Integrale Führungskompetenzen - Nadine Sukowski - E-Book

Integrale Führungskompetenzen E-Book

Nadine Sukowski

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Beschreibung

Unsicherheit kennzeichnet den Unternehmensalltag, sowohl im ökonomischen Kontext als auch auf der Ebene des operativen Führens. Viele Jahre Forschung zeigen, dass Führende typischerweise vier Handlungsstrategien in unsicheren Zeiten nutzen. Anhand dieser Handlungsmuster wird eine integral wirksame Strategie entwickelt. Diese zeigt vier Kompetenzen auf, mit denen Führende in unsicheren Situationen erfolgreich wirken können - diese Vorgehensweise ist persönlichkeitsunabhängig, lern- und lehrbar sowie inzwischen durch die Autorin erfolgreich validiert. Das Werk liefert damit eine ebenso prägnante wie präzise Handlungsanweisung, die gerade für den praktischen Einsatz besonders geeignet ist.

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Nadine Sukowski

[3]Integrale Führungskompetenzen

Handlungsstrategien für unsichere Zeiten

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Buch widme ich Hanna, Frieda und Mariella. Sie lehren mich, der Welt jeden Tag staunend zu begegnen.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Für die Grafiken im Buch: © Miriam Häfele

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-042996-3

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-042997-0

epub: ISBN 978-3-17-042998-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

[5]Inhalt

Einleitung

1

Sicherheit – Unsicherheit

1.1

Anspannung

1.2

Führen als Lösung unlösbarer Probleme

2

Die integrale Landkarte

2.1

Mental Raum: Wahrnehmungsqualitäten

2.2

Die vier Handlungsstrategien

3

Handlungsfähig bleiben

3.1

Innere Landkarten

3.2

Das Dilemma der Führungsrolle

4

Die Funktionalstrategie

4.1

Das integrale Potenzial

4.2

Tipps für eine integrale Perspektive

5

Die Emotionalstrategie

5.1

Das integrale Potenzial

5.2

Tipps für eine integrale Perspektive

6

Die Interpersonalstrategie

6.1

Das integrale Potenzial

6.2

Tipps für eine integrale Perspektive

7

Die holistische Strategie

7.1

Das integrale Potenzial

7.2

Tipps für eine integrale Perspektive

8

Der Einfluss der Organisationsstruktur

9

Das eigene Handlungsmuster erkennen

10

Die integralen Führungskompetenzen

10.1

Mental Kompetenz: Polaritäten managen

10.2

Ressourcen Kompetenz: Spannungsfelder managen

10.3

System Kompetenz: Selbstorganisation managen

10.4

Kultur Kompetenz: Resonanzräume managen

10.5

Zusammenfassung

11

Abschluss

Literatur

[7]Einleitung

20 Jahre Beraten, Trainieren und Forschen stecken in diesem Buch. Wieso sind manche Veränderungsprojekte, trotz widriger Umstände, erfolgreich und andere scheitern, trotz positiver Prognose? Das war die Ausgangsfrage nach den ersten Jahren des Beratens von Organisationen in Veränderungsprozessen. Klar war von Anfang an, dass das Phänomen Führen nicht allein aus der Person, ihren Eigenschaften und Motiven heraus zu erklären ist (► Kap. 2). Gleichwohl handelt die Führende, setzt Ziele, entscheidet Wege und Vorgehen, stimmt sich mit anderen ab. Die Führungsfunktion hat die Aufgabe die Organisation hin auf Ziele auszurichten und diese zu erreichen. In unsicheren Zeiten hat die Führungsfunktion die Aufgabe, eine Organisation zu stabilisieren und zu strukturieren, damit sich die Situation in eine erwartete Richtung entwickelt. Dazu nutzt sie Handlungen des Planens, Steuerns, Entscheidens und Kommunizierens. Führende haben eine Antwort zu geben, ohne in diesem Moment eine zu haben. Je nach Bedeutsamkeit der Situation, Erwartungen und der Organisationsstruktur wird das Gefühl der Verunsicherung ausgelöst.

In Erzählungen ließ ich mir beschreiben, wie Führende handeln, wenn sie unsichere Zeiten erleben. Durch viele Geschichten von Geschäftsführern, Personalleitern und Vorständen entstanden vier Handlungsstrategien. Sie zeigen vier Muster des Verhaltens, welche in Verunsicherung typischerweise gewählt werden1.

Das Ergebnis der Forschungen überrascht nicht: In unsicheren Zeiten geraten wir in einen Tunnel aus Anspannung, Sorgen und Zweifeln, wenn eine individuelle Grenze überschritten ist. Die Organisationsstruktur beeinflusst, ob die Erwartungen an die Führungsfunktion lauten: »jetzt muss Führung die Organisation retten« oder ob es Austauschprozesse für gemeinsam getragene Lösungen gibt (►Kap. 8).

Durch das Erforschen entstanden sowohl die typischen Handlungsmuster als auch ein neues Bild des Führens. Die Handlungsstrategien von Führenden korrespondieren mit der Organisationsstruktur und der Kultur. Weder aus der Person allein noch aus der Struktur können Lösungen für unsichere Zeiten gefunden werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu und gleichwohl wird in der Führungsliteratur versucht Führung zu reduzieren. Entweder die Person wird überbetont oder die Organisationsstruktur. Die Komplexität und das Spannende liegt in der Verbindung. Aus den Erfahrungen mit Führenden in Seminaren und Coachings entwickelten sich die integralen Kompetenzen. Integral bedeutet verbinden. Die [8]integralen Kompetenzen ermöglichen sich widersprechende Perspektiven zu verbinden, um die Handlungsmöglichkeiten zu vervielfältigen.

Ein paar Erkenntnisse vorweg:

Verunsicherungen, Ängste, Zweifel sind an der Tagesordnung in Organisationen. Sie sind kein rein individuelles Phänomen, sondern auch ein kollektives.

Stimmungen im sozialen Raum als Information zu nutzen, wird unterschätzt.

Führen als Relation aus Person und Struktur zu betrachten, ermöglicht neue Lösungsräume zu eröffnen.

Wir kennen wohlmöglich die Führungsperson, ihre Kompetenzen und Motive. Wir kennen womöglich die Organisationsstruktur mit ihren Prozessen und Werten. Aber wir haben wenig Einblick in das Zusammenwirken. Wir haben keine Intuition für Komplexität.

Komplexes zu beschreiben, heißt anzuerkennen, dass wir nicht alles verstehen, sonst wäre es nicht komplex. Dieses Buch liefert keine vollständige Analyse richtigen Führens in unsicheren Zeiten. Das Buch enthält Tipps und ist eine Einladung den Verbindungen zu folgen; aus Organisation, Struktur, Kommunikation, Normen und Werten, denen sich Führungshandeln jeden Moment stellt.

Dieses Buch basiert auf Forschungen, ist aber kein wissenschaftlicher Text. Es ist eine Beschreibung, wie Führende typischerweise in unsicheren Zeiten handeln und wie die Organisationsstruktur typischerweise wirkt. Anhand von konkreten Fällen können die Handlungsmuster nachvollzogen werden. Es werden Tipps für die jeweilige Strategie gegeben. Für den theoretisch interessierten Leser sind kurze Exkurse und Literaturverweise eingefügt. Anhand der vier Handlungsmuster sind die integralen Kompetenzen für unsichere Zeiten beschrieben. Mittels Reflexionen, Übungen und Rezepten können die integralen Kompetenzen entfaltet werden.

Es ist das erste Buch, welches konkret beschreibt, welche Handlungen Führende in unsicheren Zeiten wählen, nicht welche sie wählen sollten.

Beim Lesen werden zwei Erfahrungen möglich: Die Handlungsstrategien eines Musters können nachvollzogen werden. An anderen Handlungsmustern wird sich gestört. Die Einladung ist: Folge beiden Erfahrungen. Wir lernen sowohl durch Akzeptanz als auch durch Negation. Mit beiden Erfahrungen kommen wir unserem individuellen Muster in einer Situation näher.

Wer praktisch wissen möchte, zu welcher Handlungsstrategie er/ sie in einer konkreten, unsicher erscheinenden Führungssituation tendiert füllt als erstes den Selbstscheinschätzungsfragebogen in ►Kapitel 9 aus und liest sich die Tipps zu der Handlungsstrategie durch, bei welchem die meisten Punkte erreicht wurden.

Wer wissen möchte, wie wir anfangen Führen als Relation zwischen Person und Struktur zu denken, welche in konkreten Handlungen sichtbar wird, kann bei Kapitel 1 anfangen und sich von den integralen Kompetenzen inspirieren lassen.

Viel Freude bei den Tipps und beim Erforschen des komplexen Phänomens Führen in unsicheren Zeiten!

1

Vgl. Sukowski, 2013

[9]1Sicherheit – Unsicherheit

Die Welt ist nicht unsicher. Die Welt ist, was sie ist. Sie kann für jemanden unsicher wirken. Wie kommt es dazu? Situationen können verunsichern, wenn Neues auf uns zukommt; wenn Situationen anders kommen als erwartet, wenn sich Konflikte ergeben. Daran erkennen wir, dass unsere Wahrnehmung der Situation einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob wir sie als unsicher bewerten oder nicht.

Wenn wir verunsichert sind, fehlt etwas. Je nach Situation können Informationen, Erfahrungen und Ressourcen fehlen, die nützlich wären, um die Situation zu ordnen und eine Handlungsrichtung festzulegen. Der Fokus der Person wirkt ebenso wie der Kontext. Wenn wir nach der Sicherheit in einem Orkan gefragt würden, ginge es um die existenzielle Unversehrtheit, wie z. B. »sind wir in diesem Haus sicher?« Werden wir nach Zahlen in einem Meeting gefragt, geht es um Gewissheit über die Richtigkeit der Daten.

Im Psychologischen Wörterbuch wird Sicherheit definiert als »Zustand ohne Schädigung oder Wahrnehmung eines Zustands ohne Schädigung oder potenzieller Schädigung«2. Je nach Kontext befinden wir uns im Bereich der Risikoforschung, der Unfallforschung oder der Arbeitssicherheit. Mit der Sicherheit in chaotischen und komplexen Systemen hat sich die Kybernetik beschäftigt.

Ungewissheit und Unsicherheit werden in diesem Buch unterschieden. Ungewissheit bezieht sich auf den Akt des Nichtwissens. Unsicherheit bezeichnet das Gefühl, welches daraus erwächst, wenn die Situation eine individuelle Grenze überschreitet. Nicht jede Situation, in der wir nicht sofort wissen, was zu tun ist, löst Unsicherheit aus. Individuelle Bedeutsamkeit, der Kontext, die eigenen Erfahrungen und unterstützende Ressourcen beeinflussen die Bewertung der Situation.

Wenn die individuelle Grenze überschritten ist, treten Anspannung und Stress auf. Es kommt zu Sorgen, Zweifeln und Ängsten. Wenn das passiert, werden Verunsicherungen selten als positiv oder angenehm empfunden, weil die Spannungen zu groß sind.

Die Handlungsstrategien dieses Buches beschreiben die Strategien, wenn die Grenze überschritten wird und Anspannungen, Sorgen und Zweifel darüber auftreten, ob das was getan wird zum gewünschten Ziel führt.

[10]1.1Anspannung

Anspannung führt, wenn sie zu groß wird zu Angst. Angst kommt von Enge. Wir haben den Eindruck, dass unsere Handlungsfähigkeiten eingeschränkt sind. Schon das Gefühl der Verunsicherung löst eine physische Anspannung aus, welche uns verengen lässt. Beim Denken geraten wir in einen Tunnel (► Kap. 2.1).

Angst ist ein überwiegend negativ empfundenes Gefühl. Gefühle haben die Funktion, uns zu informieren. Verunsicherung und Sorgen haben die Funktion, uns zu beschützen. Die Angst mahnt uns zur Vorsicht, dass etwas vor uns liegt, was uns bedroht. Angst geht mit der Zeitperspektive der Zukunft einher3. Unsicherheit und Angst signalisieren einen »Möglichkeitskonflikt; es könnte etwas geschehen, was nicht geschehen darf«4.

Wird der Konflikt individuell als bedeutsam eingeschätzt und glauben wir gleichzeitig, dass wir nicht genügend Ressourcen haben, um mit der Situation angemessen umzugehen, werden über das Großhirn und das Stammhirn Signale an das limbische System (emotionales Gehirn) gesandt. Daraufhin erfolgt eine Hormonausschüttung aus dem Nebennierenmark (Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin) und/ oder aus der Nebennierenrinde (Hydrocortison, Kortisol), die ins Blut abgegeben wird. Daraus ergibt sich die sympathikotone Spannungslage, die an den einzelnen Organen bestimmte Veränderungen hervorruft und uns in einen angespannten, hellwachen, aktiven Zustand versetzt, um die Bedrohung abzuwenden und den Schutz und die Sicherheit wieder herzustellen5.

Es braucht also Spannung; aber zu viel davon wirkt lähmend und kann das wirksame Handeln in der Situation verhindern. Unsicherheit als Potenzial zu sehen ist möglich, wenn wir die Verengung physiologisch wahrnehmen können, sie akzeptieren und für Entspannung sorgen. Sonst bleibt die Situation für das physiologische System eine Bedrohung und die Möglichkeiten der Situationen können nicht wahrgenommen werden, weil unser Gehirn nur noch die Informationen auswählt, welche uns schützen sollen.

Hier schließt sich der Kreis zur Definition: wir wollen uns oder etwas schützen, weil wir eine mögliche »Schädigung« wahrnehmen. Das Gefühl der Verunsicherung ist in erster Linie subjektiv und steht in Verbindung mit der Bewertung einer Situation. Aber die subjektive Wertung wirkt ebenfalls auf die Organisation, weil sie unser Handeln beeinflusst. Und gleichwohl werden die Handlungen durch den Organisationskontext beeinflusst. Wir haben es mit einer klassischen Kreiskausalität zu tun6.

[11]1.2Führen als Lösung unlösbarer Probleme

Unterschiedliche Organisationsstrukturen und Steuerungslogiken wirken verschieden auf das Handeln in unsicheren Zeiten. In funktional-hierarchischen Organisationsstrukturen wird der Unsicherheit mit Hilfe von Regelkreisen begegnet, in dem das Zusammenspiel der Organisationselemente beherrscht werden soll. Die ordnungsgebenden Aufgaben drücken sich als Managementfunktionen aus. Kontrollsysteme bestehen aus Normen, Regeln, Vorschriften und Anweisungen7. Die Anweisung durch Führung lautet in unsicheren Zeiten: »Jetzt geht alles über meinen Tisch!« Diese Handlungsanweisung deckt sich mit der Organisationserwartung an Führung durch Steuerung und Kontrolle die Organisation zu beherrschen.

Auch ohne unsichere Zeiten steckt Führung in funktional-hierarchischen Strukturen im Paradigma von Steuerung durch Kontrolle und Beherrschbarkeit fest. Ein Steuerungsdenken mit dem Anspruch, dass Unternehmensgeschehen kausal beeinflussen zu können, reduziert die Komplexität der Situation. Es wird in richtig und falsch gedacht. Von der Führungsfunktion wird eine Anweisung erwartet. Diese Anforderung führt in unsicheren Zeiten, zusätzlich zur individuellen Verengung, zu einer organisationalen Verengung (► Kap. 8). Wüssten wir, was falsch und richtig ist, wäre es keine unsichere Situation.

Wenn die Idee der Systembeherrschung zugunsten der Vorstellung losgelassen wird, dass Organisationen komplexe Systeme sind, welche selbst ordnungsbildende Muster produzieren, entsteht mehr Handlungsraum für Austauschprozesse. Die Handlungsräume für Führende vervielfältigen sich.

Unabhängig von der Struktur bleibt die Führungsfunktion die Auffangvorrichtung für die unlösbaren Probleme der Organisation8. Durch die Organisationsstruktur kann die Führungsfunktion allerdings entlastet werden9.

In den Geschichten der Führenden wird deutlich, dass die größte Sorge ist, welche weitere Entwicklung die Handlungen auslösen.10 Organisationen versuchen durch Planen und Steuern einer Zukunft habhaft zu werden, welche per se offen ist. In unsicheren Zeiten werden wir von der Zukunft überrascht. Es passiert nicht, dass was geplant war, sonst gäbe es keine Verunsicherung.

Die Organisationsmitglieder erwarten in unsicheren Zeiten, dass die Führungsfunktion anweist, was zu tun ist. Darüber hinaus wird auch Sicherheit und Schutz erwartet11. Es wird sachlich und emotional nach Orientierung verlangt. Vor allem in funktional-hierarchischen Organisationsstrukturen ist Führung schuld, wenn es anders kommt als geplant. Mit diesen Widersprüchen heißt es als Führende zu [12]jonglieren, individuell und organisational – und der Kontext wirkt entsprechend. Ein Beispiel dazu:

An einem Freitagnachmittag wurde ein Berater vom Chef eines Unternehmens gebeten am Montagmorgen in einem seiner Teams eine Konfliktmoderation durchzuführen. In dem Team brodelte es und die Lage hatte sich in den letzten Wochen verschlimmert.

Am Montagmorgen kamen alle zusammen; 26 Männer des mittleren Managements mit ihrem Chef. Es war ein großer Bereich mit insgesamt 600 Mitarbeitern.

Die Moderation begann. Der Chef ließ sich berichten, was die Kritik seiner 26 Teamchefs umfasste. Es wurde mit leichter Kritik begonnen. Dann wurde die Diskussion hitziger. Es wurde heißer im Raum, bis jemand plötzlich aufstand und rief: »Wir wünschen uns eine Vaterfigur!« Andere nickten zustimmend.

Es wurde still im Raum und der Chef und der Berater schauten etwas verdutzt. Wie war es dazu gekommen? Der Chef nahm die Rückmeldung ernst und ließ beschreiben, was die 26 Männer unter »Vaterfigur« verstanden. Nach etwa 45 Minuten Moderation war der Konflikt klar. Vor sechs Monaten war der vorherige Chef in den Ruhestand gegangen. Ein echter Patriarch, welcher sehr autoritär führte. Er gab klare Anweisungen, was und wie etwas getan werden musste. Strategische Planungen erledigte er allein und informierte dann die Manager. Die Manager hatten gelernt, seine Anweisungen zu folgen und operativ umzusetzen, was erwartet wurde. Der Laden lief. Die Zahlen stimmten.

Der neue Chef führte seit sechs Monaten und zwar sehr partizipativ. Er gab nur den Rahmen vor, lud zu Workshops ein und verlangte gemeinsame Entscheidungen zu den strategischen Themen. Die Manager aber erwarteten klare Anweisungen und stellten die Kompetenz in Frage: »Konnte der Neue das etwa nicht allein?«

Ein partizipative Führungsstrategie hatte in der autoritär geführten Mannschaft negative Folgen. Die Mannschaft entschied sich, dem neuen Führungsstil nicht zu folgen. Nach weiteren sechs Monaten war der neue Chef weg.

Mit dem Beispiel wird deutlich: Eine Handlungsstrategie kann nicht ohne Geschichte und Struktur des Kontextes als wirksam gedeutet werden.

2

Vgl. Dorsch, 2009: 911

3

Vgl. Thomson, 1983: 22-24

4

Vgl. Wagner, 2007: 117

5

Vgl. Hüther, 2007: 34f

6

Vgl. Haken/ Schiepek, 2006: 72

7

Vgl. Hensen, 2020: 224

8

Vgl. Luhmann, 1999: 214

9

Vgl. Baecker, Dirk, 2004: 3

10

Vgl. Lantermann, 2009: Auf der Grundlage einer Studie werden fünf Facetten von unsicherheitsauslösenden Faktoren unterschieden.

11

Vgl. Pauls, 2007: 46

[13]2Die integrale Landkarte

Die entscheidende Frage des Führens in unsicheren Zeiten ist nicht, wie erfolgreich die Führungsperson handelt, sondern wie das Handeln in der Kultur und Struktur der Organisation wirkt. Die Frage ist die Relation von Person und Organisation. Die Handlungen von Führenden dienen als Schnittstelle, um die wirksamen Strategien zu entdecken. Um den Verbindungen von Person und Organisation auf die Spur zu kommen, dient die integrale Landkarte als Ordnungsstruktur. Vergessen wir nicht, eine Landkarte ist nicht das Gelände, sondern bleibt eine Karte. Eine Karte ist ein nützliches Instrument. Und es ist sinnvoll, eine Karte zu haben, die dem Gelände vollständig entspricht12. Daher wird die integrale Landkarte von Ken Wilber genutzt, weil sie die individuelle und die kollektive Perspektive verbindet13.

Der Grundgedanke der integralen Landkarte ist einfach: Kein Mensch kann ständig falsch liegen. In sich widersprechenden Gedanken muss ein wahrer Kern stecken. Es braucht eine Landkarte, um diese sich wiedersprechenden Aspekte sortieren, ordnen und integrieren zu können14. Integrieren bedeutet wiederherstellen, ergänzen15. Die erste Unterscheidungslogik der integralen Landkarte betrifft die Außenperspektive von Individuum und Organisation. Das Verhalten kann weder allein aus dem Individuum noch aus der Organisationsstruktur erklärt werden. Beides zu verbinden, ist die Aufgabe.

Die zweite Logik der Unterscheidung betrifft die Innenperspektive von Individuen in Organisationen. Ihr Verhalten speist sich aus ihren Gefühlen und Motiven und den Normen und Werten der Kultur. Diese Perspektiven liefern wichtige Informationen, welche nur erfragt werden können, weil sie im Inneren von Individuen und Organisationen auftreten und nicht direkt zu beobachten sind.

Mit der Struktur der integralen Landkarte ist ein Gesamtbild möglich. Die integrale Landkarte besteht aus einer 2x2-Polarität. Die erste Polarität betrifft die Polarität Individuell und Kollektiv. Es wird zwischen handelnden Individuen und Teams unterschieden. Die zweite Polarität besteht aus Innen und Außen. Das Äußere ist alles, was wir beobachten und messen können. Das Innere umfasst alle Phänomene des Erlebens, welche der Selbstbeobachtung unterliegen und nur erfragt werden können.

[14]Führen ist ein komplexes Phänomen, welches sich durch zielgerichtetes Planen, Entscheiden und Steuern auszeichnet. Die Organisationsstruktur mit ihren Prozessen und Programmen liefert den Rahmen des zielgerichteten Handelns (►Kap. 8/10.3). Die geteilten Normen und Werte, welche eine einzigartige Organisationskultur ermöglichen, wirken auf das Handeln ein und werden durch das Handeln beeinflusst (►Kap. 10.4). Die Kompetenzen, Erfahrungen und das Wissen der Organisationsmitglieder stellen die Ressourcen bereit, um die Ziele der Organisation erreichen zu können (►Kap. 10.2). Die Organisationsmitglieder teilen ihre Wahrnehmungen, Motive und Gefühle, welche die Wege zur Zielerreichung beeinflussen (►Kap. 10.1).

Wir erhalten eine Ordnungsstruktur mit vier Räumen, welche sich aus 2x2-Polaritäten speist. Zur Veranschaulichung wird das Bild des Raumes (► Dar. 1) genutzt. Jeder der vier Perspektiven ist wie eine Tür in einen spezifischen RAUM16. Jeder Raum ist wie eine eigene Welt.

Dar. 1:Die integrale Landkarte (eigene Darstellung in Anlehnung an Ken Wilber, 2001: 65) [zurück]

[15]Wird die Tür des Individuellen/ Inneren (im Weiteren Mental RAUM genannt) durchschritten, finden wir die Gefühle, Motive und Werte von Führenden. Die Dreidimensionalität des RAUMES verdeutlicht, dass sich jede Führende in Bezug auf Gefühle, Gedanken und Motive an unterschiedlichen Punkten innerhalb des RAUMES befinden kann.

Für das Bearbeiten der unsicheren Situation ist vor allem der Umgang mit Tunneldenken, unangenehmen Gefühlen, Widersprüchen und Wertungen relevant. Der Mental RAUM stellt die persönlichen Bedeutungen bereit.

Wird die Tür des Individuellen/ Äußeren (im Weiteren Ressourcen RAUM genannt) durchschritten, finden sich alle Aspekte des Individuellen, die wir messen und beobachten können. Für das Bearbeiten der unsicheren Situation sind vor allem Aspekte von Bedeutung, welche die Spannungen in der Kommunikation regulieren. Darüber hinaus werden gegenseitig Erwartungen an Rolle und Funktion innerhalb einer Organisation gestellt. Der Ressourcen RAUM stellt Ressourcen des Handelns bereit, wie z. B. Wissen und Erfahrungen.

Der RAUM des Kollektiven/ Inneren (im Weiteren Kultur RAUM genannt) umfasst die Werte und Normen einer Organisation. Wir bewegen uns mit den verschiedenen Rollen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, welche unser Denken, Fühlen und Verhalten beeinflussen. Für das Bearbeiten der unsicheren Situation sind vor allem Rituale und Geschichten interessant, welche das System nutzt, um Orientierung zu vermitteln. Darüber hinaus werden Gefühle nicht ausschließlich als individuell betrachtet, sondern als Atmosphären, von denen wir uns anstecken lassen können oder distanzieren.

Der RAUM des Kollektiven/ Äußeren (im Weiteren Struktur RAUM genannt) verdeutlicht die Aspekte der Prozesse und Abläufe einer Organisation. Die Struktur der Organisation hat Einfluss auf die Erwartung, welche Art von Kontrolle und Steuerung gewählt wird, um die unsichere Situation zu stabilisieren17.

Die polare Struktur bedeutet, dass kein RAUM wichtiger ist als ein anderer. Die Pole sind streng getrennt und doch nur aneinander möglich. Führen als zielgerichtetes Handeln speist sich aus allen vier Räumen der integralen Landkarte. Weder allein die individuelle Haltung des Führenden führt zu Erfolg noch eine gut geplante Organisationsstruktur mit gemeinsam geteilten Normen. Das Zusammenspiel; das Verbinden aus den Perspektiven der vier Räume macht ein Führungshandeln in einer Situation wirksam.

Die typischen Handlungsstrategien in unsicheren Zeiten umfassen sowohl die individuellen Muster als auch die Organisationsstrukturen. Darüber hinaus verbinden sich in den Geschichten die Motive der Handlungen mit dem beobachtbaren Verhalten. Handlungsstrategien sind komplexe Operationen, welche einzelne Taktiken beinhalten18. Angesichts der Komplexität sozialer Systeme, lautet das Grundproblem, wie man wechselnde Handlungsrelationen in begrenzter Zeit un[16]terbringen und koordinieren kann. Die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft werden dann zu Räumen für ein gegenwärtig-vollziehbares Handeln. Handeln ist ein absichtsvoller Prozess mit unbestimmtem Ergebnis19.

Führende wählen verschiedene RÄUME, um die Verunsicherung zu verwandeln. Hier kommt der individuelle Pol zum Tragen. Je nachdem aus welchem RAUM heraus sich die Situation erklärt wird, entstehen unterschiedliche Handlungen. Die Führenden unterscheiden sich also hinsichtlich ihrer Standpunkte innerhalb der vier RÄUME als auch darin, welchen der vier RÄUME sie häufiger betreten (► Kap. 2.2).

Zusammenfassung

Führende aus ihren Handlungen heraus zu betrachten, ermöglicht die Gebundenheit der Handlungen an eine Person zu lösen. Handlungsstrategien mit Hilfe der vier RÄUME zu sortieren, ermöglicht ein integrales Bild gespeist aus den Strukturen, Normen der Organisation und den Ressourcen und Haltungen der Organisationsmitglieder. In der Handlung verbinden sich Person und Organisation.

Die praktische Erfahrung zeigt, dass sich Führende anhand ihrer Handlungen schnell in den verschiedenen RÄUMEN verorten können. Das Modell hilft, vom Denken über sich selbst Abstand zu nehmen. Das Sortierkriterium der vier RÄUME ist abstrakt und zugleich praktisch genug, um Selbstdistanz zu ermöglichen. Damit wirken wir dem generellen Attributionsfehler entgegen, das Verhalten von Individuen in Organisationen aus der Persönlichkeit begründen zu wollen. Wir unterschätzen den Einfluss von Organisationsstrukturen, weil wir sie nicht direkt wahrnehmen können. Aber Organisationen bestehen nicht aus Individuen. Es sind Systeme, welche dadurch bestimmt sind, was Individuen in Organisationen kommunikativ teilen20.

Exkurs: Soziale Systeme

Der Soziologie Niklas Luhmann gilt als Vater der Systemtheorie im deutschsprachigen Raum.

Systeme sind das, was sie tun. Sie operieren in Differenz zur Umwelt: »Indem sie operieren, erzeugen Systeme eine Differenz von System und Umwelt. Sie erzeugen eine Form, die zwei Seiten hat, nämlich eine Innenseite – das ist das System – und eine Außenseite, die Umwelt.«

Systeme erzeugen zunächst und vor allem ihre eigene Kontinuität, bevor sie in Beziehung zu ihrer Umwelt treten können. Sie möchten auch morgen noch bestehen. Dazu wiederholen Systeme das, was sie durch Reproduktion von Prozessen gelernt haben. Das nennt die Systemtheorie Autopoiese. Sie tun dies, [17]indem sie in einem kontinuierlichen geschlossenen Prozess die Bestandteile, aus denen sie bestehen reproduzieren21

Am Beispiel eines Unternehmens verdeutlicht

Ein Mitarbeiter einer Firma weiß, dass er sich auf der Innenseite der Organisation befindet, weil er einen Arbeitsvertrag hat. Der Mitarbeiter weiß, wo die Grenze der Firma ist, nämlich bei all jenen, die keinen Arbeitsvertrag haben. Durch die Grenzziehung eines Systems entstehen bestimmte Verhaltensregeln, Denkmuster, Normen und Abläufe, die sich je nach System unterscheiden.

Eine Firma operiert im Subsystem des Wirtschaftens. In diesem Subsystem der Gesellschaft steht die Frage nach dem »haben oder nicht haben« im Fokus. Die Firma setzt Ziele, um »haben« zu erreichen. Diese Ziele werden kommunikativ vermittelt, besprochen, abgelehnt und neu geplant.

In Meetings kann sich darüber gestritten werden, ob die Ziele auch ihren Zweck erfüllen oder nicht. Attraktive Zwecke binden Organisationsmitglieder an die Ziele. Die Kommunikation über Zweck und Ziel ermöglicht das Fortbestehen des sozialen Systems22. Ein Mitarbeiter nimmt am Meeting in seiner Organisation teil, wenn er sich kommunikativ äußert. Die Mitglieder teilen in der Kommunikation ihre Gedanken und Gefühle, insofern sie glauben, dass es sinnvoll ist. Die Auswahl dessen, was kommuniziert wird, steht in der Verbindung mit der Funktion, welche das Mitglied in der Firma innehat. Das, was für ein Mitglied in seiner Funktion sinnvoll erscheint, kann ein anderes Mitglied als sinnlos wahrnehmen.

In der Kommunikation wird sich für Ziele, Vorgehen und Mittel entschieden. Entscheidungen führen von Unsicherheit ins Risiko, nicht in die Sicherheit, welche wir uns wünschen23