene Probleme noch immer unter der Oberfläche gärten und weiterer Aufarbeitung bedurften. Nicht zuletzt diese Erkenntnis hat mich in dem Entschluss bestärkt, die von mir formulierten Gedanken zur Inneren Führung in Afghanistan mit diesem Buch auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Der Band ist dabei als Streitschrift konzipiert. Er enthält einige zugespitzte Formulierungen, Kontrastverschärfungen und womöglich auch kleinere Provokationen. Dabei wird aber explizit nicht der Anspruch erhoben, absolute Wahrheiten zu verkünden. Das wäre angesichts der Komplexität des Themenfeldes auch ziemlich vermessen. Stattdessen soll ein Debattenbeitrag geliefert und zu weiterführenden Diskussion aufgefordert werden.
Auszüge des Manuskriptes kursierten bereits seit einigen Monaten in militärischen und wissenschaftlichen Kreisen. Die zahlreichen Rückmeldungen und das Feedback in themenbezogenen Diskussionen und Vorträgen habe ich in meine Betrachtungen einfließen lassen. Mein großer Respekt gebührt dabei denjenigen, die sich trotz abweichender Meinung einem persönlichen Austausch und konstruktiven Streits nicht verweigert haben. Sie hier einzeln aufzuführen, würde den Rahmen dieses Vorwortes sprengen; sie fühlen sich aber sicher angesprochen und finden ihre Namen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im angehängten Literaturverzeichnis.
Dass ich den umfangreichen Fußnotenapparat und die zahlreichen Quellenbezüge im Buch belassen habe, obwohl sie optisch wenig ansprechend und dem Lesefluss nicht zuträglich sind, hat mehrere Gründe. Vor allem ist dies der erwartbaren Gegenrede zu meinen Ausführungen geschuldet.
Eine kritische Befassung mit der Inneren Führung erzielt meist zweierlei Effekte: Zum einen bemächtigen sich diejenigen, die einer Totalrevision das Wort reden und das Konzept radikal abschaffen wollen, der dargelegten Gedanken und instrumentalisieren die passenden Argumentationsketten für ihre eigenen Zwecke. Aus den Reihen der glühenden Verteidiger der Konzeption erfolgen simultan die Verdammungen ins streng konservative, wenn nicht sogar ins rechtslastige oder antidemokratische Lager. Was sie dabei gern ausblenden, ist die der Inneren Führung innewohnende Forderung nach offenen Diskussionen und ihr dynamischer Charakter.
Um mich den Anfeindungen nicht ganz schutzlos auszusetzen, erachte ich den Verweis auf die Quellenbelege daher als hilfreich. Wie mir in den Debatten der vergangenen Monate wieder einmal bewusst geworden ist, kann von einer allgemeinen Kenntnis der Fachdiskussion zur Inneren Führung auch bei denjenigen, die sich lautstark in die Debatte einbringen, nicht immer ausgegangen werden.
Die Literaturhinweise zeigen weniger gut informierten Diskutanten zumindest auf, dass meine Gedankengänge nicht im luftleeren Raum entstanden sind, sondern neben meinen Praxiserfahrungen auch einer intensiven theoretischen Befassung mit der Thematik entstammen. Sie bilden zudem einen Wissensspeicher und bieten ernsthaft Interessierten die Möglichkeit zur weiterführenden Beschäftigung mit der Thematik.
Um den Lesefluss auch in den weniger spannenden Passagen nicht abreißen zu lassen, finden sich in einigen Abschnitten Kurzzusammenfassungen, Schaukästen und themenbezogene Bilder. Der Band ist gegenüber der Originalschrift zudem von einer Menge akademischem Ballast befreit worden. Das führt an einigen Stellen zu Verkürzungen, die das Buch womöglich phasenweise fragmentarisch erscheinen lassen und ein gewisses Maß an Grundlagenwissen voraussetzen. Jedoch bietet die Quellenlage auch hier zahlreiche Anknüpfungspunkte zur ergänzenden Recherche.
Mir ist bewusst, dass die Publikation eines solchen Buches kurz vor Ende einer Legislaturperiode das Risiko birgt, dass einige seiner Inhalte zügig von der Realität überholt werden. Die Kernfragen zur Führungskonzeption bleiben allerdings auch unabhängig von etwaigen Personalentscheidungen bestehen.
Dass die Innere Führung 2017 auch medial relativ umfassend diskutiert wurde und eine vergleichsweise hohe öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr, ist eine besondere Fügung. Ich war bereits in den Jahren zuvor mit der Thematik beschäftigt und hatte kaum das Gefühl, dass größeres Interesse an einer Debatte um die Konzeption bestand. Insofern ist zu hoffen, dass die aufkommende Diskussion nicht abreißt und die Innere Führung damit eine der Aufgaben erfüllt, für die sie ursprünglich auch konzipiert wurde – den engen Austausch zwischen Bundeswehr und Gesellschaft.
Machiavelli und die Innere Führung
oder: Es muss nicht immer Clausewitz sein
von Gerhard Brugmann
1521 schrieb Niccolò Machiavelli in »The Art of War«: 1 “I maintain that this [the military profession] is a profession by means of which men cannot live honestly at all times […] For a man can never be judged good who, in his work […] must be rapacious, fraudulent, violent, and exhibit many qualities which, of necessity, do not make him good.” 2
Über diesen Passus bin ich gestolpert, als ich einmal wieder darüber nachdachte, warum unsere Bundeswehr sich noch nach 60 Jahren so schwer tut mit ihrer Erfindung der Inneren Führung. Sie quält sich damit, dem Bundesbürger den Bundeswehrsoldaten als demokratisches Produkt unserer Verfassung in Gestalt des Bürgers in Uniform darzustellen, was durchaus verständlich ist, aber nicht funktioniert. Es bleibt beim »wohlwollenden Desinteresse«. Warum? Weil der Soldat in einer auf Menschenrechte ausgerichteten Demokratie ein Fremdkörper ist. Da hilft auch nicht der Lack des »Bürgers in Uniform«, eine Phrase, die zunächst nicht mehr besagt, als dass der Soldat Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist, was jeder weiß, denn er hat ja einen deutschen Pass, und dass er eine Uniform anhat, was jeder sieht.
Warum wird der Soldat als Fremdkörper empfunden? Machiavelli sagt das sehr deutlich, wenn er grundlegende negative Eigenschaften des Soldaten nennt, die im Einsatz gefragt sind. Sicher sind sie es nicht alle – raubgierig war der Landsknecht des 16. Jahrhunderts –, aber »violent«, also gewalttätig ist der Soldat zweifellos auch heute, wenn er tötet.
Unterm Strich heißt das: Der Soldat muss für seinen Einsatz Eigenschaften pflegen, die ihn in Widerspruch bringen zu seiner demokratischen Staatsordnung, die auf Menschenrechte ausgerichtet ist. Denn, wie gesagt, ist der Soldat ein Fremdkörper in seiner Gesellschaft. Das aber will und soll er nicht sein, immerhin ist er »Bürger in Uniform«! Für dieses Dilemma gibt es nur eine Lösung: Die Anerkennung der Tatsache, dass er ein Fremdkörper ist, aber ein unerlässlicher.
Er ist jedoch kein hundertprozentiger Fremdkörper, auch wenn er nach eigenem Gesetz, dem Soldatengesetz, lebt. Ein Fremdkörper ist er in nur wenigen, wenn auch nicht geringen Hinsichten als da sind: das Prinzip von Befehl und Gehorsam, der Einsatz des eigenen Lebens oder das Töten.
Diese Eigenheiten machen den Soldaten aber nicht zum Außenseiter, denn um der Demokratie und der Menschenrechte willen ist der Soldat unerlässlich. Es gibt keine Souveränität ohne Militär, keine Freiheit ohne militärischen Schutz. Seine Unentbehrlichkeit für das demokratische Staatswesen macht den Soldaten zu einem seiner fundamentalen Bausteine.
Stellt sich die Frage: Wie sage ich das dem Kinde? Das Kind ist in diesem Falle der uneinsichtige Bürger, derjenige, der mangels ausreichenden Weitblicks, wegen unausgereifter Geisteskraft oder wegen maßloser Überschätzung seiner persönlichen Wirkungsmöglichkeiten nicht weiß, dass das Böse in der Welt ein unausrottbares Element der weltweiten menschlichen Gesellschaft ist. Um diese Einsicht zu vermitteln sind Eltern, Lehrer, Geistliche, Wissenschaftler, Politiker gefragt, von denen mancher erst einmal bei sich anfangen muss. Hohe akademische oder kirchliche Grade sind noch keine Garantie für Einsicht.
Damit kehre ich zurück zu meinem Sorgenkind, der Inneren Führung, die sich abarbeitet an dem vergeblichen Versuch, den Soldaten zu einem »lupenreinen Demokraten« zu machen. Das ist er nun einmal nicht, kann es auch nicht sein, sonst fehlte ihm die Fähigkeit, die Demokratie zu schützen.
Wir haben die Wehrpflicht eingemottet. Das ist bedauerlich, war aber unvermeidlich, denn die heutigen Umstände haben dazu geführt, dass die Wehrpflicht für die Gegenwart überflüssig geworden war. Das Entstehen der Berufsarmee hatte zur Folge, dass der Soldat weiter ins Abseits gerutscht ist. Damit ist er als Kämpfer zunehmend suspekt geworden. Soll das Verhältnis Soldat und Gesellschaft erhalten beziehungsweise wieder aufgebaut werden, bietet sich ein passabler Weg: die Ausformung der Bundeswehr in eine Milizarmee. Das hätte Machiavelli auch gesagt.
1 Natürlich schrieb er auf Italienisch. Mir fiel jedoch diese englische Fassung in die Hände.
2 Machiavelli, 1995/1521, S. 13f.; Auf Deutsch: „Ich bleibe dabei, dass dies [der soldatische Beruf, das Soldatsein] ein Beruf ist, dessen Eigentümlichkeiten es den Menschen unmöglich macht, immer ehrlich zu sein […] Denn niemand kann als ehrenwert angesehen werden, dessen Arbeit es verlangt, gewalttätig, räuberisch, betrügerisch zu sein und viele Eigenschaften erfordert, die ihn notwendigerweise nicht zu einem guten Menschen machen.“
Dieses Buch widmet sich der Afghanistan-Mission der Bundeswehr und ihren Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Führungskultur in den deutschen Streitkräften. Ziel der Arbeit ist es herauszufinden, in welchem Umfang sich das Konzept der Inneren Führung während des Einsatzes der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan bewähren konnte. In diesem einleitenden Kapitel werden zunächst die Problemstellung beschrieben und die Methodik der Untersuchung vorgestellt.
Mit Ende des Kalten Krieges wurde eine Zeitenwende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgelöst, die auch die Bedingungen soldatischen Dienens fundamental verändert hat. Die Frage nach dem Sinn und Zweck deutscher Streitkräfte erfordert heute andere Antworten, als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten.
Nicht nur die Eingliederung der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr und die Öffnung aller Karrierewege für Frauen, sondern auch Reformen und Umstrukturierungen, Standortschließungen und Truppenreduzierungen, die Aussetzung der Allgemeinen Wehrpflicht und nicht zuletzt die umfassende Beteiligung an internationalen Missionen haben der Bundeswehr inzwischen ein völlig neues Gesicht gegeben.
Die in den 1950er Jahren konzipierte Innere Führung und das ihr innewohnende Leitbild des Staatsbürgers in Uniform blieben für Soldatinnen und Soldaten allerdings auch unter den neuen Gegebenheiten verbindlich.
Insbesondere seit den beginnenden Auslandseinsätzen haben sich Stimmen gemehrt, die den Nutzen und die Wirksamkeit der Inneren Führung für die Streitkräfte in Zweifel ziehen. Gerade der Kampfeinsatz in Afghanistan, in dem die Bundeswehr erstmals in ihrer Geschichte mit schweren Gefechten und Anschlägen konfrontiert wurde, hat Zweifel am Konzept genähert.
Über ideologisierte und emotional ausgetragene Auseinandersetzungen hinaus gab es in den letzten Jahren allerdings nur wenige stichhaltige Analysen von Erfolgen und Defiziten der Inneren Führung. Befürworter und Kritiker der Konzeption tauschten sich vor allem in den Echokammern und Filterblasen Gleichgesinnter aus und bestätigten sich gegenseitig in ihren Auffassungen. Trafen die Fronten von Zeit zu Zeit aufeinander, verliefen die Diskussionen immer äußerst kontrovers.
Der elementare Disput um die Grundgedanken der Inneren Führung entflammte bereits vor Gründung der Bundeswehr: Traditionalisten und Reformer stritten im Spannungsfeld von Staatsbürgerlichkeit und Kriegstüchtigkeit um einen tragfähigen geistigen Rahmen für die Wiederbewaffnung Deutschlands. Dabei prallten das zivilkulturelle Gewaltverständnis und das soldatische Professionsethos mitunter heftig aufeinander.3 Unter heutigen Gegebenheiten kann die Auseinandersetzung als Richtungsstreit zwischen den geistigen Denkschulen Athen und Sparta beschrieben werden.
Athen verkörpert dabei ein weltoffenes bürgerliches Gemeinschaftswesen, in dem das Politische im Mittelpunkt der Herleitung alles Militärischen steht. Als Athener verstehen Soldatinnen und Soldaten ihre Aufgabe im Eintreten für Grundwerte und Leitbilder wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Für die Erfüllung der vielschichtigen Aufgaben wird ihnen unter anderem Einfühlungsvermögen, diplomatisches Fingerspitzengefühl, Kommunikations- und Kontaktfreude, Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz sowie ganzheitliches Urteilsvermögen abverlangt.4
Hingegen liefert Sparta das Sinnbild für eine umweltverschlossene, elitäre und selbstbezogene Kriegergesellschaft. Durch die Fokussierung auf das Gefecht erwarten die Vertreter dieser Denkschule von Soldatinnen und Soldaten vor allem eine ausgeprägte Kampfmoral, Charakterfestigkeit und militärhandwerkliche Professionalität. Zeitlose soldatische Werte und tugendhaftes Verhalten werden als Fundamente für die Bewährung im Kampf betrachtet.5
Der Idealtyp des Atheners deckt sich weitgehend mit dem Konzept der Inneren Führung. Viele kampferfahrene Soldatinnen und Soldaten wähnten sich während des Afghanistan-Einsatzes mental allerdings offenkundig im Bereich Spartas. Das alte Kämpferideal hat sich so allmählich seinen Weg zurück in den Geist der Bundeswehr gebahnt.
Auch wenn die Einsatzrealität am Hindukusch gute Begründungen für ein solches Selbstverständnis lieferte, erschwert die belastete deutsche Militärgeschichte es den Vertretern Spartas doch, ihre Position allzu offen zu vertreten. Sie leitet sich eben nicht aus der politischen und gesellschaftlichen Einbettung, sondern über das Kämpfen als professionell zu erledigendem Auftrag ab.
Anders als es Teilen der Traditionalisten in den Aufbaujahren der Bundeswehr noch nachgesagt wurde, lastet der spartanischen Denkschule zwar weder die Ablehnung des Primates der Politik, noch die Idee einer Umformung der Gesellschaft nach soldatischem Vorbild an.6 Als primär auf den Kampf bezogene Disposition löst sie in der pazifistisch orientierten Gesellschaft dennoch erhebliches Unbehagen aus. Mit Verweis auf das Grauen der Weltkriege hat sich in Deutschland die Auffassung verbreitet, dass an die hiesigen Streitkräfte eben andere Maßstäbe anzulegen seien, als an andere Institutionen und Armeen dieser Welt.7
Über sechs Jahrzehnte nach Gründung der Bundeswehr sind ernsthafte Zweifel an der Loyalität gegenüber der politischen Leitung allerdings nur noch schwer nachvollziehbar. Die Maxime der freiheitlichdemokratischen Grundordnung, das Primat der Politischen und die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte werden von deutschen Soldatinnen und Soldaten nicht angezweifelt.
Athen vs. Sparta
An der Frage, ob sich Soldatinnen und Soldaten im Ausland primär als bewaffnete Wiederaufbauhelfer oder archaische Kämpfer verstehen sollten, scheiden sich die Geister. Die Denkschulen Athen und Sparta stehen symbolisch für diese schwer versöhnlichen Gegenpositionen. Während des ISAF-Einsatzes wurde aus der theoretischen Debatte eine Frage mit konkretem Bezug zur soldatischen Erlebniswelt in den afghanischen Unruhedistrikten. Statt eines partnerschaftlichen Diskurses stießen die Argumente jedoch so heftig gegeneinander, dass der Streit zunehmend polarisierte und die kameradschaftliche Geschlossenheit der Truppe gefährdete. Das Foto zeigt einen deutschen Schützenpanzer auf Patrouillenfahrt in Kunduz im September 2011. Offenbar ist eine Ziegenherde durch das gepanzerte »Ungetüm« aufgeschreckt worden und wird durch die jungen afghanischen Hirten wieder zusammengetrieben.
In einem neuen Sinne erscheint es deshalb ewig gestrig, in der Diskussion um die geistige Orientierung der Armee noch immer der Argumentation vom drohenden »Staat im Staate« zu folgen.8 Es bleibt nichtsdestotrotz geboten, Kritiken wie diese aufzunehmen und das Für und Wider einer möglichen Novellierung der Inneren Führung behutsam und gründlich zu diskutieren. Eine militärische Führungsphilosophie ist kein seichtes Experimentierfeld. Eine fehlgeleitete mentale Ausrichtung von Waffenträgern kann in der Realität fatale Konsequenzen haben.
Das mag nicht jedem unmittelbar einsichtig erscheinen: Debatten um die Innere Führung werfen auch immer wieder grundsätzliche Fragen zum eigentlichen Wert von Führungsphilosophien auf. Gerade im Militär herrscht eine generelle Skepsis gegenüber einer vermeintlich akademisierten Befassung mit realitätsfernen Theoriekonstrukten.
Das Nachdenken über Innere Führung ist jedoch alles andere als eine „intellektuelle Spielerei vergeistigter Offiziere“.9 Soldatinnen und Soldaten benötigen zur Erfüllung ihres Auftrages immer auch geistiges Rüstzeug und eine besondere mentale Disposition.10 Die Führungskultur der Streitkräfte und das soldatische Selbstverständnis haben direkten Einfluss auf die Motivation sowie die Kampfmoral der Truppe und sind deshalb von fundamentaler Bedeutung für ihre Schlagkraft.
Angesichts dringlicher Herausforderungen können militärphilosophische Themen natürlich nicht unentwegt auf der tagespolitischen Agenda stehen. Jedoch müssen umfangreiche strukturelle und auftragsbezogene Veränderungen der Streitkräfte – denen sich die Bundeswehr zuletzt kontinuierlich ausgesetzt sah – auch immer mit einer Anpassung ihres ideellen Überbaus einhergehen. Wenn Struktur- und Kulturwandel nicht miteinander abgestimmt und synchronisiert verlaufen, werden kollektive Orientierungslosigkeit, Irritationen, Unsicherheiten und eine ungerichtete Identitätssuche die militärische Organisation schwächen und Reformvorhaben auf lange Sicht scheitern lassen.11
Es kann historisch belegt werden, dass hervorragend ausgerüstete Armeen nach dem ersten Gefechtsschock in Ermangelung ausreichender Kampfmoral innerhalb kürzester Zeit Auflösungserscheinungen zeigten.12 Der konkrete Nutzen von Führungsphilosophien in Streitkräften ist daher kaum von der Hand zu weisen. Soldatinnen und Soldaten müssen allerdings von deren Sinn und Notwendigkeit überzeugt sowie bereit sein, sich mit ihnen zu identifizieren.
Die Innere Führung war von ihren Schöpfern als dynamisches, den aktuellen Gegebenheiten anzupassendes und damit auf Dauerreflexion angelegtes Konstrukt gedacht. Das ist Grund genug, die Konzeption auf den Prüfstand zu stellen und ihrer Bewährung in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf den Grund zu gehen.
In den folgenden Ausführungen steht die Afghanistan-Mission als bisher umfangreichster und folgenschwerster Kontingenteinsatz der Bundeswehr im Fokus der Betrachtungen. Es soll ausgelotet werden, ob die amtlich als „höchst bewährte Konzeption“ 13 beschworene Innere Führung sich wirklich „in Gänze auch unter den Härten der Einsatzrealität bewährt“ 14 hat und in ihrer heutigen Form noch „zeitgemäße Antworten“ 15 liefert, oder ob sie im Lichte des Afghanistan-Einsatzes eher als Relikt aus den Aufbaujahren der Bundeswehr oder „Leerformel“ 16 wahrgenommen wird und „gegenwärtig auf keinem festen Fundament“ 17 steht.
3 Vgl. Baudissin, 1969, S. 236; Hamann, 2008, S. 30f.; Maizière, 1974, S. 177f.
4 Vgl. Wiesendahl, 2010, S. 34ff.
5 Vgl. Wiesendahl, 2010, S. 43ff.
6 Vgl. Wiesendahl, 2010, S. 48f.; s.a. Böcker, 2014, S. 232ff.; Böcker, 2015.
7 Vgl. Käppner, 2017b; Wagner, 2017, S. 13; Schulz, 2017.
8 Vgl. Neitzel, 2017b; Haak, 2015, S. 68; Böcker, 2015.
9 Böcker, 2015.
10 Vgl. Evans, 2011, p. 31; Maizière, 1974, S. 17.
11 Vgl. Wiesendahl, 2005a, S. 18ff.
12 Vgl. Creveld, 2006, S. 17f.
13 Sauer, 2011, S. 64.
14 Zudrop, 2017, S. 4.; s.a. Beck, 2016, S. 36; Bundesministerium der Verteidigung, 2008, S. 4.
Um sich der Frage nach der Bewährung der Inneren Führung während der ISAF-Mission zu nähern, werden zunächst die Entstehungshintergründe der Konzeption erläutert und die allgemeinen Herausforderungen aufgezeigt, mit denen es sich in heutigen Konflikten auseinanderzusetzen gilt. Anschließend wird umrissen, wie sich die Teilnahme am Afghanistan-Einsatz für die Bundeswehr dargestellt hat.
Im Hauptteil des Buches wird eine Bilanzierung der Mission vorgenommen und der Frage nachgegangen, in welchem Umfang sich die Innere Führung und das ihr innewohnende Leitbild des Staatsbürgers in Uniform bewähren konnten und wo sie an ihre Grenzen gestoßen sind. Daraus werden Folgerungen für die Politik und die Militärführung sowie für die »Unternehmensphilosophie« der Bundeswehr abgeleitet. Abschließend wird der Blick auf die aktuelle Debatte und mögliche zukünftige Einsätze sowie damit verbundene Herausforderungen gerichtet.
Die angestellten Überlegungen sind in erster Linie Ergebnis einer umfangreichen Literaturrecherche zur Inneren Führung und zum ISAF-Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten. Durch eine illustrative Befragung von Offizieren an der Führungsakademie der Bundeswehr wurde die Argumentationsführung zusätzlich gestärkt. Die Ausführungen sind zudem von Beobachtungen, Berichten und Erlebnissen während der eigenen Einsatzzeit in der nordafghanischen Provinz Kunduz geprägt. Trotz des Rückgriffs auf wissenschaftliche Quellen sind sie dadurch praktisch orientiert und sollen einen umfassenden Problemaufriss darstellen, dessen theoriegeleitete Untersuchung sich in weiterführenden wissenschaftlichen Arbeiten anbietet. Die relevanten Themenfelder werden hier in entsprechend großer Bandbreite behandelt.
Die Analyse soll dabei weder einseitig im Sinne der Traditionalisten noch der Reformer erfolgen, die sich seit Jahrzehnten einen emotionsgeladenen Schlagabtausch über die Bewährung der Inneren Führung liefern. Sie ist nicht ideologisch, revisionistisch oder reaktionär angelegt, sondern sucht vor allem den Bezug der Konzeption zur soldatischen Erlebniswelt des Afghanistan-Einsatzes.
Dabei liegt die Idee zu Grunde, dass eine größtmögliche Kongruenz der konzeptionellen Normen mit der Realität anzustreben ist und Praxiserfahrungen als Korrektiv der Theorie betrachtet werden sollten. Viele Abhandlungen zur Inneren Führung kranken offenkundig daran, dass sie auf einer so abstrakten Argumentationsebene verfasst sind, dass sie kaum über das Potenzial verfügen, einen größeren Leserkreis zu erreichen oder einen breiten Diskurs um die Konzeption auszulösen.
Mehr noch: Die mit Fachvokabular durchsetzte Theoriediskussion hat zur Folge, dass Truppenpraktiker den Begriff teilweise nicht mehr hören können und sich mitunter massive affektive Sperren gegen die Konzeption aufgebaut haben. Auch deshalb wird in diesem Buch – ohne Außerachtlassung der politischen, militärstrategischen und operativen Perspektive – häufig der Bezug zu den Belangen der im Felde eingesetzten Soldatinnen und Soldaten gesucht. Eine Prüfung der praktischen Bewährung der Inneren Führung kann auch nur so glaubwürdig erfolgen.
15 Zudrop, 2017, S. 4.
16 Hellmann, 2011, S. 190.
17 Hartmann, 2017, S. 19.
Um den Grundstein für die nachfolgenden Betrachtungen zu legen, ist es unerlässlich, zunächst die Entstehungshintergründe der Inneren Führung nachzuzeichnen und Entwicklungen in der Debatte um die Konzeption aufzuzeigen. Zur Verdeutlichung der Herausforderungen, denen sich westliche Armeen in aktuellen Konfliktszenarien gegenübersehen, erfolgt danach eine Beschreibung der allgemeinen Charakteristika Neuer Kriege. Abschließend werden wichtige Rahmenbedingungen des Engagements der Bundeswehr im ISAF-Einsatz umrissen und es wird geschildert, wie sich die Gewalteskalation im Norden Afghanistans für die deutschen Soldatinnen und Soldaten dargestellt hat.
Die Innere Führung erhebt den Anspruch, das Selbstverständnis und die Führungskultur der Bundeswehr abzubilden und ist als Idee und Theorie für alle Angehörigen der deutschen Streitkräfte bindend.18
Ihr zentrales Element ist das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, aus dem die Bindung von Soldatinnen und Soldaten an die Werte und Normen des Grundgesetzes erwächst.19 Eine ausführlichere Definition würde immer unvollständig bleiben, da die Konzeption in ihrer heutigen Form – wie sich im Verlaufe der Analyse noch zeigen wird – ein vielschichtiges Konglomerat mit unscharfen Konturen ist.
Schon in ihrer Entstehung war die Innere Führung kein in sich geschlossener Gesamtentwurf. Sie spiegelt vielmehr die Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem, die Unentschiedenheit zwischen Reform und Kontinuität sowie die Widersprüchlichkeiten der deutschen Remilitarisierungsdebatte wider.
Sie ist zudem erst in der argumentativen Auseinandersetzung – in actu – gewachsen und lässt sich allenfalls retrospektiv als logisch schlüssiges Konzept interpretieren.
Dennoch gibt es nach wie vor kein Einvernehmen darüber, aus welchen Komponenten sich die Innere Führung zusammensetzt und was sie eindeutig beinhaltet. Ihre charakteristische Unbestimmtheit entzieht sich einer klaren begrifflichen Begrenzung und erlaubt variierende Vorstellungen in einer Spannbreite von zeitgemäßer Menschenführung bis hin zur Organisationskultur der Bundeswehr.
Die Konzeption entwickelte sich in den 1950er Jahren unter den Eindrücken der nationalsozialistischen Verbrechen und des sich anbahnenden Ost-West-Konfliktes. Durch einen radikalen Bruch mit der deutschen Militärtradition war sie als Kompromiss im Streit um die Wiederbewaffnung angelegt, der den Aufbau deutscher Streitkräfte in der demokratischen Nachkriegsgesellschaft ermöglichte.20
Die einmalige Reform sollte das Militär in Kongruenz mit der Staats- und Gesellschaftsverfassung bringen und freiheitlich-liberalen Prinzipien Geltung verschaffen. Ziel war es, dem Einzelnen die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung zu geben und damit einen Kontrapunkt zur militaristischen Kultur von Erniedrigung, Schikane und Unterdrückung zu setzen.
Das so geschaffene Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Streitkräften sollte sich dadurch grundsätzlich von der Rolle der Reichswehr in der Weimarer Republik und der Wehrmacht im Dritten Reich unterscheiden.
Soldaten sollten zudem aus dem Gewissenskonflikt zwischen Verantwortung und Gehorsam befreit werden, dem sich beispielsweise die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 ausgesetzt sahen. Niemals wieder durften Militärangehörige zu verbrecherischen Zwecken instrumentalisiert und zu kritiklosen Erfüllungsgehilfen einer menschenverachtenden Politik werden. Durch die Formel des Staatsbürgers in Uniform ließen sich Wehrbereitschaft bei gleichzeitiger Staatsnähe und gesellschaftliche Bindung in einem Begriff vereinen.21
Trotz dieser neuen Prämissen wurde die symbolische Geburtsstunde der Bundeswehr im November 1955 sowohl national als auch international mit gemischten Gefühlen betrachtet. Gerade einmal zehn Jahre zuvor hatte der Alliierte Kontrollrat eine Direktive zur Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands erlassen, in der die völlige und endgültige Auflösung deutscher Streitkräfte niedergeschrieben war.22 Jede von deutschem Boden ausgehende Machtpolitik sollte nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein für alle Mal an ihr Ende gekommen sein.
Durch die sowjetischen Expansionsbestrebungen und eine geschickte deutsche Annäherungs- und Integrationspolitik ließen sich die westlichen Siegermächte jedoch schon bald auf eine Wiedereinbindung Westdeutschlands ein. Mit Gründung der Bundesrepublik 1949 und dem Beginn des Korea-Krieges im Folgejahr gewann die Aufstellung von Streitkräften wieder eine realistische Perspektive.
Im Oktober 1950 kamen hochrangige deutsche Ex-Militärs im abgeschiedenen Eifelkloster Himmerod zusammen, um die Weichenstellung für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vorzunehmen.23 Es ging vor allem darum, ein Konzept für die Stärke, Ausrüstung und Ausbildung künftiger deutscher Streitkräfte zu entwickeln.
Wolf Graf von Baudissin, einer der jungen und demokratisch orientierten Teilnehmer der geheimen Konferenz, intervenierte gegen die Planungsrichtung der alten Militärelite. Der schien es neben der militärischen Gleichberechtigung im Rahmen der europäischatlantischen Gemeinschaft und der gesellschaftlichen Rehabilitation der deutschen Soldaten offensichtlich vor allem um die programmatische Anknüpfung an die bisherigen Kategorien des Kriegshandwerks und die Bewahrung eines Sonderstatus´ zu gehen.
Baudissins Idee, das deutsche Militär durch eine grundlegende Zivilisierung demokratiefähig und bürgertauglich zu machen, stieß auf allgemeine Ablehnung und fand im Entwurf der »Himmeroder Denkschrift« keinerlei Berücksichtigung. Erst durch seine ultimative Drohung, das Abschlussdokument nicht zu unterzeichnen, wurden Ergänzungen im Text vorgenommen und eine normative Wende eingeleitet.24
Zu den zweifellos wichtigsten Passagen der Schrift gehört das Bekenntnis, dass die deutschen Streitkräfte nicht »Staat im Staate« werden dürften und aus innerster Überzeugung die demokratische Lebens- und Staatsform zu bejahen hätten. Zudem wurde sich in Bezug auf das innere Gefüge der deutschen Truppe verpflichtet, etwas grundlegend Neues ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht zu schaffen.25
Trotz eines offen ausgetragenen Disputs um die Sinnhaftigkeit der Inneren Führung begann ihre Kodifizierung ab 1955 mit breitem politischen Rückhalt. Konkrete Neuerungen aus dieser Zeit betrafen unter anderem die parlamentarische Legitimierung des Verteidigungsministers, die Einrichtung des Verteidigungsausschusses, die Etablierung des Wehrbeauftragtenbüros und die Einschränkung der eigenständigen Militärgerichtsbarkeit zu Gunsten ziviler Instanzen.26
Diese und weitere Regelungen waren explizit darauf angelegt, den Vorrang des Zivilen in militärischen Fragen zu manifestieren und den Status des Militärs als Berater der Politik zu sichern. Jede Sonderrolle oder Abkapselung der Streitkräfte sollte dadurch verhindert werden. Daran entzündete sich seinerzeit der Widerstand konservativer Kreise, die eine derartig tiefgehende Einmischung in innermilitärische Belange als Provokation empfanden.27
Noch Jahrzehnte nach ihrer offiziellen Einführung wurde die