Inselsumpf - Maren Schwarz - E-Book + Hörbuch

Inselsumpf E-Book und Hörbuch

Maren Schwarz

4,0

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Beschreibung

Eine Fremde auf Rügen, ohne jegliche Erinnerungen - auch nicht daran, dass sie kürzlich ein Kind geboren haben muss? Rechtsmedizinerin Leona Pirell macht zufällig Bekanntschaft mit der Frau und stellt Nachforschungen an. Von dem Baby fehlt jede Spur. Ist das Ganze vielleicht nur eine Schutzbehauptung der Fremden, um von einem Verbrechen abzulenken? Nach und nach erkennt Leona, dass viel mehr dahintersteckt, als zunächst angenommen. Sie bekommt es mit einem mächtigen Gegner zu tun, der jeden, der ihm gefährlich wird, zum Schweigen bringt …

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Seitenzahl: 298

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Zeit:7 Std. 47 min

Sprecher:Katja Hirsch
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Maren Schwarz

Inselsumpf

Kriminalroman

Zum Buch

Ohne ein GesternWer ist die Fremde, die fernab ihrer Heimat in einer ihr unbekannten Umgebung aufwacht und sich zunächst an nicht viel mehr als ihren Namen erinnern kann? Stimmt es wirklich, dass sie nicht nur ihr Gedächtnis, sondern auch ihr Kind verloren hat? Oder dient ihr das Ganze nur als Schutzbehauptung, um von einem Verbrechen abzulenken? Als die Fremde durch Zufall die Bekanntschaft der auf Rügen lebenden Rechtsmedizinerin Leona Pirell macht, entwickelt sich rasch eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen, die dazu führt, dass Leona auf eigene Faust zu ermitteln beginnt. Und plötzlich ist sie nicht mehr nur eine Randfigur, sondern wird auf perfide Art und Weise selbst zum Opfer einer Verschwörung, die über Ländergrenzen hinweg bis zu ihrer Haustür führt und selbst vor ihrem Leben nicht Halt macht.

Maren Schwarz, Jahrgang 1964, lebt in einer kleinen Stadt im Vogtland. Ihre Krimireihe um die Rechtsmedizinerin Leona Pirell spielt auf Rügen, die Insel ist die zweite Heimat der Autorin. Neben Kriminalromanen schreibt sie Beiträge für verschiedene Kurzkrimianthologien. »Inselsumpf« ist ihr fünfter Rügen-Krimi im Gmeiner-Verlag. Maren Schwarz ist Mitglied im Syndikat.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Insellüge (2018)

Gesichtsverlust (2016, E-Book Only)

Inselfeuer (2015)

Eisschwestern (2013)

Treibgut (2012)

Zwiespalt (2007)

Maienfrost (2005)

Dämonenspiel (2005)

Grabeskälte (2004)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Dan Kuta / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6276-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Er fuhr den Computer hoch, steckte den Stick in die Buchse und startete die Videodatei. Zuerst die offizielle Version. Die, die seit Tagen in sämtlichen Medien und auf allen Internetplattformen kursierte. Sie zeigte ein in diffuses Licht getauchtes Treppenhaus mit einstmals grau gefliesten Wänden. Sein Blick fiel auf die am unteren Bildrand eingeblendete Uhrzeit. Es war kurz nach Mitternacht. Von ferne hörte man das Einfahren eines Zuges, das Quietschen von Bremsen. Eine Frau erschien in dem von der Überwachungskamera aufgenommenen Bereich. Man konnte sehen, wie sie mit wippendem Pferdeschwanz in Richtung Treppe ging. Dass die Wahl auf sie gefallen war, war purer Zufall. Die Aufnahme zeigte, wie sie die Treppe hinablief. Gefolgt von einer dunkel gekleideten Gestalt; einem Jugendlichen mit Basecap und Springerstiefeln. Kleidung, wie sie Tausende junger Männer trugen. Zu viele, um sie dem einen zuzuordnen, der hier gleich sein Unwesen treiben würde. Ein leichtes Schwanken verriet, dass er unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen stand. Beides Dinge, von denen er abhängig war. Was mit harmlosen Einstiegsdrogen begonnen hatte, hatte sich schnell zu einer handfesten Sucht manifestiert. Dabei hatte er sich nur nach etwas Liebe und Anerkennung gesehnt, die man ihm zu Hause verwehrte. Nicht weil er es nicht wert gewesen wäre, sondern weil seine Eltern zu beschäftigt waren, die Karriereleiter zu erklimmen. Was er brauchte, waren weder Geld noch teure Geschenke, sondern das Gefühl dazuzugehören. Ihm dieses Gefühl mithilfe falscher Freunde zu vermitteln, war ein Leichtes gewesen. Welcher Junge sagte schon nein, wenn ihm der coolste Typ der Schule anbot, Teil seiner Gang zu werden. Auch wenn dies mit einer Mutprobe verbunden war, für die er die Grenzen zur Illegalität überschreiten musste.

Auf dem Video war zu sehen, wie er der Frau in den Rücken trat. Ein Akt roher Gewalt, der wie aus dem Nichts aus ihm herauszubrechen schien. Sie verlor den Halt und stürzte die Treppe hinab. Bevor sie auf dem harten Betonfußboden aufschlug, stoppte der Mann vor dem Bildschirm die Aufnahme und lehnte sich zurück. Anders als bei allen anderen, die dieses inzwischen von der Polizei veröffentlichte Video zu sehen bekommen hatten, war seinem kantigen Gesicht mit den eisgrauen Augen nicht die geringste Gefühlsregung anzumerken.

Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Wenn es nach ihm ginge, hätte der Aufschrei nicht groß genug sein können. Um den Fall so schnell wie möglich aufzuklären, hatte die Polizei eine Belohnung für Hinweise auf den Täter ausgesetzt. Nur dass das nichts bringen würde. Denn abgesehen von ein paar harmlosen Spinnern hatte sich bis jetzt kein einziger brauchbarer Zeuge gemeldet. Und er rechnete auch nicht damit, dass sich daran etwas ändern würde. Dabei gab es durchaus einen Zeugen. Jemanden, der die Tat gefilmt hatte. Aus einem Blickwinkel, der nicht nur Täter und Opfer zeigte, sondern sogar die Gesichter der beiden. Um sich davon zu überzeugen, startete er die inoffizielle Version. Eine Version, die mit Sicherheit nicht dafür bestimmt war, die Polizei bei der Suche nach dem Täter zu unterstützen.

1

Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, konnte sie sich zunächst an nichts erinnern. Sie wusste weder, wo sie sich befand, noch, was passiert war. Ihr Hirn fühlte sich wie ein mit Watte gefüllter Kokon an, und sie hatte einen schalen Geschmack im Mund. Vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite. Sie lag in einem Bett, das in einem niedrigen Raum mit windschiefen Wänden stand. Von irgendwoher drang das Prasseln eines Holzfeuers an ihr Ohr. Sie versuchte, sich aufzurichten, war aber zu schwach, um sich an der Bettkante hochzustemmen. Schon auf halber Höhe begann das Zimmer, sich vor ihren Augen zu drehen. Schneller und immer schneller. Das Letzte, was sie bewusst wahrnahm, waren zwei Hände, die sie festhielten, und eine Stimme, die in einer ihr unbekannten Sprache beruhigend auf sie einredete.

Als sie wieder zu sich kam, war es draußen bereits dunkel. Sie schnupperte. Es roch nach Hühnersuppe und Schweiß. Ihr ganzes Nachthemd war davon durchtränkt. Ihr Körper glühte, als würde er innerlich verbrennen. Ihr fiebriger Blick irrte durch den Raum und blieb am Herd haften, in dem ein offenes Feuer brannte. Die umgebenden Wände waren von Ruß geschwärzt. Ein leises Stöhnen drang über ihre Lippen. Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich wie ein ausgetrocknetes Flussbett an. »Wasser«, das Wort verdunstete auf ihren aufgesprungenen Lippen. Sie kam sich wie in einem Albtraum vor, in dem man an einem fremden Ort, in einem fremden Bett erwachte und sich nicht erklären konnte, wie man dort hingelangt war. Doch das hier war kein Traum, auch wenn es sich so anfühlte. Denk nach, zwang sie sich, die gähnende Leere in ihrem Kopf mit Bildern zu füllen. Was war passiert? Sie lauschte in sich hinein. Das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war ein Name. Ihr Name. Du heißt Asja, Asja Teutsch, wisperte ihr ein hauchdünnes Stimmchen ins Ohr. Die beiden Worte waren wie ein Strohhalm, an den sie sich voller Verzweiflung klammerte. Während sie nach weiteren Hinweisen suchte, legte sich eine kühle Hand auf ihre Stirn. Sie gehörte einer alten Frau. Das runzlige Gesicht, das unter einem geblümten Kopftuch hervorschaute, erinnerte Asja an eine Bäuerin aus längst vergangenen Zeiten. Die Alte versuchte, ihr ein wenig Hühnerbrühe einzuflößen, und schenkte ihr dabei ein besorgtes Lächeln, das einen fast zahnlosen Mund entblößte. Asja wollte etwas sagen, sich bei ihr bedanken. Doch bevor sie dazu kam, wurde es erneut schwarz um sie herum.

Als sie das nächste Mal erwachte, war es bereits später Nachmittag. Sie erkannte es an dem blasser werdenden Licht. Ihre Brüste spannten und von ihrem Unterleib ging ein unangenehmes Ziehen aus: Wie eine Welle, die sich meterhoch aufbaute, nur um gleich zu verebben. Asja spürte, wie sich Panik in ihr breitmachte. Dabei war es weniger der Schmerz, der ihr zusetzte. Sie fühlte sich, als wäre etwas in ihr zerbrochen, herausgerissen aus einem lediglich von Sehnen und Muskeln zusammengehaltenen Leib. Sie weigerte sich, den Gedanken weiterzuspinnen. Sicher war sie einfach überreizt. Sie hob die Hand, um eine feuchte Haarsträhne aus ihrem verschwitzen Gesicht zu streichen. Obwohl sie noch immer fieberte, fühlte ihre Stirn sich nicht mehr ganz so heiß an, und sie konnte wieder halbwegs klar denken. Asja schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Daran, wer sie war. Diesmal gelang es ihr, das verschwommene Bild festzuhalten, das aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins an die Oberfläche drängte. Das Bild eines kleinen Mädchens mit langen braunen Zöpfen. Sie hörte sein unbeschwertes Lachen. Ihr Lachen. Und mit einem Mal verspürte sie einen heftigen Schmerz in ihrer Brust, und ihre Augen begannen zu brennen.

Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Als der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos über die Decke wanderte, fielen Asja ihre Eltern ein. Sie versuchte sich ihre Gesichter vorzustellen, ihre Stimmen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Stattdessen sah sie sich plötzlich übergangslos in einem Zimmer mit einer Wiege stehen. An den sonnengelb gestrichenen Wänden hingen farbenfrohe Bilder mit Szenen aus Walt Disneys Bambi. Weiße Baumwollgardinen bauschten sich im Wind, und durch das offen stehende Fenster wehte der Duft von Flieder und frisch gemähtem Gras. Ihr Blick fiel auf einen knorrigen Apfelbaum, an dem eine Schaukel hin und her schwang, so, als habe gerade jemand darauf gesessen. Mit einem Mal verdunkelte sich der Himmel, und Sturm kam auf. Sie wollte das Fenster schließen, doch ein Windstoß riss es ihr aus der Hand und fegte durch das eben noch friedlich wirkende Kinderzimmer, dem plötzlich etwas Unheilvolles anhaftete. Sie sah in den an der Wand hängenden Spiegel, in dem sich schemenhaft die Umrisse einer Gestalt abzeichneten. Wer bist du? Bevor sie die Frage aussprechen konnte, flammte hinter ihren geschlossenen Lidern ein greller Lichtblitz auf und ließ sie in eine gnädige Ohnmacht abtauchen.

Obwohl Asja unter der aufopferungsvollen Pflege der alten Frau körperlich rasch genas, litt sie noch immer an Amnesie. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und war die meiste Zeit in einer tiefen Traurigkeit gefangen, deren Ursprung sie nicht benennen konnte. Ihr Leben schien sich nur auf Essen und Trinken sowie die dazwischenliegenden Wach- und Schlafphasen zu beschränken. Inzwischen konnte sie das Bett kurz verlassen. Doch schon der Gang zu der am anderen Ende des Hofes gelegenen Toilette strengte sie derart an, dass ihr Körper danach in Schweiß gebadet war. Zwar konnte sie sich mittlerweile wieder an verschiedene Dinge erinnern, aber sie wusste immer noch nicht, was passiert und wie sie hierhergekommen war. Jedes Mal, wenn sie die Sprache auf dieses Thema lenkte, zuckte die alte Frau, von der sie inzwischen wusste, dass sie Anatevka hieß, bedauernd mit den Schultern. Fast, als könne sie sich selbst nicht erklären, auf welchem Weg Asja in ihr Haus und damit in ihr Leben gelangt war. Doch Asja wurde nicht müde, nach der Wahrheit zu suchen. Auch wenn Anatevka ihr in dieser Hinsicht keine große Hilfe war. Mitunter beschlich Asja das Gefühl, sie gab sich absichtlich wortkarg, weil sie etwas vor ihr zu verbergen versuchte. Asja waren die teils sorgenvollen, teils mitleidigen Blicke aufgefallen, die Anatevka ihr immer dann zuwarf, wenn sie sich unbeobachtet zu fühlen schien. Wenn sie doch einmal etwas sagte, dann in einer Sprache, die Russisch ähnelte, was Asja während ihrer Schulzeit gelernt hatte.

Vor ein paar Tagen hatte Anatevka eine zerfledderte Landkarte vor ihr auf dem Küchentisch ausgebreitet und auf einen winzigen Ort gedeutet. Er lag südwestlich von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, und trug einen so unaussprechlichen Namen, dass Asja ihn gleich wieder vergessen hatte. Nun wusste sie zwar, wo sie sich befand, aber nicht, wie sie hierhergekommen war. Ganz zu schweigen davon, wie und wo sich ihr Leben in den letzten Jahren abgespielt hatte. Sie war überzeugt, dass sie ihre Kindheit und Jugend im Ostteil des mittlerweile wiedervereinten Deutschlands verbracht hatte. Trotz aller Erinnerungslücken stand ihr der Tag der Maueröffnung deutlich vor Augen. Sie hatte zwar erst am nächsten Morgen aus dem Radio davon erfahren, doch die Bilder der jubelnden Menschenmassen, die sie später im Fernsehen gesehen hatte, hatten sich ihr unauslöschlich eingebrannt.

Asja fragte sich, wie viel Zeit seither vergangen sein mochte. Wie lange sie überhaupt schon auf dieser Welt weilte. Erstaunlicherweise hatte sie diesmal kein Problem damit, sich an ihr Geburtsdatum zu erinnern. Es war der 3. Juli 1972, was wiederum bedeutete, dass sie inzwischen 46 Jahre alt war, von denen weit über die Hälfte noch immer im Dunklen lagen.

Plötzlich musste sie an ihre Heimatstadt denken. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie ihre alte Schule und das am Stadtrand von Plauen gelegene Reihenhaus vor sich sehen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Der hinter dem Haus gelegene Garten grenzte an ein Weizenfeld, das im Sommer von Wiesenblumen gesäumt wurde. Leuchtend roter Klatschmohn, gepaart mit Margeriten und Mohnblumen, zwischen denen sich Schmetterlinge und Bienen tummelten: unbeschwert und scheinbar ziellos in ihren Bewegungen. In ihrer Erinnerung sah Asja sich mit Bleistift und Skizzenbuch am Feldrand sitzen. Das Malen ging ihr leicht von der Hand, egal ob mit Bleistift oder Pinsel. Sie verstand es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und konnte stundenlang an einem winzigen Detail feilen. Während sie an die dabei entstandenen Bilder zurückdachte, erschien für den Bruchteil einer Sekunde eine von grellem Sonnenlicht überflutete Teeplantage vor ihrem inneren Auge, deren sanft abfallende Hänge von einem Bambuswäldchen begrenzt wurden. Obwohl der Moment zu kurz war, um Einzelheiten zu erkennen, spürte Asja, dass dieser Ort eine besondere Bedeutung für sie besaß. Bei dem Versuch, das Bild erneut heraufzubeschwören, befielen sie quälende Kopfschmerzen, die keinen klaren Gedanken mehr zuließen. Fast, als würde etwas tief in ihr die Erinnerung mit aller Gewalt zurückhalten. Dabei hätte Asja nur zu gerne gewusst, wie es dem Mädchen von einst in seinem weiteren Leben ergangen war. Dem Mädchen mit den langen braunen Zöpfen, das nach allem, was sie bislang über sein und damit ihr Leben herausgefunden hatte, eine unbeschwerte Kindheit hatte verleben dürfen. Die wenigen Momente, in denen es ihr gelungen war, einen Blick auf die Zeit danach zu werfen, bestanden aus flüchtigen Schnappschüssen. Sie ließen sich weder festhalten noch zuordnen, sondern hatten schon im Moment ihres Entstehens begonnen, wie ein konturloses Gemälde zu verblassen.

Mit einem leisen Seufzer erhob sich Asja von ihrem Lager und trat ans Fenster. Als sie das erste Mal neben der offenen Feuerstelle erwacht war, hatte draußen tiefster Winter geherrscht. Sie hatte es an den verschneiten Birken erkannt, die durch das Fenster zu sehen gewesen waren. Inzwischen war der Schnee einem Gemisch aus Regen und Einheitsgrau gewichen. Der neben der Tür hängende Kalender verriet Asja, dass es bereits auf Ende März zuging, und erinnerte sie daran, dass sie nicht ewig hierbleiben konnte. An diesem Ort, der aufgrund seiner einsamen und abgeschiedenen Lage fast wie nicht von dieser Welt zu sein schien. Asja hatte keine Ahnung, wie weit es bis zur nächsten Ansiedlung war. So weit das Auge reichte, gab es nur Wiesen und Wälder, durch die sich eine verschlungene Landstraße wand, auf die sich selten ein Auto verirrte.

Inmitten dieser Einöde stand Anatevkas Haus. Wobei »Haus« kaum die passende Bezeichnung war. Das Gebäude glich vielmehr einer windschiefen Hütte, durch deren Ritzen der Wind pfiff und dessen von Moos und Flechten überzogenes Dach nur wie durch ein Wunder nicht zusammenbrach. Immerhin kam ab und zu der nächstgelegene Nachbar vorbei, um sie mit Lebensmitteln zu versorgen und nach dem Rechten zu sehen. Er schien Anatevkas einzige Verbindung zur Außenwelt zu sein. Abgesehen davon ließ sich niemand blicken. Weder Kinder noch Angehörige. Kein Wunder, dass Anatevka bei diesem Einsiedlerleben von der Zeit überholt worden war. Ihr Haus verfügte weder über fließendes Wasser noch über eine Heizung, von Fernseher und Radio ganz zu schweigen. Nichts, was Asja einen Anhaltspunkt für das, was ihr widerfahren war, hätte liefern können. Vielleicht gab es da draußen jemanden, der nach ihr suchte und sich um sie sorgte. Das würde sie jedoch niemals erfahren, wenn sie sich weiterhin in dieser Einöde verkroch. Während sie darüber nachdachte, nahm in ihrem Kopf allmählich ein Plan Gestalt an. Sie hatte vor, sich ins nächste Dorf und von dort aus weiter bis nach Deutschland durchzuschlagen. Auch wenn sie nicht wusste, wie sie das ohne Geld und Papiere anstellen sollte.

2

Asja konnte sich nur verschwommen an die hinter ihr liegende Odyssee erinnern. Sie wusste lediglich, dass Kälte und Hunger ihr ständiger Begleiter gewesen waren. Daran hatten auch das Bündel mit warmer Kleidung und der Proviant, den Anatevka ihr beim Abschied mitgegeben hatte, nichts ändern können. Sie hatte unter Brücken geschlafen und war vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig gewesen. Erst vor einer Stunde war sie in Plauen angekommen. Ein Lkw-Fahrer hatte sie die letzten paar Kilometer mitgenommen. Sie wusste selbst, dass sie keinen schönen Anblick bot: Eine abgerissene Gestalt, die aussah, als sei sie dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Durchgefroren und ausgehungert strich Asja durch die Straßen ihrer einstigen Heimatstadt und fragte sich, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Wie würden ihre Eltern, an die sie sich nur dunkel erinnerte, reagieren? Würden sie sie wegstoßen oder liebevoll in die Arme schließen?

Als sie ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe eines Supermarktes erblickte, wich sie erschrocken vor der zerlumpten Gestalt zurück, die ihr daraus entgegenstarrte. Asja war groß und immer schon schlank gewesen, inzwischen jedoch wirkte sie schmal und ausgezehrt. Kein Wunder, dass der Anblick der mit Lebensmitteln gefüllten Regale sie fast um den Verstand brachte. Abgesehen von ein paar Keksen hatte sie seit Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen. Ihr knurrender Magen ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Nur noch ein Stück die Straße entlang und dann nach links abbiegen.

Obwohl die Gegend ihr Aussehen verändert hatte, erschienen die Vorgärten und Häuser Asja noch immer seltsam vertraut. Als wäre sie gestern erst hier vorbeigegangen. Wenig später stand sie vor ihrem Elternhaus. Den Weg dorthin hatte sie intuitiv gefunden, und auch die Erinnerung an ihren Heimatort war mehr und mehr zurückgekehrt. Ein pfirsichfarbener Anstrich hatte das triste Grau des Gebäudes ersetzt und ließ es viel freundlicher und einladender wirken. Trotzdem brauchte Asja eine Weile, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Zumal sich die Veränderungen nicht nur auf das Haus, sondern zudem auf das Grundstück erstreckten. Dort, wo einst Obstbäume und Ziersträucher gewachsen waren, befand sich nun ein überdachter Carport. Auch die Nachbarhäuser hatten sich verändert. Das einstmals dominierende Grau war fast vollständig gewichen und hatte schillernden Fassaden Platz gemacht. Asja nahm sich einen Moment Zeit, um all die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Dann gab sie sich einen Ruck und drückte auf den in der Gartenmauer eingelassenen Klingelknopf. Es war der gleiche wie damals. Nur der Name darunter war ihr fremd. Bevor Asja sich einen Reim darauf machen konnte, hielt hinter ihr ein beigefarbener Volvo, dem eine junge dunkelhaarige Frau entstieg, die südländisch wirkte. »Wollen Sie zu mir?«

Asja, der sich der Sinn ihrer Worte zunächst nicht zu erschließen schien, schüttelte den Kopf.

»Und warum stehen Sie dann vor unserem Haus?« In die Stimme der Frau hatte sich eine unüberhörbare Schärfe gemischt.

Das musste Asja erst einmal sacken lassen. »Ihr Haus?«, stieß sie ungläubig hervor. »Das soll wohl ein Witz sein?«

Statt etwas darauf zu erwidern, musterte die Frau sie nachdenklich. »Was dachten Sie denn, wer hier wohnt?«

Asja schluckte. »Meine Eltern.«

»Haben die auch einen Namen?«

»Teutsch«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Anton und Elisabeth Teutsch.«

Auf der Stirn der jungen Frau hatte sich eine steile Falte gebildet. »Tut mir leid, aber das sagt mir nicht das Geringste.« Als sie Asjas enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie hinzu: »Wir haben das Haus vor etwas mehr als drei Jahren über einen Makler erworben. Soweit ich weiß, stand es davor geraume Zeit leer.«

Um Fassung ringend, presste Asja die Hand vor den Mund und taumelte gegen die Gartenmauer. Für einen Moment war nur das Rauschen des Windes zu hören.

»Ich würde Ihnen wirklich gerne behilflich sein«, brach die junge Frau schließlich das Schweigen. »Wenn Sie möchten, suche ich Ihnen den Namen des Maklers aus dem Kaufvertrag heraus«, schlug sie vor. »Vielleicht kann er Ihnen ja weiterhelfen.«

Kurz stahl sich ein Lächeln auf Asjas verhärmtes Gesicht. »Das wäre wirklich nett.«

»Kein Problem. Mein Name ist übrigens Krüger. Merle Krüger«, fügte sie hinzu, bereits im Gehen begriffen.

»Asja Teutsch«, erwiderte Asja scheu und folgte ihr durch den Vorgarten bis an die Haustür. Dort angekommen bat Merle Krüger sie, sich einen Moment zu gedulden. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie, bevor sie nach drinnen verschwand, um die Unterlagen herauszusuchen.

Der Makler, durch den der Hauskauf zustande gekommen war, hieß Lutz Leonhardt. Das daraufhin von Merle Krüger mit ihm geführte Telefonat bestätigte, dass es sich bei den Vorbesitzern des Hauses tatsächlich um das Ehepaar Teutsch handelte. Leonhardts Worten zufolge hatte ihn der Ehemann mit dem Verkauf der Immobilie beauftragt, die bis zu diesem Zeitpunkt noch von ihm und seiner Frau bewohnt worden war. Nachdem er das Geschäft abgewickelt hatte, war der Kontakt abgebrochen. Ihm lag keine Telefonnummer oder Anschrift vor, unter der man die Teutschs hätte erreichen können.

Als Asja nach dieser deprimierenden Auskunft kurz darauf wieder auf der Straße stand, war es bereits später Nachmittag. Sie wusste weder, wohin sie gehen, geschweige denn an wen sie sich wenden sollte. Hinzukam, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie war völlig übermüdet und sehnte sich nach einer warmen Mahlzeit und einem Bett für die Nacht. Nachdem sie eine Weile durch die Gegend geirrt war, fand sie sich plötzlich ein paar Seitenstraßen weiter vor dem Haus ihrer früheren Freundin Irene Kaßner wieder. Mit ihr hatte sie den Kindergarten besucht und danach die Schulbank gedrückt. Allerdings war das schon Ewigkeiten her, und die Wahrscheinlichkeit groß, dass Irene inzwischen längst woanders wohnte. Dennoch beschloss Asja, ihr Glück zu versuchen. Sie war inzwischen derart verzweifelt, dass sie selbst nach dem dünnsten Strohhalm gegriffen hätte. Während sie die Namen neben den Klingelschildern las, öffnete sich die Haustür. Asja sah sich einer älteren grauhaarigen Frau mit Kittelschürze und Filzpantoffeln gegenüber, die einen prall gefüllten Müllbeutel in der Hand hielt und sie im Vorbeigehen misstrauisch beäugte. Asja vermutete, dass sie sie angesichts ihres verwahrlosten Zustandes für eine Landstreicherin hielt, was in gewisser Weise ja auch zutraf. Es vergingen keine zwei Minuten, bis die Frau ihren Müll in der Tonne hinter dem Haus entsorgt hatte und zurückkam. »Kann ich Ihnen helfen?«

Als ihre Blicke sich trafen, kam es Asja vor, als hätte sie die Frau schon einmal gesehen. »Ich bin auf der Suche nach Irene Kaßner.«

Ihre Antwort veranlasste ihr Gegenüber, sie einer genauen Musterung zu unterziehen. »Da muss ich Sie leider enttäuschen. Irene wohnt seit Langem nicht mehr hier.«

»Und ihre Eltern?« Asja hatte die Frage kaum ausgesprochen, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. »Frau Kaßner?«

Ein Nicken bestätigte ihre Vermutung. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe«, entschuldigte sie sich. »Mein Name ist Asja. Asja Teutsch. Vielleicht können Sie sich ja an mich erinnern. Ich …«

»Asja«, rief die Frau erstaunt aus. »Natürlich!« Es entstand eine längere Pause. »Du siehst aber schmal und blass aus, Mädel.« Aus ihren Worten sprach mütterliche Besorgnis. »Geht es dir nicht gut?«

Statt zu antworten, sackten Asjas Schultern nach unten und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mitfühlend legte ihr Frau Kaßner die Hand auf den Arm. »Willst du nicht reinkommen?«

Asja, die eine bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen fühlte, schaffte es mit letzter Kraft, ihr die Treppe hinauf zu folgen. In der Wohnung angekommen, ließ sie sich völlig erschöpft in den ihr zugewiesenen Sessel fallen und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand ein Teller mit belegten Broten und ein Glas Orangensaft vor ihr auf dem Couchtisch. »Du siehst aus, als könntest du eine kleine Stärkung vertragen«, ermunterte Irenes Mutter sie, es sich schmecken zu lassen.

Das ließ Asja sich nicht zweimal sagen. Nachdem sie sich gestärkt hatte, brachte sie die Sprache auf das Thema, das ihr schon die ganze Zeit über auf der Seele brannte. »Ich bin auf der Suche nach meinen Eltern.«

»Nach deinen Eltern?«, vergewisserte Frau Kaßner sich ungläubig. »Ist es dafür nicht ein bisschen zu spät?«

Asja hatte keine Ahnung, wovon ihr Gegenüber sprach. »Wieso zu spät?«

Frau Kaßner wand sich unbehaglich. »Hat man dich denn nicht informiert?«, wich sie einer klaren Antwort aus.

»Worüber?«

Statt etwas zu erwidern, senkte Frau Kaßner den Kopf und zupfte sich einen imaginären Fussel von ihrer Kittelschürze. »Darüber, dass sie verstorben sind«, sagte sie schließlich. Asja erbleichte. »Verstorben?«, entfuhr es ihr. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Frau Kaßner wirkte ehrlich betroffen. »Ich hätte nicht gedacht, dass dich das so mitnimmt. Nicht nach dem, was du ihnen angetan hast.«

»Was ich ihnen angetan habe?«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich auf Frau Kaßners Gesicht hektische rote Flecken auszubreiten begannen. »Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, was damals geschehen ist?«

Asja sah sie verstört an.

»Du hast deinen Eltern das Herz gebrochen«, sagte Frau Kaßner knapp. »Vor allem deiner Mutter. Sie ist nie darüber hinweggekommen, dass du …«

»Das ich was?«

Ihre Ahnungslosigkeit schien Frau Kaßner zu irritieren. »Weißt du das denn wirklich nicht mehr?«

»Wirklich nicht!«, beteuerte Asja.

Frau Kaßner musterte sie mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Ich spreche von dem Zerwürfnis zwischen dir und deinen Eltern.« Sie schien sich zu bemühen, nicht zu vorwurfsvoll zu klingen. »Davon, dass du ihnen von heute auf morgen den Rücken gekehrt hast und sie danach jahrelang kein einziges Lebenszeichen von dir erhalten haben.«

Nun war es heraus, das Ungeheuerliche in Worte gefasst. Asja starrte sie mit offenem Mund an. Sie hatte nicht den geringsten Schimmer, wovon ihr Gegenüber sprach. Um besser nachdenken zu können, schloss sie die Augen, doch das Chaos in ihrem Kopf ließ keinen klaren Gedanken zu. Als würde irgendetwas tief in ihr die Erinnerung mit aller Gewalt zurückhalten. Mit einem resignierten Seufzer hob Asja die Hände und rieb sich ihre schmerzenden Schläfen.

»Du musst dir das nicht so zu Herzen nehmen«, versuchte Frau Kaßner, ihre Worte zu relativieren. »Ich meine, wir alle machen Fehler.«

Langsam hob Asja den Blick und sah sie an. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Ihre Antwort ließ Irenes Mutter nach Luft schnappen. Asja spürte genau, was hinter ihrer Stirn vor sich ging.

»Sie glauben mir nicht, wie? Sie denken, ich spiele Ihnen etwas vor. Vielleicht um Ihr Mitleid zu erwecken. Aber das stimmt nicht«, beteuerte sie händeringend. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Wie an so vieles aus meinem Leben.«

Bevor ihr Gegenüber ablehnend reagieren konnte, bat Asja, sie nicht vorschnell zu verurteilen, sondern sich erst einmal ihre Geschichte anzuhören. »Vielleicht ändern Sie danach ja Ihre Meinung.«

»Da bin ich aber mal gespannt«, sagte Frau Kaßner und lehnte sich erwartungsvoll zurück.

Ihre Worte veranlassten Asja, tief durchzuatmen und die Augen zu schließen. Im selben Moment verselbstständigten sich ihre Gedanken, und sie befand sich wieder in Anatevkas bescheidener Hütte. »Es war im letzten Winter«, begann sie ihren Bericht, »als ich in einem fremden Bett aufgewacht bin, ohne zu wissen, wo ich mich befand oder was passiert war. Das Einzige, woran ich mich erinnern konnte, war mein Name.«

Asjas flackernder Blick zeigte deutlich, wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Dennoch wirkte es sich positiv auf ihre Psyche aus, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Den Albtraum, in den sich ihr Leben verwandelt hatte, in Worte zu fassen. Nachdem sie geendet hatte, war es lange Zeit still.

»Ich lass dir jetzt erst mal ein Bad ein«, sagte Frau Kaßner, darum bemüht, sich ihre Erschütterung nicht anmerken zu lassen. »Danach kannst du dich in Irenes Zimmer ausschlafen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Asja fühlte sich unglaublich erleichtert.

»Schon gut«, wehrte Frau Kaßner bescheiden ab und stand auf.

Sie war schon auf dem Weg zur Tür, als Asjas Stimme sie innehalten ließ. »Ich würde Sie gerne noch etwas fragen.«

»Was denn?«

»Sie sprachen von einem Zerwürfnis«, begann Asja zögerlich. »Davon, dass ich meinen Eltern den Rücken gekehrt habe.«

Frau Kaßner nickte. »Ich kann mir vorstellen, dass dich das belastet.«

»Dann können Sie sich sicher auch vorstellen, dass ich wissen möchte, wie es dazu kam.«

»Natürlich.« Irenes Mutter musterte sie nachdenklich. »Allerdings erscheint es mir wenig ratsam, dich in deiner momentanen Verfassung damit zu konfrontieren. Schlaf dich lieber erst mal aus. Morgen …«

»Ich will es aber jetzt wissen«, beharrte Asja.

»Also gut«, gab Frau Kaßner sich geschlagen und ging zu ihrem Platz zurück. »Aber sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, unternahm sie einen letzten Versuch, sie davon abzuhalten.

»Keine Sorge. Ich hab schon so viel durchgestanden, da steh ich das auch noch durch.«

»Das Zerwürfnis, von dem ich sprach, begann mit einer Reise«, eröffnete Irenes Mutter ihr mit sichtlichem Unbehagen.

»Mit einer Reise?«

Frau Kaßner nickte. »Du bist ans Schwarze Meer geflogen. Nach Kobuleti«, rief sie ihr ins Gedächtnis. »Die Reise wurde dir von deiner Berufsschule aufgrund deiner guten schulischen Leistungen bezahlt. Du hast damals eine Ausbildung zur Fremdsprachenassistentin gemacht.«

Asjas Gedanken überschlugen sich. Das soeben Gehörte kam ihr sehr vertraut vor, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, jemals in Kobuleti gewesen zu sein. »Wobei die Reise nur der Auslöser war«, brachte Irenes Mutter die Sprache auf das eigentliche Thema zurück.

»Was soll das heißen?«

»Dass du einen jungen Mann kennengelernt hast.« Sie hielt kurz inne. »Einen Schwerttänzer, soviel ich weiß.«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte das Bild eines dunkelhaarigen Jungen in Asjas Gedanken auf. Ein Junge, der sie mit seinen dunklen Augen und seinen Tanzkünsten verzaubert hatte. Selbst nach all der vergangenen Zeit konnte Asja noch immer die ungestüme Leidenschaft spüren, die er und das mit ihm auf der Bühne stehende Ensemble versprüht hatten. Es waren ungewohnte Klänge und wilde Rhythmen gewesen, zu denen die Tänzer ihre Schwerter in scheinbar müheloser Eleganz gekreuzt hatten. Das dabei vorgelegte Tempo war so atemberaubend gewesen, dass ihr allein vom Zusehen schwindlig geworden war. Kein Wunder, dass der Applaus am Ende der Vorstellung kein Ende hatte nehmen wollen. Kurz darauf war Asja dem jungen Mann an der Hotelbar begegnet. Als sie versuchte, sich sein Bild erneut ins Gedächtnis zu rufen, flammte hinter ihren Lidern ein greller Lichtblitz auf. Asja verzog das Gesicht und presste die Hände gegen die Schläfen.

»Ist dir nicht gut?«, erkundigte Irenes Mutter sich besorgt.

»Es geht schon wieder«, wiegelte Asja ab, bevor sie sich danach erkundigte, wie es weiterging.

»Kannst du dir das denn nicht denken?«

Auf einmal verspürte Asja eine Wehmut und einen Schmerz, dass sie kaum noch Atmen konnte. »Wir haben uns ineinander verliebt?«

Ein Nicken bestätigte ihre Vermutung. »Zuerst dachten deine Eltern, es sei ein harmloser Urlaubsflirt. Doch als sie begriffen, wie ernst es dir damit war, ist für sie eine Welt zusammengebrochen. Vor allem für deinen Vater.«

Asja versuchte vergeblich, sich zu erinnern. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass er alles Menschenmögliche unternommen hat, um dich zur Vernunft zu bringen.«

»Aber weshalb? Ich meine …«

»Weil er nicht wollte, dass du dich mit einem Russen einlässt.«

»Dass ich mich mit einem Russen einlasse?«, wiederholte Asja verständnislos.

»Dazu muss man wohl die Vorgeschichte deines Vaters kennen«, räumte Frau Kaßner ein. »Er war ein Kriegskind, kam 1939 in Ostpreußen zur Welt, von wo er und seine Familie, wie so viele andere, nach dem Ende des Krieges vertrieben wurden. Von deiner Mutter weiß ich, dass er zusammen mit seiner Mutter und deren Vater in die Nähe von Dresden geflüchtet ist, wo sie sich in der damaligen sowjetischen Besatzungszone eine neue Existenz aufbauen wollten.«

Aus ihren weiteren Worten ging hervor, dass ihnen das anfangs auch geglückt war. »Sie fanden Unterschlupf auf einem Bauerngut.« Plötzlich wirkte Irenes Mutter verlegen.

»Warum sprechen Sie nicht weiter?«, drängte Asja, der das Zögern nicht entgangen war.

»Weil es mir schwerfällt, darüber zu reden. Über das, was danach geschah«, gestand sie. »Ein Trupp russischer Soldaten ist eines Tages bei der Familie deines Vaters aufgetaucht. Sie haben deine Großmutter vergewaltigt.« Frau Kaßner schluckte. »Als ihr Vater ihr zu Hilfe eilen wollte, zwangen sie ihn, sein eigenes Grab zu schaufeln, und erschossen ihn vor ihren Augen. Das alles hat dein Vater, der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal sechs Jahre alt war, aus einem Versteck heraus beobachtet, und es hat ihn sein ganzes Leben nicht mehr losgelassen. Zumal seine Mutter darüber den Verstand verlor und sich das Leben nahm. Nach ihrem Tod kam dein Vater in eine Pflegefamilie.« Sie suchte Asjas Blick. »Vielleicht verstehst du nun, weshalb dein Vater sich so vehement gegen eure Beziehung gewehrt hat. Er konnte einfach nicht vergessen, welches Leid die russischen Soldaten über ihn und seine Familie gebracht hatten. Ein Leid, für das viele von ihnen bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.« Irenes Mutter hatte sich in Rage geredet. Asja merkte ihr an, wie sehr ihr das Thema unter die Haut ging. »Schätzungen zufolge«, unterstrich sie die Brisanz, »wurden allein in Berlin zwischen Frühsommer und Herbst 1945 mindestens 110.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt. Das entspricht etwa sieben Prozent der weiblichen Bevölkerung.« Asja war zu keinem klaren Gedanken fähig und froh darüber, dass Frau Kaßner ihr etwas Zeit ließ, diese Information zu verarbeiten.

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte sie schließlich.

»Weil ich mich beruflich lange und intensiv mit diesem Thema beschäftigt habe«, erwiderte Irenes Mutter. »Fundierte Berechnungen kommen, wenn man die Vorfälle in der gesamten sowjetischen Besatzungszone, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie alles, was sich während der Flucht und der Vertreibung zutrug, zusammenrechnet, auf fast zwei Millionen Leidtragende«, fügte sie hinzu. »Wobei sich über das genaue Ausmaß dieser Gewalt bis heute nur spekulieren lässt. Viele der betroffenen Frauen und Mädchen haben das Geschehene so lange wie möglich verheimlicht. Hilfe für die betroffenen Frauen gab es so gut wie nirgends – auch nicht, wenn sie schwanger waren.«

»Warum?«, drängte Asja sie, mit ihrem Bericht fortzufahren.

»Weil sie sich schämten«, entgegnete Frau Kaßner schlicht. »Und weil sie sich schuldig fühlten.«

Bevor Asja etwas erwidern konnte, gab Frau Kaßner zu bedenken, dass viele von ihnen traumatisiert waren. »Das Schweigen sollte das Verbrechen ungeschehen machen und es ebenso aus dem Bewusstsein der Frauen verdrängen wie den Gedanken an eine mögliche Schwangerschaft. Die Opfer erstatteten auch keine Anzeige.«

Asja versuchte, ihre aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Doch die Anspannung, unter der sie stand, war einfach zu groß. Am ganzen Körper zitternd, schlug sie die Hände vors Gesicht und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. »Hat er mir damals davon erzählt?«, schluchzte sie. »Ich meine, dann …«

»Glaubst du wirklich, dass das etwas an deinen Gefühlen für diesen Jungen geändert hätte?«, erwiderte Irenes Mutter und reichte ihr ein Taschentuch.

Wenn Asja ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass Frau Kaßner recht hatte. »Aber er kann doch nicht ein ganzes Volk für diese Verbrechen büßen lassen«, wandte sie schniefend ein. »Das wäre ja genauso, als wenn man alle Deutschen unter Generalverdacht stellen würde.«

»Das mag zwar stimmen«, pflichtete Irenes Mutter ihr bei, »wenn man allerdings selbst betroffen ist, sieht man das womöglich anders. Dein Vater blieb jedenfalls bei seiner Meinung.«

Hinter Asjas Stirn jagten sich die Gedanken. »Warum hat er mich dann überhaupt dorthin fliegen lassen?«

»Weil er keine Wahl hatte. Es war schließlich eine Auszeichnungsreise.«

»Aber …«

»Kein Aber«, wurde sie unterbrochen. »Wahrscheinlich hat dein Vater dir nichts davon gesagt, weil er wusste, wie du reagieren würdest.«

Betroffen senkte Asja den Kopf. »Sie meinen, er wusste, dass er mich nicht würde umstimmen können?«

»Genauso wenig wie du ihn.« Frau Kaßner nickte. »Deine Mutter hat mir einmal erzählt, dass er sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als mit dir über seine Beweggründe zu reden.«

Asja warf ihr einen ratlosen Blick zu. »Warum denn bloß?«

»Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich weiß nur, dass deine Eltern lange Zeit darauf gehofft haben, dass du von allein zur Vernunft kommen würdest.«

Asja war klar, dass dieser Wunsch sich nicht erfüllt hatte. »Stattdessen«, hörte sie Irenes Mutter wie zur Bestätigung sagen, »hast du kurz nach deinem 18. Geburtstag alle Zelte hinter dir abgebrochen und einen Flug nach Tbilissi gebucht. Als dein Vater davon Wind bekam, war es zu spät. Ihm blieb nur, dich vor die Wahl zu stellen. Entweder er oder ich, soll er gesagt haben.«

Asja schluckte. »Das sind aber harte Worte.«

»Der Meinung war auch deine Mutter.«

In Asjas Brust begann sich ein winziger Hoffnungsfunke zu regen. »Heißt das, sie war auf meiner Seite?«