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Ein beinahe vergessener Mädchenmord
Inspektor Kenjiro Takeda, mittlerweile in Deutschland heimisch geworden, und Claudia Harms vor ihrem heikelsten Fall. Ein stadtbekannter Rechtsanwalt ist in seiner Villa getötet worden. Schnell steht sein letzter Mandant unter Verdacht: ein berühmter Schauspieler, dem eine Vergewaltigung vorgeworfen wird. Doch dann weisen die Spuren plötzlich in die ferne Vergangenheit: zu einem Mord an einem Mädchen, in das der Anwalt als Jugendlicher verliebt war. Und noch jemand war damals in den Fall verwickelt – der regierende Bürgermeister von Hamburg.
Inspektor Takeda – Jazzliebhaber und genialer Spurenleser – und ein Fall, der alles in sich birgt: Lüge, Täuschung, Mord.
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Seitenzahl: 462
Klaus-Peter Haffner gilt als ein sehr erfolgreicher Anwalt – und auch als ein Mann, der über Leichen geht. Als er in seinem Haus erschossen wird, haben Ken Takeda und Claudia Harms gleich eine ganze Reihe von Verdächtigen zur Auswahl. Allen voran Haffners eigene Tochter, die ihren Vater hasst, weil er sich früh von ihrer Mutter scheiden ließ, und Jost Weber, Star in einer Telenovela, der wegen Vergewaltigung vor Gericht stand, der zwar freigesprochen wurde, doch dessen Ruf nun ruiniert ist. Inspektor Takeda jedoch ist dafür bekannt, dass er genauer hinter die Fassaden schaut – und plötzlich findet er heraus, dass Haffner Zeuge in einem Mordfall war. Vor fast vierzig Jahren wurde eine Mitschülerin ermordet. Haffner brachte den Schuldigen hinter Gitter – doch nun ist der Mann seit einigen Jahren wieder auf freiem Fuß.
Henrik Siebold ist Journalist und Buchautor. Er hat unter anderem für eine japanische Tageszeitung gearbeitet sowie mehrere Jahre in Tokio verbracht. Zur Zeit lebt er in Hamburg.
Bisher erschienen als Aufbau Taschenbuch »Inspektor Takeda und die Toten von Altona«, »Inspektor Takeda und der leise Tod«, »Inspektor Takeda und der lächelnde Mörder«, »Inspektor Takeda und das doppelte Spiel« sowie »Inspektor Takeda und die stille Schuld«.
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Henrik Siebold
Inspektor Takeda und das schleichende Gift
Kriminalroman
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Ausklang
Impressum
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1.
»Du musst schießen, Ken! Überleg nicht lange, schieß!«
Inspektor Kenjiro Takeda wusste, dass er keine Wahl hatte. Jetzt oder nie. Es kam ganz auf ihn an.
Für kurze Momente schloss der Polizist aus Tokio die Augen, spürte seinen Atem, spürte seinen Herzschlag. Ruhe durchströmte ihn, sogar jetzt, im Augenblick der höchsten Konzentration. Dann ging er leicht in die Knie, visierte sein Ziel an und schoss.
Die Kugel beschrieb eine leichte Ellipse und traf krachend ins Ziel. Klack, klack! Metall auf Metall. Die bereits platzierten Kugeln der Gegner stoben davon, während Takedas eigener Wurf träge am Boden weiterrollte … die ewige Frage beim Boulespiel, legen oder schießen? Takeda hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Aber würde seine Kugel wirklich das Ziel erreichen? Würde sie dem Schweinchen, dem kleinen hölzernen Zielkügelchen am nächsten kommen? Genügte ihr Schwung, oder würde sie auf dem sandigen Untergrund im Hamburger Stadtpark zu früh liegen bleiben? Es ging um Millimeter! Komm schon, roll weiter! Takeda selbst und alle seine Mitspieler hielten den Atem an. Dann, mit zeitlupenhafter Geschwindigkeit, schob sich die Kugel in die Mitte des Feldes, passierte die letzte Gegnerkugel, rollte noch einen, zwei Fingerbreit weiter, bis sie schließlich unmittelbar neben dem Schweinchen liegen blieb.
Das war der Sieg!
Applaus brandete auf. Jubelrufe waren zu hören. Takedas Teammitglieder, Männer wie Frauen, rannten zu ihm, umarmten ihn, klopften ihm auf die Schulter.
»Bravo, Ken – ein Meisterschuss!«
»Gut gemacht! Das war die Entscheidung!«
»Sag selbst, Ken. Boule ist zwar keine japanische Erfindung. Aber das Spiel ist doch wie für euch gemacht, oder?«
Die Frau, die das sagte, hieß Sandra Kamp. Takeda war mit ihr und ihrem Mann Jochen befreundet. Er sah sie verdutzt an, musste dann lächeln. »Du hast recht, Sandra. Vieles, was wir Japaner schätzen, ist beim Boule wichtig. Die Ruhe, die Konzentration, dazu die Perfektionierung einer einzigen Bewegung …«
»Man merkt es an dir! Du spielst noch nicht lange und bist schon so gut geworden!«
»Danke.«
»Kommt, Leute! Ken! Sandra! Machen wir eine Pause. Stoßen wir auf unseren Sieg an!«
Jochen winkte ihnen aufmunternd zu. Der Inspektor ging mit den anderen hinüber zu dem Tapeziertisch, der neben der Spielfläche aufgebaut war. Er war beladen mit Schalen voller Salat, Oliven, eingelegten Artischocken, Spießen, dazu Baguette und Schwarzbrot, verschiedene Weine, rot und weiß. Savoir-vivre … Die französische Redewendung ließ sich mit Recht auch auf die Deutschen übertragen, jedenfalls auf die Deutschen von heute, fand Takeda. Zu leben wissen … ja, das hatten die Menschen hierzulande wahrlich gelernt!
Es war Sommer in Hamburg, ein früher Sonntagabend im Juli. Immer noch war es warm, fast heiß, und durch den Park waberte der Duft nach Holzkohle und Grillfleisch. Die Rufe der nahen Fußballspieler waren zu hören, dazu die Musik der afrikanischen Trommler und der feiernden Latinos – ein wunderbares, kunterbuntes Durcheinander.
Wieder einmal dachte Takeda, dass ihm das Austauschprogramm der Polizeiorganisationen, das ihn nach Deutschland geführt hatte, so viel mehr eingebracht hatte als nur interessante Einblicke in die hiesige Ermittlungsarbeit. Er hatte in Hamburg zu einem neuen, entspannten Lebensgefühl gefunden, das er nicht mehr missen wollte.
2.
Kriminalhauptkommissarin Claudia Harms saß zur selben Zeit in einem Café an der Außenalster. Grüne Weiden, blaues Wasser. Segelboote. Dazu ein Hugo auf Eis.
Perfekt.
Aber war es das wirklich?
Vor wenigen Tagen hatte sie das Kündigungsschreiben für ihre Wohnung im Briefkasten gehabt. Wegen Eigenbedarfs. Bei einem Telefonat hatte ihr Vermieter von einer Nichte gesprochen, die zum Studium nach Hamburg käme und ein Dach über dem Kopf bräuchte. Eine Dreizimmerwohnung? Für eine Studentin? Echt jetzt, Herr Lessing? Lessing, ihr Vermieter, war von Beruf Rechtsanwalt. Er bot Claudia an, ihr die Rechtslage gerne in einem persönlichen Gespräch zu erläutern. Gönnerhaft fügte er noch hinzu, dass, sollte Claudia schneller als vertraglich vereinbart ausziehen, sie keine Renovierung vornehmen müsse. Und da sei ja doch einiges zu machen, nach all den Jahren, Frau Harms, überlegen Sie es sich. Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit.
Claudia machte sich keine Illusionen. Gegen einen wie Lessing hatte sie keine Chance. Sie musste aus der Wohnung raus. Was das hieß, war klar, angesichts des Mietmarktes. Sie würde sich entweder drastisch verkleinern oder weit aus der Stadt hinausziehen müssen.
So war das Schicksal von Polizisten heutzutage. Sie mussten für Ruhe und Ordnung in einer Stadt sorgen, in der sie sich selbst keine Wohnung mehr leisten konnten.
Der zweite Grund für Claudias nicht allzu prächtige Laune saß ihr gegenüber und hörte auf den Namen Daniel. Dabei sollte er sie doch eigentlich zum Lächeln bringen.
Daniel war Ende dreißig und ein hübscher Kerl. Kantiges Kinn, schöne, blaue Augen. Er bemühte sich nach Kräften um ein lockeres Gespräch, bei dem sie sich näher kennenlernen könnten.
»Du bist also Lehrerin? So stand’s in deinem Profil«, fragte Daniel und sah sie neugierig an.
»Mmh. Genau. Lehrerin.«
»Welche Fächer unterrichtest du?«
»Ach, alles Mögliche. Deutsch, Mathe, Sport … was es halt so gibt.«
Er nickte beeindruckt. »Ich stelle es mir toll vor, mit jungen Menschen zu arbeiten. Ist auch total wichtig. Ich meine, junge Leute sind unsere Zukunft!«
Claudia wollte in aller Ernsthaftigkeit zustimmen, musste dann aber doch lachen. Mal ehrlich, so einen Spruch würde man ja nicht einmal in ein Poesiealbum schreiben. Aber Daniel dachte wirklich, er könnte damit Punkte bei ihr machen.
Ein wenig schnoddrig sagte sie: »Sicher, gute Schulbildung ist wichtig. Weil, wenn es falsch läuft, landen die jungen Leute auf der schiefen Bahn. Dann werden sie Mörder oder Totschläger, Betrüger, Handtaschendiebe … nichts Gutes jedenfalls.«
»Äh … ja. Das ist dann nicht so schön.«
Claudia trank einen Schluck von ihrem Hugo. Verdammt, sie musste sich mehr Mühe geben. Dieser Daniel konnte schließlich nichts dafür, dass sie nur mit halbem Herzen hier saß.
Sieh es doch einfach positiv, ermahnte sie sich im Stillen. Die Zeichen stehen auf Veränderung. In jeder Hinsicht. Wohnen. Männer. Das ganze Leben. Akzeptiere es.
Claudia rang sich zu einem Lächeln durch. »Und du? Du bist im Außenhandel, richtig?«
»Ja, genau. Ich mache Logistik bei einer großen Einkaufsgenossenschaft. Agrarprodukte aus Afrika und Asien. Ist eine Herausforderung. Da geht’s um globale Handelsnetze, Verhandlungen mit Produzenten, aber auch Regierungsstellen. Im Zweifel mit der lokalen Mafia. Anstrengend. Ab und zu gefährlich. Aber ich mache es gerne …«
Er sah sie an, als könnte sie gar nicht anders, als beeindruckt zu sein. Claudia aber hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Das mit dem Onlinedating war die Idee ihrer Freundin Gudrun gewesen. An einem Abend vor vierzehn Tagen hatte sie Claudia mit strenger Stimme ermahnt: »Triff dich endlich wieder mit einem Mann, Claudia. Früher warst du doch auch keine Kostverächterin. Tu es! Sonst kapiert dein Herz nie, dass es mit dem Japaner vorbei ist.«
»Du hast ja recht. Trotzdem …«
»Und hör auf zu jammern! Es war deine Entscheidung, nicht seine. Takeda wollte mit dir zusammen sein. Du hast Schluss gemacht. Vergiss das nicht.«
»Ich weiß. Aber das macht es nicht besser.«
Es stimmte. Sie hatte die Sache mit Ken endgültig beendet. Warum eigentlich? Weil sie sich gestritten hatten? Oder weil sie sich eingeengt gefühlt hatte? Vielleicht. Aber das waren nur Symptome, nicht die Ursache. Der wahre Grund lag tiefer. Es lief vermutlich darauf hinaus, dass sie einfach beziehungsunfähig war. Ihre Eltern hatten ihr eine miese Ehe vorgelebt. Ständiger Streit, Betrügereien, eisiges Schweigen. So wollte sie nicht enden. Darum wurde sie bei den kleinsten Krisensymptomen panisch. Mit Takeda war es eigentlich gut gewesen. Aber würde es so bleiben? Bestimmt nicht. Also lieber Schluss machen, bevor es zu spät war.
Gudrun hatte sie dann kurzerhand bei dem Datingportal angemeldet, hatte aus Claudia eine Lehrerin gemacht. Welcher Mann ließ sich schon auf ein Date mit einer Polizistin ein? Dann noch mit einer vom Mord?
Gemeinsam hatten sie die ersten Kandidaten ausgesucht, sich schließlich für Daniel entschieden. Nicht toll. Aber auch nicht total unmöglich. War einen Versuch wert.
Daniel durchschaute sie. Er versuchte ein tapferes Lächeln. »Warum bist du eigentlich hier? Du willst mich doch gar nicht kennenlernen, oder?«
»Weiß nicht. Doch, eigentlich schon.«
»Trotzdem bist du nicht bei der Sache.«
»Du hast recht. Tut mir leid.«
»Woran liegt es? Ein anderer Mann? Einer, über den du noch nicht hinweg bist?«
»Ja, ich glaube, das ist es.«
»Bist du verlassen worden?«
»Eher umgekehrt. Ist kompliziert. Ich bin kompliziert.«
»Das merkt man. Aber weißt du was? Ich kenne eine super Methode, wie du auf andere Gedanken kommst.«
»Und zwar?«
»Verbring die Nacht mit mir! Glaub mir, danach spielt kein anderer Mann mehr eine Rolle für dich.«
Claudia starrte ihn ungläubig an. »Dir ist schon klar, dass wir uns gerade mal seit einer halben Stunde kennen?«
»Sicher. Aber ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.«
Claudia stutzte und brach dann in schallendes Gelächter aus. Sie wollte Daniel gerade eine saftige Erwiderung an den Kopf knallen, als ihr Handy klingelte. Sie fischte das Gerät aus der Tasche und nahm das Gespräch an. Das Präsidium. Schon während sie lauschte und aufstand, sagte sie in Daniels Richtung: »Tut mir leid, ich muss los. Ein Einsatz.«
»Ein Einsatz! An der Schule?«
»Wieso Schule?«
»Du bist doch Lehrerin!«
»Ach so … nee, das war Quatsch. In Wirklichkeit bin ich Bulle bei der Mordkommission.«
Er sah sie kopfschüttelnd an. »Ganz schön frech, so zu lügen.«
»Wieso? Hast du doch auch getan!«
»Ich? Wieso?«
»Du meintest, du wärst ein netter Kerl. Kein Vollidiot, der ohne Aufwand eine Frau ins Bett kriegen möchte. Schönen Abend noch.«
Claudia drehte sich um und ging. War besser so. Sie war sich nicht sicher, ob sie immer noch lachen oder eher heulen würde.
3.
Der Mann saß am Schreibtisch seines Arbeitszimmers, als wäre er eingeschlafen. Sein Kopf war auf die Brust gesackt, die Arme hingen schlaff an den Seiten herab, die Beine waren ausgestreckt, so dass er ein wenig in seinem Stuhl nach unten gerutscht war.
Was nicht ins Bild eines Schlafenden passte, waren die Schussverletzungen in der Brust, am Hals, an der Stirn des Mannes, dazu die dunkelrote Blutspur, die sich über sein Hemd bis auf die Hose zog und auch eine riesige, schon eingetrocknete Lache unter dem Tisch gebildet hatte. Außerdem waren auf dem Fußboden blutverschmierte Fußspuren zu erkennen, die vom Schreibtisch in Richtung Tür führten.
Takeda war noch vor Claudia am Tatort eingetroffen, nachdem sie ihn auf dem Handy angerufen hatte. Sie selbst wollte noch kurz nach Hause, sie wäre für einen Mordfall einfach zu unpassend gekleidet. Er hingegen war direkt vom Stadtpark aufgebrochen, in Jeans und T-Shirt. Ebenfalls unpassend. Aber wen interessierte das?
Als Takeda ankam, hatten ihm die Kollegen der Spurensicherung, die bereits vor Ort waren, einen Überblick über die Lage gegeben. Anders als sonst hatten sie auf die spöttischen Sprüche zur Begrüßung – Ah, der Samurai ist eingetroffen! Seht mal, unser Pokemon-Detektiv ist da! – verzichtet. Takeda nahm es mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis. Offenbar hatten sie ihn endlich, nach fast einem Jahr des Aufenthalts in Hamburg, als das akzeptiert, was er war: ein vollwertiges Mitglied der Mordkommission.
Sicher, nach weiteren zwölf Monaten, wenn das Austauschprogramm mit Hamburg auslief, würde er nach Japan ans Keishichō, das Tokioter Polizeipräsidium, zurückkehren. Bis dahin aber arbeitete er bei allem mit, was anfiel. Er war ein Mitarbeiter wie alle anderen. Nicht mehr, nicht weniger.
Der Tatort befand sich in Billwerder, einem fast dörflich wirkenden Ortsteil im Osten von Hamburg. Die Gegend nannte man die Marschlande, gelegen zwischen dem Strom der Elbe und dem Geesthang, der die Flussebene eingrenzte. Takeda war noch nie hier gewesen, war überrascht von der idyllischen Umgebung. Wiesen und Felder, dazu reetgedeckte Häuser mit stuckverzierten Fassaden, die von bäuerlichem Wohlstand zeugten. Ihm war nicht klar gewesen, dass es in Hamburg auch solch ländliche, beschauliche Flecken gab.
Ein uniformierter Kollege nahm ihn in Empfang und führte ihn zum eigentlichen Tatort. Er stellte sich als Torsten Kühne vor, wollte Toddi genannt werden. Er erkundigte sich nach Claudia, die er zu kennen schien, und Takeda erklärte, dass sie sicherlich bald eintreffen würde.
Toddi führte Takeda um das große Haupthaus herum. Es war ebenfalls ein Bauernhaus, das offenbar teuer und aufwendig saniert worden war. Viele der alten Fachwerkelemente waren durch Glas ersetzt worden, das Reetdach offenbar erst vor Kurzem erneuert worden. Die vordere Fassade wurde von Buschrosen verziert, der Garten war von professioneller Hand gepflegt. Vor einer Doppelgarage standen zwei Autos, ein großer SUV sowie ein kleinerer Sportwagen, beides hochpreisige Modelle.
Hier wohnte Geld, so viel stand fest.
Hinter dem Haus befand sich ein kleineres Nebengebäude, auf das Toddi zusteuerte. Takeda vermutete, dass es ursprünglich ein Stall, vielleicht auch ein Schuppen für landwirtschaftliches Gerät gewesen war. Wie das Haupthaus war es aufwendig saniert worden, diente nun offenbar als Büro oder Arbeitszimmer.
Gemeinsam mit Toddi trat Takeda in die offene Tür des Büros, sah den Toten am Schreibtisch, das Blut auf seiner Kleidung, die Schusswunden.
Auch hier waren zwei Kollegen der Spurensicherung bei der Arbeit. Beide trugen weiße Schutzanzüge. Ohne den Toten weiter zu beachten, bestäubten sie mit großen Pinseln Gegenstände oder platzierten Nummernwimpel neben möglichen Beweisstücken. Sie grüßten Takeda, baten ihn, sich noch einige Minuten zu gedulden, bevor er einträte.
Der Inspektor bestätigte es mit einer kleinen Verbeugung. Er wusste, dass die Spusi immer den ersten Zugriff am Tatort hatte. Weder die Ermittler noch die Rechtsmediziner durften näher rücken, bevor die Spusi-Mitarbeiter nicht grünes Licht gaben, immerhin konnten auch die Ermittler wertvolle Spuren zerstören.
Toddi, der neben Takeda stand, erklärte: »Das Opfer heißt Klaus-Peter Haffner. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt, Rechtsanwalt. Seine Ehefrau hat ihn gefunden. Sie war zusammen mit der Tochter übers Wochenende verreist und ist am frühen Abend wiedergekommen. Die Fußspuren sind laut eigener Aussage von ihr. Sie dachte, er wäre verletzt, und ist reingerannt. Dann hat sie erst kapiert, was los ist.«
»Wo ist die Frau jetzt?«
»Im Haupthaus.«
»Wird sie betreut?«
»Eine Kollegin ist bei ihr. Scheint aber nicht unbedingt nötig zu sein. Sie wirkt ziemlich gefasst.«
»Sie findet ihren erschossenen Ehemann und ist gefasst!?«
»Vielleicht kommt der eigentliche Schock erst mit Verzögerung. Haben wir schon erlebt, oder?«
Takeda nickte. »Was ist mit der Tochter?«
»Kann ich nicht sagen. Sie ist klein, höchstens sieben oder acht Jahre alt. Sie hat ihren Vater ebenfalls so gesehen, anscheinend noch vor ihrer Mutter.«
»Sollen wir psychologische Unterstützung für sie anfordern?«
»Die Mutter sagt, nein, es sei nicht nötig.«
»In Ordnung. Wir werden später mit den beiden sprechen.«
»Ich sorge dafür, dass sie hierbleiben. Wenn du mich jetzt nicht mehr brauchst, gehe ich wieder nach vorne. Ich muss das Gelände absperren, es wird langsam voll.«
»Voll?«
Toddi grinste. »Schaulustige. Ist nicht unbemerkt geblieben, dass hier etwas vor sich geht. Die ersten Filmchen sind bestimmt schon auf Facebook oder Insta.«
Takeda trat einige Schritte zurück und blickte in Richtung der Grundstücksauffahrt. Tatsächlich hatte sich dort eine kleine Menschenmenge eingefunden, vermutlich Nachbarn oder auch zufällig vorbeigekommene Spaziergänger. Einige von ihnen hielten ihre Handys in die Höhe.
Die Zeiten, in denen Livebilder etwas Besonderes waren, vielleicht aufwendig vom Ü-Wagen einer Fernsehanstalt versendet wurden, waren lange vorbei. Heutzutage war jeder seine eigene TV-Station. Ein simples Smartphone mit Datenverbindung genügte.
Es war inzwischen eher umgekehrt: Wozu es keine Bilder gab, war auch nichts geschehen. Zumindest interessierte sich niemand dafür.
»Sicher, geh ruhig, Kollege. Danke.«
Toddi tippte sich an die Uniformmütze und marschierte nach vorne. Takeda blieb im Türbogen des Arbeitszimmers stehen. Während die Spusi-Kollegen weiter ihre Arbeit verrichteten, ließ er die Szenerie auf sich wirken.
Tatorte konnten viel erzählen, wenn man nur verstand, ihnen zuzuhören. Das war eine Ermittlerweisheit, die in Deutschland wie in Japan, ja vermutlich auf der ganzen Welt galt. An einem Tatort ließ sich die Art der Tatbegehung erahnen, die Umstände, unter denen das Opfer gelebt hatte, zumeist auch das Vorgehen des Täters.
Im Zweifel entschied sich hier bereits, in welche Richtung die Ermittlungen gehen würden.
Das Mobiliar in dem Büro wirkte gediegen. Der Schreibtisch war modern, aus Glas und dunklem Stahl. Davor standen zwei Besucherstühle aus schwarzem Leder mit Rahmen aus verchromtem Metall. An den Wänden befanden sich Aktenschränke mit gelackten Oberflächen, außerdem Bücherborde, auf denen ledergebundene Bände standen. Es waren Urteilssammlungen und Gesetzestexte, soweit Takeda erkennen konnte, zum Teil auch großformatige Kunstbände.
Also ein Anwalt, der sich für mehr als seine Arbeit interessierte. Das machte auch das gerahmte Bild deutlich, das zwischen zwei Aktenregalen an der Wand hing. Es zeigte mehrere Figuren, die in bunten Farben gemalt waren. Eine davon trug einen Hut. Das Bild wirkte fröhlich und verspielt, es gefiel Takeda. Nur wollte die ausgelassene Stimmung, die es ausdrückte, so gar nicht zu dem erschossenen Mann hinter dem Schreibtisch passen.
4.
Noch während Takeda den Raum betrachtete, hörte er Schritte hinter sich. Claudia trat neben ihn. Sie folgte seinem Blick und erklärte: »Gefällt dir das Bild? Es ist ein Lindenberg. Nicht schlecht, oder?«
»Ich mag es. Es ist ein bisschen wie ein Manga. Ist Lindenberg ein Maler?«
»Eigentlich ist er Rockmusiker. Er singt auf Deutsch, er war sogar einer der Ersten, die das getan haben, schon in den siebziger Jahren. Aber er malt auch. Seine Bilder nennt er Likörelle, weil er sie nicht mit Farben, sondern mit alkoholischen Getränken malt.«
»Bilder aus Schnaps? Das ist ungewöhnlich.«
Claudia lachte. »Wie der ganze Mann. Ich glaube, er würde dir gefallen. Aber egal, darum sind wir nicht hier. Es tut mir übrigens leid, dass ich so spät komme. Ich war noch … mit einer Freundin unterwegs. Ich musste erst nach Hause und mich umziehen.«
»Kein Problem. Wir können ohnehin noch nicht viel machen. Die Kollegen sind noch bei der Arbeit.«
»Sehe ich.«
Claudia grüßte die Spusi-Mitarbeiter. Die erklärten, wie schon gegenüber Takeda, dass sie noch ein paar Augenblicke bräuchten, bevor die Ermittler loslegen könnten.
»Schon gut. Lasst euch Zeit.«
Claudia tat dasselbe wie Takeda, sie ließ den Tatort auf sich wirken, betrachtete den Toten am Schreibtisch, die Einrichtung, die Blutspuren am Boden.
»Und? Was denkst du?«, fragte sie nach einer Weile.
»Kein Überfall, kein Raubmord. Sonst wären sicherlich die Schränke durchwühlt worden«, erklärte Takeda.
»Stimmt, die Einrichtung ist unberührt. Glaubst du, dass Täter und Opfer sich kannten?«
»Ja. Der Mann heißt Klaus-Peter Haffner und war Anwalt. Sieh mal, auf seiner Seite des Tisches stehen ein Glas Wein und eine Flasche …«
»… und auf der Besucherseite liegt noch ein Untersetzer. Wer immer hier war, er war klug genug, sein Glas mitzunehmen, um uns keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.«
»Vielleicht gab es Streit mit einem Mandanten? Oder einem juristischen Gegner?«
»Möglich. Was fällt dir sonst auf?«
»Die beiden Besucherstühle … seltsam, findest du nicht?«
Claudia sah auf die Sitzmöbel vor dem Schreibtisch. Es waren filigrane Konstruktionen aus silberfarbenem Rohr und feinstem Leder. Designerstücke. Sicherlich teurer als alles, was sie selbst an Möbeln besaß.
»Der Tote hatte Geschmack. Und er konnte sich ein teures Interieur leisten. Aber ich nehme an, darauf willst du nicht hinaus?«
»In der Tat, es geht mir um etwas anderes. Ich müsste vorher nur …« Takeda wandte sich an die Spusi-Mitarbeiter und fragte, ob er und Claudia nun den Raum betreten dürften. Die Kollegen wechselten ein paar Worte, gaben dann ihr Einverständnis.
Gemeinsam traten sie ein, und während Claudia zunächst in der Raummitte stehen blieb und sich weiter umsah, näherte Takeda sich dem Schreibtisch. Er untersuchte die Besucherstühle, den Fußboden rundherum. Dann betrachtete er die Szenerie aus verschiedenen Blickwinkeln, ging in die Hocke, stand wieder auf, musterte das Bücherregal, das an der Wand hinter dem Schreibtisch stand.
Auch hier befanden sich mehrere Nummernwimpel, etwa in Kniehöhe. Sie markierten Einschusslöcher in den ledergebundenen Bänden, offenbar Schüsse, die das Opfer verfehlt hatten.
Schließlich nickte Takeda zufrieden und erklärte: »Es ist, wie ich vermutet habe.«
»Nämlich?«
»Nun, gehen wir davon aus, dass Haffner zunächst mit seinem Besucher Wein getrunken hat. Täter und Opfer kannten sich also. Dann ist ein Streit ausgebrochen. Der Besucher springt auf. Dabei fällt sein Stuhl nach hinten über, das zeigen die Schrammen am Stahl, ich habe es mir angesehen. Winzige Chromspuren sind noch auf dem Boden, es ist also nicht lange her. Der Besucher zieht eine Waffe und schießt. Allein, dass er bewaffnet erschienen ist, legt nahe, dass er mit einem Konflikt gerechnet hat. Vielleicht war die gesamte Tat geplant.«
»Wir wissen nicht, ob die Waffe nicht dem Opfer gehörte«, gab Claudia zu bedenken.
»Richtig, das ist möglich. Aber ich halte es für unwahrscheinlich. Der Täter hätte Haffner die Waffe abnehmen müssen. Es hätte ein Kampf stattgefunden. Wir sehen keine Spuren, die darauf hindeuten.«
»Einverstanden.«
»Interessant finde ich die Bücherwand hinter dem Schreibtisch. Wir sehen mehrere Kugeln, die danebengegangen sind.«
»Und das aus einer Entfernung von höchstens zwei oder drei Metern. Wer immer es getan hat, ein guter Schütze war er nicht.«
»Korrekt. Allerdings zeigen uns die Verletzungen, dass der Täter immer weiter geschossen und das Opfer letztlich eben doch mehrfach getroffen hat. Der Täter wollte sichergehen, dass Haffner stirbt.«
»Absolut. Ein Schuss in die Brust, in die Schulter, den Hals, schließlich in den Kopf, aber du meintest, dass du etwas wegen der Stühle auffällig findest.«
»Wie gesagt, aus dem Winkel der Schüsse können wir schließen, dass der Schütze gestanden hat. Nach der Tat aber geschieht etwas Überraschendes.«
Claudia lächelte. »Allmählich ahne ich, worauf du hinauswillst. Der Täter rennt nicht einfach raus, sondern er beginnt damit, seine Spuren zu verwischen. Er bückt sich und …« Claudia wandte sich an die Kollegen der Spurensicherung. »Ihr habt keine Hülsen gefunden, richtig? Ich sehe jedenfalls nicht, dass ihr welche markiert habt.«
»Stimmt, es waren keine da. Kann natürlich sein, dass wir sie noch irgendwo unter den Schränken finden. Aber beim ersten groben Hinsehen war da nichts«, erklärte einer der Männer im weißen Schutzanzug.
»Der Täter klaubt also die Hülsen auf«, fuhr Claudia fort. »Er weiß, dass sie Hinweise liefern könnten. Aus dem gleichen Grund steckt er das Weinglas ein, aus dem er getrunken hat.«
»Richtig. Und dann nimmt er sich auch noch die Zeit, den Stuhl, den er umgestoßen hat, wiederaufzurichten. Er könnte das getan haben, um die Armlehnen abzuwischen, auch wegen möglicher Fingerabdrücke. Kurios ist aber, dass er den Stuhl feinsäuberlich vor den Schreibtisch stellt. Das spricht für sich.«
Claudia nickte. »Es war keine Affekttat. Der Täter hat planvoll gehandelt und war auch nach der Tat noch ruhig und überlegt. Er räumt auf, mehr als es nötig wäre. Dann erst verlässt er den Tatort.«
»So sieht es auch für mich aus. Und trotzdem … es passt einfach nicht zusammen. Ein lausiger Schütze, der dennoch seine Hülsen aufhebt und seine Fingerabdrücke beseitigt und der dann auch noch für Ordnung sorgt.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht darauf, dass der Täter eine sehr widersprüchliche Persönlichkeit ist.«
5.
Während Takeda sich draußen auf dem Grundstück umsah, betrat Claudia das Haupthaus, um mit der Frau und der Tochter des Opfers zu sprechen.
Durch die Haustür gelangte sie in einen Vorraum mit Garderobe und großem Spiegel. Von dort ging sie weiter in ein Wohnzimmer. Der Raum war überraschend groß. Offenbar waren Wände und eine Zwischendecke entfernt worden, so dass zum oberen Stockwerk hin eine offene Galerie entstanden war. Die Einrichtung stand in einem durchdachten Kontrast zu den alten, freigelegten Holzbalken. Gerade Linien, dunkle Stoffe, Kühle, abstrakte Kunst an den Wänden. Durchaus geschmackvoll. Sehr modern.
Claudia hätte nichts dagegen, so zu wohnen. Aber das könnte sie sich nicht einmal im Traum leisten. Sie würde sich vermutlich bald mit Zwei-Zimmer-Küche-Bad in der Vorstadt zufriedengeben müssen.
Die Witwe war eine schlanke, gut aussehende Frau in enger Jeans und einer seidig glänzenden Bluse. Sie sprach mit einem schwachen Akzent, den Claudia nicht sofort einordnen konnte. Sie war vielleicht Anfang dreißig und damit einige, nein, viele Jahre jünger als ihr ermordeter Mann. Reicher deutscher Anwalt in gesetztem Alter, junge ausländische Frau … ein Klischee, das das Leben nicht gerade selten bediente. Warum? Weil Männer so waren. Und Frauen auch.
Nachdem Claudia auf einem stylischen, aber unbequemen Sofa Platz genommen hatte, bot die Frau ihr etwas zu trinken an. Draußen war es immer noch warm, sie war durstig und bat um ein Wasser. Die Hausherrin reichte ihr ein Glas, bediente sich selbst an einer Weinflasche, nahm dann ebenfalls Platz.
»Schildern Sie mir zunächst bitte genau, wie es war, als Sie Ihren Mann gefunden haben, Frau Haffner«, eröffnete Claudia das Gespräch.
»Ich heiße Olsen. Mein Mann und ich tragen nicht denselben Namen.«
»Verzeihung, Frau Olsen. Sie sind …?«
»Ich stamme aus Norwegen, aber ich lebe schon lange hier in Deutschland.«
»Ich verstehe.«
Olsen lächelte kurz, wurde dann wieder ernst. »Ich bin gegen achtzehn Uhr mit meiner Tochter nach Hause gekommen. Wir waren über das Wochenende bei einer Freundin.«
»Wo genau?«
»In der Nähe von Bremen. Ada, so heißt meine Freundin, hat eine Tochter im selben Alter. Die Kinder spielen gerne miteinander. Eigentlich wollte ich erst am späten Abend zurückkehren, vielleicht sogar erst morgen.«
»Morgen ist Montag. Sie sind nicht berufstätig?«
»Doch, ich bin Architektin, mit eigener Firma. Ich kann mir meine Zeit selbst einteilen.«
»Beneidenswert. Weiter.«
»Wir sind früher losgefahren, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Ich konnte Klaus-Peter am Telefon nicht erreichen, schon seit gestern Abend nicht. Ich wollte nach Hause und nachsehen, ob ihm etwas passiert ist.«
»Was glaubten Sie, hätte passiert sein können?«
Olsen – sie hieß mit Vornamen Linn – hob hilflos die Schultern. »Klaus-Peter arbeitet viel, oft auch am Wochenende. Er steht unter Stress und achtet nicht unbedingt auf seine Ernährung. Auch wenn ich ihn immer wieder dazu ermahnt habe.«
»Sie haben befürchtet, er könnte gesundheitliche Probleme haben?«
»Jedenfalls habe ich nicht damit gerechnet, dass er erschossen worden sein könnte.«
Claudia versuchte ein versöhnliches Lächeln. »Hören Sie, Frau Olsen, ich stelle diese Fragen nicht, um Sie in Verlegenheit zu bringen. Ich muss mir einfach ein möglichst vollständiges Bild machen.«
»Natürlich.«
»Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Mann gesprochen?«
»Gestern Vormittag, als wir, also meine Tochter und ich, losgefahren sind.«
»Danach hatten Sie keinen Kontakt mehr?«
»Nein. Ich habe gestern Abend versucht, ihn anzurufen. Angelina wollte ihm Gute Nacht sagen.«
»Das ist Ihre Tochter?«
»Ja.«
»Wie alt ist sie?«
»Sieben.«
»War sie dabei? Ich meine, als Sie Ihren Mann gefunden haben?«
Zum ersten Mal war Betroffenheit im Gesicht der Frau zu sehen. Sie schlug die Augen nieder. »Sie hat ihn gefunden. Klaus-Peter war nicht hier im Haus, als wir ankamen. Darum dachte sie, dass er im Büro ist, und ist hingerannt. Als ich nichts hörte, bin ich hinterher. Sie stand kreidebleich in der Tür und hat ihn angestarrt.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Ich habe sie da weggeholt und ins Haus gebracht. Ich meinte zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, Papa hätte sich nur verletzt. Etwas Besseres fiel mir erst einmal nicht ein.«
»Es muss schrecklich für die Kleine gewesen sein. Wo ist sie jetzt?«
»Oben. Sie schläft zum Glück. Sie weiß noch nicht, dass er tot ist. Oder sie weiß es, lässt es aber nicht an sich heran.«
»War Ihnen sofort klar, dass Ihr Mann nicht mehr am Leben war?«
»Nein. Oder doch. Ich weiß es nicht. Ich bin, noch bevor ich Angelina weggebracht habe, zu ihm gestürzt. Vielleicht wäre er ja wirklich nur verletzt. Dann erst habe ich verstanden, dass es zu viel Blut ist. Zu viele Wunden …«
Claudia ließ ein paar stille Sekunden verstreichen, damit ihre folgenden Fragen nicht allzu pietätslos klangen. Dann räusperte sie sich.
»Als Sie gestern losgefahren sind, hat Ihr Mann da erwähnt, was für Pläne er für den gestrigen Tag hatte? Oder insgesamt für das Wochenende?«
»Wir hatten beim Frühstück kurz darüber gesprochen. Nichts Besonderes. Er wollte sich um den Garten kümmern, das ist sein Hobby, sein Ausgleich zum Job.«
»Hat er erwähnt, ob er einen Besucher erwartete?«
»Nein.«
»Ihr Mann ist Anwalt. Betreibt er seine Kanzlei von zu Hause aus?«
»Nein. Sein Büro liegt in der Innenstadt. In bester Lage, kann man sagen. Der Punkt ist, dass nicht wenige Mandanten meines Mannes bekannte Persönlichkeiten sind. Künstler, Schauspieler, Politiker. Sie legen Wert auf Diskretion. Bei solchen Leuten kann es bereits zu Gerüchten führen, wenn sie nur die Räume eines Anwaltes betreten. Solche Personen empfängt Klaus-Peter lieber hier draußen. Daher das Büro im Nebengebäude.«
»Ich verstehe. Und? Stand gestern oder heute ein solcher Besuch an?«
»Ich glaube nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Mein Mann würde es mir nicht unbedingt sagen. Wir sprechen über seinen Beruf, aber nicht in allen Einzelheiten.«
»Führte er einen Terminkalender?«
»Sicher.«
»Auf Papier oder elektronisch?«
»Ich glaube, beides. Um das meiste kümmern sich die Angestellten in der Kanzlei.«
»Ist es eine große Kanzlei?«
»Wie man es sieht. Er ist der einzige Anwalt. Aber es gibt einige Angestellte, vor allem Frau Ostermeier, sie ist die wichtigste Kraft. Sie ist schon sehr lange bei ihm und wird Ihnen über Klaus-Peters berufliche Angelegenheiten besser als ich Auskunft geben können.«
»Besitzt Ihr Mann eigentlich eine Schusswaffe?«
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.«
»Gut. Ich muss Sie nun ganz direkt danach fragen, Frau Olsen. Hatte Ihr Mann Feinde? Steckte er in Schwierigkeiten, oder gab es Streit mit einem Mandanten? Wurde er in letzter Zeit vielleicht bedroht?«
Linn Olsen sah Claudia erstaunt an. »Ich dachte, das wüssten Sie! Und darum haben Sie nicht danach gefragt.«
»Dass ich was weiß?«
»Lesen Sie denn gar keine Zeitung? Haben Sie denn gar nichts davon mitbekommen?«
Offenbar nicht, dachte Claudia.
Sie wollte Olsen gerade danach fragen, als draußen auf dem Grundstück Lärm ausbrach. Stimmen redeten aufgeregt durcheinander. Eine Frau schrie auf. Eine Männerstimme – war es Takeda? – rief: »Bleiben Sie stehen! Sofort!«
Rennende Schritte, erneute Rufe.
Claudia sprang auf. »Warten Sie hier, ich komme gleich wieder.«
6.
Takeda hatte den eigentlichen Tatort ebenfalls verlassen und sah sich auf dem großzügigen Grundstück um. Eine Kollegin der Rechtsmedizin hatte eine erste, grobe Untersuchung an der Leiche vorgenommen und den Tatzeitpunkt auf etwa vierundzwanzig Stunden zuvor datiert, plus/minus einige Stunden.
Jetzt war es 21 Uhr. Das hieß, der Mord war am Samstagabend zwischen 20 und 22 Uhr geschehen.
Da die Dämmerung in Kürze einbrechen würde, tippte Takeda eher auf die spätere Uhrzeit. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass der Täter bei Helligkeit das Haus betreten und den Mord verübt hatte und danach wieder gegangen war.
Rechts vom Haupthaus befand sich die Doppelgarage, davor eine Schotterfläche. Weitere Kollegen der Spusi arbeiteten dort und nahmen Gipsabdrücke von Reifenspuren.
Takeda blickte in die Richtung des Gartens, der sich gute hundert Meter nach hinten erstreckte. Vorne befand sich eine Wiese mit Kinderspielgerät, dahinter einige Obstbäume und Gebüsch, begrenzt durch einen hüfthohen Zaun. Jenseits davon begannen Äcker und Wiesen. Im verblassenden Licht des Abends erkannte Takeda in der Ferne, vielleicht anderthalb Kilometer entfernt, den hochliegenden Bahndamm der S-Bahn-Linie, die Hamburgs Innenstadt mit den östlichen Stadtteilen verband.
Der Inspektor verharrte einen Moment, dann ging er nach vorne zur Grundstückseinfahrt.
Hinter dem rot-weißen Flatterband, das Toddi, der junge Kollege, über die Einfahrt gespannt hatte, standen immer noch einige Schaulustige. Es waren vielleicht ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die die Hälse reckten und versuchten, etwas von dem zu erhaschen, was auf dem Grundstück vor sich ging.
Takeda räusperte sich, fragte dann mit lauter Stimme: »Ist einer von den Herrschaften zufällig ein Nachbar?«
Die Gaffer wichen instinktiv einige Schritte zurück. Neugierig sein war das eine. Fragen der Polizei zu beantworten etwas ganz anderes.
»Wir haben nur eine Fahrradtour gemacht und sind zufällig vorbeigekommen«, erklärte ein Mann, der sich auf ein Fahrrad stützte. Er trug die in Deutschland übliche Ausstattung aus knielanger Bikerhose und engem Funktionstop, das auch die unglücklichste Körperproportion zur Geltung brachte, dazu einen Fahrradhelm. Seine identisch gekleidete Frau stand neben ihm.
»Also ist niemand unter Ihnen, der hier in der Nähe wohnt?«
Eine Männerstimme meldete sich. »Doch. Ich.«
Ein Mann, vielleicht Anfang siebzig, in Sandalen, kurzer Hose und kariertem Arbeitshemd, schob sich nach vorne an das Flatterband heran. »Ich heiße Ekkard Wiese. Ich wohne nebenan. Da vorne, das Haus auf der rechten Seite. Aber gesehen habe ich nichts.«
Takeda tauchte unter dem Flatterband hindurch und trat auf die Straße. Er stellte sich vor und führte Wiese einige Meter zur Seite, um außer Hörweite der übrigen Schaulustigen zu sein.
»Dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen?«
»Na sicher. Ist mir sogar eine Ehre. Gerade, wo Sie es sind!«
»Ich verstehe nicht?«
»Sie sind es doch, dieser Inspektor aus Japan! Herr Taka… Tuka…«
»Takeda.«
»Meine ich doch. Ich habe über Sie in der Zeitung gelesen. Großartig. Mehr von Ihrer Sorte! Ich bin ein großer Verehrer Ihrer Heimat. Tolles Land, fleißige Leute!«
Takeda verbeugte sich und erklärte mit einem Lächeln: »Das freut mich, Herr Wiese. Aber kommen wir bitte zum Eigentlichen. Sagen Sie mir zunächst, ob Sie gestern Abend zu Hause gewesen sind.«
»War ich. Ich bin Rentner. Wo soll ich schon hingehen an einem Samstagabend? In die Disko vielleicht?«
»Sie kennen Herrn Haffner?«
»Kennen wäre übertrieben. Er war keiner, der sich groß mit den Nachbarn eingelassen hat.«
»Herr Haffner war nicht an Kontakt interessiert?«
»So sieht’s wohl aus.«
»Ist Ihnen gestern Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Sagen wir, im Zeitraum von 20 bis 22 Uhr?«
»Nein, da war nichts. Schauen Sie mal rüber, mein Haus liegt dort hinten, hinter der Hecke. Das sind gut und gerne achtzig Meter. Wie soll ich da etwas mitkriegen?«
Takeda merkte, wie die übrigen Schaulustigen unauffällig näher rückten, offenbar in der Hoffnung, etwas von der Befragung mitzubekommen. Als Takeda den Kopf drehte, blieben sie ruckartig stehen. Ein Mann, der einen Pullover mit Kapuze trug, die er sich über den Kopf gezogen hatte, wandte sich in dem Moment zur Seite, als Takedas Blick ihn streifte.
»Vielleicht haben Sie nichts gesehen, dafür aber etwas gehört?«, wandte er sich erneut an Wiese.
»Etwas gehört? Was denn?«
»Laute Stimmen? Geschrei? Haffner könnte in einen Streit verwickelt gewesen sein.«
»Nein, da war nichts.«
»Und sonst? Ein ungewöhnliches Geräusch?«
Takeda spürte, wie sich die Schaulustigen hinter ihm erneut heranpirschten. Er ließ es geschehen, nicht ohne Grund.
»Na ja, wenn Sie mich so fragen. Da war schon etwas.«
»Bitte, was ist Ihnen aufgefallen?«
»Sehen Sie, Inspektor, wir haben hier auf den Dörfern seit Langem schon Ärger mit den Motorradfahrern.«
»Sie fahren zu schnell?«
»Das auch. Aber vor allem sind sie zu laut. An den Wochenenden ist es eine wahre Pest. Die knattern in Pulks von zwanzig schweren Maschinen vorbei, da wackeln die Wände.«
»Das war auch gestern der Fall?«
»Weiß nicht genau. Sehen Sie, normalerweise ist der Spuk am frühen Abend vorbei. Gestern aber …«
Während Takeda lauschte, warf er einen unauffälligen Blick zur Seite. Der Mann im Kapuzenpullover hatte sich weit nach vorne geschoben, schien unbedingt hören zu wollen, was Wiese sagte. Ein neugieriger Nachbar? Ein getarnter Reporter? Oder jemand ganz anderes?
»… da hat einer die Dreistigkeit besessen, noch um zehn Uhr mit Vollgas vorbeizurasen. Dachte ich jedenfalls. War aber nur ganz kurz.«
»Was meinen Sie?«
»Klang wie eine Fehlzündung. Hat ein paarmal laut geknallt. Es hat mich geärgert, wegen der späten Uhrzeit.«
»Könnten es auch Schüsse gewesen sein?«
Wiese riss die Augen auf. »Dann ist Haffner also wirklich erschossen worden? Und ich habe es gehört und für ein gottverdammtes Motorrad gehalten?«
Takeda hob die Hand, bat Wiese stumm um Geduld. Dann drehte er sich blitzschnell um, sah den Mann im Kapuzenpullover an und sagte mit strenger Stimme: »Wieso versuchen Sie, dieses Gespräch zu belauschen? Sind Sie ebenfalls ein Nachbar? Ja, Sie meine ich!«
Der Mann setzte einen schnellen Schritt nach hinten, verharrte kurz, schien dann einen Entschluss zu treffen. Er drehte sich um, stieß zwei der übrigen Schaulustigen grob zur Seite, begann zu rennen.
»Bleiben Sie stehen! Sofort!«
Eine Frau, die der Fliehende weggestoßen hatte, war zu Boden gefallen, sie stieß einen Schmerzensschrei aus.
Der Inspektor zögerte nur Sekundenbruchteile. Er befahl den Umstehenden, sich um die Frau zu kümmern, spurtete dann ebenfalls los.
7.
»Was ist hier los? Wo ist mein Kollege? Wo ist Takeda?«
Claudia war vom Haupthaus auf die Straße gestürmt. Vor der Einfahrt stand eine Gruppe Schaulustiger und redete aufgeregt durcheinander. Einige zeigten die Straße hinunter. Auch die Kollegen der Spurensicherung und andere Uniformierte waren nach vorne gerannt. Von Ken war nichts zu sehen.
»Das war der Mörder! Ihr Kollege ist hinter ihm her«, erklärte eine Passantin mit aufgeregter Stimme.
»Der Mörder? Hat er das gesagt?«
»Nein, aber er muss es gewesen sein.«
Ein Mann mit bemüht sachlicher Tonlage sprang ein: »Sie hat recht. Als der Chinese ihn angesprochen hat, ist er geflüchtet.«
Der Mann war um die fünfzig, trug Jogginganzug und war leicht verschwitzt. Claudia sah ihn scharf an. »Der Chinese ist Japaner! Vor allem aber ist er Ermittlungsbeamter. Was veranlasst Sie dazu, den anderen Mann für den Täter zu halten?«
»Der hat sich verdächtig benommen, die ganze Zeit schon. Wollte unbedingt jedes Wort hören, das Ihr Kollege mit dem Nachbarn gewechselt hat.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Groß, sportlich. Aber sonst? Er trug eine Kapuze über dem Kopf. Und das bei den Temperaturen … Ich sagt’s doch, der war verdächtig.«
»Schon gut.«
Claudia wandte sich ab. Sie blickte die Straße hinunter. Von Takeda und dem Flüchtenden war nichts zu sehen, was im diesigen Abendlicht auch nicht verwunderlich war.
In ihr tobten widerstreitende Gefühle. Sie empfand Sorge wegen Takeda. War es wirklich der Täter gewesen, der sich hier herumgetrieben hatte? Brachte Ken sich in Gefahr, wenn er ihn verfolgte? Er hatte mehr als einmal bewiesen, dass er in solchen Situationen nicht an sich selbst und seine Sicherheit dachte.
Zugleich erinnerte Claudia sich an den frühen Abend, ihr Date mit diesem Daniel. Wieso hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen? Sie hätte doch viel lieber mit Ken dort an der Alster gesessen. So idiotisch dieser Daniel war, er hatte es auf den Punkt gebracht. Eigentlich wollte sie sich gar nicht auf jemand Neues einlassen. Aber was wollte sie dann?
Ach, verdammt, sie wusste es nicht. Aber jetzt war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um über so etwas nachzudenken!
Wichtig war nur, was hier gerade los war. Was sollte sie also tun? Einen der Streifenwagen hinterherschicken? Wenn sie wirklich in den Feldern waren, war das sinnlos. Also den Hubschrauber anfordern? Aber könnte sie das wirklich begründen? Auf die Aussagen der Leute hier war kein Verlass. Vielleicht war der Mann einfach nur neugierig gewesen. Oder er wollte aus anderen Gründen nicht mit der Polizei reden. Erst kürzlich hatte es im Dezernat Ärger gegeben, weil Kollegen eine Großfahndung ausgelöst hatten, ebenfalls mit Helikopterunterstützung. Am Ende hatte sich die Aktion als unberechtigt erwiesen, der vermeintlich Flüchtende war nur ein zufälliger Zeuge gewesen. Holger Sauer, der Leiter der Mordkommission, hatte den versammelten Kollegen ins Gewissen geredet, vorsichtiger mit solchen Schritten zu sein. Allein wegen der Kosten. Und der Beunruhigung, die die Flüge über dem Stadtgebiet bei der Bevölkerung auslösten.
Claudia blieb noch eine Weile stehen, blickte in die Ferne. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass es besser war, abzuwarten. Takeda wusste, was er tat.
Sie kehrte ins Haus zurück, um die Befragung von Linn Olsen fortzusetzen. Auch das war wichtig.
Zurück auf dem Sofa, fragte Claudia: »Also, Frau Olsen, wieso sollte ich aus der Zeitung etwas wissen, das Ihren Mann betrifft? Etwas, das erklären könnte, warum er getötet wurde?«
»Mein Gott! Weil es nicht irgendwo weit hinten stand, sondern vorne auf den Titelseiten.«
»Werden Sie konkret. Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen.«
Die Frau stand auf, um sich vom Wein nachzuschenken. Ohne sich wieder hinzusetzen, erklärte sie: »Es fing alles vor ein paar Wochen an. Dieser Jost Weber kam zu meinem Mann, weil er von ihm vertreten werden wollte.«
»Jost Weber? Sie meinen den Schauspieler?«
»Genau den.«
Claudia kniff die Augen zusammen. »Da war doch etwas mit Vergewaltigungsvorwürfen? Meinen Sie das?«
»Aber ja! Eine junge Frau hatte Weber angezeigt. Es war sofort ein Riesenskandal, Weber ist ja ziemlich bekannt. Mein Mann war ihm empfohlen worden, weil solche Fälle seine Spezialität sind. Nicht das mit der Vergewaltigung. Aber ich habe ja schon gesagt, dass Klaus-Peter oft prominente Menschen vertritt. Gerade auch, wenn die Presse mit im Spiel ist. Klaus-Peter weiß, wie man solche Dinge runterkocht und in aller Stille beilegt.«
Claudia erinnerte sich jetzt an die Sache. Es war, wie Linn Olsen sagte, sie hatte die Titelseiten beherrscht. Claudia hatte sogar erst vor wenigen Tagen noch etwas darüber gelesen.
Jost Weber war ein junger Schauspieler, vielleicht Ende zwanzig, der die Hauptrolle in einer Nachmittagsserie spielte, einer Telenovela. Claudia hatte die Sendung sogar ab und zu gesehen, auch wenn sie nicht wirklich ihr Geschmack war. Zu kitschig, zu flach. Andererseits ziemlich entspannend, wenn man wochenlang einem Mordverdächtigen hinterhergejagt war und endlich mal einen freien Nachmittag hatte. Weber war ein hübscher Kerl, ein richtiges Schnittchen, der bei seinen Fans, vor allem den weiblichen, Kreischanfälle auslöste, wenn er in der Öffentlichkeit auftauchte. Dann aber waren Vorwürfe aufgekommen, er hätte sich an einer Statistin vergriffen, einer jungen Frau, die in einigen Folgen der Serie aufgetreten war. Wenn Claudia sich richtig erinnerte, hatte Weber alles abgestritten. Es war hin und her gegangen. Verlogene junge Frau, die gierig auf Publicity war, sagten die einen. Ein übergriffiger Jungstar, der einfach kein Nein akzeptieren konnte, behaupteten die anderen. Ja, sie kannte den Fall. Sie hatte bisher nur keine Verbindung zu Klaus-Peter Haffner gezogen – dem Mann, der wenige Meter entfernt tot in seinem eigenen Blut lag.
»Wieso glauben Sie, dass diese Geschichte mit der Ermordung Ihres Mannes zusammenhängt?«
»Weil mein Mann zur Zielscheibe von absurden Vorwürfen wurde. Nicht nur als Anwalt, sondern auch als Mensch.«
»Ich befürchte, dann bin ich doch nicht auf der Höhe.«
»Am Anfang ging es nur um diesen Jost Weber. Aber dann richteten sich die Vorwürfe auch gegen Klaus-Peter. Es kamen Hassmails mit Drohungen. Schrecklich! Junge Leute haben vor der Kanzlei gestanden und demonstriert. Sie haben abscheuliche Dinge gerufen. Sie haben Farbbeutel gegen die Fenster geworfen.«
»Warum? Ihr Mann war doch nur der Anwalt von Weber.«
»Glauben Sie, das können solche Leute unterscheiden? Ein Anwalt, der einen Vergewaltiger vertritt, muss selbst ein Verbrecher sein, ein Frauenfeind, ein Unmensch!«
»Das wurde so gesagt?«
»Das und Schlimmeres. Auf Twitter, Instagram, Facebook … überall. Dabei stand ja nicht einmal fest, dass Weber die Tat überhaupt begangen hat. Mein Mann hat nur getan, was seine Pflicht als Anwalt war. Er hat seinen Job gemacht.«
Claudia ließ das Gehörte sacken. Es stimmte, die Affäre um Weber hatte ziemliche Wellen geschlagen, was im Zeitalter von MeToo kein Wunder war. Um ehrlich zu sein, sie selbst hatte auch gedacht, dass dieser Weber ein ziemliches Ekelpaket sein musste. Wollte man so jemanden noch auf dem Bildschirm sehen? Bestimmt nicht.
Claudia sah Linn Olsen nachdenklich an. »Hassmails oder von mir aus auch Farbbeutelattacken sind das eine, Frau Olsen. Aber ein Mord? Sind Sie wirklich sicher, dass die Sache mit dem Tod Ihres Mannes zusammenhängt?«
Olsen stieß ein Schnauben aus, erschöpft, vielleicht auch verächtlich. »Lesen Sie, was die Leute im Internet schreiben. Das beantwortet Ihre Frage.«
»Ich glaube, ich bin durchaus im Bilde. Aber wie gesagt, Mord?«
Die Witwe nahm ohne weitere Erklärungen ihr Smartphone zur Hand, das auf einer Anrichte lag. Sie tippte auf das Display, schien online zu gehen. Dann reichte sie Claudia das Gerät. »Lesen Sie.«
»Sagen Sie mir doch einfach, was Sie …«
»Lesen Sie!«
Olsen hatte die Homepage eines People-Magazins geöffnet. Unter einem Beitrag über den Fall wurde diskutiert. Claudia überflog die Posts, scrollte schnell weiter. Es ging um die Frage, ob ein Vergewaltiger wie Jost Weber – dass er schuldig war, stand für die meisten Beiträger fest – überhaupt das Recht auf eine Verteidigung hatte. Post folgte auf Post, die Sachlichkeit nahm ab, die aufgeheizte Stimmung zu. Vergewaltiger an den Pranger, alle Männer an den Pranger, Anwälte solcher Schweine sind selbst Schweine.
Claudia blickte hoch, zuckte mit den Schultern. Es war schlimm, es war ekelhaft. Aber mal ehrlich, so ging es heutzutage im Internet nun einmal zu.
Aber noch bevor sie etwas in der Richtung sagen konnte, herrschte Linn Olsen sie an: »Lesen Sie weiter!«
Claudia tat es. In der Diskussion war ein Tweet verlinkt.
Die Täter sind immer Männer. Die Anwälte sind Männer. Die Richter sind Männer. Was können wir Frauen erwarten? Dass die Typen sich gegenseitig schuldig sprechen? Träumt weiter!
Darunter schrieb eine Nutzerin: »Es ist Zeit, dass wir die Sache selbst in die Hand nehmen. Es ist Zeit, Widerstand zu leisten.«
Andere stimmten ihr zu, wählten deutlichere Worte. Verderben wir den Kerlen ein für alle Mal den Spaß daran, uns so etwas anzutun. Machen wir das, was man mit Schweinen tut. Schlachten wir sie! Lassen wir sie ausbluten.
Claudia dachte an das Bild des erschossenen Haffner, die Einschüsse in seinem Körper, das Blut auf seiner Kleidung. Ihr Kopf wurde heiß.
Sie erinnerte sich daran, wie sie vorhin mit Takeda den möglichen Tatablauf rekonstruiert hatte. Während der ganzen Zeit war für sie eine Sache selbstverständlich gewesen. Der Täter, der da gestanden und Kugel um Kugel auf Haffner abgeschossen hatte, musste ein Mann gewesen sein.
Fraglos. Gedankenlos. Unreflektiert. Eine Tatsache.
Ein kaltblütiger Mord? Konnte nur von einem Mann verübt worden sein.
Stimmte in aller Regel ja auch.
Aber was, wenn es diesmal anders war?
Wenn der Täter eine Täterin war?
8.
Takeda rannte.
Die Dämmerung ging in die Nacht über, und er konnte den Mann, den er verfolgte, kaum noch erkennen. Der andere war schnell, zudem beeindruckend ausdauernd, und er hatte zwar nur einige, aber vielleicht entscheidende Sekunden Vorsprung.
Der Flüchtende hatte schon nach wenigen Metern die Straße verlassen, war einem Trampelpfad durch die Wiesenlandschaft der Marschlande gefolgt. Offenbar wollte er den Wald am Geesthang erreichen.
Takeda machte sich keine Illusionen. Zwischen den Bäumen würde es noch dunkler sein. Ihn dort zu stellen war nahezu unmöglich.
»Hallo! Bleiben Sie stehen! Ich möchte Ihnen nur einige Fragen stellen!«
Takeda war klar, dass seine Worte verschwendet waren. Die Chance, dass der Mann es sich nach seinem bisherigen Verhalten anders überlegte und stehen blieb, war minimal.
Aber versuchen musste er es. Takeda glaubte nämlich nicht, dass es sich wirklich um den Täter handelte. Er hielt es sogar für ausgeschlossen.
Der Tatablauf, so wie Claudia und er ihn rekonstruiert hatten, sprach für einen geplanten und kaltblütig durchgeführten Mord. Ein solcher Täter kehrte nicht zum Tatort zurück, noch während dort die Polizei ihre Untersuchungen durchführte. Schon gar nicht würde er sich dort dermaßen auffällig verhalten und die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich ziehen.
Nein, es musste einen anderen Grund geben, aus dem der Mann derart darauf versessen gewesen war, etwas über den Kenntnisstand der Polizei zu erfahren.
Und aus dem er seinerseits auf keinen Fall mit der Polizei reden wollte.
Takeda blieb kurz stehen, tastete seine Hosentaschen ab. Verdammt! Sein Handy lag in seinem Wagen vor Haffners Haus. Er konnte also nicht einmal Claudia oder die Kollegen kontaktieren und hierherlotsen.
Er war ganz auf sich gestellt.
Also weiter!
Er spurtete wieder los, sah aber kurz darauf, wie der Mann tatsächlich die Ausläufer des Waldes erreichte und in der Dunkelheit verschwand.
Aufgeben?
Auf keinen Fall.
Auch der Inspektor tauchte in die Schwärze zwischen den Bäumen ein. Immerhin, was er an Sicht einbüßte, konnte er nun durch Gehör wettmachen. Der Mann, vielleicht zweihundert Meter vor ihm, preschte so laut durch die Büsche, dass Takeda genau ausmachen konnte, in welche Richtung er sich bewegte. Einmal meinte er, ihn schmerzhaft aufstöhnen zu hören. Vermutlich war er gegen einen Ast gerannt oder hatte sich an Dornen verletzt.
Dem Inspektor selbst erging es nicht anders. Immer wieder peitschten ihm Äste ins Gesicht, oder er verhedderte sich im Gebüsch, das seine Kleidung zerriss, seine Haut aufschürfte.
Dann aber, ganz plötzlich, erstarb das Geräusch vor ihm.
Stille.
Dunkelheit.
Auch Takeda blieb stehen. Seine Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus.
Was hatte das zu bedeuten?
War der Mann entkommen? Oder wollte er Takeda in einen Hinterhalt locken, um ihn loszuwerden?
Der Inspektor lauschte angestrengt in die Stille des nachtschwarzen Waldes. Leises Geraschel von Tieren, ein später Vogel. Wind. Sonst nichts.
Dann aber hörte Takeda ein leises Knacken. Erst mit Verzögerung wurde ihm klar, dass der andere sein Abwarten ausgenutzt hatte und weitergeschlichen war.
Der Inspektor fluchte und rannte erneut los. Schon wenige Meter weiter aber endete das Waldstück und machte einem offenen Gelände Platz.
Es war eine bizarr anmutende Dünenlandschaft, als würde hinter der nächsten Erhebung das Meer liegen. In Wahrheit war die Küste viele Kilometer entfernt.
Der Inspektor vermutete, dass er sich in den Boberger Dünen befand, einem Naturschutzgebiet im Hamburger Osten. Er hatte es immer schon einmal besuchen wollen. Wenn auch unter anderen Umständen.
Von dem Flüchtenden war nichts mehr zu sehen oder zu hören.
Takeda erklomm eine der Dünen, blickte sich im blauen Licht der Nacht um. Nichts.
Er hatte den Mann verloren.
Der Inspektor stemmte die Hände in seine stechenden Seiten und holte schnaufend Luft. Seine Kondition war eigentlich gut, das tägliche Aikido-Training wirkte. Auf der anderen Seite aber machten sich die Zigaretten, die er sich ebenfalls täglich gönnte, bemerkbar. Nicht viele. Aber zu viele.
Der Inspektor stieß einen weiteren japanischen Fluch aus, diesmal die hässliche Variante. Kuso! Maketaze! Chikushō! Japanische Höflichkeit? Die war halt nur die eine Seite der Medaille.
9.
Die große Runde im Präsidium am nächsten Morgen ging zügig über die Bühne. Die Kollegen referierten den Ermittlungsstand ihrer aktuellen Fälle. Ein bewaffneter Tankstellenüberfall in Lurup, eine Messerstecherei auf St. Pauli, eine Schießerei im Harburger Phönixviertel. Alltag in der schönen Hansestadt.
Der Grund für die Eile war nicht zuletzt der, dass alle in der Runde mehr über Claudias und Takedas Ermittlungen wissen wollten. Das wiederum lag in erster Linie am Erscheinungsbild des Inspektors an diesem Morgen. Takedas Gesicht war voller Kratzer und Schürfwunden, von denen er die größten mit Pflastern abgedeckt hatte. Es waren Resultate seiner Verfolgungsjagd durch den nächtlichen Wald. Die Kollegen brannten darauf, nähere Einzelheiten zu erfahren.
Schon zuvor auf dem Flur, auch ohne Genaueres zu wissen, hatten sie Takeda nachdrücklich geraten, sich noch am gleichen Tag krankschreiben zu lassen. Mindestens eine Woche. Eher zwei. Vielleicht drei. Sicherheitshalber sogar …
Takeda winkte ab, erklärte, dass es nur Kleinigkeiten seien, die laufenden Ermittlungen zudem seine Anwesenheit erforderten. Die Kollegen aber insistierten. Mit ernsthaften Mienen erklärten sie ihm, dass es zur Pflicht eines deutschen Beamten gehöre, Krankheiten und Verwundungen sorgsam auszukurieren. Alles andere könne zu ungeahnten Langzeitfolgen führen, die wiederum den Steuerzahler teuer zu stehen kämen. Invalidität, Frühverrentung, Schmerzensgeld. Das wolle schließlich niemand! Nein, sich krankzumelden sei nicht Ausdruck von Schwäche und Faulheit, sondern von Verantwortung und Pflichtgefühl!
Takeda zeigte sich zutiefst beeindruckt von dieser Sichtweise und versprach, sofort im Anschluss an die Morgenrunde beim polizeiärztlichen Dienst vorstellig zu werden. Zugleich dachte er an die Kollegen in Japan, die mit Gipsbeinen und frisch verbundenen Schusswunden zum Dienst erschienen. Sie würden ihm kaum glauben, wenn er von seinen Erfahrungen in Deutschland berichtete.
Nun aber war es erst einmal an ihm und Claudia, einen ersten Überblick über den Mordfall Klaus-Peter Haffner zu geben.
Claudia machte den Anfang. Sie saß am Kopfende der u-förmig aufgestellten Tische und erklärte, dass der Anwalt laut dem vorläufigen Obduktionsbericht von insgesamt vier Kugeln getroffen worden war, zwei davon tödlich, einmal Brust, einmal Kopf. Die Tatortanalyse ergebe ein widersprüchliches Bild. Viel deute auf einen geplanten Mord hin. Täter und Opfer hätten sich höchstwahrscheinlich gekannt. Der Täter sei kein geübter Schütze gewesen, habe nach der Tatbegehung dennoch umsichtig Fingerabdrücke und weitere Spuren beseitigt. Eine Tat im Affekt könne damit ausgeschlossen werden. Die Kollegen der Spusi hätten eine Vielzahl an DNA-Material sichergestellt, das möglicherweise bei einer späteren Identifizierung eine Rolle spielen könnte.
An dieser Stelle stieß Claudia ein Seufzen aus und erklärte: »Die Tat ist von einer großen Brutalität gekennzeichnet, an einer Tötungsabsicht kann kein Zweifel bestehen. Es gibt außerdem einen ersten, allerdings noch vagen Hinweis auf die Motivlage, dem wir natürlich nachgehen werden.«
Claudia schilderte in Kurzform den Skandal um Jost Weber, den das Mordopfer als Anwalt vertreten hatte. Noch in der Nacht hatte sie sich im Internet weiter damit befasst, gab nun das Wichtigste wieder. »Weber hatte eine der Hauptrollen in Hearts of Hamburg, einer Telenovela. Vielleicht kennen manche von euch die Serie?«
Klaus Dieter Haferkamp, ein schon älterer Kollege, rief glucksend: »Meine Frau sieht das jeden Tag. Ich kriege davon Augenkrebs. Was für ein Mist!«
»Ja, aber Mist mit Quote«, entgegnete Ottmar Preuß, ein anderer Kollege.
»Das heißt, du guckst das?«
»Nur, wenn kein Sport läuft.«
»Du Romantiker! Wussten wir es doch!«
In der Runde brach Gelächter aus, weitere Kommentare, zumeist hämischer Art, folgten.
Claudia gönnte den Kollegen einige Augenblicke, erklärte dann: »Wie ihr merkt, hat wirklich jeder schon einmal von Hearts