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Willkommen an der Inside University, wo du nicht nur um gute Noten, sondern auch dein Leben kämpfst.
Nach der legendären Halloween Party der Inside University haben die Studierenden eines gelernt: Der Château Club ist ihnen stets einen Schritt voraus. Der schockierende Mord auf dem Schlossgelände wirft dunkle Schatten über die elitäre Studentenverbindung, doch Pilar lässt sich davon nicht einschüchtern. Nur noch ein Aufnahmeritual trennt sie von den geheimen Machenschaften des Clubs – und der Wahrheit über das Verschwinden ihrer Schwester. Ohne Alibi für die Mordnacht geraten Jonah und sie ins Visier der Ermittlungen – doch kann sie ihm wirklich trauen?
Noa und Julie hingegen haben hautnah erfahren, welche fatalen Folgen es hat, sich gegen die Schlosselite zu stellen. Die einzige Chance, dem Alptraum zu entkommen, liegt darin, das Netz aus Lügen und Geheimnissen zu durchbrechen. Doch wem können sie noch vertrauen – besonders, wenn das eigene Herz auf dem Spiel steht?
Während ein weiteres Opfer gefunden wird und die Spannungen am Campus eskalieren, wird klar: Einer von ihnen spielt ein falsches Spiel. Der Täter ist immer noch unter ihnen. Und diesmal könnte es jeden treffen.
Das packende Finale der New-Adult-Dilogie über Liebe, Intrigen und die gefährliche Suche nach Gerechtigkeit, die tief in die Abgründe der prestigeträchtigen Inside University blickt – und tödlich ausgeht.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
BUCH 2
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Tiziana Olbrich
Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat:
TE Language Services – Tanja Eggerth,
Nadine Löhle – Goldfeder Texte
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-463-5
Liebe Leser*innen,
ich möchte euch darauf aufmerksam machen, dass dieses Buch einige Elemente enthält, die unter Umständen triggern können.
Für den Fall, dass ihr sie braucht,
findet ihr die Triggerthemen unter zeilenfluss.de/trigger,
da sie Spoiler für das ganze Buch enthalten.
Für meine Leser:innen,
ihr bedeutet mir die Welt.
Für Melissa,
ohne deren Unterstützung diese Geschichte
nie fertig geworden wäre.
Ich hatte Paola nicht umgebracht, und doch trug ich die Verantwortung für ihren Tod. Ich redete mir ein, es wäre keine Beihilfe zum Mord gewesen – eher ein Unfall –, dabei war mir bewusst, dass es als solcher niemals durchgehen würde. Weder vor Gericht noch vor den anderen Fleurisians und schon gar nicht vor mir selbst.
Fehler zu machen, gehörte zum Erwachsenwerden dazu, alle Studierenden begingen sie; bloß löschten die meisten kein Leben aus. Ich hingegen war ohnehin noch nie wie die meisten gewesen. Das war auch der Grund, warum ich ungeschoren damit durchkommen würde. Ich musste nur dafür sorgen, dass Paola in Vergessenheit geriet und mit ihr das Geheimnis verblasste.
Samstag,
31. Oktober,
23:38
Ein markerschütternder Schrei riss mich aus dem Tiefschlaf. Jemand rüttelte ungestüm an meiner Schulter.
»Caio. Caio, wach auf!«
Ich brummte, rollte mich auf den Rücken und rieb mir müde über die Augen. Wie spät war es? Verflucht, wir waren eingeschlafen. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich hatte Pilar abgelenkt, um sie außer Schussweite zu halten, jedoch nicht selbst das Aufnahmeritual des Château Clubs verpassen wollen. Blieb mir Zeit, um es rechtzeitig hinzuschaffen? Und was sollte ich mit Pilar anstellen, die offenkundig ebenfalls wieder aufgewacht war? Bevor ich die Gelegenheit erhielt, auf eine Uhr zu schauen, durchschnitt ein weiterer Schrei die Luft.
»Merde!«, stieß ich aus und sprang aus dem Bett. Ich war in meiner Hast auf etwas getreten und kniff die Augen zusammen, stoppte aber nicht und lief weiter zum Fenster.
»Was war das?«
Pilar richtete sich ruckartig auf und zog die Decke über ihren nackten Oberkörper. Mit wenigen Schritten war ich am Fenster und spähte hinaus in den Schlosshof. Ich war zu weit entfernt, um die Ursache des Aufruhrs auszumachen, und konnte lediglich eine rasant anwachsende Menschenmenge erkennen. Die Partymusik, die bis eben gedämpft zu uns herübergehallt war, stoppte jäh.
»Ich geh besser mal nachsehen«, murmelte ich, unfähig, dem Menschenandrang einen Sinn zuzuordnen. Gab es eine Planänderung, von der ich nicht wusste? »Da ist ein Tumult. Ich bin mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat. Bleib du erstmal hier, okay? Ich bin gleich wieder da.«
Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, lief ich zum Bett und drückte Pilar einen festen Kuss auf die Lippen, um etwaige Einwände zu unterbinden. Dann sammelte ich flink meine Kleidungsstücke ein, die wir vorhin ungestüm im Zimmer verteilt hatten, und verschwand im Flur. Pilars Blick klebte an mir, bis ich die Tür geräuschvoll hinter mir zugezogen hatte und die knarrenden Treppenstufen hinabhechtete. Wenige Minuten später hieß mich die eisige Herbstluft willkommen, und ich mischte mich unter die Menge tuschelnder Feierwütiger. Eine Woge des Grauens erfüllte die Anwesenden. Einige schluchzten, andere murmelten etwas Unverständliches in hörbarem Schock.
»Was ist passiert?«, fragte ich einen als Teufel verkleideten Typen. Er raufte sich die Haare und sah immer wieder zwischen mir und der Menschenansammlung hin und her. Suchte er jemanden? Panik stand ihm ins dunkelrot geschminkte Gesicht geschrieben.
»Eh, Mann, keine Ahnung. Da sind welche runtergefallen. Vom Dach, glaube ich.«
Ich lief weiter und drängte mich näher an die Menschentraube, wo ich die Opfer vermutete. Wer war es? Ich hielt nach einem der Château-Bewohner Ausschau, aber keiner der Fleurisians war in Sichtweite. Skelette und weiße Gespensterfiguren hingen im Geäst, sie verhöhnten meine misslungenen Bemühungen. Was auch immer hier geschehen war, ich hätte es verhindern müssen. Warum hatte ich mich von Pilar ablenken lassen?
»Sicher, dass das kein Halloween-Gag ist?«, fragte einer der Umstehenden.
Just in dem Moment machte ich die Umrisse des ersten Opfers aus. Ein Bein, das in einem unnatürlichen Winkel abstand und eindeutig gebrochen war. Ich drückte mich an einigen Schultern vorbei, bis ich das volle Ausmaß erfasste. Ich erkannte die beiden Frauen, bevor ich begriff, was ich da sah. In meinen Ohren rauschte es, nur das ferne Heulen einer Krankenwagensirene drang dumpf zu mir durch. Es spielte keine Rolle mehr, sie waren zu spät, um irgendjemanden zu retten. Das Spiel hatte einen weiteren Tribut gefordert.
Samstag,
31. Oktober,
23:45
Die Dunkelheit verschlang die Konturen des Dachs, als ob es die Wahrheit selbst verbergen wollte. Das Geländer, kaum mehr als ein Schatten, schien eine Verbindung zu den unsichtbaren Fäden des Schicksals zu haben. Sekunden zuvor hatte Julie am Rande des Abgrunds gestanden, ihre Highheels ein riskanter Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod.
1000 Wenns flüsterte mir die bitterkalte Nacht ins Ohr.
Wenn das Geländer ein kleines Stück höher gewesen wäre.
Wenn sie nicht so dicht am Abgrund gestanden hätte.
Wenn sie ein sichereres Schuhwerk getragen hätte.
Dann hätte alles anders ausgehen können.
Julie und Noa waren einen Wimpernschlag nacheinander vom Dach gestürzt. Kieran hatte zu spät um Hilfe rufen wollen, und Duncan hatte im Affekt Drohungen ausgesprochen, die keinen Sinn ergeben wollten.
»Wir werden gar nichts tun«, hallten Duncans Worte in meinen Ohren nach. Er durfte nicht herausfinden, dass ich wenige Meter entfernt gegen einen Schornstein gelehnt saß und alles mitangesehen hatte. Wirklich absolut alles.
Kierans dunkle Haut war aschfahl. Er bebte vor Anspannung und vergrub das Gesicht in den Händen. Sein schmerzverzerrter Schluchzer ging mir durch Mark und Bein.
»Die … Sie sind bestimmt …« Kieran rang nach Worten, würgte und klang, als müsste er sich gleich übergeben.
Duncan hingegen war erschreckend kühl. Ihn tangierte die Situation nicht im Geringsten. Fassungslos starrte ich ihn an. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er den Dreck unter seinen Fingernägeln rausgepuhlt hätte, so desinteressiert wirkte er.
»Den Aufprall haben sie nicht überlebt. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, ich habe jedenfalls nicht vor, mich einer Befragung auszusetzen. Mit dem hier«, sagte Duncan und machte eine Rundumgeste, »habe ich nichts zu tun.«
»Was? Aber du … du hast zuerst nach Noa gegriffen!«, rief Kieran panisch aus und fuhr zusammen, als ein markerschütternder Schrei durch die Nacht schallte. Jemand hat die Frauen entdeckt, schoss es mir durch den Kopf. Gegriffen oder geschubst? Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir. Duncan hatte mehr getan, als er eingestand.
»Mit derlei Anschuldigungen wäre ich vorsichtig. Immerhin warst du derjenige, der Julie hier hochgebracht hat. Ich bin nicht der Einzige, der von den Gerüchten über euch gehört hat. Wie heißt es so schön: Die meisten Morde geschehen aus Eifersucht.«
Kieran keuchte und setzte anschließend zu einer gestotterten Verteidigung an, die Duncan nicht interessierte. »A-aber … aber s-so war das nicht!«
Duncans Miene wurde mit jeder Silbe gelassener. Er hatte die Oberhand, und das wusste er.
»Ihr beide, ganz allein hier oben. Und dann Noa, die euch gefilmt hat. Da bist du einfach ausgerastet. Ohnehin, wer würde dir schon glauben? Ich habe den Club hinter mir, du kannst mir gar nichts.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, machte Duncan kehrt und verließ das Dach auf demselben Weg, auf dem er es Minuten zuvor betreten hatte.
»Damit kommst du nicht durch!«, rief Kieran ihm nach, aber für Duncan war es bloß eine leere Drohung.
Regungslos starrte Kieran auf die Stelle, an der die beiden Frauen eben noch gestanden hatten. Meine Muskeln verkrampften sich, trotzdem wagte ich es nicht, mich zu rühren. Ich wartete darauf, dass er die Beherrschung verlor. Auf die gemauerte Wand einschlug, und seiner Verzweiflung mit Worten Raum gab. Irgendetwas tat, egal was. Aktiv wurde, um meinen Schockzustand erträglicher zu machen. Heiße Tränen flossen unaufhaltsam über meine Wangen. Ich biss fest in meinen Handrücken, dabei konnte kein physischer Schmerz den emotionalen überdecken. Ein Schluchzen stieg in meiner Kehle auf. Rasch schob ich mir die Hand tiefer in den Mund, um aufkeimende Laute der Verzweiflung abzudämmen. Kieran durfte mich nicht hören.
Kieran schien ebenfalls vor Schock wie benebelt. Er murmelte Unverständliches vor sich hin, was ich aufgrund der Entfernung nicht genau verstand. Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen, vergingen, bis Kieran wankend Duncan zurück ins Château folgte und die schwere Tür hinter sich zuschlug. Aus Angst, entdeckt zu werden, wartete ich minutenlang, ohne mich zu rühren. In der Ferne heulten Sirenen, ein Krankenwagen näherte sich dem Schloss, und mein Körper erwachte wieder zum Leben. Ich wollte mich in die Embryohaltung zusammenkrümmen und weinen, bis keine Träne mehr übrig war. Aber ich durfte nicht zusammenbrechen. Noch nicht. Erst musste ich hier weg. Niemand durfte herausfinden, was ich gesehen hatte.
Der Versuch, Sauerstoff in meine Lungen zu zwingen, raubte mir jede Kraft. Beim Aufsetzen gaben meine Beine nach, und ich knallte mit der Schulter gegen den Schornstein. Ich zwang mich, aufzustehen, strich mir den schweißnassen Pony aus dem Gesicht und widerstand dem Impuls, mir die Perücke abzureißen.
Nein, du darfst keine Spuren hinterlassen.
Nichts anfassen.
Ich schlang die Arme um meine Taille, um nicht in Versuchung zu geraten. Der Drang wurde unerträglich. Ich wollte alles ausziehen, jede Schicht von mir ablegen. Stundenlang unter einem heißen Duschstrahl stehen. Nie wieder in den Spiegel blicken.
Ich unterdrückte den Impuls mich über den Abgrund zu lehnen und hinunterzuschauen. Als etwas hinter mir knirschte, wirbelte ich herum. War dort jemand? Doch in der Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Ich presste beide Hände an meine Schläfen. Nein, da war niemand. Nur mein Verstand, der mir Streiche spielte.
Ich stolperte zum Ausgang, die Wendeltreppe hinab. Meine Hände klammerten sich am Geländer fest, meine Schritte wurden immer schneller. Einmal stolperte ich, stürzte fast hinab und krallte mich mit einem rasenden Herzen in der Brust und unaussprechlichen Worten auf der Zunge an die Balustrade. Nur noch ein paar Schritte, dann konnte ich in der Anonymität der Masse untergehen.
Je näher ich der Halloweenparty kam, desto unerträglicher wurde das Hämmern in meinem Kopf. Laute Musik, grelle Lichter. Schließlich zwängte ich mich zwischen zwei Studierende und glitt in die Menge. Mein Atem ging noch immer viel zu schnell. Scharf zog ich die abgestandene, mit Schweiß und Alkohol vermischte Luft der tanzenden Meute ein. Es war nicht auszuhalten. Alles in mir kämpfte gegen den Drang an, aufzuschreien. Ich drückte mich durch die Verkleideten, wollte zum Ausgang und auch wieder nicht – denn genau da würden sie liegen, wurde mir mit einem Mal klar. Eine Polizistin fasste mich am Arm. Nein, es war Hannah, eine meiner Mitbewohnerinnen, die in einem sexy Halloweenkostüm steckte.
»Hast du es schon gehört?«, rief sie mir zu, und ihr süßlicher Atem stieg mir in die Nase.
Plötzlich wurde die Musik abgedreht, und ein Tumult brach aus. Wie auf Kommando drängte die Menge zum Ausgang, alle wollten in dieselbe Richtung. Ich nicht. Nein, ich wusste, was mich dort erwartete. Lauernde Polizisten, verrenkte Glieder, zerschmetterte Schädel.
Kunstblut, das sich mit echtem mischte.
»Glaubst du, sie sind noch am Leben?«
»Was ist da los?«
Stimmen übertönten Stimmen, ein Ellbogen drückte in meine Rippen und ein Übelkeit erregendes Gefühl stieg in meinem Magen auf.
Plötzlich schmeckte ich Metall auf meiner Zunge. Ich hatte mir auf die Lippe gebissen, um das drängende Bedürfnis eines Geständnisses zu unterdrücken.
Ich habe alles gesehen, gesehen, gesehen.
Mein Schweigen machte mich ungewollt zur Komplizin.
Ich wusste nicht, ob ich damit leben konnte.
Samstag,
31. Oktober,
23:53
»Pilar? Hey, wo steckst du?«
Ich rief ihren Namen, betrat meine Wohnung und eilte ins Schlafzimmer. Das Licht im Raum war gedämpft, und der Duft von altem Holz und sanftem Lavendel umgab mich. Mein Blick wanderte durch das Zimmer, aber von der Brasilianerin war keine Spur in Sicht. War sie nach unserer gemeinsamen Nacht abgehauen?
»Pilar? Bist du – ach du Scheiße!«
Meine Schritte stockten. Der Boden war übersät mit zersplittertem Glas, und die Laken des Bettes waren zerwühlt, als hätte ein Sturm darüber hinweggefegt. Rote Striemen zierten das Kopfkissen, und ich machte einen Satz nach vorne. Ein beunruhigendes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Mit flinken Bewegungen zog ich den Bettbezug gerade, sammelte die Scherben auf und wischte die Blutsprenkel vom Boden. Minimierte das Risiko, falls jemand dieses Zimmer betrat und anschließend falsche Schlüsse zog. Ausgerechnet jetzt, wo der Schlosshof mit Polizisten übersät war, sah mein Schlafzimmer nach einem Tatort von Law & Order aus. Steckte er dahinter, um mich für mein aufmüpfiges Verhalten zu tadeln? Scheiße, wie hatte ich denken können, dass meine Liaison mit Pilar folgenlos bleiben würde?
Pilars Kleidung war verschwunden, einzig die filigrane Maske mit der Perlenbestickung lag unter dem Bett. Wenn Pilar sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Château Club gemacht hätte, wäre sie nicht ohne die Maskierung aufgebrochen. Außerdem hatte ich ihr noch nicht verraten, wo das Treffen der Studentenverbindung stattfinden würde.
Verdammt, waren die Clubmitglieder etwa hierhergekommen, um Pilar zu holen? Meine Gedanken wirbelten, während ich die schlimmsten Befürchtungen hegte. Er hatte mir versprochen, Pilar in Ruhe zu lassen, solange ich mich von ihr fernhielt. Nur war es mir nach allem, was ich mit Pilar in den letzten Wochen erlebt hatte, nicht weiter möglich gewesen, die Distanz zu wahren – und der Club hatte sein Versprechen ebenfalls gebrochen. Der Château Club hatte sie zu sich geholt. Wussten sie bereits, dass es sich bei Pilar um Paolas Schwester handelte? Wenn das herauskam, konnte auch ich sie nicht mehr vor den Folgen schützen. Ich durfte keine Zeit verlieren und musste Pilar da herausholen, bevor sie Teil von etwas wurde, ohne zu wissen, wo sie überhaupt zustimmte. Bevor sie Geheimnisse von sich preisgab, die sie für immer an die Gesellschaft binden würden.
Pilars Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ihr Ausdruck war gleichzeitig sanft und entschlossen, wie immer stets bereit für ihre nächste Mission. Die Vorstellung, sie zu enttäuschen, trieb mich an, mich zusammenzureißen. Ich musste einen Weg finden, um den Club und seine Aufnahmerituale zu stoppen.
Es gab lediglich eine, die mir in einer Krisensituation wie dieser helfen konnte. Bloß war sie die Letzte, die ich um Hilfe bitten wollte. Mit dem Handy in der Hand zögerte ich zwei Atemzüge lang, fand allerdings keinen anderen Ausweg.
»Dekanin Pereira«, meldete sie sich am Telefon. Zu meiner eigenen Verwunderung klang sie weder müde noch überrascht wegen des späten Anrufes. Wenn herauskam, dass ich der Vereinigung in den Rücken gefallen war und sie ausgerechnet an die Universitätsleitung verpfiffen hatte, würde ich es mit mehr als nur dem Clubleiter zu tun bekommen, auch meine Nachbarn würden vereint gegen mich stehen. Die Fleurisians hielten zusammen. Hoffentlich würde Pilar es zu würdigen wissen, dass ich gerade alles für sie riskierte.
»Ich bin es, Caio. Ich brauche deine Hilfe. Der Château Club hat heute sein Aufnahmeritual, das ist die Gelegenheit, um sie festzunehmen.«
Samstag,
31. Oktober,
23:57
»Ist die Augenbinde wirklich notwendig?«
Einer meiner Begleiter gab ein Brummen zur Antwort, der andere hatte mir seinen Oberarm gereicht, damit ich nicht versehentlich die schwere Steintreppe hinunterfiel. Es war Jonah, darauf hätte ich gewettet. Die Stimme des anderen Mannes konnte ich hingegen nicht zuordnen, war mir aber sicher, dass er nicht im Château wohnte.
»Ich verspreche auch, zu kooperieren«, versuchte ich es erneut.
»Wir halten uns an die Anweisungen«, antwortete Ersterer. Sein Akzent hätte britisch sein können, wobei mir auch diese Vermutung nicht aus meiner jetzigen Situation heraushalf.
Soweit ich es bislang herausgehört hatte, war die Anweisung lediglich, mich abzuholen. Nicht aber, mich splitterfasernackt in Caios Bett zu überraschen, am Kopf zu verletzen und anschließend zu kidnappen.
So viele Stufen, wie wir hinabgestiegen waren, befanden wir uns garantiert in einem Teil des Schlosses, den ich zuvor noch nie erkundet hatte. Die Luft war feucht und von einem modrigen Geruch geprägt, der mir eine schaurige Gänsehaut über die Haut jagte. Ich spürte förmlich, wie die Kälte mich umschloss. Handelte es sich um eine Art Katakomben?
Der Gang war schmaler, wodurch Jonah dichter neben mir lief und gelegentlich meine Schulter berührte, während ich auf der anderen Seite die kühlen Steinwände streifte. Der andere Mann hatte sein Tempo erhöht. Seine entschlossenen Schritte klangen wie ein unheilvolles Echo. Ein quietschendes Geräusch durchbrach unseren steten Rhythmus. Jemand öffnete eine Tür! Kurz darauf stiegen wir eine Treppe hinauf, die ins Ungewisse führte.
»Wir sind gleich da, am besten bleibst du jetzt ruhig«, raunte Jonah mir zu.
Dabei hätte er mich inzwischen gut genug kennen sollen, um zu wissen, dass Anweisungen das genaue Gegenteil in mir hervorriefen. Die Widerworte lagen mir auf der Zunge, da streifte seine Hand meinen Nacken, und ein eiskalter Schauer durchzog meinen Körper. Abrupt blieb ich stehen. Wenige Herzschläge später wurde das Tuch gelöst, das mir bis dahin die Sicht versperrt hatte, und vor mir entfaltete sich ein beunruhigendes Bild: An die 30 Personen, vielleicht sogar mehr, wandten uns den Rücken zu. Sie trugen dunkle Gewänder, Kapuzen über den Köpfen oder waren auf andere Art maskiert.
»Was geht hier vor sich?«, flüsterte ich Jonah zu, dessen Stirn in Falten gelegt war. In seinen hellblauen Augen lag Bedauern. Eine unausgesprochene Entschuldigung.
»Ich bin mir nicht sicher. Zeit, es herauszufinden.«
Die letzten Stufen emporsteigend, betraten wir die von Dutzenden Kerzen erhellte Kapelle. Mein anderer Entführer schlängelte sich geschickt durch die Menge, seine schwarze Maske immer noch auf dem Gesicht. Trotzdem hatte ich eine Vermutung, um wen es sich handeln könnte.
»Ist das Rupert? Was hat er hier zu suchen?«
»Warte.« Jonah hielt mich am Arm zurück. Mit dem Tuch wischte er mir behutsam das mittlerweile angetrocknete Blut von der Stirn. Jonah war neben mir der Einzige, der keine Maske trug. Meine musste irgendwo in Caios Wohnung liegen. Es missfiel mir, wie alle unsere Gesichter sahen, wir jedoch nicht ahnten, mit wem wir es zu tun hatten.
Ein Hauch von Weihrauch hing in der Luft, der an vergangene Gottesdienste erinnerte und sich mit den herbstlichen Düften von Laub wie auch feuchter Erde mischte. Wir folgten dem Mann, den ich für Rupert hielt, und steuerten auf den Altar zu, an dem bereits eine Frau auf uns wartete. Trotz ihrer Maskierung erkannte ich Priyankas mit Ruß und Blutschlieren verschmierte Erscheinung. Sie trug einen engen Bleistiftrock, eine cremefarbene Bluse mit aufgemalter Einschusswunde und eine schwarze Baskenmütze über der zu einem kurzen Bob gestylten, dunkelbraunen Perücke. Der als Verbrecher gekleidete Duncan trat etwa zeitgleich aus einer Seitentür. Sein markantes rot-gelocktes Haar blitzte unter seinem Filzhut mit breiter Krempe hervor. Der Schotte raunte ihr etwas zu, das nach einer Entschuldigung klang, bevor er sich vor uns aufbaute. Jetzt, wo das Bonnie-und-Clyde-Gespann komplett war, fehlten bloß noch die übrigen Château-Bewohner. Das fand wohl auch Priyanka.
»Wo sind die anderen?«, flüsterte Priyanka an Duncan gewandt, nur die unmittelbar Umstehenden konnten die Frage verstehen.
»Uns ist ein kleiner Vorfall dazwischengekommen, nicht der Rede wert«, erwiderte Duncan betont lässig, und in mir breitete sich das Gefühl aus, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. »Lass uns anfangen, wir sollten keine Zeit vergeuden.«
Priyanka verzog ihre Lippen zu einer schmalen Linie, drehte sich den Anwesenden zu und erhob ihre Stimme. »Willkommen allerseits, wir haben uns heute hier versammelt, um unsere neuen Anwärter als feste Mitglieder in unsere Reihen aufzunehmen.«
Mein Blick glitt zu Jonah, der regungslos neben mir stand und seine Augen starr geradeaus auf unsere beiden Jahrgangssprecher gerichtet hatte. Allem Anschein nach waren wir die Einzigen, die es in den Château Club geschafft hatten. Eine greifbare Spannung lag in der Luft. Auf Duncans Lippen zeichnete sich ein schiefes Lächeln ab, das mir nicht behagte.
Zwischen uns hing eine unausgesprochene Frage: War dies der Moment der Wahrheit oder eine weitere Etappe in diesem gefährlichen Spiel?
Während Priyanka eine Begrüßungsansprache hielt, trat Duncan mit einem Kelch nach vorne. Würden wir unsere Loyalität mit einer weiteren Aufgabe beweisen müssen? Oder hatte ich es geschafft und würde endlich erfahren, wer hinter der geheimen Gesellschaft steckte und was mit meiner Schwester geschehen war?
»In vino veritas«, hauchte Duncan mit einer unheilvollen Miene und reichte uns den Kelch. Darin war eine dunkelrote, dickflüssige Substanz, die im fahlen Kerzenlicht schimmerte. Ein Schauder des Entsetzens überkam mich. War das etwa echtes Blut? Gehörte es zu den Mitgliedern oder einem Opfer? Duncan streckte die Arme auffordernd aus. Ich wagte es nicht, den Kelch entgegenzunehmen.
Die Stille der Kapelle wurde von einem gespenstischen Pfeifen des Windes durchbrochen, der an den alten Kirchenfenstern rüttelte. In der Ferne klang das sanfte Rascheln der Blätter wie ein Flüstern der Geister. Ich sah über die Schulter zu den maskierten Gestalten. Wünschte mir, dass eine von ihnen ihre Kapuze zurückschob und darunter meine Schwester zum Vorschein kam. Was sollte ich tun?
Die Zuschauenden hingegen wirkten wie gefesselt von einer unsichtbaren Macht. Kein einziger Laut entwich ihren Lippen, und die eisige Atmosphäre, die sich in der Kirche ausbreitete, verstärkte das unheimliche Gefühl, als würde die Zeit in diesem Augenblick stillstehen – und die Welt der Lebenden und Toten verschwimmen. Bildete ich es mir ein oder erinnerte das Knistern der Kerzenflammen an flackernde Seelen in der Dunkelheit?
In wenigen Minuten würde die Halloweennacht in den Tag der Toten übergehen. Jonah und ich würden uns einer Gesellschaft anschließen, deren Mitglieder und Bestimmung wir nicht kannten. Zum ersten Mal, seitdem ich mich auf die Suche nach meiner Schwester gemacht hatte, fragte ich mich, ob das Ganze nicht eine Nummer zu groß für mich war. Ob ich mich selbst in Lebensgefahr begab. Und was war mit Jonah? War ihm bewusst, wozu er zustimmen und sich verpflichten würde?
»Im Wein liegt die Wahrheit, und in unserer Gesellschaft teilen wir unsere dunkelsten Geheimnisse«, sprach Priyanka weiter. Der Kerzenschein warf einen schaurigen Schatten auf ihr mit Kunstblut verziertes Gesicht, was die Illusion von echten Wunden verstärkte. »Der Wein symbolisiert nicht nur den Genuss des Augenblicks, sondern auch die Verpflichtung, ehrlich und offen miteinander umzugehen. Wir vertrauen einander und teilen unsere Geheimnisse in diesem besonderen Kreis. Hier findet ihr Gleichgesinnte, die euch verstehen. Die Wahrheit mag manchmal unangenehm sein, aber sie verbindet uns und schmiedet die stärksten Bindungen.«
Die Erleichterung darüber, Wein statt Blut serviert bekommen zu haben, flaute direkt wieder ab. Die Wahrheit war ein wackeliges Konstrukt. Seit ich an die Inside University gekommen war, hatte ich nichts anderes getan, als Lügen von mir zu geben. Nur welche von ihnen sollte ich aufdecken und welche behielt ich besser für mich?
»Willkommen in unseren Reihen, wo eure Wahrheit sicher aufbewahrt wird«, sprach Priyanka weiter und sah uns abwechselnd an, »und wo ihr gleichzeitig die Wahrheit eurer Mitstreitenden kennenlernen werdet. Wir leben nach dem Motto No Secret, No Lie. Denn dort, wo es keine Geheimnisse gibt, gibt es keine Lügen.«
Glaubte Priyanka wirklich an dieses Credo oder hatte die Inderin den Spruch aus einem Buch auswendig gelernt? Beinahe wäre mir ein abfälliges Schnauben entwichen. Natürlich, wenn man in Frankreich auf etwas schwor, dann auf das Nationalgetränk. Das Lachen sollte mir schnell vergehen.
»Bitte nennt nun eure vollständigen Namen, wiederholt unseren Leitspruch und teilt euer größtes Geheimnis mit uns«, forderte Priyanka und sah mich dabei herausfordernd an. Sollte ich das Risiko eingehen und lügen oder würde ich mir dadurch mein eigenes Grab schaufeln? Beim Philosophers’ Dinner hatte ich leichtfertig zu Halbwahrheiten gegriffen, heute haderte ich mit mir. Es mochte an der bedeutsamen Atmosphäre und den zahlreichen Zuschauenden liegen, vielleicht kam auch meine katholische Erziehung zum Vorschein, die mir das Lügen in einer Kirche untersagte.
»Ich, Camila Pilar Santos de Lima, lebe fortan nach dem Prinzip in vino veritas und schließe mich der Gesellschaft an«, erwiderte ich, und meine Worte klangen in der schummrigen Kirche wie ein ehrwürdiger Eid. »Ich bin hergekommen, um nach meiner Schwester zu suchen.«
Jonahs Miene war noch immer undurchdringlich. Hatte er es begriffen oder würde er die erhaltenen Puzzleteile über meine wahre Identität erst mit der Zeit zusammensetzen? Das leise Getuschel in der ersten Sitzreihe nährte meine Befürchtung, dass es nicht lange dauern würde, bis der komplette Campus von meiner Verbindung zu der berüchtigten und noch immer vermissten Paola Lima wusste.
Ich nahm einen Schluck aus dem Kelch, und ein beeriger, intensiver Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Anschließend reichte ich ihn an Jonah, der ebenfalls die vorgegebenen Worte nachsprach und trank.
»Meine Familie ist schon seit Generationen mit dem Château verbunden«, sagte Jonah, und ich ärgerte mich darüber, mein Geheimnis nicht ebenfalls auf eine diplomatischere Art verpackt zu haben. »Ich trete in die Fußstapfen meiner Vorgänger und stehe ein für die Werte Wahrheit und Gerechtigkeit.«
Punktgenau erklangen die Glocken des Kirchturms und kündigten Mitternacht an. Ein Raunen ging durch die Reihen. Einen Augenblick lang hoffte ich, sie würden ihre Maskierungen ablegen. Aber nur einer der Männer zog seine Maske für einige Sekunden zur Seite und zwinkerte mir mit einem frechen Grinsen zu. Ich keuchte überrascht auf. Was hatte Kenneth hier zu suchen? Hatte Duncan ihn nicht in der Nacht des Philosophers’ Dinner rausgeworfen? Ich ballte die Hände zu Fäusten. Mein Puls schnellte nach oben. Neben ihm stand der Mann, den ich für Rupert hielt. Rupert war der ehemalige Teamkamerad von Giulia, die, wenn mich nicht alles täuschte, ebenfalls anwesend war. Ihr kurviger Körperbau und das Cruella-de-Vil-Outfit, das unter ihrem Umhang hervorlugte, verrieten sie trotz der Maske. Ich sah mich weiter um, versuchte, auch die anderen Anwesenden zu enttarnen. Warum waren Bewohner der anderen Studentenhäuser Mitglieder des Château Clubs, während aus unserem Semester lediglich Jonah und ich ausgewählt worden waren? Oder hatten die anderen es nicht rechtzeitig geschafft? War es das, was Duncan zu Beginn des Aufnahmerituals gemeint hatte?
Priyanka reichte Jonah und mir jeweils eine kleine Schatulle. Ich rechnete mit einem Ring, stellte beim Öffnen jedoch fest, dass es sich um dezente weißgoldene Ohrringe handelte. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich die zwei verschlungenen Cs. Jonah hingegen hielt Manschettenknöpfe in der Hand, die er mit denen in seinem Hemd tauschte. Raffiniert, nur wer wusste, worauf er achten musste, würde diese Erkennungsmerkmale finden. Dezenter als ein einheitlicher Ring oder ein Armband waren die Schmuckstücke meist verborgen und konnten bei zukünftigen Treffen des Geheimbundes unbemerkt als Einladungskarte dienen.
»Dies sind von nun an eure. Bitte legt sie als Zeichen eurer lebenslangen Verbundenheit an.« Ich folgte Priyankas Aufforderung und steckte mir den linken Ohrring ins Ohr. »Willkommen in der Gesellschaft der Cosme Clausse.«
Bei ihren Worten entglitt mir der Verschluss. Jemand zog scharf die Luft ein. Moment, das war ja ich gewesen. Jonah und ich bückten uns gleichzeitig, um im schwachen Kerzenschein nach dem kleinen Ohrringstecker zu suchen. Er fand ihn zuerst und reichte ihn mir, wobei seine Miene auffällig entspannt wirkte. Ihn schien nichts hiervon zu überraschen. Sicherlich hatte ihn sein Vater, der ebenfalls Mitglied der geheimen Gesellschaft war, im Vorfeld in einige der Geheimnisse eingeweiht.
Ich richtete mich etwas zu schnell wieder auf, was mir einen plötzlichen Schwindelanfall bescherte. Mit zittrigen Fingern befestigte ich auch den zweiten Ohrring. Meine Sicht verdunkelte sich schlagartig, und die Welt um mich herum verschwamm. Ich wankte leicht zur Seite.
»Alles okay bei dir?«, raunte Jonah und hielt mir seinen Arm hin.
»Geht schon.«
Statt sein Angebot anzunehmen, verschränkte ich meine eigenen Finger miteinander und drückte sie. Der Schmerz half, mich wieder besser zu konzentrieren. Die Zuschauenden setzten unisono zu einer Art Gebet an, den Inhalt der Strophen verstand ich nicht. Es musste sich um einen weiteren lateinischen Vers handeln.
Die Gesellschaft der Cosme Clausse – wieso kam mir der Name merkwürdig vertraut vor? Noa hatte recht gehabt, die doppelten Cs standen wirklich nicht für den Château Club – genauer gesagt war es gar kein Château Club, sondern ein Geheimbund verschiedener Studentenhäuser. Abermals reckte ich den Kopf, um die maskierten Personen zu betrachten. Ich fragte mich, ob ausschließlich Studierende anwesend waren oder auch Lehrkräfte der Inside University. Die hinteren Reihen waren im flackernden Kerzenschein nur schwer von meiner Position aus zu erkennen. Mir fiel eine Person auf, die um einiges kleiner war – ein Kind? Nein, das konnte nicht sein. Mein zweiter Gedanke war, ob Baptiste Dubois eventuell anwesend war. Der alte Gutsaufseher kannte sicherlich die Riten und hiesigen Studierenden in- und auswendig. Da traf ich auf ein dunkles Augenpaar, das meinen Blick gefangen hielt. Die Frau hob den Kopf, sodass ihre Kapuze leicht nach hinten glitt und das Kerzenlicht für einige Sekunden ihre Konturen beleuchtete.
Ein erstickter Flüsterton entwich meinen Lippen – ein Hauch des Unglaubens. Mein Herz hämmerte wild, und in meinen Schläfen breitete sich ein unkontrollierbares Pochen aus, das meine wirbelnden Gedanken begleitete. All die unbeantworteten Fragen raubten mir den Atem. Meine Hände umklammerten einander, ohne den ersehnten Halt zu bieten. Der Raum schien sich zu verengen, während ich das Bild vor mir verarbeitete. So lange hatte ich nach ihr gesucht, dass ein Teil von mir nicht mehr daran geglaubt hatte, Paola zu finden. Überfordert vom plötzlichen Anblick meiner Schwester war ich nicht im Stande, mich zu rühren.
Ich kniff die Augen zu und öffnete sie erneut. Es half nicht, noch immer nahm ich alles wie durch einen dichten Nebel wahr. Der Laut von näher kommenden Krankenwagensirenen durchzog die Nacht. Ein Raunen ging durch die Reihen, und Bewegung kam in die Sitzenden. Menschen erhoben sich hastig und flüsterten aufgeregt miteinander. Die Kapuze rutschte nach vorne, und die Frau, die ich eben noch für Paola gehalten hatte, wich zur Seite. Auf den zweiten Blick wirkte sie zu kurvig für meine zierliche Schwester.
Schneller als ich begriff, dass die Veranstaltung vorbei war, löschten die Mitglieder die Kerzen und verschwanden in alle Himmelsrichtungen – nur die große Eingangspforte nutzte keiner. Ich wollte der Frau hinterherlaufen, hatte sie im Tumult allerdings verloren. Schweiß rann mir den Nacken hinab. Verfluchter Mist! Widerstrebend ließ ich mich von Jonah mitziehen, bis wir wenige Minuten später durch einen Seiteneingang in den hinteren Garten des Châteaus traten. Der Schlosshof lag im Mondschein, und die kühle Mitternachtsluft umhüllte die steinernen Mauern.
»Merda, was war das denn? Ich dachte, wir lernen endlich die Mitglieder kennen.«
Jonah gab einen zustimmenden Laut von sich. »Da müssen wir wohl bis zum nächsten Mal ausharren. Geht’s dir wieder besser? Du wirktest eben ziemlich blass.«
»Ja, schon gut. Mir war bloß etwas schwindelig.«
Ich strich mir über die Stirn. Eine kleine Beule hatte sich gebildet, die ich Rupert zuschrieb. Der konnte was erleben!
»Möchtest du zurück zur Halloweenfeier oder soll ich dich zu deinem Appartement bringen?«, bot Jonah an. Seine unerwartet höfliche Art stieß mir negativ auf. Wenn es einen geeigneten Zeitpunkt für sein Gentlemangehabe gegeben hatte, hatte er ihn verpasst.
Ich schnaubte verächtlich. »Nur weil wir jetzt zum selben Geheimbund gehören, macht uns das noch lange nicht zu Freunden.«
»Hör mal, das mit vorhin tut mir leid. Ich wollte dich wirklich nicht so überfallen.«
Eine leichte Röte stieg in seine Wangen. Ich hielt es ihm zugute, keinen anzüglichen Spruch bezüglich meines nackten Körpers zu reißen.
»Ja, ne, ist klar. Das sage ich beim nächsten Mal auch, wenn ich dich unerwartet im Schlafzimmer überfalle.«
»Ich wüsste nicht, was du in meinem Schlafzimmer zu suchen hättest.«
»Dito.«
Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu und rollte mit den Augen. In der Stille der Nacht waren lediglich das leise Rascheln von Blättern und der Klang unserer Schritte auf dem Kopfsteinpflaster zu hören. Doch dann durchbrach abermals der schrille Ton eines Krankenwagens die Ruhe der Nacht, gefolgt von weiteren, entfernten Sirenen. Interessiert, woher die Geräusche kamen, beschleunigten wir.
»Woher wusstet ihr überhaupt, wo ihr mich finden würdet?«
»Duncan.«
Jonah hielt sich nicht mit einer ausschweifenden Erklärung auf. Kaum hatten wir die Grenze des Privatbereichs der Château-Inhaber verlassen und den Haupthof betreten, nahm die Geräuschkulisse zu. Blaulicht mischte sich zu aufgehängten Halloweenfiguren, die historischen Gebäude wurden nicht länger nur vom sanften Licht des Mondes beleuchtet. Wir konnten den sich entfernenden Krankenwagen nicht sehen, dafür weckte die im Schlosshof versammelte Menschenmenge unser Interesse. Erst da bemerkte ich, dass das Blaulicht nicht nur von einem Krankenwagen kam. Einige signalgebende Polizeiwagen waren schräg auf dem Hof geparkt, was auf ein zügiges Aussteigen hindeutete.
»Was ist hier los?«, wunderte ich mich und verlangsamte meine Schritte, um das Geschehen besser zu begreifen. »Hat schon wieder jemand zu viel getrunken?«
Die Worte glitten über meine Lippen, bevor mir auffiel, wie unangemessen sie waren. Immerhin war Jonahs Freundin zum Semesterbeginn nicht aus eigenem Verschulden im Krankenhaus gelandet, auch wenn das Gerücht einer Alkoholvergiftung sich lange gehalten hatte. Jonah reagierte nicht auf meine Worte, vielleicht hatte er sie gar nicht wahrgenommen. Er eilte auf eine nahende Polizistin zu, geschätzt um die 40, mit einer undurchdringlichen Miene und einer tadellosen Uniform. Ihr dunkles Haar war zu einem akkuraten Knoten gebunden, der ihren professionellen Eindruck unterstrich. Die Ernsthaftigkeit in ihren Augen verriet, dass sie nicht zum Vergnügen hier war und keine Lust auf zweideutige Anmachsprüche bezüglich ihres Outfits hatte.
»Entschuldigen Sie, können Sie uns sagen, was passiert ist?«
»Ah, Monsieur King, so sieht man sich wieder«, erwiderte die Polizistin zu meiner Verblüffung. »Nach Ihnen habe ich gesucht. Würden Sie mich für einige Fragen auf unser Polizeipräsidium begleiten?«
»Wie, jetzt?!«, erwiderte ich an Jonahs Stelle und bereute sogleich, die Aufmerksamkeit der Polizistin damit auf mich gezogen zu haben. Das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte, war, in die Bredouille zu kommen, eine Falschaussage auf einem Polizeirevier zu tätigen.
»Und wer sind Sie, Madame?«
Ich entschied mich für eine unverfängliche, knappe Antwort. »Eine Nachbarin von Jonah. Pilar Santos.«
»Santos«, wiederholte die Polizistin, und in ihren grünen Augen blitzte etwas auf. Da meine Schwester nie offiziell von meiner Familie als vermisst gemeldet worden war, hätte ihr der Name eigentlich nicht bekannt sein sollen. Es sei denn, sie hatte persönlich Bekanntschaft mit Paola gemacht. Oder war Paolas Ruf ihr bis zu den Gesetzeshütern vorausgeeilt? Immerhin war sie in die Universität eingebrochen, auch wenn ihr dies nie offiziell hatte nachgewiesen werden können. Zudem hatte Paola sich öffentlich mit dem Dekan angelegt, der anschließend suspendiert worden war.
Du denkst schon wieder zehn Schritte zu weit. Beruhig dich.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Madame …?«, erkundigte Jonah sich.
Die Polizistin stellte sich als Kommissarin Moreau vor. Anscheinend hatten Jonah und sie bereits bei Julies Krankenhausaufenthalt Bekanntschaft miteinander gemacht. Ein Polizist in blaugrauer Uniform trat auf uns zu, hinter ihm tauchten weitere Polizeibeamte auf. Hatten sie es auf das Treffen des Château Clubs abgesehen und wollten die Mitglieder verhaften? Allerdings steuerten sie dafür die falsche Richtung an. Wir waren zu weit vom Geschehen entfernt, um die Ursache für den Tumult zu sehen.
»Wir hätten einige Fragen an Sie, Monsieur King.«
»Wenn Sie mir den Grund dafür mitteilen, können wir einen Termin für die kommende Woche ausmachen. Es ist wirklich spät, ich würde mich gern auf die Suche nach meiner Freundin machen.«
Bildete ich es mir ein oder war der knappe Blickaustausch der Polizisten unheilvoll?
»Dies ist den Umständen entsprechend leider nicht möglich. Wir müssen Sie bitten, uns auf das Polizeipräsidium zu folgen«, erwiderte Kommissarin Moreau. Sie gab einem ihrer Kollegen ein Zeichen, das ich nicht auf Anhieb zuordnen konnte. Dann musterte sie meine Stirn abschätzend. Hoffentlich klebte dort kein Blut mehr. Ich widerstand dem Drang, mir durchs Haar zu fahren. Da die Polizistin nicht weiter nachhakte, tat sie meine Erscheinung wohl als Teil meines Halloweenkostüms ab.
»Verstehe.« Jonah nickte knapp und wandte sich mir zu. »Kannst du Julie Bescheid geben, damit sie sich keine Sorgen macht? Ich kontaktiere derweil meinen Anwalt.«
»Natürlich«, antwortete ich.
»Das wird leider nicht möglich sein. Wir bitten Sie, uns ebenfalls auf das Präsidium zu folgen, Madame Santos«, widersprach Kommissarin Moreau. Es klang nicht nach einer Bitte und führte zu einem unangenehmen Kälteschauer, der über meinen Rücken lief. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Verhaften Sie uns etwa? Warum? Weder Jonah noch ich haben etwas Verbotenes getan.«
Mein Gerechtigkeitssinn war damit nicht einverstanden.
Was sollte ich sagen, womit ich die letzte Stunde verbracht hatte? Vor den Augen der Polizisten konnte ich mich kaum mit Jonah absprechen. Noch mehr Lügen, schoss es mir durch den Kopf. Dabei hatte der Geheimclub uns eben erst das Gegenteil versprochen.
»Pilar«, ermahnte Jonah mich leise. Wenn er dachte, ich gäbe klein bei, nur weil eine Autoritätsperson vor mir stand, hatte er sich getäuscht.
»Monsieur King ist Verdächtiger einer Untersuchung, und da Sie bei seiner Verhaftung in seiner Gegenwart waren, bitten wir Sie, uns ebenfalls einige Fragen zu beantworten«, riss nun der Polizist das Wort an sich. Er griff in seine Hosentasche und beförderte ein Paar Handschellen zutage. »Leisten Sie unserer Aufforderung Folge oder muss ich Sie verhaften?«
Mein Puls schnellte nach oben. Was bildete der sich eigentlich ein? Polizist hin oder her, grundlos konnte er uns nicht einfach mitnehmen. Wurde Freiheit in Frankreich nicht sogar in der Landeshymne gefeiert? Oder war das die immer noch bestehende Devise aus der Französischen Revolution?
»Basierend auf welchen Fakten? Sollten Sie Ihre Anschuldigungen nicht besser auf Grundlage echter Ermittlungsarbeit treffen, statt willkürlich undurchdachte Schlüsse zu ziehen?«, rief ich aus. Mein Kopf hatte eindeutig was abbekommen in der letzten Stunde, sonst hätte ich eine schlagfertigere Antwort parat gehabt.
»Madame, Sie stören unsere Ermittlungen. Strecken Sie bitte Ihre Hände aus, Sie sind verhaftet.«
Sonntag,
1. November,
02:12
»Nennen Sie uns bitte Ihren Namen und derzeitigen Wohnort.«
»Jonah King, Château de Fleury.«
»Die vollständige Anschrift?«, hakte der drahtige Polizist nach, und mir entwich ein Schnauben. Konnte er nicht googeln? Das passte zu dem massiven Tonbandgerät, dessen signalrotes Anzeigelicht in rhythmischen Pulsen aufleuchtete. Die monotonen Töne des Geräts vibrierten beinahe feindselig in der Stille des Raums.
Trotz meines Ärgers unterdrückte ich nur mit Mühe ein Lächeln, weil die Polizisten noch immer auf veraltete Technik vertrauten, obwohl die Welt draußen längst modernere Methoden einsetzte. Auch das Verhörzimmer hätte ein Makeover vertragen können, allem voran der abgenutzte Tisch, von dem sich die Farbe abschälte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie viele Personen hier bereits gesessen und ihre Tränen oder andere Ausdünstungen verteilt hatten. Der Gedanke ließ mich noch ein Stück weiter vom Tisch weg weichen. Ich verlagerte mein Gewicht und legte ein Bein lässig über das andere, während ich meine Arme vor der Brust verschränkte und mich in dem unbequemen Stuhl zurücklehnte.
»Rue Cosme Clausse, Fleury-en-Bière.«
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, begriff ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Wenn die Polizisten auf eine Gelegenheit gewartet hatten, um auf unverfängliche Art auf den Geheimbund zu sprechen zu kommen, hatten sie mich. Ich vermied tunlichst den Blick auf meine Handgelenke. Wieso hatte ich die Manschettenknöpfe nicht entfernt? Sollte ich um eine Toilettenpause bitten? Allerdings könnte ihnen der Wechsel zu meinen eigenen andersfarbigen Manschettenknöpfen auffallen. So oder so, ich saß in der Klemme. Am besten tat ich so, als hätte ich nichts zu verbergen. Eine entspannte Körpersprache war die beste Verteidigung.
»Ihr Appartement liegt wenige Minuten von der Partylocation entfernt«, stellte der Polizeibeamte Blanc mit monotoner Stimme fest. Neben ihm saß Kommissarin Moreau, die bislang zugehört hatte. Mit Argusaugen musterte sie mich, allzeit bereit, bei einer offenkundigen Lüge zuzuschnappen. »Wohnen Sie dort allein?«
»Nein, mit meiner Freundin.«
»Wie lautet der Name dieser Freundin?«
»Julie Hill.«
Wenn ich gewusst hätte, worum es in diesem Verhör ging, hätte ich es gezielter in eine Richtung gelenkt, die mir selbst zusagte. Noch hatten die Polizeibeamten mir den Grund für meine Verhaftung nicht mitgeteilt. Mir fielen zahlreiche Gründe ein, die mehr mit meiner Familie als mit mir als Einzelperson zusammenhingen. Ich würde nach dem Ausschlussverfahren vorgehen müssen.
»Und in welcher Beziehung stehen Sie zu Julianna Hill?«
»Julie«, berichtigte ich sie aus einem Reflex heraus und wunderte mich, weshalb die Beamtin den vollständigen Namen meiner Freundin parat hatte. Anscheinend passierte in dieser Kleinstadt so selten etwas, dass die Kommissarin sich selbst Namen von einem mehrere Monate vergangenen Vorfall merkte. Moment, ging es hier etwa abermals um Julies Alkoholvergiftung? War es zu einem erneuten Vorkommnis auf der Halloweenfeier gekommen und jetzt vermutete die Polizei ein Muster?
Die Worte des Polizisten hallten in meinen Ohren nach. Sie hatten mich als »Verdächtiger in einer Ermittlung« bezeichnet. Unterstellten sie mir etwa Julie – oder einem Halloweengast – etwas untergemischt zu haben?
»Wir sind seit knapp zwei Jahren ein Paar«, konterte ich und konzentrierte mich auf die Ausgangsfrage. Schnell überschlug ich die Wahrscheinlichkeit, jemand könne von unserer Trennung und den damit zusammenhängenden Gründen gehört haben. Befand Kieran sich ebenfalls in einem Verhörsaal oder waren nur Pilar und ich anwesend? Wie viel wusste Pilar, und würde sie ihre Informationen bereitwillig teilen?
Wusste sie von meinen persönlichen Gründen?
»Ist es korrekt, dass Sie für die Unterhaltskosten und Studiengebühren Ihrer Freundin aufgekommen sind?«
»Ich wüsste nicht, welche Rolle dies spielt«, erwiderte ich zögerlich und bemühte mich um einen kontrollierten, bestimmten Tonfall. Ging es eventuell um meinen Vater? Einen Unternehmensskandal? Wurden Gelder veruntreut? »Können Sie mir sagen, aus welchem Grund ich befragt werde?«
Der Polizist ignorierte meine Frage. »Wie lange würden Sie Ihrer Ansicht nach benötigen, um von den Stallungen, in denen die Halloweenfeier stattfand, bis zu Ihrem Appartement zu laufen?«
»Da bin ich mir nicht sicher.«
»Können Sie uns eine Schätzung geben?«
»Meinen Sie während der Feierlichkeiten heute Abend oder im Allgemeinen?« Sie gaben mir keine Antwort. Sollte ich die Zeitangabe höher oder niedriger angeben? »Vielleicht zehn oder 15 Minuten.«
»Sie waren ebenfalls ein Gast der Halloweenfeier.«
Konnte ich dies verneinen? Gab es einen Grund, aus dem ich das tun sollte?
»Ja.«
Kommissarin Moreau notierte die Informationen und fixierte mich mit einer skeptischen Miene. Sie schob ihrem Kollegen eine Notiz zu.
»Warum haben Sie Ihr Kostüm im Laufe der Nacht getauscht, und wo befindet sich Ihr ursprüngliches Outfit?«
»Wie bitte?« Jetzt musste ich doch lachen. »Entschuldigen Sie, aber da muss ich Sie korrigieren. Dies ist mein Kostüm.«
Der Kommissar deutete auf das Aufnahmegerät, um mich darauf hinzuweisen, dass ich jede Äußerung verbal ausdrücken musste. Ich zog eine Augenbraue nach oben. Das hier war lächerlich, hoffentlich wurde würde ich schleunigst aus dieser Farce befreit werden. Seit gut einer Stunde saß ich in einem Besprechungsraum auf dem Polizeipräsidium in Fontainebleau und bemühte mich, unverfängliche Antworten auf Fragen zu geben, deren Ursprung ich nicht verstand. Ging es um den Château Club, das sonderbare Aufnahmeritual oder die zugegebenermaßen unangemessene Art, wie ich Pilar mit Rupert abgeholt hatte?
»Ein Anzug?«, wiederholte der Polizist und warf einen prüfenden Blick auf das schmale Revers.
»Ein Smoking«, verbesserte ich ihn. »Handgefertigter Barathea-Smoking, Gregory in Schwarz aus der diesjährigen Herbstkollektion von Ralph Lauren.«
Der Polizeibeamte gab einen brummenden Laut von sich.
»Wann haben Sie Julianna Hill das letzte Mal gesehen?«, mischte sich Kommissarin Moreau ein, die ebenfalls die Geduld zu verlieren schien. Auf ihrer Stirn hatte sich eine markante Falte gebildet.
»Das müsste gegen elf gewesen sein, vielleicht etwas später.«
»Aus welchem Grund haben Sie sich für ein Leben im Schloss entschieden?«, wechselte Moreau das Thema. In mir verstärkte sich das Gefühl, in eine Falle gelockt zu werden.
Schon mein Vater und Großvater hatten einst an der Inside University studiert und ihrerseits im Château de Fleury gewohnt. Das Gespräch jedoch selbst auf meine Familie zu lenken, verhieß nie etwas Gutes.
»Ich wüsste nicht, aus welchem Grund diese Fragen eine derartig hohe Wichtigkeit haben, dass sie um drei Uhr morgens beantwortet werden müssen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich nun gern nach Hause fahren.«
Ich streckte mich, um ein Aufstehen anzudeuten. Zur Unterstreichung meiner Worte blickte ich zu der geschlossenen Tür, durch die ich hereingebracht worden war. Das über mir flackernde Neonlicht ließ die beiden Polizisten fahl und übernächtigt erscheinen. Vermutlich sehnten sie sich ebenfalls nach ihren Betten, was bedeutete, dass sie mir offensichtlich etwas verheimlichten. Bislang ergaben die thematisch schnell wechselnden Fragen keinen Sinn. Wenn es um den Château Club ging, warum erkundigten sie sich nach meiner Beziehung zu Julie?
»Die Julianna Hill, die vor zwei Monaten aufgrund einer Überdosis im Krankenhaus lag? Unseren Unterlagen zufolge wurde sie auf eigenen Wunsch hin frühzeitig entlassen – und Sie haben die Behandlungskosten getragen. Dabei hätte ihre Auslandskrankenversicherung sie vollständig abgedeckt.«
Mir lag eine Erwiderung auf der Zunge, ich schluckte sie hinunter. Der Betrag war Peanuts für meine Familie gewesen, und neben dem nervigen Papierkram entgingen wir somit auch der Möglichkeit, dass die Presse die Informationen eines Tages gegen mich oder meine Familie verwenden würde. Ich hatte mich nicht selbst um die Abwicklung gekümmert, würde es aber vermeiden, die Assistentin meines Vaters zur Sprache zu bringen.
»Ist meines Wissens nicht untersagt.«
»Gehen Sie immer so freizügig mit Ihrem Vermögen um?«, konterte Moreau.
Wenn sie dachte, ich ließe mich aufgrund der späten Uhrzeit und den scharfzüngigen Fragen provozieren, unterschätzte sie meine Selbstbeherrschung. Als alleiniger Erbe eines globalen Energiekonzerns war ich von klein auf mit Media-Training vertraut, welches die Reputation meiner Familie vor unangemessenen Journalistenfragen schützen sollte. Im Grunde agierte Kommissarin Moreau ähnlich wie die New Yorker Paparazzi – sie nutzte flapsige Behauptungen als Köder, denn Menschen ließen sich schneller dazu hinreißen, eine Falschaussage zu berichtigen, als eine direkte Frage zu beantworten.
»Sind Sie nicht dazu verpflichtet, mir den Grund für Ihre Befragung zu verraten? Zumal Sie mich gegen meinen Willen hierbehalten.«
Die Polizeibeamten tauschten einen Blick. Dumpfe Schritte näherten sich, und schließlich trat ein drahtiger Mann mit perfekt gestutztem Bart ein. Sein graues Jackett und die dazu passende Ledertasche sahen hochwertig aus und verliehen ihm eine Aura von Entschlossenheit. Seine Miene verriet keine Emotion, und obwohl ich ihn nie zuvor gesehen hatte, war mir sofort klar, dass er zur Vertretung meiner Interessen hier war.
»Guten Abend, die Herrschaften«, begrüßte der Anwalt die Anwesenden mit einem kühlen, fast spöttischen Ton. »Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber ich möchte darauf hinweisen, dass mein Mandant sein verfassungsmäßiges Recht wahrnimmt und nicht ohne meine Anwesenheit befragt werden darf. Daher fordere ich die unverzügliche Vertagung dieses Verhörs, um die Gelegenheit zu erhalten, mich mit meinem Mandanten zu beraten.«
»Stimmen Sie dem zu, Monsieur King?«, erwiderte Kommissarin Moreau, der ihre Verstimmung deutlich im Gesicht abzulesen war. Sie sah aus, als hätte sie auf eine saure Zitrone gebissen. »Wir würden Ihre Kooperation begrüßen. Wenn Sie allerdings das Gefühl haben, etwas verheimlichen zu müssen, stehen Ihnen die Türen offen. Ihnen und Ihrem Anwalt«, sie sprach das Wort betont unbeeindruckt aus, »ist es jederzeit gestattet, zu gehen.«
Ich stand geräuschvoll auf, schob den Stuhl zurück und verließ, ohne die Polizisten weiter zu beachten, den Verhörraum, gefolgt von meinem Anwalt. Im Flur stellte er sich mir als Maître Philippe Rousseau aus der Kanzlei Deschamps Avocats de Paris vor. Wir durchquerten die Polizeiwache, die aus einer Handvoll Zimmer bestand. Kein Wunder, dass die Befragung derart konfus abgelaufen war, vermutlich waren die Provinzler es nicht gewohnt, eine ernst zu nehmende Untersuchung durchzuführen.
»Worum geht es hier überhaupt?«, erkundigte ich mich im Schnellschritt. »Moment, meine Kommilitonin ist ebenfalls in einem der Verhörräume. Wir sollten sie mitnehmen. Ich weiß nicht, ob sie versehentlich etwas Belastendes aussagt. Sie ist vorhin mit den Polizisten aneinandergeraten. Pilar Santos ist ihr Name.«
Rousseau verlangsamte sein Tempo und hielt wenige Meter vor dem Ausgang inne. Er prüfte den Gang, um sicherzugehen, dass uns niemand zuhörte, was mir zu der späten Uhrzeit unnötig erschien. In der Stille der Polizeiwache war ein leises Summen des alten Kühlschranks in der Ecke zu hören. Sonst war der Ort nahezu verlassen. Der schwache Duft nach gebrühtem Kaffee hing noch in der Luft, und das flackernde Licht der Neonröhren ließ den industriellen Boden und die in einem gedämpften Taubenblau gestrichenen Wände trostlos wirken.
»Es gab einen Vorfall in dem Château, in dem Sie wohnen, Monsieur King«, sagte Rousseau in einer Stimmlage, die mir nach den abgehackten Fragen der Polizisten geradezu beruhigend vorkam. »Zwei Frauen wurden verletzt, eine von ihnen hat es leider nicht überlebt.«
»Oh. Waren es Gäste der Halloweenfeier?«
»Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Freundin unter den Opfern ist.«
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Der Boden schien unter meinen Füßen zu verschwinden, und ich strauchelte.
»Was? Nein, das kann nicht sein. Wie … wie heißen sie, die beiden Frauen?«
Rousseau sah mich mit traurigen Augen an, nahm einen tiefen Atemzug und sagte dann: »Noa Bernstein und Julianna Hill.«
zu unemotional?
Blut rauschte in meinen Ohren, die Welt um mich herum drehte sich. Schwindel ergriff von mir Besitz, begleitet von einer lähmenden Übelkeit. Ich sackte zur Seite und stützte mich mit bebenden Fingern an der Wand ab.
Nein, nein, nein, das darf nicht … Das KANN nicht wahr sein.Unmöglich, es muss sich um eine Verwechslung handeln.
Mit zittrigen Fingern zog ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte Julies Nummer. Ich wartete und wartete. Sie musste rangehen, sie musste einfach.
Was zum Teufel war passiert?
Ich drehte mich herum, wollte zurück zu den Polizeibeamten. Sie mussten mir sagen, was passiert war. Wer dafür verantwortlich war. Sie mussten … mir helfen. Dieses Missverständnis aufklären. Meine Sicht verschwamm, und ich schaffte es nicht, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Die Polizisten«, krächzte ich. »Was ist geschehen?«
»Das lässt sich noch nicht mit Gewissheit sagen, Monsieur«, erklärte Rousseau mit ruhiger Stimme.
»Ich muss zu ihr, zu Julie.«
»Es tut mir leid, Monsieur King, aber das ist vorerst nicht möglich.« Rousseau nahm einen tiefen Atemzug, um sich für die folgenden Worte zu wappnen. »Es ist Ihre Freundin. Julie ist tot.«
Jede Silbe war wie ein Schuss in meine Eingeweide.
Sie schnürten mir die Luft ab.
Was in aller Welt hatte Duncan getan? Und warum war ich nicht da gewesen, um es zu verhindern?! Wieso hatte ich das irrsinnige Clubtreffen über ihr Wohl gestellt? Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen auf der Feier. Hätte nie …
Ich schnappte nach Luft, aber meine Lungen wollten sich nicht mit Sauerstoff füllen. Einen Wimpernschlag später holte mich ein Gedanke ein, der mich in den Abgrund riss: Hatte ich unbeabsichtigt die Anweisung dazu gegeben?
Sonntag,
1. November,
07:34
Día de los Muertos – der Tag, an dem wir in Brasilien die Toten ehrten. In meiner Heimat war dies ein heiliger Tag, hier in Frankreich ein makabrer Zufall, dass der Feiertag ausgerechnet auf einen echten Todestag fiel.
Stundenlang hatte die Polizei mich befragt, bis irgendwann ein Anwalt ins Verhör geplatzt war und mir den wahren Grund für die Befragung mitgeteilt hatte. Bis zu meiner Entlassung waren einige weitere Stunden vergangen.
Mir war meine kleine Auseinandersetzung bei der Verhaftung als Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen und ein unverschämt hohes Bußgeld verhängt worden. Zudem hatten die Polizisten meine Verbindung zu Paola hergestellt und mich mit allerhand Fragen zu meiner vermissten Schwester gelöchert. So rabiat, wie Blanc dabei vorgegangen war, war ich mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen sollte, dass die Polizei von Fontainebleau endlich offiziell nach meiner Schwester fahndete.
Monsieur Rousseau war in Sachen Paola bislang nicht im Bilde, hatte mir auf Jonahs Anweisung hin aber zur Entlassung verholfen. Unsere Befragungen würden zu einem späteren Zeitpunkt und in Rousseaus Anwesenheit weitergeführt werden. Da wir beide volljährig waren, wäre es der französischen Polizei gestattet gewesen, uns ohne die Angabe eines konkreten Grundes bis zu 24 Stunden zu inhaftieren. Ich hätte nicht einmal gewusst, wen ich vor Ort hätte anrufen sollen. Caios Handynummer hatte ich nicht, und meiner Mutter wollte ich keinen Schrecken einjagen, solange es sich vermeiden ließ.
Es stimmte, was ich vor einigen Stunden zu Jonah gesagt hatte: Wir waren keine Freunde. Allerdings sah ich ein, dass wir wohl oder übel zusammenhingen. Auch wenn wir in verschiedenen Verhörzimmern gewesen waren, hatte es mich beruhigt, nicht allein zu sein. Dabei fiel es mir für gewöhnlich schwer, anderen zu vertrauen. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass Männer wie Jonah geübt im Lügen waren und sich das Recht nach ihren eigenen Bedürfnissen zurechtbogen. Da schadete es nicht, zur Abwechslung mal auf derselben Seite zu stehen.
Monsieur Rousseau hatte uns in ein Taxi gesetzt und darauf bestanden, dass wir uns, nachdem wir den versäumten Schlaf nachgeholt hatten, gegen Nachmittag bei ihm melden würden, um alles Weitere zu besprechen. Vorerst machte ich mir keine Gedanken darüber, ob es sinnvoll war, vom selben Anwalt vertreten zu werden. Weder Jonah noch ich hatten etwas mit der Todesursache zu tun. Inwiefern wir als Alibi füreinander bürgen konnten, war jedoch noch nicht zu Sprache gekommen. Zudem missfiel es mir, die vergangene Nacht auf einer Polizeistation zu rekonstruieren: Caio und all die Berührungen und Empfindungen, die schwer in Worte zu fassen waren; der grenzüberschreitende Überfall von Jonah und Rupert – und zur Krönung das mystische Aufnahmeritual der Geheimgesellschaft, die ich weniger verstand, je mehr ich über sie herausfand.
Auf der Heimfahrt ins Château begrüßten uns die ersten Strahlen der Morgensonne. Wir nahmen die letzte scharfe Rechtsbiegung, und das Taxi wurde langsamer.
»Können Sie uns noch reinfahren?«, bat ich den Taxifahrer auf Französisch. Da fiel mir eine große Ansammlung an Menschen auf, die vor den Toren des Schlosses stand. »Was ist denn hier los?!«
»Die Presse, Madame«, antwortete der Taxifahrer desinteressiert und stoppte den Wagen vor der großen Eingangspforte. Innerhalb von Sekunden war unser Taxi umgeben von Kameras, und Reporter drückten sich an die Fensterscheiben. Ich zog scharf die Luft ein.
»Aber so können wir doch nicht aussteigen. Bitte, fahren Sie uns noch auf das Gelände.«
Selbst ein großzügiges Trinkgeld konnte den Taxifahrer nicht dazu bewegen, uns auf dem Privatgelände abzusetzen. Neben dem Eingang hing ein neues Schild mit den Worten Accès Interdit – Zutritt verboten.
»Okay, Jonah, wir müssen da durch, fürchte ich. Kopf runter und zügig laufen, ja? Ins Château dürfen sie uns nicht folgen.«
Hoffentlich würden sie sich auch an die Anweisung halten, immerhin gab es weder Sicherheitspersonal noch einen Pförtner. Bis zu Jonahs Appartement würden wir mindestens zehn Minuten zu Fuß brauchen. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie viel länger es dauern würde, wenn wir von Paparazzi umgeben wären.
Unsicher, ob Jonah meine Worte vernommen hatte, öffnete ich meine Tür. Es waren etwa zehn Meter bis zum Haupttor des Privatgeländes. Noch nie waren mir so wenige Schritte so weit vorgekommen. Als hätten die Journalisten Jonah erkannt, setzte bei seinem Aussteigen ein Blitzlichtgewitter ein. Wie angewiesen, hielt er den Kopf gesenkt und drückte sich durch die Menschenmenge, während das Taxi davonfuhr und uns ungerührt unserem Schicksal überließ. Zwar wichen die Reporter uns aus, sobald wir näher kamen, dafür feuerten sie ihre Fragen wie aus einem Maschinengewehr auf uns ab.
»Jonah King, ist Ihre Freundin wirklich tot?«
»Was ist auf der Halloweenfeier geschehen?«
»Haben Sie Ihre Freundin umgebracht?«
»Fühlen Sie sich im Château noch sicher?«
»Stimmt es, dass Sie einem Geheimclub angehören, der Menschenopfer erbringt?«
»Ist das Ihre neue Freundin?«
»Sollte das Château geschlossen werden?«
»Haben Sie Julie Hill umgebracht?«
»Wie viele Frauen müssen noch daran glauben, bis das Schloss endlich geschlossen wird?«