Inselfeuer - Maren Schwarz - E-Book + Hörbuch

Inselfeuer E-Book und Hörbuch

Maren Schwarz

4,4

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Beschreibung

Unter den verkohlten Trümmern eines Ferienhauses auf Rügen wird eine Leiche gefunden. Die von Rechtsmedizinerin Leona Pirell vorgenommene Obduktion ergibt, dass der Tote, Enoch Zwill, ermordet wurde. Schon bald gerät dessen Witwe Berit ins Visier der Ermittler. Die Ehe war alles andere als harmonisch, Gewalt war keine Seltenheit. Leona glaubt jedoch nicht an Berit Zwills Schuld und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Damit bringt sie sich in tödliche Gefahr.

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Seitenzahl: 229

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Zeit:5 Std. 47 min

Sprecher:Katja Hirsch
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Maren Schwarz

Inselfeuer

Kriminalroman

Zum Buch

Flammenmeer Nach dem nächtlichen Brand eines Ferienhauses auf Rügen findet die Feuerwehr unter den ausgebrannten Trümmern eine männliche Leiche. Die von Rechtsmedizinerin Leona Pirell vorgenommene Obduktion ergibt, dass es sich bei dem Toten um ihren Nachbarn Enoch Zwill handelt, der eindeutig ermordet wurde. Die Polizei verdächtigt Zwills Witwe Berit, ihren gewalttätigen Mann getötet zu haben. Leona glaubt jedoch nicht, dass Berit die Täterin ist, und stellt eigene Ermittlungen an. Sie gerät in den Besitz des Tagebuches der Mutter des Toten. Dessen Inhalt bringt Leona einem lange gehüteten Geheimnis auf die Spur, und bald schon befindet sie sich in tödlicher Gefahr.

Maren Schwarz, Jahrgang 1964, lebt in einer kleinen Stadt im Vogtland. Ihre Krimireihe um die Rechtsmedizinerin Leona Pirell spielt auf Rügen, der zweiten Heimat der Autorin. Neben Kriminalromanen schreibt sie Beiträge für verschiedene Kurzkrimi-Anthologien. Maren Schwarz ist Mitglied im Syndikat.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Anja Ergler – Fotolia.com und © NFSR – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4744-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

München, 1988

Die Blutspur verlief quer durch den Raum bis zum Vorleger, auf dem die junge Frau lag, tot und mit offenem Mund. Sie trug eine zerfetzte weiße Bluse und einen schwarzen Minirock, der ihr über die Hüften gerutscht war. Die Innenseiten ihrer gespreizten Beine waren mit Prellungen und Blutergüssen übersät. Ihre Schuhe, hochhackige Lacklederpumps, lagen unterm Bett. Wahrscheinlich hatte sie sie während des Kampfes verloren. Denn dass ein Kampf stattgefunden hatte, war unübersehbar. Das Bettzeug war zerwühlt, der Nachttisch umgestürzt. Auf dem Fußboden lag eine Lampe, deren Glasschirm in Tausend Stücke zersprungen war. Ihr massiver Messingfuß war blutverschmiert. Ein paar winzige Scherben hatten sich im blonden Haar der Toten verfangen. Es war rot vom Blut, das aus einer klaffenden Wunde am Kopf stammte. Ihr Gesicht war aufgedunsen und von Schlägen entstellt, die aus ihren Höhlen getretenen Augen blicklos und starr. Quer über ihre Kehle verlief ein violettes Würgemal. Wer hier gewütet hatte, hatte ganze Arbeit geleistet.

Die Polizei war von Carmen Moosmüller, einer Freundin der Toten, benachrichtigt worden. Bei dem Opfer handelte es sich um Marlene Altmeier. Sie war 24 Jahre alt und ledig. Wie sich im Zuge der Ermittlungen herausstellte, hatte sie ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs bestritten. Zur Tatzeit war sie Kellnerin beim Oktoberfest gewesen. Nachdem Marlene Altmeier nicht zu einem mit ihrer Freundin vereinbarten Treffen erschienen war, war diese zu ihr nach Hause gefahren. Sie hatte die Haustür unverschlossen vorgefunden und sich auf den Weg nach oben gemacht. Marlene wohnte in der ersten Etage eines heruntergekommenen Mietshauses in München. Im Treppenhaus roch es nach Kohlsuppe und kaltem Schweiß. Es war ein verregneter Septembertag. Ein ungemütlicher Herbststurm fegte über die Stadt.

Marlene Altmeiers Wohnungstür hatte einen Spalt offen gestanden. Verwundert hatte Carmen ihr einen zaghaften Stoß versetzt und in den dahinterliegenden Korridor gespäht. Abgesehen von dem aus dem Treppenhaus hereinfallenden Licht hatte die Wohnung im Dunkeln gelegen. Carmen hatte den Namen ihrer Freundin gerufen, jedoch keine Antwort erhalten. Von einer bösen Vorahnung beschlichen, hatte sie einen Blick in die Wohnung geworfen. Die erste Tür, auf die sie in deren Innern gestoßen war, war nur angelehnt gewesen und führte in das Wohnzimmer. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass der Raum leer war, hatte sie die Küche und danach das Bad inspiziert. Während sie von Zimmer zu Zimmer gegangen war, hatte sie immer wieder den Namen ihrer Freundin gerufen. Sie hatte Marlenes Leiche im Schlafzimmer gefunden. Ihr Anblick hatte ihr für einen Moment den Atem verschlagen. Danach war sie kopflos nach draußen gestolpert, um den Notruf zu wählen.

Die vom Staatsanwalt in Auftrag gegebene Obduktion ergab, dass Marlene durch einen massiven Schlag auf den Kopf gestorben war. Zuvor hatte ihr Mörder sie brutal vergewaltigt und misshandelt. Die vor Ort sichergestellten Spuren ließen die Polizei von einem Triebtäter ausgehen. Trotz sofort eingeleiteter Fahndungsmaßnahmen wurde der Fall nie aufgeklärt.

1

Rügen, 2013

Der Notruf ging kurz nach Mitternacht ein. Die Nummer gehörte zu einem Festnetzanschluss. Am anderen Ende der Leitung war eine weibliche Stimme. Sie klang aufgeregt. »Feuer«, schrie sie in den Hörer. »Es brennt, alles brennt!« Die Worte überschlugen sich. »Sie müssen kommen! Bitte beeilen Sie sich! Die Flammen, sie …«

»Sind Personen gefährdet?«, wurde sie unterbrochen.

»Das weiß ich nicht.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Thea, Thea Greulich.«

»Von wo aus rufen Sie an?«

»Aus Lobbe. Ich wohne am Seeweg, in Nummer 3a. Das Feuer, es ist auf dem Nachbargrundstück ausgebrochen. Und es greift immer weiter um sich! Bitte machen Sie schnell!«

Erschöpft ließ Thea den Hörer sinken und lehnte sich gegen die Wand. Sie versuchte, das Brennen in der Brust zu ignorieren. Doch es gelang ihr nicht. Immer und immer wieder zogen die furchtbaren Bilder wie ein Film an ihrem geistigen Auge vorbei. Im Nachhinein konnte Thea nicht mehr sagen, was sie mitten in der Nacht geweckt hatte. Noch ganz verschlafen hatte sie den Kopf gehoben und geschnuppert. Es hatte nach Rauch gerochen. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen war rötliches Licht gedrungen. Theas Herzschlag hatte sich beschleunigt. Von einer bösen Vorahnung begleitet, war sie zum Fenster geeilt und hatte die Gardine beiseitegeschoben. Für einen Moment hatte sie geglaubt, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein. Sie hatte die Augen zusammengekniffen. Doch als sie sie wieder geöffnet hatte, war da noch immer dieses Bild gewesen, das sich ihr unauslöschlich in die Netzhaut eingebrannt hatte: Aus der zum Ferienhaus umgebauten Gartenlaube ihrer Nachbarn hatten meterhohe Flammen in den tiefschwarzen Nachthimmel gezüngelt, die sich allmählich ausbreiteten. Sie war sich wie ein Voyeur vorgekommen. Trotzdem hatte sie den Blick nicht abwenden können. Erst als ein Teil des brennenden Daches mit lautem Krachen eingestürzt war, war es ihr gelungen, die lähmende Starre abzuschütteln. Sie war zum Telefon geeilt und hatte die 112 gewählt. Nun rannte sie, nur mit Bademantel und Filzschlappen bekleidet, nach draußen. Auf dem Weg zum Gartentor trieb ihr der salzige Seewind Asche entgegen. Beißender Rauch brannte in ihrer Lunge und ließ sie husten. Je näher sie dem Nachbargrundstück kam, desto dichter wurde der Qualm. Angestrengt kniff Thea die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Überall knisterte und knackte es. Mit einem Mal gab es einen lauten Knall. Glassplitter flogen durch die zum Schneiden dicke Luft. Geblendet vom Widerschein des Feuers blieb Thea stehen. Ihr Kopf war wie leer gefegt. Es war unfassbar! Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Sie wäre wohl noch ewig so dagestanden, wenn der Wind nicht plötzlich gedreht und ihr die Hitze des Feuers ins Gesicht getrieben hätte. Beißender Qualm nahm ihr den Atem und zwang sie zum Rückzug. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Flammen auf die neben der Laube stehenden Fichten übergriffen. Hoffentlich gelang es den Einsatzkräften, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen, bevor es auf ihr Grundstück und das Haus übersprang, dachte Thea.

Als sie von ferne Sirenengeheul vernahm, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. Kurz darauf bog die Feuerwehr auf den schmalen Feldweg ein, der zum Anwesen ihrer Nachbarn führte. Dann ging alles ganz schnell. Auf dem Löschfahrzeug angebrachte Scheinwerfer erhellten mit ihrem grellen Licht die Nacht und offenbarten das komplette Ausmaß der Katastrophe. Das Nachbargrundstück war in dicke schwarze Rauchschwaden gehüllt, aus denen blutrote Flammen züngelten. Inzwischen waren auch Polizei und Notarzt eingetroffen. Von zuckendem Blaulicht untermalt, hallten hektische Befehle durch die Nacht. Allmählich normalisierte sich Theas Herzschlag und sie überlegte, wie sie helfen konnte. Von ihren Nachbarn war nichts zu sehen. Hoffentlich hatten sie sich nicht in der Laube aufgehalten. Thea musste an die achtjährige Katharina denken. Was, wenn die Kleine gezündelt und dadurch das Feuer ausgelöst hatte? Man las immer wieder von derartigen Unglücken in der Zeitung. Thea hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie ihre Nachbarin entdeckte. Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie, als sie Berit Zwill zusammen mit ihrer Tochter bei den Einsatzkräften stehen sah. Die beiden hielten sich eng umschlungen. Jemand hatte ihnen Wolldecken übergeworfen, um sie vor der empfindlich kühlen Nachtluft zu schützen. Nur den Vater konnte sie nirgends entdecken.

Die Löscharbeiten zogen sich bis in die frühen Morgenstunden hin. Immer wieder loderten Flammen aus dem Brandherd hervor. Die Rettungskräfte begaben sich jedes Mal in Lebensgefahr, wenn sie in die vom Einsturz bedrohte Laube vorzudringen versuchten. Trotz der nächtlichen Stunde zog das Ganze jede Menge Schaulustige an.

Erst bei Anbruch der Dämmerung konnte Entwarnung gegeben werden. Als zwei Feuerwehrleute unter den rauchenden Trümmern nach Glutnestern suchten, stießen sie auf eine verkohlte Leiche. Die Polizei ging davon aus, dass es sich um den 48-jährigen Enoch Zwill handelte. Seine Frau gab an, ihn zuletzt beim Frühstück gesehen zu haben. Danach war sie zur Arbeit gefahren. Berit Zwill war Köchin im ältesten Gasthaus der Insel in Middelhagen. Nach Dienstende war sie in Sellin gewesen, um sich im Kaufhaus Stolz nach einer neuen Hose umzusehen und sonstige Einkäufe zu erledigen. Anschließend hatte sie ihre Tochter aus dem Hort abgeholt und war nach Hause gefahren. Nach dem Abendbrot hatte sie die Kleine zu Bett gebracht und sich hingelegt. Der Tag war anstrengend gewesen und Berit müde. Als sie gegen 21 Uhr aufgestanden war, um sich eine Tablette gegen ihre sich anbahnenden Kopfschmerzen zu holen, war ihr Mann noch nicht zu Hause gewesen. Berit hatte keinen Grund gesehen, sich deshalb Sorgen zu machen. Donnerstags kehrten Enoch und sein Kompagnon Olrik Bruhns meist noch auf ein Bier in den »Lobbster« ein. Die beiden betrieben einen gut gehenden Fahrradladen in Göhren.

Berit war wieder zu Bett gegangen, wo sie bis zum Eintreffen der Feuerwehrleute tief und fest geschlafen hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie begriff, dass sie das ohrenbetäubende Sirenengeheul nicht träumte. Sie war hochgeschreckt und ins Kinderzimmer hinübergelaufen, um nach ihrer Tochter zu sehen. Durch das zur Straßenseite gelegene Schlafzimmer hatten sie nichts von dem Feuer mitbekommen, das im Garten hinter dem Haus wütete. Momentan waren in der Siedlung nur vier Anwesen bewohnt. Alle anderen gehörten zu einer um diese Jahreszeit leer stehenden Ferienwohnanlage. Andernfalls wäre das Feuer sicher schon eher bemerkt und größerer Schaden abgewandt worden.

2

»Wer einmal auf Rügen war, kommt immer wieder.« Es war lange her, dass Henning Lüders diesen Satz gesagt hatte. Damals hatte Leona Pirell ihn dafür belächelt und in Gedanken einen sentimentalen Narren gescholten. Doch inzwischen war viel geschehen, und sie musste ihm recht geben. Überhaupt gab es kaum einen Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Wie aufs Stichwort stand ihr jene Szene vor Augen, in der ihr sein Anwalt eröffnet hatte, dass Henning sie in seinem Testament zu seiner Alleinerbin bestimmt hatte. Leona hatte sich entscheiden müssen: Sollte sie das Erbe annehmen? Die Antwort auf diese Frage hatte sie einige schlaflose Nächte gekostet. Am Ende hatte sie ihre Entscheidung von der Stelle abhängig gemacht, die ihr in der Greifswalder Rechtsmedizin in Aussicht gestellt worden war. Leona hatte sich schon vor dem Erbe dafür beworben, nachdem festgestanden hatte, dass das Institut in Chemnitz, wo sie bislang arbeitete, zum Jahresende geschlossen wurde. Als sie mit Henning über ihre Pläne gesprochen hatte, war er davon angetan gewesen. So angetan, dass er ihr spontan vorgeschlagen hatte, bei ihm zu wohnen. Obwohl Leona sein Angebot zu schätzen gewusst hatte, hatte sie nichts überstürzen wollen.

Immerhin waren es von Lobbe, wo Hennings Haus stand, bis nach Greifswald fast 90 Kilometer. Einmal hin und zurück bedeuteten dreieinhalb bis vier Stunden Fahrzeit. Und das auch nur, wenn es keinen Stau gab. Sollte sie sich das wirklich antun? Doch dann war Henning überraschend gestorben und Leona hatte sich zum Bleiben entschlossen. Vielleicht fand sie in seinem Haus die nötige Ruhe und Distanz für einen Neuanfang.

Obwohl seit dem Tod ihres Lebensgefährten Rüdiger mehrere Jahre ins Land gezogen waren, hatte sie noch immer nicht mit der Vergangenheit abschließen können. Henning hatte zu den wenigen Menschen gehört, denen sie bedingungslos vertraute. Mit ihm hatte sie über Dinge sprechen können, über die sie mit keinem anderen Menschen redete. Leona kannte niemanden sonst, der so gut zuzuhören und Trost zu spenden verstand. Jetzt gab es niemanden mehr, der sie väterlich in den Arm nahm. Auf jene unnachahmliche Art, mit der es Henning gelungen war, ihr alle Zweifel und Ängste zu nehmen. Bei ihm hatte sie sich geborgen gefühlt. Umso größer war die Leere, die sie nach seinem Tod umfing. Statt sich damit auseinanderzusetzen, hatte Leona sich in die Arbeit gestürzt. Es war ihre Art mit Trauer umzugehen. Als Rüdiger an einem Gehirntumor gestorben war, war es auch die Arbeit gewesen, die sie davor bewahrt hatte, den Verstand zu verlieren. Außerdem bot die Insel die idealen Voraussetzungen, um ihr Hobby, das Wandern, wieder aufzunehmen. Fast jedes freie Wochenende schnürte Leona ihre Wanderstiefel und streifte durch die Zicker Alpen. Ab und zu nahm sie Rex mit auf ihre Streifzüge. Der Dackel, den Henning einst von seinem Patenonkel übernommen hatte, lebte seit dessen Tod bei Wilhelm Boström, einem Freund der Familie.

Leona liebte es, sich den Seewind um die Nase wehen zu lassen, und sie war fasziniert von der Weite der Landschaft. Besonders gut gefiel ihr die fantastische Aussicht. Der Lotsenberg in Thiessow mit seinem Turm bot einen beeindruckenden Blick über die Halbinsel Mönchgut und die Boddengewässer, bis hin zu den Inseln Ruden und Oie. Jedes Mal, wenn sie den 36 Meter hohen Aussichtspunkt erklommen hatte, war ihr, als würde sämtlicher Druck von ihrer Seele genommen. Manchmal starrte Leona stundenlang aufs Meer hinaus. So lange, bis sie mit sich und der Welt wieder in Einklang war.

Trotz aller guten Vorsätze zehrte die ständige Pendelei an ihren Kräften. Um dem entgegenzuwirken, beschloss sie sich in Greifswald nach einer Bleibe umzusehen. Auf Anraten ihres Chefs suchte Leona einen Immobilienmakler auf. Es kostete ihn zwar Zeit und Mühe, bis er etwas Passendes fand, doch der Aufwand lohnte sich. Das von ihm vermittelte Zimmer lag in der Brüggstraße, gegenüber der Marienkirche. Von dort aus waren es zu Fuß knapp zehn Minuten bis zur Rechtsmedizin.

Am vergangenen Freitag hatte Leona ihr neues Domizil bezogen und das Wochenende in der Hansestadt verbracht. Jedes Mal, wenn sie von ihrem Fenster aus auf die ziegelroten Dächer der Altstadt sah, musste sie an den Ausblick denken, der sich ihr von der Aussichtsplattform des im Volksmund als langer Nikolaus bekannten Doms dargeboten hatte: an all die Ulmen und Kastanien, die die Greifswalder Altstadt wie ein breites grünes Band umschlossen. Und an die beeindruckende Sicht, die sich ihr von dort oben über den Bodden bis nach Rügen und Usedom erschlossen hatte. Leona hatte über die vielen, in den engen Straßen dicht aneinandergedrängten Giebelhäuser aus der Hansezeit gestaunt. Und über all das Fachwerk und die bunten Barockfassaden, die nach der Wende aufs Feinste saniert worden waren. Genauso wie das Haus in der Langen Straße 57, in dem Caspar David Friedrich einst als Sohn eines Seifensieders und Lichtgießers das Licht der Welt erblickte.

Als Leona am Montagmorgen das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, wehte ein stürmischer Wind, der sie trotz ihrer dick gefütterten Jacke frösteln ließ. Das Institut für Rechtsmedizin befand sich auf dem Gelände des Ernst-Moritz-Arndt-Klinikums. Während Leona in die Friedrich-Loeffler-Straße einbog, atmete sie die salzige Luft in tiefen Zügen ein. Am liebsten hätte sie sich einen Vorrat davon angelegt, um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können. All die Jahre, die sie als Rechtsmedizinerin arbeitete, hatten sie nicht immun gegen den Geruch werden lassen, der sie empfing, wenn sie den Autopsiesaal betrat. Vielleicht sollte sie es wie in den Fernsehkrimis machen und sich Pfefferminzpaste unter die Nase schmieren. Schade, dass dieses sogenannte Wundermittel in der Realität gar nicht funktionierte. In Wahrheit gab es keinen wirksamen Schutz. Aber so war das in ihrem Job. Zimperlich durfte man da nicht sein.

Inzwischen war Leona auf dem Klinikgelände angekommen. Sie überquerte den Innenhof, um zur Kopfseite des wuchtigen Backsteingebäudes zu gelangen, in dem das Institut für Pathologie untergebracht war. Bevor sie es betrat, ließ sie ihren Blick über die Fassade mit ihren unterhalb der Fenster angebrachten Ornamenten wandern. Dem im Stil der italienischen Frührenaissance errichteten Gebäude war anzusehen, dass es vor nicht allzu langer Zeit komplett renoviert worden war. Schwungvoll öffnete Leona die massive Eingangstür. Nachdem sie das Vestibül, das mit einem Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt war, durchquert hatte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Büro. Es befand sich im Kellergeschoss und lag am Ende eines weiß gefliesten Ganges. Eigentlich verdiente der fensterlose Raum die Bezeichnung »Büro« nicht. Ein Schreibtisch und zwei Stühle bildeten das gesamte Mobiliar. Auf dem Fußboden neben dem Heizkörper stapelten sich mehrere Kartons mit Zeitschriften und Büchern. Obwohl Leona den Raum schon vor längerer Zeit bezogen hatte, war sie noch nicht dazu gekommen, sie in das Regal einzusortieren, das hinter ihrem Schreibtisch in die Wand eingelassen worden war. Vielleicht würde sie im Lauf der Woche Zeit finden. Ein lautes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Auf ihr »Herein« stürmte Peer Boström ins Zimmer. Er arbeitete bei der Polizei in Bergen und war ihr über die Jahre zu einem guten Freund geworden. Der frühen Zeit und seiner ernsten Miene nach zu urteilen, musste es um etwas Dienstliches gehen.

Peers Haare waren vom Wind zerzaust, und er sah mitgenommen aus. Einen halben Meter vor Leona stoppte er und stieß erleichtert die Luft aus. »Da bist du ja«, sagte er statt einer Begrüßung. »Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht.« Er neigte den Kopf und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wo bist du gewesen? Ich konnte dich nicht erreichen. Du warst weder zu Hause noch auf Arbeit.« Seine Stimme klang besorgt. Gleichzeitig schwang ein leiser Tadel mit.

Leona sah ihn erstaunt an. »Wieso? Was ist los?«

»Was los ist?« Peer kratzte sich am Kinn. Er wirkte irritiert. »Hast du es denn noch nicht gehört?«

»Was?«

»Na, dass es bei uns in Lobbe gebrannt hat. Das ganze Dorf stand Kopf, kann ich dir sagen. Zuerst dachte ich …«

»Es hat gebrannt?«, unterbrach Leona ihn alarmiert. »Davon hab ich nichts mitbekommen. Bei wem?«

»Bei deinen Nachbarn, den Zwills«, antwortete Peer. Er musterte sie nachdenklich. »Es wundert mich, dass du nichts davon wusstest.«

»Woher sollte ich? Ich war übers Wochenende in Greifswald.« Plötzlich hielt Leona verlegen inne. Schließlich konnte Peer nicht wissen, dass sie sich einen Zweitwohnsitz zugelegt hatte. »Es tut mir leid«, begann sie reumütig, »ich hätte dir sagen sollen, dass ich mir ein Zimmer genommen habe.«

»Du hast was?«, schnaubte Peer aufgebracht. »Ich meine, wieso …?«

»Weil das ständige Hin und Her auf Dauer ganz schön schlaucht.« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, fuhr Leona sich mit einer erschöpften Geste über die Augen. »Ich habe schon seit einiger Zeit mit diesem Gedanken gespielt.«

»Du hättest mir Bescheid sagen können.«

»Wollte ich ja, aber dann …«

»Lass gut sein«, wiegelte Peer ab. »Es geht mich im Grunde genommen nichts an, wo und mit wem du deine Zeit verbringst. Es ist nur, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Immerhin ist bei dem Feuer ein Mensch ums Leben gekommen.«

»Was sagst du da?« Aus Leonas Gesicht war sämtliche Farbe gewichen. »Wer?« Sie ließ sich hinter ihrem von Akten übersäten Schreibtisch nieder und bedeutete Peer, es ihr gleichzutun. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, sahen sie einander schweigend an. Leona wirkte betroffen. Wenn Peers Vermutung stimmte, handelte es sich bei dem Brandopfer um ihren Nachbarn. Leona versuchte, sich an Enoch Zwill zu erinnern, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie hatte die Familie bislang nur ein einziges Mal von ferne zu Gesicht bekommen.

Ein forsches Klopfen ließ sie zusammenzucken. Es war ihr Assistent Kai Mertens. Er war um die 30 und Single. Ein schlaksiger junger Mann mit Nickelbrille und Rastalocken. »Morgen allerseits«, sagte er und drückte Leona eine Akte in die Hand. »Der Chef möchte, dass wir uns als Erstes um das Brandopfer kümmern. Die Leiche ist …«

»Ich hab bereits davon gehört«, platzte Leona in seine Ausführungen.

Kai Mertens rieb sich die Hände. »Na dann mal los. Es ist alles vorbereitet.«

Während Peer den beiden in den Obduktionssaal folgte, musste er an seine erste Begegnung mit Leona denken. Henning Lüders hatte sie miteinander bekannt gemacht. Es war ein heißer Sommertag gewesen. Leona hatte ein bunt geblümtes Sommerkleid getragen, das ihre katzenhaft grünen Augen betont und wunderbar mit ihrem damals noch schulterlangen rötlichen Haar kontrastiert hatte. Sie hatte hinreißend ausgesehen. Noch immer beschleunigte sein Herzschlag sich bei der Erinnerung daran. Zum Glück wusste seine Freundin Marlies nichts von den schwärmerischen Gefühlen, die er für Leona hegte, sonst hätte sie ihm gehörig den Kopf gewaschen. Dabei war ihm von Anfang an klar gewesen, dass Leona unerreichbar für ihn war. Und das nicht nur, weil sie ihn um Kopflänge überragte.

3

Im Laufe der Zeit hatte sich Leona an viele schreckliche Anblicke gewöhnt. Dieser ging ihr trotzdem nahe. Nicht nur, weil die Leiche so übel zugerichtet war.

Routiniert schaltete Leona ihr Diktiergerät ein und begann mit der äußeren Leichenbesichtigung. Die vor ihr liegende Leiche wies schwerste Verbrennungen auf. Arme und Beine waren teilweise ganz verbrannt. Ein Fuß war im Brandschutt gefunden worden und lag neben der Leiche. Die noch vorhandenen Gliedmaßen waren durch die Hitze geschrumpft. Obwohl der Tote im Kühlfach gelegen hatte, verströmte er einen abstoßenden Geruch. Was hätte sie jetzt für eine Brise Seeluft gegeben. Ein kurzer Blick auf Peer zeigte ihr, dass es ihm genauso erging. Ohne sich etwas von ihren Empfindungen anmerken zu lassen, griff Leona nach Abschluss der äußeren Leichenschau zum Skalpell. Sie trug einen grünen Kittel und darüber eine weiße Gummischürze. Ihr rötliches Haar hatte sie unter eine Plastikhaube verbannt. »Auf geht’s!« Mit geschickten Handgriffen machte sie zwei diagonale Schnitte von den mit einer Rußschicht bedeckten Schultern bis zum unteren Ende des Brustbeins. Es folgte ein vertikaler Schnitt über den gesamten Unterleib bis zum Schambein. Der Rumpf war ebenso wie alles andere stark verkohlt. Äußerliche Einzelheiten waren nicht mehr zu erkennen. Leona und ihr Assistent arbeiteten schnell und konzentriert. Kurze Zeit später lagen Brusthöhle und Bauchraum frei. Die Untersuchung des intakten Beckens ergab, dass es sich eindeutig um einen Mann handelte. Die Beschaffenheit des Skeletts und der teilweise noch erkennbaren inneren Organe, insbesondere der Blutgefäße, deutete darauf hin, dass der Tote 40 bis 50 Jahre alt war.

Während Leona sich der Brusthöhle zuwandte, ging sie in Gedanken noch einmal ihr Gespräch mit Peer durch. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was er ihr über den Fall erzählt hatte. Viel war es nicht. Die Polizei ging davon aus, dass es sich bei dem Brandopfer um den 48-jährigen Enoch Zwill aus Lobbe handelte. Um die Identität der Leiche mit letzter Sicherheit zu klären, hatte der Staatsanwalt eine Obduktion angeordnet. Inzwischen hatte Leona die Lunge und den Magen entfernt und untersucht. »Schau mal hier«, sagte sie zu Peer, dessen Gesichtsfarbe einen leichten Grünstich aufwies, und deutete auf die in Bronchien und Magen eingedrungenen Rußpartikel. »Sieht so aus, als sei der Mann noch am Leben gewesen, als das Feuer ausbrach.«

Peer beugte sich ein Stück nach vorn, um Leonas Ausführungen besser folgen zu können. Die von Teer verklebten Flimmerhärchen in den Atemwegen und die Beschaffenheit der Lunge ließen Leona davon ausgehen, dass sie es mit einem starken Raucher zu tun hatte. Erst kürzlich war eine junge Frau bei ihr auf dem Tisch gelandet, weil sie mit brennender Zigarette eingeschlafen war. Die glühende Asche hatte zuerst das Bett und danach die Wohnung in Brand gesetzt. Vielleicht … Plötzlich hielt Leona inne.

»Was ist los?«, erkundigte sich Peer. Wortlos deutete Leona auf eine Stichwunde, auf die sie beim Entfernen des Brustbeins gestoßen war. Sie erstreckte sich entlang der linken Zwischenrippenmuskulatur und dem mit Blut angefüllten Herzbeutel, das infolge der Hitzeeinwirkung geronnen war. Im Gegensatz zu Peer begriff Kai Mertens sofort, was es damit auf sich hatte. Obwohl sie erst seit Kurzem zusammenarbeiteten, kannte Leona den jungen Mann gut genug, um zu wissen, dass ihm kaum etwas entging. Sein prüfender Blick ließ Leona unter ihrem Mundschutz erröten. Zum Glück hatte sie ihre Vermutung, es handele sich um einen Unfalltod, für sich behalten. Man sollte nie voreilige Schlüsse ziehen. Zumindest kannte sie jetzt die wahre Todesursache. »Der Mann ist erstochen worden, bevor er verbrannte«, informierte sie Peer. »Der Tod ist durch eine Herzbeuteltamponade eingetreten.«

Peers hochgezogene Augenbrauen ließen sie hinzufügen: »Was nichts anderes bedeutet, als dass das durch den Stich in den Herzbeutel eingetretene Blut zunächst die Herztätigkeit behinderte und sie am Ende durch die Druckzunahme im Herzbeutel unmöglich machte.« Während Leona das Herz mit ein paar raschen Skalpellschnitten heraustrennte, versuchte sie sich den Tatverlauf vorzustellen. Natürlich war nicht auszuschließen, dass der Mann sich die Stichwunde in selbstmörderischer Absicht zugefügt hatte, nachdem er die Gartenlaube in Brand gesteckt hatte. Vielleicht wollte er auf Nummer sicher gehen. Sie hatte erst kürzlich von einem Fall gelesen, in dem sich ein Mann in aller Öffentlichkeit ein Messer in die Brust gerammt hatte, bevor er sich mit Benzin übergoss und anzündete. Genauso gut konnte der Tote vor ihr aber auch einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sein. In diesem Fall dürfte das Feuer vorsätzlich gelegt worden sein, um die Tat zu vertuschen. Die Vorstellung, dass sich ein solches Verbrechen direkt vor ihrer Haustür abgespielt haben könnte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Leona überlegte, Peer von ihren Gedanken zu erzählen, ließ es dann aber bleiben. Was, wenn sie sich täuschte? Während sie den Stichkanal mit einem Kontrastmittel ausgoss, geisterten ihr Peers Worte durch den Kopf.

»Ich denke, das sollten Sie sich mal anschauen.« Die Stimme ihres Assistenten holte Leona in die Realität zurück. Er stand vor dem Lichtkasten und betrachtete nachdenklich eine Röntgenaufnahme. Sie zeigte die Form der Messerspitze. Nach der Stichverletzung im Herzbeutel zu urteilen, handelte es sich um ein einschneidiges messerähnliches Instrument.

4

Auf dem Heimweg besorgte sich Leona die Ostseezeitung. Der Fall hatte ihr Interesse geweckt. Zudem spukten ihr Peers neue Informationen durch den Kopf. Er hatte sie kurz vor Dienstschluss angerufen, um ihr mitzuteilen, dass am Tatort Spuren eines Brandbeschleunigers gefunden worden waren.