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Das allumfassende Lehrbuch zur Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD). Integrationsbewegungen in der Psychotherapie legen seit langem eine Überschreitung schulenspezifischen Denkens nahe. Das Buch führt tiefenpsychologische, stresstheoretische, behavioristische und systemische Denkströmungen in einen konsistenten Ansatz psychotherapeutischer Diagnostik zusammen. Neu: mit einem Beitrag von Dr. phil. Nicole Hauser zur Integrativen Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen nach ICD-11. Es enthält alle notwendigen diagnostischen Instrumente: Erstinterview und Anamnese, Befunderhebung und Klassifikation, Ätiologie und Behandlungsplanung. utb+: Zusätzlich zum Buch erhalten Leser:innen kurz und prägnant gehaltenen Checklisten zu den einzelnen Kapiteln, die die Buchinhalte perfekt ergänzen und sowohl das Lernen als auch die Anwendung in der Praxis erleichtern. Erhältlich über utb.de.
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Seitenzahl: 924
Veröffentlichungsjahr: 2024
utb 5088
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Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.
Johann W. von Goethe, Maximen und Refiexionen, 1833
Was weiß man also vom Du?
Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.
Martin Buber, Ich und Du, 1923
Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden.
Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen, 1935
Wenn man überhaupt etwas versteht, versteht man anders.
Andrzej Przylebski, Anders oder besser verstehen, 2005
Peter Osten, MSc
geboren 1958, lebt in München. Praxis für Integrative Psychotherapie, Paartherapie, Supervision, Coaching und Weiterbildung seit 1991; 13-jährige Tätigkeit an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Lehrtherapeut und Supervisor für Integrative Therapie an der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit, Fritz Perls Institut (EAG/FPI), Hückeswagen/Düsseldorf (D), am Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (ÖAGG, Wien [A]), Lehrbeauftragter an der Stiftung Europäische Akademie für Psychosoziale Gesundheit und Integrative Therapie (SEAG), Rohrschach (CH).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2024
Copyright © 2019 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
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www.facultas.at, [email protected]
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung
sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart
Umschlagbild: © Peter Osten, München
Lektorat: Mag. Verena Hauser, schreibgut.at, Wien
Satz: Wandl Multimedia-Agentur, Groß Weikersdorf
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
UTB-Nummer: 5088
ISBN 978-3-8252-6339-3 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8385-6339-8 (Online-Leserecht)
ISBN 978-3-8463-6339-3 (E-PUB)
Inhaltsverzeichnis
I Einführung: Das Integrationsparadigma
1 Integrationsbewegungen in der Psychotherapie
2 Was bedeutet „Integration“?
3 Integrative Psychotherapeutische Diagnostik
II Hintergründe der Integrativen Diagnostik
1 Wissenschaftstheoretische Vorbemerkung
2 Humanwissenschaftlicher Hintergrund
2.1 Einbettung des Psychischen: Leibphilosophie
Körper und Leib | Eingedenken der Natur im Subjekt | Ursprung des Subjekts | Leibliche Präsenz, Daseinserfüllung | Geschlechtlichkeit | Lust, Begehren, Sexualität | Reproduktivität und Elternschaft
2.2 Menschenbilder in der Psychotherapie: Philosophische Anthropologie
Beginn des Lebens | Bedürfnisse, Präsenz und Resonanz | Der Andere, die Liebe | Konflikt und Ambiguität | Souveränität | Bildung und Förderung | Arbeit, Geld, Besitz | Macht, Gewalt, Autorität | Kreativität, Vision, Utopie | Freiheit und Verantwortung | Altruismus und Engagement | Glück und Innerlichkeit | Orientierung am Guten, das Ignorante, das Böse | Scham und Schuldgefühle | Vertrauen, Hingabe, Dankbarkeit | Das Schöne | Freundschaft | Das Imaginäre, die Mystik, das Heilige | Zufall, Fügung, Kontingenz, Humor | Der Tod, die Zeit, das Verweilen
2.3 Orientierung und Verstörung: Sozial- und Kulturphilosophie
2.4 Leibsubjekt mit Identität: Epigenese der Person
2.5 Wahrnehmung, Bewusstsein, Konstruktion: Phänomenologie und Erkenntnis
3 Klinischer Hintergrund
3.1 Zielbestimmungen: Gesundheit in der Lebensspanne
Der Gesundheits- und Krankheitsbegriff im integrativen Denken | Salutogenese und Resilienz | Gesundheitspsychologie im Quer- und Längsschnitt | Protektive Faktoren und Prozesse | Gesundheitsverhalten, Selbstfürsorge und Lebensqualität | Tugenden und Stärken
3.2 Antriebe des Lebens: Evolutionäre Psychologie
Ansatzpunkte der Evolutionären Psychologie | Ressourcenelaboration und primäre Persönlichkeitsorganisation
3.3 Beweggründe des Handelns: Motivations- und Willenspsychologie
3.4 Schritte ins Leben: Klinische Entwicklungs- und Sozialisationswissenschaft
3.5 Entfaltung zur Identität: Persönlichkeitspsychologie und Genderforschung
Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie | Integrationen | Geschlecht als Persönlichkeitsvariable
3.6 Menschsein im Kontext: Narrative Identität und Klinische Sozialpsychologie
III Ätiologische Modelle und ihre Integration
1 Multiple Entfremdung: Das anthropologische Krankheitsmodell
2 Balanceakte: Ergebnisse der Longitudinalforschungen
3 Ätiologische Standardtheorien
Bedürfnis nach Sicherheit: Bindungstheorie | Innere Wirklichkeiten: Tiefenpsychologie | Realitätsverarbeitung: Lerntheorie und Behaviorismus | Überforderung: Stressforschung, Psychoneuroimmunologie und Psychosomatik | Megastress: Traumaforschung | Social worlds: Sozialökologische Theorien | Wachstum und Selbstverwirklichung: Gibt es die Humanistische Psychologie?
4 Transgenerationale Dynamik
5 Komplexität reduzieren: Die ‚Sechs ätiologischen Ebenen‘
6 Marktplatz der Psyche: Bedeutung attributiver Stile
7 Narrative in der Lebensspanne: Longitudinale Akkumulation
IV Methodischer Aufbau
1 Die Initialphase in der Psychotherapie
2 Die fünf Module der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik
3 Die psychotherapeutische Beziehung
Merkmale der therapeutischen Beziehung im integrativen Denken | Resonanz, Übertragung und Gegenübertragung | Modi der Arbeit mit Übertragungsphänomenen | Affiliation und Reaktanz als sozialpsychologische Phänomene | Erkennen und Differenzieren von Widerstand und Reaktanz | Abwehrmechanismen
4 Biografische Anamnese, entwicklungspsychologische Tiefenexploration
5 Mediengestützte Diagnostik
6 Initiale und prozessuale Diagnostik
V Praxis der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik
1 Das Erstinterview
2 Die psychosoziale Anamnese
3 Befunderhebung und Klassifikation
3.1 Intersubjektivität und Klassifikation
3.2 Der psychopathologische Befund
3.3 Multiaxiale Klassifikation nach ICD, DSM und ICF
Achse I: Klinisches Bild | Achse II: Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen | Komorbidität von Sucht- und Abhängigkeitsstörungen
3.4 Psychodynamische Diagnostik nach OPD
4 Praxis der ätiologischen Diagnostik
4.1 Akutsymptomatik und klinische Phänomenologie
4.2 Beginn und Auslöser
4.3 Verlauf, Phasen und Prozess
4.4. Akute Komorbidität
4.5 Longitudinale Akkumulation
4.6. Attribution und subjektive Krankheitstheorie
4.7 Abwehr, Funktion und Bewältigung
4.8 Einschränkungen im Lebensvollzug und Leidensdruck
5 Persönlichkeit I: Die potenzialorientierte Perspektive
5.1 „Die fünf Säulen der Identität“
5.2 Heuristik zur healthy functioning personality
5.3 Ressourcen, Potentiale und Resilienzanalyse
6 Persönlichkeit II: Klassifizierung der Dysfunktionalität
7 Die Behandlungsplanung
VI Die Integrative Psychotherapeutische Diagnose
1 Struktureller Aufbau
2 Exemplarische Durchführung
VII Schlusswort
VIII ICD-11 und Integrative Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen
Nicole Hauser
1 Klassifizierung der Persönlichkeitsstörungen: Hintergründe
2 Das Persönlichkeitsstörungskonzept nach ICD-11
2.1 Allgemeine Eingangskriterien
2.2 Aspekte des Funktionsniveaus zur Schweregradbestimmung
2.3 Schweregrade
2.4 Prominente Persönlichkeitsmerkmale
3 Integrative Diagnostik der Persönlichkeitsstörung
3.1 Erhebung von Funktionsbereichen
3.2 Kriterien einer Persönlichkeitsstörung
Integrative Konzepte im Verständnis der Persönlichkeitsstörungen bisher | Ebenen der Persönlichkeit: Selbst, Ich und Identität | Integrative Pathogenesemodelle
4 ICD-11 und Integrative Diagnostik
4.1 Vergleich Integrativer Diagnostik nach ICD-11 mit früheren Konzepten am Beispiel der narzisstischen Persönlichkeitsstörung
Diagnoseentwicklung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung | Vorschlag der Klassifizierung nach ICD-11 | Ätiologische Überlegungen und theragnostische Implikationen | Theragnostischer Einsatz integrativer Techniken
4.2 Diagnostische Implikationen für therapeutische Ziele in der Integrativen Therapie
Therapeutische Implikationen am konkreten Beispiel der BorderlinePersönlichkeitsstörung
5 Schlussbemerkungen
IX Register
1 Endnoten zu I.1 und I.2
2 Literatur
3 Sachwortregister
4 URL-Verzeichnis für die Checklisten
X Checklisten (Online-Material)
Checkliste 1: Das Erstinterview | Checkliste 2: Die psychosoziale Anamnese | Checkliste 3: Der psychopathologische Befund | Checkliste 4: Die ätiologische Diagnostik | Checkliste 5: Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung | Checkliste 6: Leitlinien zur Beurteilung der Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10, Kapitel F | Checkliste 7: Die Anamnese des Alkoholkonsums | Checkliste 8: Die Klassifikationskapitel nach ICD-10, Kapitel F und ICD-11, Kapitel 06 | Checkliste 9: Das Krisenscreening | Checkliste 10: Formen der Abwehr und Bewältigung | Checkliste 11: Entwicklung und Risiken in der Lebensspanne | Checkliste 12: Transgenerationale Identifikation: Familienanamnese | Checkliste 13: Transgenerationale Identifikation: Genogrammerstellung | Checkliste 14: Explorationsbogen „Migration und Kulturhybridität“ | Checkliste 15: Heuristik zur healthy functioning personality | Checkliste 16: Gesundheit – Wohlbefinden – Lebensstil | Checkliste 17: Die Ressourcen- und Resilienzanalyse | Checkliste 18: Formen der Arbeit mit Reaktanz und Widerstand | Checkliste 19: Psychosomatische Anamnese | Checkliste 20: Die Behandlungsplanung | Checkliste 21: Textbeispiele für die Abfassung einer integrativen Diagnose
Dieses Buch ist Teil der Reihe utb+. Die Inhalte werden durch Onlinematerial ergänzt. Bitte scannen Sie dafür einfach die QR-Codes im Text. Am Ende des Buches finden Sie auch alle URLs, falls Sie diese lieber in Ihren Browser eintippen wollen.Dieser QR-Code führt Sie direkt zu allen Checklisten.
Geleitwort
Psychotherapeutische Diagnostik steht am Beginn jeder Behandlung und hat hier eine vielschichtige Aufgabe zu erfüllen. Ihr geht es nicht nur um eine querschnittlich-klassifikatorische Feststellung von Störungsbildern, sondern vor allem darum, ein längsschnittliches Bild von beidem zu erhalten – der Dynamik in der Entstehung von Dysfunktionalität sowie der Genese von Resilienz, Kompetenzen und Potenzialen des Menschen. In biografisch aufdeckenden und an kausalen Strukturen arbeitenden Verfahren ist hierfür eine Sichtung der gesamten Lebensspanne des Menschen notwendig, aus der auch prognostische Perspektiven für die Entwicklung der Persönlichkeit, mit ihren Ressourcen und Potenzialen, erkennbar werden. Darüber hinaus will psychotherapeutische Diagnostik auch jene Fakten zur Kenntnis bringen, die den mentalen Repräsentationen und Bedeutungssystemen der Person entstammen und wichtige Behandlungsvoraussetzungen darstellen, etwa das Krankheitserleben, subjektive Krankheits-, Gesundheits- und Veränderungstheorien, Merkmale der Beziehungsgestaltung, projektive Tendenzen sowie Affiliations- und Übertragungsbereitschaften.
Die Integrative Therapie versteht sich in diesem Rahmen als eine Form problem-, ressourcen- und potenzialorientierter „Humantherapie“, die über eine Zentrierung auf die Pathologie des Subjekts hinausgeht, eine salutogenetische Orientierung mit in den Blick nimmt. Sie sieht Menschen geschlechtersensibel im Gesamt ihrer Leiblichkeit, eingebettet in soziale, gesellschaftliche und ökologische Kontexte (embodied and embedded) – sich permanent in Entwicklung und Wandlung befindend in den Prozessen ihres biografischen und zeitgeschichtlichen Kontinuums. In diesem Entwurf wird die vitale Angewiesenheit auf eine integrierte Sozialität und auf eine unbeschädigte Ökologie unübersehbar. Dieses Überschreiten tradierter Formen der Individuumszentrierung zieht veränderte Strategien der Wahrnehmung, der emotionalen Einschätzung (valuation) und kognitiven Bewertung (appraisal) psychischer und ökopsychosomatischer Funktionalität und Dysfunktionalität nach sich, die in der initialen Diagnostik, aber natürlich auch im Therapieverlauf, in der prozessualen Diagnostik‚ somit also in der gesamten Behandlung immer ihren Niederschlag finden.
Die Förderung von Sinnverstehen, Kreativität und Gesundheitsverhalten, beginnt dort, wo Dysfunktionalität nicht allein von ihrer Leidensseite her, sondern gleichzeitig als Herausforderung an die Aktivierung eigener Ressourcen, Resilienzen und Potenziale betrachtet wird. In jeder Biografie sind Geschichten von Gesundheit und Krankheit eng ineinander verflochtene Stränge des Entwicklungsgeschehens. Heilung bedeutet nicht nur Wiederherstellung beschädigter Gesundheit, sondern auch Wachstum an persönlicher Souveränität, Selbstfürsorge und Lebenskunst. In der Folge überwundener Krisen finden sich immer wieder auch Akzentverschiebungen in subjektiven Werten und Orientierungen, das Leben, das persönliche Selbst- und Weltbild betreffend. Forschungen zum Posttraumatic Growth geben deutliche Hinweise hierauf (Weiss & Berger, 2010).
Die Theorien zur Genese von positiver und dysfunktionaler Persönlichkeitsentwicklung werden in der Integrativen Therapie unter eine klinische entwicklungs-, gesundheits- und persönlichkeitspsychologische Perspektive in longitudinaler Orientierung gestellt und finden hierin ihre empirische Fundierung. Darüber hinaus werden aber auch humanwissenschaftliche Ansätze „multipler Entfremdung und Verdinglichung“ herangezogen, um die soziale, gesellschaftliche und ökologische Seite menschlicher Störungsanfälligkeit herauszustellen. Um die Positionen eines solchen Menschen- und Weltbildes wissenschaftlich abzustützen, wurden Ansätze einer klinischen Philosophie entwickelt, unter deren Dach sich empirische Vorgehensweisen phänomenologisch-hermeneutisch, leibphilosophisch, anthropologisch, sozialphilosophisch und mundanologisch verbinden lassen.
Der Autor, langjährig psychotherapeutisch in Psychiatrie und Psychotherapie erfahren und tätig, seit 30 Jahren im deutschsprachigen Raum auch als Lehrtherapeut für Integrative Therapie, hat diesen von Hilarion G. Petzold, Johanna Sieper (†), Ilse Orth und Hildegund Heinl (†) entwickelten Ansatz einer schulenübergreifenden Humantherapie in kenntnisreicher Weise dargestellt und mit gelungenen Methoden- und Praxiskonzepten umgesetzt. Wir möchten an dieser Stelle unserer Freude Ausdruck verleihen, dass das innovative Verfahren damit nützliche, eigenständige Beiträge zum Fundus einer modernen klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Diagnostik leistet, die dem gesamten Feld zugutekommen können. Wir wünschen dem Buch viel Erfolg und hoffen, dass seine Konzepte über die Grenzen des Verfahrens hinaus in vielen gesundheitsrelevanten Bereichen Interesse finden und zur Anwendung kommen werden.
Mai 2019
Claudia Höfner, Wien
Anton Leitner, St. Pölten
Ilse Orth, Hückeswagen/Erkrath
Hilarion G. Petzold, Hückeswagen/Erkrath
Vorwort
Dieses Buch trägt einen langen Anlauf in sich. Als ich zu Beginn der 1990er Jahre in der universitären Akutpsychiatrie meine psychotherapeutische und beraterische Tätigkeit aufnahm, war ich fasziniert von der Komplexität der psychiatrischen Diagnostik, dem Engagement und der Präzision, mit der meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen diese versuchten umzusetzen. Bereits einige Jahre zuvor hatte ich die „Integrative Therapie“ kennengelernt, in der der Mensch, die Person mit ihrer Lebensgeschichte und Transgenerationalität, ihrer kulturellen und geschlechtsspezifischen Identität im Zentrum stand. Damals erschienen mir die wissenschaftlichen Communitys zwischen querschnittlich-pathologiezentrierter und longitudinal-salutogeneseorientierter Diagnostik noch strikt getrennt, ihre inbegriffenen Theorien und Ideologien unvereinbar. Während für meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen über der Bestimmung von Psychopathologie Mensch, Person und Biografie in den Hintergrund traten, lehnten die Kollegen und Kolleginnen meines Verfahrens aus Gründen des ‚Labeling‘ eine fest- oder zuschreibende Diagnostik weitgehend ab. Dieser Spannungsbogen, in dem ich 13 Jahre arbeitete, inspirierte mich, nach Verbindungen zwischen meinem Verfahren und der nach meinem Verständnis so notwendigen psychiatrischen Diagnostik zu suchen.
Es folgten Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den Entwicklungswissenschaften (Osten, 2000), der Persönlichkeitspsychologie (Osten & Wörmer, 2006) und den ätiologischen Theorien (Osten, 2001), schließlich auch die Beschäftigung mit transgenerationalen Perspektiven der Persönlichkeitsentwicklung (Osten, 2009). Erste Arbeiten befassten sich mit der Anamnese, mit der Diagnostik bei Abhängigkeitserkrankungen und Trauma, auch unter Zuhilfenahme kreativer Medien, schließlich mit ersten Entwürfen zur Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (Petzold & Osten, 2000; Osten, 2011). Alle trugen die Vorstellung in sich, dass eine Diagnostik in der Psychotherapie beide Perspektiven integrieren, mehr noch, die ganze Komplexität des Menschen mit seinen subjektiven Erfahrungs-, Bedeutungs- und Verarbeitungssystemen erfassen müsse. Dazu schien mir das Verfahren der Integrativen Therapie mehr als geeignet und in der Lage (Osten, 2024b).
Dysfunktionalität erschien hier in einem Verständnis der Einbettung des Psychischen in seine Leiblichkeit, die Leiblichkeit in ihrer Einbettung ins Soziale, Gesellschaftliche und Kulturell-Zeitepochale, Motivation und Verhalten wurden als Enaktivierung aus der hieraus entstehenden Dynamik verstanden, das Subjekt als Mitwirkender und Gestaltender in dem ganzen Prozess – sowohl in funktionaler als auch in dysfunktionaler Hinsicht. Diese rekursive Perspektive auf den Menschen und seine Lebenswelt sollte diagnostisch erschließbar werden. Das Ergebnis dieser hier nur kurz skizzierten Geschichte halten Leserin und Leser nun in Händen.
Das erste Kapitel gibt eine kurze Einführung in die Geschichte der internationalen Integrationsbewegungen in der Psychotherapie und führt in das Denken einer „Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik“ (IPD) ein. Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Hintergründe der IPD dargestellt, und zwar in zwei sehr unterschiedlichen Aspekten. Der erste handelt für die Psychotherapie wesentliche Wissensgebiete der Klinischen Philosophie ab, die den Überbau des Verfahrens bilden: Leibphilosophie und philosophische Anthropologie (Menschenbild der Integrativen Therapie), Sozial-, Gesellschafts- und Kulturphilosophie, Philosophie der Person und schließlich die Erkenntnistheorie, als Voraussetzung für die Diagnostik. Im zweiten Aspekt werden klinische Grundlagentheorien der IPD dargestellt: Gesundheitspsychologie, Evolutionäre und Motivationspsychologie, Entwicklungs- und Persönlichkeitswissenschaften, Genderforschung sowie Theorien zur narrativen Struktur von Identität.
Im dritten Kapitel werden ätiologische Konzepte vorgestellt und nach den Möglichkeiten ihrer Anschlussfähigkeit an das Menschenbild der Integrativen Therapie hin untersucht. Dies führt schließlich zum „Modell der longitudinalen Akkumulation“ als phänomenologisch-hermeneutischem Gesundheits- und Krankheitsmodell des Integrativen Verfahrens. Das vierte Kapitel stellt den methodischen Aufbau der IPD dar und im fünften Kapitel werden alle Ansätze miteinander in die Praxis des konkreten diagnostischen Prozederes überführt. Im sechsten Kapitel wird die „Integrative Diagnose“ von ihrem strukturellen Aufbau her beschrieben und anhand eines Fallbeispiels exemplarisch durchgeführt. Das letzte Kapitel, das nun der zweiten Auflage des Buches hinzugefügt wurde, enthält die Arbeit von Nicole Hauser; sie unterbreitet hier einen Vorschlag zur Integration der Diagnostik nach ICD-11 mit der Integrativen Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen. Ihr gilt mein ganz besonderer Dank hierfür. Das Werk verfügt zudem über umfangreiches Online-Material in Form von 21 Checklisten für die einzelnen Phasen der Diagnostik.
Ein editorischer Hinweis zur Form der Zitation: Literaturangaben hinter Gedankengängen bedeuten wie üblich, dass hier Überlegungen der jeweiligen Autorinnen und Autoren eingeflossen sind oder der zuvor im Text genannte Gedanke von dieser Person inspiriert wurde. Werden hinter diesem ersten noch weitere Autoren genannt, so deutet dies an, dass die Gedanken der Nachstehenden in ähnliche Richtungen gehen oder kommentierend resp. aspektierend herangezogen wurden. Letzteres gilt auch bei direkten Zitaten. Werden danach mehrere Autorinnen oder Autoren in Folge genannt, soll dies andeuten, dass die nachfolgenden in abnehmender Bedeutung zur Aussage stehen. Daher folgt die Reihung nicht nach dem Erscheinungsjahr. Vielen Menschen gebührt mein Dank. Zuallererst gilt dieser meinen zusammengezählt knapp dreitausend Patienten und Patientinnen, die mir in 30 Jahren ihr Vertrauen schenkten und in biografischen Anamnesen ihr Leben, ihre Freuden und Leiden mit mir teilten. Unsägliches war hier zu hören und Wertvolles zu lernen. Großen Dank möchte ich meinen Lehrern aussprechen, die mir halfen, aus meinen eigenen Labyrinthen herauszufinden und dieses wertvolle Verfahren zu studieren: Lore Schreiner, Georg Wiedemann, Hannelore Voss, Dörte Amt-Euler (†), Karin Huck, Jürgen Lemke, Doris Signer-Brandau, Hildegund Heinl (†), Werner Huth, Ilse Orth und Hilarion G. Petzold. Frau Victoria Tatzreiter vom facultas-Verlag betreute das Buchprojekt vom ersten Moment an mit großem Interesse und ihrer umwerfenden Freundlichkeit, was die Motivation stets aufrechterhielt. Dank und Anerkennung möchte ich auch meiner Lektorin, Frau Verena Hauser, aussprechen, die mit Feingefühl und kernigen Anregungen den Texten ihren letzten Schliff gab. Sie hat auch diese zweite Auflage redigiert und mit ihren wertvollen Hinweisen wieder Unverzichtbares geleistet. Der größte Dank gilt meiner Familie, die mich unterstützte und auf meine Präsenz verzichtete, während ich schrieb. Ohne deren Dasein und Liebe wäre eine solche Arbeit nicht möglich.
Für die zweite Auflage im September 2024
Peter Osten, München
I Einführung: Das Integrationsparadigma
In diesem Kapitel wird in das zugrunde liegende Denken der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) eingeführt. Die Geschichte der Integrationsbewegungen in der Psychotherapie wird kurz erläutert, anschließend wird der Integrationsbegriff für das vorliegende Buch definiert. Eine erste Annäherung an die spezifische Form der hier vorgestellten psychotherapeutischen Diagnostik beschließt die Einführung.
1Integrationsbewegungen in der Psychotherapie
In diesem Buch geht es um Formen psychotherapeutischer Diagnostik im Rahmen der Bewegung der „psychotherapy integration“1, wie sie in Amerika in den 1960er Jahren eingesetzt hatte, im deutschsprachigen Raum durch Hilarion G. Petzold und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inauguriert (Petzold, 1993; Steffan & Petzold, 2001), später durch die Gruppe um Klaus Grawe2 aufgegriffen und weiter beforscht wurde. Beiträge kamen auch von Rainer Bastine (1989) und Dieter Wyss (1982). In der Schweiz haben seit den frühen 1990er Jahren Andreas Blaser und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (1992) Integrationsansätze entwickelt. In Österreich war es Josef Egger (2014), der mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fundierte Integrationsmodelle erarbeitet hat. Bedeutend in diesem Zusammenhang wurden später Fragen der dritten Welle in der Psychotherapie, hier insbesondere, ob es für die Vielfalt existierender humanwissenschaftlicher Ansätze ein transversales – das heißt quer und schräg durch viele Wissensbereiche verlaufendes – Fundament gebe, in dem ähnliche theoretische Diskurse zusammenfließen könnten, ohne dass wertvolle Pluralität zerstört würde (Petzold, Sieper & Orth, 2002; Sieper, 2006).
Prüfungen gemeinsamer Wirkfaktoren im Bereich der Psychotherapie3 schienen erste Orientierungen zu geben, blieben mit ihren Bemühungen aber noch an der Effektivität und der performativen Oberfläche psychotherapeutischer Interventionen orientiert, ohne dass Heterogenität und Passung einzelner Hintergrundtheorien vergleichend gesichtet und gewichtet wurden. Outcome- und Evidenzforschungen zeigten im Vergleich diverser Verfahren bei unterschiedlichen Interventionsstilen und -techniken moderate Effekte (Wyl et al., 2016). Bei aller Heterogenität schienen Hintergrundtheorien mit ihrer jeweiligen Praxeologie also nicht den Unterschied auszumachen (Wampold, Imel & Flückiger, 2018).
Deutlichere Schwankungen zeigten sich dann in den persönlichen Kompetenzen und Performanzen von Therapeuten (Castonguay & Hill, 2017). Von den Hintergrundtheorien unabhängige Variablen wie Präsenz und Zentriertheit, Qualität des Bindungsangebots, menschliche Ansprechbarkeit, Empathie und Responsivität, Humor und Lebenserfahrenheit (‚Weisheit‘), Kreativität und kulturelle Faktoren scheinen Therapieerfolge stärker zu befördern. Das ist im Grunde vielversprechend, aber die Bezeichnung persönlich verlagert in einen noch undefinierten Bereich, was durchaus erlernbar wäre (Norcross, 2001). Zugleich müssen diese Variablen in übergeordneten Theorien und Konzepten synchronisiert werden. Wie können diese Qualitäten vermittelt und angeeignet werden?
Mit diesem Hintergrund stellt der vorliegende Ansatz einen Versuch dar, derlei wirksame Haltungen aus humanwissenschaftlicher Sicht zu beleuchten, Möglichkeiten zu sondieren, Menschenbilder anzureichern, Weltanschauungen zu erweitern, Hintergrundtheorien verschiedener Verfahren unter philosophischem Dach zu einem integrativen Ansatz zu verbinden. Die Integrative Therapie versteht sich dabei nicht als grundlagenwissenschaftlicher Ansatz, sondern als forschungsgegründete Form konnektivierender, schulenübergreifender und an der longitudinalen Entwicklungspsychobiologie ausgerichteter Humantherapie, die in ihrer Entwicklung prinzipiell als nicht abgeschlossen gilt, sondern im Fluss der Forschung neue Erkenntnisse aufnehmen so- wie zum Teil überholte auch korrigieren kann (Petzold, 2011; Leitner & Höfner, 2020).
Sie ist interdisziplinäre Anwenderin natur- und humanwissenschaftlicher Ansätze – darunter fallen insbesondere auch kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Theorien –, die unterschiedliche Diskurse, die im Wissenschaftsbetrieb selbst mitunter wenige Berührungspunkte haben, in transversale Passungen zu bringen versucht. Dies soll nicht andeuten, dass im vorliegenden Buch empirische, psychotherapeutische und diagnostische Modelle wissenschaftlich miteinander verglichen werden. Vielmehr sollen Ergebnisse vergleichender Prüfungen und Entwicklungen4, wie sie im Paradigma integrativen Denkens seit über 60 Jahren vorgenommen wurden, in ihrer Anwendung auf ein Praxisfeld dargestellt werden – eben auf die „Integrative Psychotherapeutische Diagnostik“ (IPD).5
2Was bedeutet „Integration“?
Was ist mit dem Begriff „Integration“ gemeint und wie wird er in dieser Arbeit definiert? Bei Sichtung unterschiedlicher klinischer Ansätze, etwa dem psychodynamischen, den lern- und stresstheoretischen oder den systemischen, wird gleich evident, dass hier jeweils unterschiedliche Vorstellungen vom Aufbau der Person und ihren Funktionsweisen zugrunde liegen, die dann natürlich in ein differenzielles Verständnis der Ätiologie von Störungen und somit auch in unterschiedliche Behandlungsansätze führen. Obwohl durch vergleichende Untersuchungen, etwa ätiologischer Theorien, zweifellos Schnittmengen ausgemacht werden können, geht es in der Auffassung integrativen Denkens nicht um eine eklektische Zusammenstellung von Überschneidungsbereichen.
Der Begriff „Integration“ wird hier in ein Verständnis gerückt, das strenge Prüfungen unterschiedlicher Theorien und Praktiken hin auf ihre Kompatibilität untereinander vorsieht, sowohl auf der Ebene empirischer Ansätze als auch auf der klinischer Interventionen. Eine Besonderheit des Verfahrens, das hier zugrunde liegt, besteht darin, dass seine klinischen Theorien auch auf ihre Vereinbarkeit mit einem von mehreren Seiten her humanwissenschaftlich abgestützten Menschenbild hin überprüft werden. Hier werden empirische Evidenz, klinische Theorien und interventive Praxeologien einer philosophischen, also geisteswissenschaftlichen, Prüfung auf Kompatibilität unterzogen. Dies stellt ein Programm dar, das gegen die Tendenz der Hochleistungsgesellschaft arbeitet, den Menschen bloß noch als Kategorie des Biologischen oder Psychologischen anzusehen (Steinfath, 2001). Will man etwas vom einzelnen Menschen verstehen, wird man versuchen, etwas mehr von der Vielfalt des Menschseins an sich zu verstehen. Auch wenn diese Frage als unabschließbar gilt, wird sie hier erörtert werden. Zu den Disziplinen, die aus diätetischen Gründen hier mehr oder minder essayistisch ausgeführt werden, gehören die philosophische Anthropologie, die Leibphilosophie, die Sozial- und Kulturphilosophie, die Phänomenologie sowie Bewusstseins- und Erkenntnistheorien.
Die Integrative Therapie spricht in diesem Zusammenhang von „Integratoren“, die in einem gestuften Modell von Theorien mit unterschiedlicher Reichweite geordnet werden: small scale theories, middle scale theories und large scale theories. Unter small scale theories werden hier konkrete, anwendungsbezogene Methoden, Techniken und Medien verstanden, wie sie in Verfahren der Psychotherapie im Behandlungsverlauf, immer wieder kurz- und mittelfristig orientiert am Prozessverlauf, zur Anwendung kommen (Praxeologie). Diese Interventionen beziehen ihre Begründung aus middle scale theories (klinische Theorie), deren Reichweite theorie- und forschungsgegründet größer ist als jene der Interventionslehren. Das sind etwa die empirische Entwicklungs- und Sozialisationstheorie, die Persönlichkeitspsychologie, die Gesundheits- und Krankheitslehre, speziell die der psychotherapeutischen Diagnostik. Praxeologische Interventionen müssen Kompatibilität mit diesen Wissensständen ausweisen können.
Trotz der größeren Reichweite von middle scale theories treten im Verlauf empirischer Bewegungen im Feld oder im Zusammenhang mit größeren Paradigmenwechseln in der Forschung theoretische und praxeologische Akzentverschiebungen auf, wie etwa zuletzt mit dem neurowissenschaftlichen Paradigma. Die Einbettung klinischer Theorien erfolgt entsprechend wiederum durch large scale theories, deren Reichweite groß und deren Veränderungsgeschwindigkeit vergleichsweise kleiner ist. Hier befinden wir uns im Bereich philosophischer Metatheorien. Nur unter einer solchen umfassenden Betrachtung – etwa durch Einbezug auch von Enkulturations- und Ökologisationstheorien – ist es möglich, den Menschen, das menschliche Leben in seinen ökologischen Zusammenhängen vor der Eindimensionalität, dem Solipsismus (als ob, völlig abgetrennt von seiner Lebenswelt, nur das Subjekt, das „kleine Ich“, betrachtet werden könnte), vor der Zumutung kurzatmiger klinischer und sozialer Diagnosen zu bewahren (Henrich, 2016).
Das entsprechende dreistufige Modell wird in der Integrativen Therapie tree of science genannt (Petzold, 2003a). Einen Überblick soll die folgende Zusammenstellung geben. Integratoren auf der Ebene der Praxeologie (small scale) etwa sind orientiert an klinischen Konzepten der Relationalität6, an pluriformen Wegen der Heilung und Förderung7, an Theorien zu netzwerkorientierten Alltags- und Arbeitskontexten8 sowie empirisch untersuchten therapeutischen Wirkfaktoren9, einer ausgearbeiteten Interventionslehre10 mit indikationsspezifisch einsetzbaren Methoden, Techniken und Medien11 und Prozesstheorien12, des Weiteren an Evaluations- und Qualitätssicherungskonzepten13.
Zu den Integratoren auf der Ebene der klinischen Theorie (middle scale) gehören etwa die Gesundheitspsychologie14, die Entwicklungs- und Sozialisationswissenschaften15, die Persönlichkeitspsychologie16, Identitätstheorien17, Genderstudies18, die Evolutionäre Psychologie19, die Biologische Psychologie (Neurowissenschaften und Psychoneuroimmunologie20, Genetik21 und Epigenetik22) sowie Ätiologieansätze verschiedener Psychotherapieformen (Tiefenpsychologie23, Behaviorismus24, Stress- und Traumatherapie25), weiterhin Soziale Netzwerktheorien26, Sozialpsychologische Theorien27, Kommunikationstheorien, Systemische Theorien28 und Theorien zur Transgenerationalität29.
Praxeologie und klinische Theorie werden den Integratoren der Metatheorie (large scale) nachgeordnet. Zu diesen philosophischen Theorien gehören Kosmologie30 und Ontologie31, die philosophische Anthropologie32 mit ihren Theorien zur multiplen Entfremdung33, die Leibphilosophie34, die Philosophie des Subjekts35 und der Identität36, die Gesellschaftstheorie, Kultur- und Sozialphilosophie37, die Phänomenologie38, die Erkenntnistheorie39, die Wissenschaftstheorie40 und die Ethik41 (die Literaturangaben finden sich als Endnoten in Kapitel VIII und sind exemplarisch zu verstehen).
3Integrative Psychotherapeutische Diagnostik
Unter Diagnostik wird im Allgemeinen nicht unbedingt das möglichst genaue Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären des Menschen als Subjekt mit seiner Lebensgeschichte, seiner sozio- und ökokulturellen Identität verstanden, sondern eher das Erkennen von Symptomen und die Zuordnung dieser Symptome zu einer nosologischen Kategorie bereits umrissener Störungsbilder. In diesem Verständnisrahmen endet das diagnostische Prozedere üblicherweise mit der Vergabe einer Klassifizierung nach standardisierten Manualen (ICD, DSM, ICF, OPD). Psychotherapeutinnen, die in biografisch aufdeckenden Verfahren arbeiten, können aus querschnittlich orientierten, klassifikatorischen Diagnosen aber weder ätiologische Hypothesen noch interventive Perspektiven ableiten, die Persönlichkeit von Patienten wird nur in ihren pathologischen Erscheinungsformen beschrieben, Faktoren der healthy functioning personality, die salutogene und sozialökologische Perspektive bleiben unberücksichtigt. Das (zumeist) implizite Menschenbild dieser Vorgehensweisen bleibt größtenteils unreflektiert.
Damit findet sich in der klassifikatorischen Diagnose zwar ein Stück der phänomenalen Wirklichkeit von Menschen – ihr Leiden, unter Umständen mit Aspekten der Leidensgeschichte –, aber es ist zusammengekürzt auf ein Minimum von Information, das zumeist nur von Spezialisten entschlüsselt werden kann. So bestehen Diagnosen im Sinne der Klassifikation der großen Manuale (ICD, DSM, ICF) aus reinen querschnittlichen Statusbeschreibungen, allenfalls aus impliziten Verlaufskriterien. Die Folge hiervon ist eine Reduzierung menschlicher Leidensformen und ihrer Entstehung auf das Bild einer „Krankheit ohne Geschichte“ (Massing, 1994) – und damit vielfach auch „ohne Sinn“ (Antonovsky, 1997). So produziert die klassifikatorische Diagnostik einen Reduktionismus, aus humanwissenschaftlicher Sicht unterstützt sie den „Mythos vom isolierten Subjekt“ (Fellmann, 2005; Stirner, 1927), in dessen Seele bedenkenlos alle Pathologie auf Halde gelegt werden kann, ohne dass politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle, religiöse, zeitepochale und ökologische Belastungsthemen überhaupt nur in Anschlag gebracht werden. In der zynischen Konstruktion von Normalität ist der Versuch der Gesellschaft zu erkennen, ihre eigene Pathologie in das Subjekt hinein zu entsorgen (Lütz, 2018). Im Subjekt wird nur die Person gesehen, in der Person nur die Krankheit, in der Krankheit nur die Pathologie, in der Pathologie nur das Konflikthafte oder Defizitäre der Person.
Demgegenüber sieht die integrative Denkweise das Subjekt zuallererst in seiner verkörperten leiblichen Existenz (embodiedness) und ökologischen Einbettung (embeddedness) und nicht nur in der naturwissenschaftlichen Dimension des Körpers mit seiner Biologie. Das Subjekt ist „belebter Leib“ (Petzold, 2011a), der mit der Ausstattung seiner Sinnesfunktionen und seiner Psyche Welt wahrnehmen und empfinden kann, denken, fühlen und handeln, sich erinnern, Schmerz, Freude und Liebe empfinden kann, sich in die Welt hinein ausdrückt (enactedness, extendedness) und Resonanz erhält. Ein „Leibsubjekt“, das durch seine höheren Kognitionen über Vorstellungskraft verfügt, das allen Dingen Sinn und Bedeutung verleihen kann (Petzold & Orth, 2005), damit gestaltetes und gestaltendes Subjekt in einem Zuge ist. Dieses Leibsubjekt ist eingebettet in familiäre, kulturelle, gesellschaftliche und mundanökologische (Petzold, Leeser & Klempnauer, 2018) Kontexte, es ist von diesen Bedeutungswelten umgeben und durchdrungen (Foucault, 1974, 2008; Kölbl, 2005) und kreiert daraus mit seinen sozialen Kontexten seine Bedeutungssysteme bzw. arbeitet auch an kollektiven Gedankengebäuden mit. In dieser Betrachtung geht die Person mit ihrer Identität aus den rekursiven Prozessen von Leiblichkeit, Historizität, Sozialität und Ökologie als epigenetische Bewegung hervor (Schmitz, 2017). Identität – als Synergem einer social identity und einer ego identity – muss als Resultat dieser Prozesse „produktiver Realitätsverarbeitung“ verstanden werden (Hurrelmann & Bauer, 2015; Petzold, 2012).
Integrative Diagnostik will mit diesen Überlegungen nicht nur querschnittliche Krankheitsbilder ‚feststellen‘, sie will in erster Linie, längsschnittlich, die Krankheitsentstehung erfassen und dann aber auch instruktiv für die Behandlung sein. Aus diesem Grund sind in diesem Buch den psychologisch-diagnostischen Handlungsanleitungen philosophische Überlegungen zum Menschen- und Weltbild vorangestellt, Bilder und Vorstellungen von beidem, was Menschen krank macht und was sie heilt. Erst damit können die hier beschriebenen Vorgehensweisen sinnvoll erfasst werden.
Ebenso, wie es in der Tiefenpsychologie die Grundkonflikte sind, die therapeutisch handlungsleitend werden, im Behaviorismus die Muster dysfunktionalen Lernens, im systemischen Ansatz die Formen der Interaktivität, so sind es im Integrativen Denken die höchst individuellen Prozesse multipler Entfremdung über die Lebensspanne hin, die erfasst werden – durch die Exploration der individuellen Ereignisattributionen – und dann in der Behandlung zu den unterschiedlichen „Wegen der Heilung und Förderung“ (Petzold, 2012h) führen (siehe S. 184, 287). Es spielen dabei auch Konflikte, Lernerfahrungen und Interaktivität eine Rolle, aber, wie deutlich werden wird, nicht jeweils eine einzige. Außerdem werden Anpassungen dieser Modelle vorgenommen, um sie mit dem Integrativen Menschenbild kompatibel zu machen (III/1–7).
Wenn man den Entwicklungsgang des Subjekts im Leben als einen Verlauf wechselseitiger Anpassungen versteht – „ich passe mich meiner Umgebung an“ und „ich mache meine Umgebung für mich passend“ –, wird schnell deutlich, was unter „repressiver Entwicklung“ zu verstehen ist. Immer dort, wo das Leibsubjekt keine Möglichkeit vorfindet, seine Umgebungen mitzugestalten, verlaufen diese Anpassungen einseitig autoplastisch und bringen eine Dysfunktionalität hervor, die später, in weiter gefassten Umgebungen, weder Griff noch Sinn mehr findet. Dasselbe Problem in umgekehrter Folge bieten Vernachlässigungs- und Entgrenzungskontexte (Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch), in denen Strukturen und Orientierungen so weit fehlen, dass die alloplastische Anpassung scheinbar grenzenlos werden kann und auf keine verwertbare soziale Resonanz mehr stößt. Stellt man sich die menschliche Entwicklung als zwischen diesen beiden Polen verlaufend vor, so treten in beiden Richtungen, wenn sie extrem oder durchlaufend wirksam sind, multiple Entfremdungsprozesse auf, die als ätiologisch relevant eingestuft werden müssen (Petzold & Schuch, 1992).
Somit wird deutlich, dass es ein und dieselben rekursiven Wirk- und Verarbeitungsmechanismen (Attributionen) sind, die entweder eine healthy functioning personality mit ihren Ressourcen, Potenzialen und Resilienzen hervorbringen oder Dysfunktionalität, psychische Störungen und Vulnerabilität erzeugen. Durch Widerstandskraft bewältigte Krisen, seien sie auch noch so herausfordernd, erzeugen weitere Resilienz (positive Kontroll- und Selbstwirksamkeitserwartungen) und fehlende Ressourcen, überfordernde Krisen, seien sie auch noch so klein, können weitere Vulnerabilität hinterlassen (Flammer, 1990; vgl. Luthar, 2003; Barocas, Seifer & Sameroff, 2003). Das hängt ganz von den jeweiligen Möglichkeiten der Attribution sowie den Selbstwirksamkeits- und Kontrollmöglichkeiten des Individuums ab. Gesundheit und Krankheit bestehen daher neben- und ineinander als Möglichkeiten der subjektiven, leiblichen Existenz im Kontext. Krankheit wird dementsprechend hier nicht nur als störend oder negativ bewertet („warum?“), sondern auch als Herausforderung mit Entwicklungstendenzen attribuiert („wozu?“), somit auch in den Zusammenhang potenzieller Resilienzbildung gestellt (Petzold, Goffin & Oudhoff, 1993; Weiss & Berger, 2010).
Leibwissen und Vorstellungskraft des Menschen bringen eine Fülle naturwissenschaftlich nur schwer operationalisierbarer Informationen und Erscheinungen hervor (z. B. Atmosphären, das Schöne, das Imaginäre, Zufall und Kontingenz, Liebe, Glaube, Sinn, Mystik usw.), die in den Bedeutungssystemen des Subjekts jedoch hochwirksam sind und daher nicht als irrationale Einbildung dispensiert werden dürfen. Aus diesem Grund arbeitet der integrative Ansatz neben dem natur- und sozialwissenschaftlichen Denken immer mit einer phänomenologisch-hermeneutischen Perspektive, die in Diagnostik und Therapie auf subjektives Erleben, auf prozesshaftes Geschehen- und Wirkenlassen gerichtet ist und der subjektiven Bedeutungsgebung in Prozessen wechselseitiger Empathie einen gleichwertigen Rang neben wissenschaftlichen Deutungsvarianten einräumt (Osten, 2000; Miebach, 2009). Dem Anspruch, der im Wort „Diagnostik“ liegt (griech.: diagignoskein, dt.: genau hindurch erkennen), wird insofern Rechnung getragen, als es in der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) um das Erfassen des Menschen im Weiträumigen, das heißt, auch in den Dimensionen seiner Gesundheit und Ökologie, und in jenen Bereichen, die nur phänomenologisch und geisteswissenschaftlich erschließbar sind.
In diesem hier nur einführend umrissenen Feld versucht die IPD, Krankheitsentstehung längsschnittlich entwicklungsorientiert und plurikausal im dynamischen Spannungsfeld von Vulnerabilität, Ressourcen und Resilienz zu explorieren. Die querschnittliche Klassifikation von Störungen ist daher nur eine der verwendeten Perspektiven. Für Psychotherapeuten wird Diagnostik erst dann erkenntnis- und handlungsrelevant, wenn sie zu ätiologischen Hypothesen führt und damit Ideen und Impulse generiert, was behandlungstechnisch sinnvoll sei zu tun.
Bei all dem darf nicht aus dem Blick geraten, dass das Ansinnen üblicher psychotherapeutischer Diagnostik durchweg positivistisch motiviert ist. Jeder Versuch der Festlegung oder Feststellung menschlichen Erlebens oder menschlicher Wirklichkeit braucht daher den sicheren Rekurs auf ein humanwissenschaftliches und sozialkonstruktivistisches Denken, das in der Lage ist, das je ‚Festgestellte‘ wieder in die Verflüssigung kontingenter Lebenszusammenhänge hinein zu entlassen.
II Hintergründe der Integrativen Diagnostik
In diesem Kapitel werden die humanwissenschaftlichen und klinischen Hintergründe der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) bearbeitet. Eine kurze wissenschaftstheoretische Vorbemerkung führt in die kritische Position der hier vorgestellten Konzepte ein. Anschließend werden die metatheoretischen Aspekte der IPD beleuchtet. Im Sinne einer pragmatischen „Klinischen Philosophie“ (Petzold, 2003) werden Grundgedanken der französischen und deutschen Leibphilosophie, der philosophischen Anthropologie und des sozialphilosophischen Denkens aufgezeigt. Der metatheoretische Abschnitt endet mit der Darstellung der erkenntnistheoretischen Position des hier vorgestellten Verfahrens.
Im Anschluss werden die klinischen Hintergrundtheorien für das diagnostische Verstehen des Menschen dargestellt. Hierzu zählen die Gesundheitspsychologie, Motivationstheorien, die empirische Entwicklungspsychologie, eine gendersensible Sozialisationstheorie sowie die Persönlichkeitspsychologie und sozialpsychologische Theorien zur Identität. Durch diese Darstellung soll der Solipsismus des Subjekts aufgelöst und in Vorstellungen eines dynamisch, bewusst und unbewusst, in seiner Umgebung agierenden Organismus überführt werden. In dieser Auslegung spielen Dimensionen seiner Verleiblichung (embodied), der Einbettung in seine Lebenswelt (embedded), der individuellen und sozialen Handlungsmotivationen (enacted) und der zeitlich-räumlichen Ausdehnung und Weltgestaltung (extended) eine gleichermaßen zentrale Rolle (Thompson, 2010).
1 Wissenschaftstheoretische Vorbemerkung
Weil es im Rahmen psychotherapeutischer Diagnostik um spezifische Episteme (Foucault, 2003) des Menschlichen geht, ist zu Beginn des Kapitels über die Hintergründe der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) eine kurze wissenschaftstheoretische Positionierung angezeigt. Der naturwissenschaftliche Diskurs ist einem Streben verpflichtet, das Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit innerhalb seiner Beschreibungssysteme systematisch und möglichst vollständig erfassen und erklären will. Im Foucault’schen Verständnis der Episteme sind Erkenntnisakte und ihre Inhalte (Noemata) sowohl kulturhistorisch durchfiltert als auch durch Machtdiskurse imprägniert. Dies trifft vor allem für den Wissenschaftsdiskurs zu. Innerhalb der Prozesse methodisch nachvollziehbaren Forschens gelten nur empirische Erkenntnisse als wissenschaftlich, als gültig, überprüfbar und gesichert.
Wert und Bedeutung der Naturwissenschaften sind an sich unbestritten, im Phänomenbezirk des menschlich Wahrnehmbaren gibt es jedoch Themenfelder, die der Positivismus auf seinem Weg nicht erreicht (Bataille, 1994). Hierzu zählen etwa sozialpsychologische Probleme der Beziehungs- und Übertragungsdynamik, das Problem des Unbewussten oder subjektiver Bedeutungssysteme, Themen des geistigen Lebens (Liebe, Hoffnung, Sinnbedürfnis, Schuldgefühl, Dankbarkeit, Glaube usw.), innerhalb derer Erkenntnisse nur phänomenologisch und nur intersubjektiv erschlossen werden können. Diese Begrenzung kann im positivistischen Diskurs eine Tendenz hervorbringen, derartige Phänomene auszublenden oder, generell, ihnen den ontologischen Status abzusprechen. Dem Thema der Kontingenz (Zufall, Fügung, das Nicht-Notwendige alles Bestehenden) etwa, das in den Bedeutungssystemen von Subjekten Evidenz beansprucht, wird in den empirischen Wissenschaften nur noch ein marginalisierter Platz in der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ zugebilligt (Janke, 2002; Niederberger, 2007). Versuchen der Objektivierung derartiger Erfahrungen sind daher Grenzen gesetzt (Albert, 1974).
Jeder Blick auf die Welt ist an sich schon begriffs- und theoriegeleitet und muss daher konsequent als aspektiv angesehen werden. Das heißt, theoretische Konstruktionen entstammen Beobachtungen, sie sind gedankliche Bildungen und damit immer nur eine mögliche Perspektive unter vielen, deren Verhältnis zur Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen im einzelnen Fall sogar problematisch sein kann (Weber, 1904; Feyerabend, 1976). Weder unser Bewusstsein noch unsere Episteme stellen einen „Widerhall der Existenz in Echtzeit“ dar (Baudrillard, 2013, 5ff.; vgl. Schnädelbach, 2013). Vielmehr kämpft das Denken unentwegt mit dem, was unser Bewusstsein als Realität bezeichnet. Die Naturwissenschaften intendieren die Parteinahme für eine (subjektlose) „objektive Illusion der Welt“ (ebd.). Dieser Kampf des Bewusstseins aber ist in der Tat substanzieller als der Glaube an eine Wahrheit, weil er unhintergehbar in einen perspektivischen Pluralismus führt (Goodman, 1990). Das Signum reflektierenden Urteilens im integrativen Ansatz ist daher ein multiperspektivischer und multiparadigmatischer Ansatz.
Dies folgt zunächst Karl Poppers (1934) Idee, in der Tendenz nicht immer noch mehr Beweise für die Richtigkeit einer Theorie anzuhäufen, sondern im Gegenteil zu versuchen, diese zu dekonstruieren oder zu falsifizieren, weil nur so Fortschritte in der Theoriebildung möglich werden. Es verlässt Poppers Denken allerdings an der Weggabelung zwischen der Hoffnung auf einen reinen Positivismus auf der einen und der Entscheidung für ein induktives und hermeneutisches Denken auf der anderen Seite, weil menschliche Wirklichkeit immer nur intersubjektiv, diskursiv, damit nur annäherungsweise erschlossen werden kann (Sölter, 1995; Kuhlmann, 1975). Psychotherapeutische Erkenntnisprozesse sollten von daher stets auf dem Boden einer stringenten Verbindung von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften stehen, die unter den Prämissen einer transversalen Vernunft (Petzold, 2004) versucht, heterotope Wissensstände1 miteinander zu verbinden.
Auch wenn der Materialismus in seiner (historischen) Infragestellung illusionärer Glaubenssysteme immer ein emanzipatorisches Ansinnen verfolgte (Bunge & Mahner, 2004), ist Wissen heute mannigfaltigen Gefahren von Missbrauch ausgesetzt. Empirie ist nicht mehr nur liberal-universitär, sie ist zielgerichtet, soll Zwecke erfüllen. Wissen wird präzisiert, also partialisiert und damit vielfach verfremdet. Weil sie jeweils nur Signifikanzen und Korrelationen produzieren, sind empirische Erkenntnisse für sich allein stehend kategorial weder in der Lage, die charakteristische Seinsweise (Sartre, 1952) des Menschen zu untersuchen, noch, seine Sinnbedürfnisse (Husserl, 1954) zu befriedigen.
Missbrauch von Signifikanz- und Korrelationsergebnissen liegt vor, wenn diese als Faktum oder Kausalität hybridisiert (gebündelt, gekreuzt, unzulässig gedeutet) werden und die Varianz verleugnet wird (Wasserstein & Lazar, 2016; Amrhein, Korner-Nievergelt & Roth, 2017). Der stetige Wandel und die Kontingenzen menschlicher Wirklichkeiten – psychisch, sozial, gesellschaftlich, politisch, wissenschaftlich – erfordern darüber hinaus Reliabilitätsprüfungen, ohne die empirische Ergebnisse nur eine kurze Halbwertszeit besitzen oder gar wertlos sind. Nicht eine einzige soziologische Studie etwa war in der Lage, die menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bifurkationen2 während der Corona-Krise vorauszusagen (Osten, 2022).
Erkenntnisinteressen von Forschern müssen weder bewusst sein noch deklariert werden (Habermas, 1973; Schnädelbach, 2013). Forschungsfragen können gezielt‚designed‘ werden, um bestimmte erwünschte Ergebnisse zu erzielen. Forscher präzisieren ihren Forschungsgegenstand (lat.: präcidere, dt.: vorne wegschneiden), aber sie betten das, was sie auf diese Weise der Wirklichkeit entnommen haben, um es beforschen zu können, nicht notwendig wieder sinnstiftend zurück in diese Wirklichkeit ein (Janke, 1999, 2002). In dem Augenblick, in dem solche Wissensbestände in den „anonymen Diskurs“ (Foucault, 2012 [1970]) einer Gesellschaft übergehen, werden diese zu Faktoren, die auf die zuvor untersuchte Wirklichkeit evaluativ und normativ zurückwirken. Individuen überwachen und kontrollieren sich gegenseitig in Bezug auf die Einhaltung empirisch generierter Theorien oder sie machen sich von Expertenmeinungen abhängig. Instinkt, Intuition und Leibwissen sowie Erfahrungen mit deren lebenspraktischer Performanz können unter solchem „Evidenzterror“ (Steinweg, 2015) marginalisiert, entwertet werden und verarmen.
Paradoxerweise sind es gerade die Humanwissenschaften (z. B. Psychologie, Soziologie, Medizin), die systematisch Erkenntnisse über den Menschen und sein Verhalten in der Gesellschaft sammeln, die dann wiederum als Kontroll- und Herrschaftswissen zur Disziplinierung von Individuen, bis hinein in deren Leiblichkeit, verwendet werden (Foucault, 1987 [1976]). So stellen sie ein Programm zur Reglementierung und ‚Gleichschaltung‘ subjektiver Lebensprozesse dar. Das Gesellschaftliche verliert hier das Orientierende und wird zur Verstörung (Baudrillard, 1978, 2010b). Wenn Menschen das selbsttätige, souveräne, an Lebensklugheit (Luckner, 2005) orientierte Denken aufgeben, opfern sie ihre Wirklichkeit hegemonialen Machtdiskursen. Steinweg (2015) hat das zynisch den „Pseudosubstanzialismus der Tatsachenesoteriker“ genannt.
Obwohl Geisteswissenschaften large scale theories darstellen, bringen sie doch nicht weniger zeitepochale Denkströmungen zum Ausdruck, als dies empirische Wissenschaften tun. Sie sind kulturell, ethnisch, gesellschaftlich und religiös imprägniert, von den Werten, Orientierungen und Sinnattraktoren ihrer Zeit durchsetzt, in unserer Zeit auch politisch und wirtschaftlich „engagiert“ – im doppelten Wortsinn (Gadamer, 1960; Bühler, Ekstein & Simkin, 1998). Man denke hierbei an Fragen der Ethik, die neuzeitlich von Wirtschaft, Politik und Wissenschaften an die Philosophie herangetragen werden, in denen sie bloß noch die Rolle einer „Magd der Notwendigkeiten“ spielt (Badiou, 2015a, 47f.; Fuchs et al., 2010).
Unsere Philosophie ist eurozentrisch, mittelschichtspezifisch und tendenziell an den Geschlechterstereotypien orientiert. Sie hat stets versucht, den „Armen Möglichkeiten und Muße des Denkens zu nehmen, um das Privileg der Philosophie vor der unheilvollen Vermischung mit Zwitterwesen und Bastarden zu bewahren“ (Rancière, 2010). Sie ist daher weder vor Ideologisierungen noch vor Mythenbildungen geschützt und ihren Nutzern, wie die Psychotherapie eine ist, wird hiermit eine dekonstruktivistische Haltung ihren Entwürfen gegenüber angeraten (Petzold & Sieper, 2014; Williams, 2011).
Erkenntnisinteressen von Psychotherapeutinnen richten sich auf die intersubjektive Erfassung von Bedeutungen in den Lebensläufen ihrer Patienten. Lebensgeschichte aber wird subjektiv erinnert und in Begegnungen erzählt (Schacter, 1996; vgl. Röttgers, 1992; Bläser, 2015). Psychotherapeutische Einsicht ist daher durch das Maß sozialkonstruktivistischer Erkenntnismöglichkeiten limitiert. Das ist nicht etwa wenig, impliziert aber einen Verzicht auf Objektivierung. Erlebte, erinnerte und erzählte Wirklichkeit ist immer individuelle und soziale Konstruktion, sie ist narrativ, das heißt, nie faktizistisch deutbar (Bläser, 2015). Im Erzählen selbst erfüllt sie die naturwüchsige Funktion, dass die sich erinnernde und erzählende Person in einem Zuge ihre Identität narrativ ‚neu erfindet‘ und zusammen mit dem Zuhörer eine entsprechende sequenzielle Wirklichkeit erschafft, eine Wirklichkeit, auf die man sich bezieht, weil sie im intersubjektiven Raum unmittelbarer emotioneller und kognitiver Bezogenheit ko-kreativ erschaffen wurde (Berger & Luckmann, 1969; vgl. von Tiling, 2008; Röttgers, 1992).
Dabei spielen die Sprache und das Sprechen nicht die einzige, aber eine zentrale Rolle (Petzold, 2010f.). Hinsichtlich dessen wäre es naiv zu glauben, dass sie bloß dazu dienten, Gedanken, Gefühle oder Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen, denn gleichzeitig konstruieren wir im Geflecht ihrer Strukturen und Verwerfungen unser Sein (Jullien, 2010; Krämer, 2001; vgl. Krappmann, 2005). Wie das erlebt, hermeneutisch gedeutet wird und intersubjektiv (zurück-)wirkt, hängt ganz vom Erleben und den Attributionen der beteiligten Subjekte ab (Försterling & Stiensmeier-Pelster, 1994). Subjektive Vorstellungen, ihre Bedeutung und ihre Wirkungen auf das Erleben und Handeln sind aus der positivistischen Außenperspektive der Naturwissenschaften schlichtweg nicht erfassbar (Putnam, 1998; Searle, 1991).
Die spezialisierten Gebiete der Natur- und Sozialwissenschaften untersuchen stets nur partialisierte Phänomene (Kühn & Petzold, 1992). Die kürzlich von den Neurowissenschaften aufgeworfene Infragestellung des freien Willens und weitere hegemoniale Deutungsansprüche dieser Teildisziplin zeigte dies überdeutlich (Libet, Freeman & Sutherland, 1999; vgl. Libet, 2005; Singer, 2004; Roth, 2003). Der Wille als Epiphänomen neurophysiologischer Vorgänge: Mereologische (Verhältnis vom Teil zum Ganzen), perzeptiologische und deterministische Fehlschlüsse der Hirnforschung konnten schnell nachgewiesen werden (hierzu: Pothast, 2016; Janich, 2009; Pauen, 2004; Bieri, 2003; Schuch, 2012). Das Hirn ist weder der (ganze) Mensch noch die „Person“, es ist nicht das handlungssteuernde Organ, schon gar nicht die „Seele“. Die ehrgeizigen Neurowissenschaften denken, den Menschen allein in biologisch-funktionalen Begriffen erklären zu können. „Darwinitis und Neuromanie“ (Tallis, 2016) minimieren die Unterschiede zu unseren nächstverwandten Tieren, leugnen die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen und verhindern damit ein klares Denken darüber, wer wir sind und, vor allem, wer wir sein könnten (ebd., 16).
Die Inanspruchnahme wissenschaftlich ,geliehenen Wissens‘ kann zu Zwecken der Manipulation und Entmündigung angestellt werden, etwa um mit solchem „Faktenobskurantismus“ (Steinweg, 2015) persönliche Interessen in Einzelne, Gruppen oder die Gesellschaft hinein zu kolportieren. Jede Theorie muss an der Erfahrung scheitern können, nur so können sich Erkenntnisprozesse weiterentwickeln (Popper, 1971). In jedem Fall zeigt sich „starkes Denken“ (Arnold, 2018) darin, dass es Alterität, Pluralität und Diskursivität zulassen kann, somit den „Abschied vom Prinzipiellen“ (Marquard, 1986a) vollzogen hat.
Ob aus korrelativen Zusammenhängen und Signifikanzergebnissen in einem Organ des Köpers die Deutung der Unfreiheit des Menschen als Ganzes zulässig ist, dafür sind Metaüberlegungen, der Einbezug anderer Teilwissenschaften erforderlich. In Deutung und Übertragung ihrer Geltungsansprüche sowie in ihren Anwendungen sollten naturwissenschaftliche Erkenntnisse daher plurale hermeneutische Diskurse durchlaufen (Petzold, 1994a). Dies bringt die Aufgabe mit sich, die multiparadigmatische Vielfalt von Begrifflichkeiten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften unter das Dach von „Integratoren“ zu bringen, wie dies im integrativen Ansatz geschehen ist (Petzold, 1993). Es ist traditionell die Aufgabe der Philosophie, in Einzelbefunde zersplittertes Wissen wieder zu kontextualisieren und sie unter das eine Dach des menschlich Wahrnehmbaren zusammenzuführen (vgl. Petzold & Sieper, 2008; Fuchs, 2012; Höffe, 2015).
2Humanwissenschaftlicher Hintergrund
Mit dieser Hinführung beginnt nun die Darstellung derjenigen geistes- und humanwissenschaftlichen Ansätze, die eine klinische Relevanz für das Thema der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik ausweisen. Obligate Lebensthemen, die den Menschen und seine Lebensgestaltung betreffen, wurden ausgewählt und in aller Kürze essayistisch ausgeführt. Sie sollen in dieser Art der Darstellung nicht nur informieren, sondern vor allem zu eigener Auseinandersetzung anregen. Es werden zum Teil starke Positionen bezogen, mit denen man ringen, ja streiten sollte, – Positionen im Sinne Jacques Derridas (1986), „vorübergehende Standpunkte, mit denen man noch zugange ist“. Erst so erschließen sich Sinn und Ziel der Texte. Bei allem steht eine pragmatische Ausrichtung der Philosophie im Vordergrund (Kant, Böhme), die der klinischen Praxis den Vorrang vor der Auseinandersetzung vergleichender theoretischer und metatheoretischer Reflexion gibt. Bestehende Verhältnisse werden nicht einfach nur beschrieben, sondern kritisch beleuchtet und mit einer Tendenz zu transversalen Entwicklungen dargestellt (Petzold, Sieper & Orth, 2013b). Hauptintention dieser Ausführungen „Klinischer Philosophie“ (Petzold, 2003) ist, ein Bewusstsein für ein weiträumiges Menschenbild zu schaffen, das Individuumszentrierung und Solipsismus überschreitet, und entsprechende Orientierungen für die Haltung der Therapeutin bereitstellt. So kann jedes der behandelten Themen als diagnostische und klinische Kategorie angesehen werden, die sich sowohl explorativ als auch interventiv nutzen lässt.
Von seiner Charakteristik her präferiert der integrative Ansatz durchgängig ein existenzialistisches, phänomenologisch-hermeneutisches, leibphilosophisches und an Intersubjektivität orientiertes Denken. Der Existenzialismus – als Erbe der Metaphysik (Tugendhat, 2010) – tritt als Versuch des Menschen auf, sich ohne Gott und ohne Seele, nur aus sich selbst heraus zu erklären (was nicht heißen soll, dass das geistige Leben des Subjekts keine Rolle spielt; es stellt nur eine andere Kategorie dar). Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung des Subjekts (Waldenfels, 1987), aber nicht im strukturalistischen Sinn, auch nicht im Sinne eines szientistischen Naturalismus oder im Sinne der Suche nach weiteren genetischen Theorien, sondern im Sinne dessen, was sich dem Subjekt als lebendige Evidenz seiner Selbst- und Welterfahrung, also seiner Wahrnehmungen und Verarbeitungsmöglichkeiten zeigt. In der phänomenologisch-hermeneutischen Leibphilosophie wird eine anthropologische und mundanologische (auf die ganze Lebenswelt) bezogene Sicht vertreten (Welsch, 2012). Ihr gilt der Leib, in der Zeit und in der Lebenswelt stehend, als der erste, unhintergehbare Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen (Merlau-Ponty, 1966; Petzold, 2018; Fuchs, 2018). Von dort aus wird das Menschenbild im integrativen Denken aus Ansätzen der philosophischen und evolutionären Anthropologie sowie aus benachbarten Disziplinen heraus beschrieben. Auch hier werden nur jene Themen bearbeitet, die hinsichtlich des Verstehens des Menschen mit seiner Verwundbarkeit für multiple Entfremdungsprozesse bedeutsam sind.
Wenn hierfür der Leib der erste Ausgangspunkt ist, so wird als der nächstdringende die Angewiesenheit des Menschen auf die Einbettung in zwischenleibliche, soziale, gesellschaftliche und ökologische Welten verstanden. Im Kleinen ist damit das erste ‚Biotop‘ gemeint, die Familie, im weiteren Sinne aber die Kultur, die Gesellschaft und die Zeitepoche, das ‚Ökotop‘, in das der Mensch hineingeboren ist. Persönlichkeit und Identität des Menschen wurzeln in seiner Leiblichkeit und sind zutiefst durch eine produktive zwischenleibliche und psychische Auseinandersetzung mit seiner sozialisatorischen und kulturellen Umgebung geprägt. In der Zeitepoche der Moderne, der Postmoderne oder der transversalen Moderne, ragen aus dieser Ebene auch verstörende Schatten in Entwicklungsräume und Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums hinein, die zum Teil weit abseits des „Unbehagens in der Kultur“ liegen, wie es Sigmund Freud (1999f [1928]) verstand. Globalisierung, Fundamentalismus, Populismus, Radikalisierung, Pandemien, Beschleunigung von Arbeitswelten, entgrenzte Machbarkeitsvorstellungen und Entleiblichung von Kommunikation, Überflutung durch Information, Quantifizierung sozialer Beziehungen (social network), Entgrenzung sozialer Transparenz, Erosion der öffentlichen Räume, Verfall und Agonie der Innerlichkeit aufgrund eines ständigen „Nach-außen-gewand-Seins“ sind nur einige Stichworte hierzu (vgl. Kleiner et al., 2003).
Unter diesen Bedingungen werden sowohl die Epigenese der Person als auch die Genese ihrer Störungen als ein komplexer Prozess verstanden, als ein Wechselspiel von Handlung und Wille auf der einen, Widerfahrnis und Kontingenz auf der anderen Seite (Birgmeier, 2007; Seel, 2014). Dem psychotherapeutischen Nachvollzug dieser Metamorphosen, also der Diagnostik, sind damit Limitierungen gesetzt, die mit dem Verständnis des Subjektbegriffs, wie er hier verwendet wird, noch deutlicher werden. Insofern der Leib mit den Sinnen, seinem Bewusstsein, seiner Ausrichtung auf die Welt hin (être au monde; Merleau-Ponty, 1966) als der erste Ausgangspunkt des Subjekts betrachtet wird, kann dieses nicht der „selbstmächtige Grund aller seiner Setzungen“ sein, wie Henrich (2016, 18) im Sinne Heideggers (1929) erkannt hat. Das Subjekt wird auch nicht allein durch seine Selbstgegenwart (Sartre, 1952) definiert. Dem Subjekt fehlt ganz offensichtlich „jene Fülle, von der jeder Zweifel ausgeschlossen sein könnte“ (Henrich, 2016, 25). Das sich selbst bewusste Subjekt besitzt in diesem Verständnis immer auch Präpersonales, aus dem es schöpft, das es nicht kennt und von dem es nur weiß, dass es als „Chaotisches“ oder „Mannigfaltiges“ in ihm und in der Welt existiert (Schmitz, 2017).
Dies führt in diesem Kapitel zuletzt zu Fragen der Erkenntnistheorie unter solchen Bedingungen. Entsprechend dieser Grundannahmen kann der Weg vom Bewusstsein, von der Wahrnehmung über das Lernen bis hin zum ‚Wissen‘ (als ein Festhalten von Bewusstseinsinhalten) nur über phänomenologische, (meta-)hermeneutische und sozialkonstruktivistische Verstehensweisen erfolgen, die den subjektiven Erfahrungs- und Deutungsmöglichkeiten des Menschen keine objektivierende Diagnostik entgegenstellen – in der Terminologie des Verfahrens: über „diskursive Hermeneutik“ (Petzold, 2017a).
Es ist trivial, dass mit der Darstellung geisteswissenschaftlicher Haltungen immer auch Weltanschaulichkeit transportiert wird. Menschen gewinnen ihre Anschauung meist aus traditionellen, kulturellen und religiösen Werthaltungen und Zeitgeistströmungen – bei Psychotherapeutinnen müssen wissenschaftliche Überzeugungen mit hinzugerechnet werden. Alle diese, von Foucault so genannten, „Diskurse“ beinhalten jedoch deterministische und tendenziell entmündigende Auffassungen, je nachdem, wie weit man an sie glaubt. Eine philosophische Weltanschauung muss es dabei wagen, sich immer wieder auf die eigene Vernunft zu stellen, sie wird alle hergebrachten Meinungen versuchsweise bezweifeln und darf nichts anerkennen, was ihr nicht persönlich einsichtig und begründbar ist (Scheler, 1929; Petzold, 2014e, f). Hierzu soll dieser Abschnitt anregen.
In den Texten verwende ich aus pragmatischen Gründen immer wieder die Termini „wir“ oder „der Mensch“ oder „man“ oder „das Subjekt“. Damit nehme ich eine gewisse Prekarität in Kauf, denn der Einschluss aller Subjekte in eine einzige Aussage ist genau genommen nicht statthaft. Leserinnen und Leser sollten für den Fall, dass sie sich unter eine Aussage nicht subsummiert wissen wollen, sich dieser souverän entziehen. Weibliche und männliche Artikel verwende ich in derselben Weise, in lockerer, intentionaler Folge.
2.1 Einbettung des Psychischen: Leibphilosophie
In der westlichen Welt erleben wir eine Zeit des erst allmählichen Zurückgehens von Vermeidung und Verdrängungen der Erfahrung leiblicher Existenz. Dabei ist die stereotype Art und Weise, wie Körper, Seele und Geist bis in die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts aufgefasst und gedacht wurden, nicht erst mit dem cartesianischen Denken entstanden. Die Herabsetzung leiblicher Existenz war schon in Platons Metaphysik impliziert, in der den Zeugnissen der Sinneserfahrungen nur ein bedingtes und daher unvollkommenes Sein zugesprochen wurde. Das „wahre Seiende“ – nur je geistig zu erfassen – war allein in maßgeblichen Urbildern der Dinge, den „vollkommenen Ideen“ zu finden. In ähnlicher Weise wurde der Leib der Seele untergeordnet; ihr stand es zu, „vom Körper Gebrauch zu machen, ihn zu beherrschen“ (Vonessen, 2001). Diese Herabsetzung wurde danach lange Zeit in der christlichen Leibfeindlichkeit tradiert – „der Leib, in allem sündig, das Gefängnis der Seele“ (Lorenzer, 1981). Derweil verschwand auch in der Transzendentalphilosophie (Kant) der alte Begriff des Leibes fast vollständig. In der Renaissance entwarf René Descartes den Menschen erneut als ein Zwitterwesen zwischen einer denkenden (res cogitans, dem Geist) und einer ausgeweiteten Substanz (res extensa, dem Körper), und diese Differenz setzte sich als Grundlage des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens fest (Descartes, 2009 [1641], 79f.).
So kam es auch im deutschsprachigen Raum zu einem Bedeutungswandel von dem sinnlich betonten Begriff des Leibes zu dem eines materiellen Körpers. Der biologische Körper und seine Funktionsmechanismen wurden zum Objekt materiell-wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen, der Anatomie (griech.: anátomein, dt.: aufschneiden), somit keiner Humanwissenschaft der lebendigen Leiblichkeit mehr, sondern einer Wissenschaft vom toten Körper. Erst durch Arthur Schopenhauer (1819; Die Welt als Wille und Vorstellung), Friedrich Nietzsche (1883; Also sprach Zarathustra), die neuere Phänomenologie in Frankreich (Marcel, Lévinas, Sartre, Merleau-Ponty, Henry, Derrida) und in Deutschland (Husserl, Buytendijk, Plessner, Schmitz, Petzold, Böhme, Fuchs, Waldenfels) wurde in der Neuzeit der Begriff des Leibes wieder in eine erweiterte, philosophisch-anthropologische Bedeutung gefasst.
Diese Bewegung wurde in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts forciert, einerseits durch das Unbehagen, das die cartesianische Trennung hervorrief – man denke hierbei etwa an die zunehmende Technisierung der Schulmedizin –, andererseits durch die neuzeitliche Wahrnehmung der Faktizität von Leiblichkeit – die unhintergehbare Konkretheit des Menschen in seinen sinnlichen Wahrnehmungen, in seinem eigenleiblichen Spüren, in der unaufhebbaren Verbundenheit von ökologischer Welt- und Selbsterfahrung. Dabei dürften auch Wahrnehmungen einer globalen Bedrohung der Leiblichkeit durch Kriege, Atomrüstung und ökologische Zerstörung eine Rolle gespielt haben (Beck, 1986, 2008). In den Entwürfen der Phänomenologie suchte man einen kraftvollen Ausdruck, der dem cartesianischen Menschenbild etwas Wirksames entgegenzusetzen hatte – dieser fand sich im Leibbegriff (Petzold, 1986).
Körper und Leib
Insofern der Mensch, zu Zeiten Platons Ideenlehre, den Körper als Materie, als Gefäß oder Fahrzeug für die Seele verstand und die Seele als eine den Körper ‚gebrauchende Instanz‘, entfernte er sich vom einheitlichen Leiberleben, sah im schwer zugänglichen Dunklen seiner Leiberfahrungen, in dessen diffusem, irrationalem Wollen eine Art Gegenspieler der Seele und des Geistes. In der Konstruktion verschiedener Instanzen (Körper–Seele–Geist), mit einer absteigenden Subsidiarität, sind der Alpdruck der Natur und der Versuch ihrer Verdrängung zu finden. Auch wenn es unter den Stoikern, etwa mit Hierokles (Inwood, 1984), Philosophen gab, die in ihrem Denken bereits in die neuzeitlichen Richtungen eines „Selbstbesitzes und der Zugehörigkeit“, sogar eines „Bei-sich-zuhause-Seins“ im Leibe (griech.: oikeiosis) wiesen, schlug diese Angst vor dem Leiblichen erst mit der Renaissance in eine wissenschaftliche Erkundung und Entdeckung des materiellen Körpers im heutigen Sinne um (Böhme, 1985).
Was man hier im Wortsinn ‚ent-deckte‘, ist aber nicht der eigene, lebendige Leib, sondern der Körper des Anderen, ein totes Körperding, das sich dem ärztlichen Blick preisgibt. Der Körper wird als Maschine konzipiert, die sich über verschiedene Organe und Stoffwechselvorgänge am Leben erhält. Dafür sind Transportsysteme (Blut, Lymphe), Informations- und Steuerungssysteme (Nerven, Gehirn, Hormone), Austauschsysteme (Haut, Immunsystem), reproduktive Systeme (Geschlechtsorgane) und Bewegungssysteme (Gelenke, Muskeln) vonnöten. Innerhalb dieser zergliedernden Vorstellungen werden gleichzeitig mögliche therapeutische Zugangsweisen zum Körperlichen festgelegt. Der Stoffwechsel muss versorgt und reguliert, die Transportsysteme müssen beschleunigt oder gebremst, in die Steuerungssysteme muss eingegriffen, die Immunsysteme müssen unterstützt, die Bewegungssysteme trainiert oder apparativ substituiert werden (ebd., 117).
Die Verwissenschaftlichung des Körpers zeigt sich hier als die radikalste Verdrängung des subjektiv Leiblichen. Wahrnehmungen und Zeugnisse des eigenleiblichen Spürens, die sich durch das anatomische Wissen nicht mehr deuten lassen, werden als bloße Epiphänomene in die Seele oder ins Psychische abgedrängt.
Dabei sind es bezeichnenderweise leibliche Phänomene, die zur Aufnahme einer ärztlichen Behandlung führen: Unwohlsein und Schmerzen. In cartesianischer Sicht sind solche Phänomene aber nur ‚Begleiterscheinungen‘, Korrelate nicht funktionierender Systeme, ihre Ursachen werden im Körperlichen gesucht, auch im Rahmen psychischer Symptomatik. Die primäre leibliche Anmutung und das phänomenologische Auf-sich-zusprechen-Lassen des Unwohlseins werden als unsinnig gedeutet, weil man die Effekte des eigenleiblichen Spürens, Memorierens und Assoziierens als hermeneutische Methode schlichtweg nicht mehr kennt. Psychosoziale Aspekte von Krankheit, seien sie verursachender Natur oder deren Folgen, werden marginalisiert oder in eine Wechselwirkung hineingedeutet, deren Mechanismus man nicht mehr versteht, weil die ‚Schnittstelle‘ nicht aufgefunden werden kann.
Erst allmählich decken Untersuchungen aus dem Bereich der Social Neurosciences diese Zusammenhänge auf, ohne jedoch schon zu Interventionsformen führen zu können, schon gar nicht auf biologischer Ebene (Stefan, 2020; vgl. Porges, 2017; Decety & Ickes, 2009; de Haan & Gunnar, 2009). In dieser Argumentationslinie wird gerade die affektive Betroffenheit in der Art und Weise, wie wir leibliche Empfindungen erfahren – der Umstand, dass wir ihnen nicht ohne Weiteres ausweichen können –, zum Anlass, ihnen eine unabhängige Substanz zuzuschreiben, die ‚Psyche‘. Von dem Moment an aber drängt sich die Frage auf, wie das Problem vom einen in den anderen Bereich hinüberwechseln kann. Und als ob dies nicht alles schon ausreichend kompliziert wäre, wurde dieser Übergang, das ‚Somatisieren‘, etwa durch die frühe Psychoanalyse, auch noch als neurotisch und unreif gedeutet.
Damit wird verständlich, dass man von Leib nur sprechen kann, wenn man erstens die Seele – als metaphysisches Konzept, das rein phänomenologisch vom Menschen nicht wahrgenommen werden kann – verneint, zweitens die Rede vom Körper von der über die Leiblichkeit trennt. Die Existenz des Mentalen und der Resonanzphänomene aber ist an den Körper gebunden, die Wahrnehmung des Körpers an die Sinnesorgane und an die Bedeutungssysteme des Subjekts als Ganzes, Einheitliches. Damit wird Selbstwahrnehmung leiblich. Den materiellen Körper an sich kann man nur im Modus der Fremderfahrung wahrnehmen: als den toten Körper des Anderen, als materielles Ding unter anderen Dingen. Leiblichkeit dagegen ist vom Grund her lebendige, empathische Selbst- und Fremderfahrung. Als Leib ist dasjenige zu verstehen, als was ich mich selbst spüre, zusammen mit dem Bewusstsein, dass ich es selbst bin, das ich da spüre (Fuchs, 2020; vgl. Schmitz, 2007a; Böhme, 1985, 120).
In diesem ‚eigenleiblichen Spüren‘ ist immer schon das Bewusstsein um sich und die Ökologie des Leibes enthalten, außerdem phylogenetische Informationen – im integrativen Denken spricht Petzold (2011a) vom „informierten Leib“. Die Strukturen eigenleiblichen Spürens entsprechen dabei selten den körperlich-biologischen. In der Selbstwahrnehmung der Leiblichkeit spüren wir die Grenzen des Leibes nicht so, wie wir sie von außen sehen oder im Spiegel wahrnehmen. Vielmehr zeigt sich eigenleibliches Spüren als ein lockeres Ensemble wahrnehmbarer Leibesinseln mit unklaren Rändern, die schwankend mehr oder weniger stark hervortreten, okkasionell auftauchen und wieder absinken. Hermann Schmitz (2007a) spricht von phänomenologisch wahrnehmbarer Engung und Weitung, von Spannung und Schwellung, ergänzend könnte man von Schwere und Leichtigkeit, auch von Hellung und Dunkelung sprechen.
Den eigenen Leib spürt man also weder vollständig noch andauernd. Im alltäglichen Tun verschwindet die Wahrnehmung eigenleiblichen Spürens bisweilen fast vollständig. Sie kann sich auf das Spüren einer gerade verrichteten Tätigkeit zuspitzen, hin und wieder verschwindet sie völlig im Rücken hoher Konzentration. Weil es vom Spüren her keine feste und kontinuierliche Konstitution gibt, gilt dieses Phänomen auch für andere Formen eigenleiblicher Wahrnehmung, etwa das Ich, das Bewusstsein, die Identität usw., die in ihrer räumlichen Ausdehnung auch über Körpergrenzen hinaus ausgreifen können. So etwas geschieht etwa in der Wahrnehmung von Atmosphären, beim gemeinsamen Musizieren oder in gemeinsam verrichteter handwerklicher Tätigkeit, in denen die Leiber in ihrer Synchronisation gespürt miteinander verschmelzen. Diesen Prozess nennt Hermann Schmitz (ebd.) „Einleibung“.
Obwohl eigenleibliches Spüren eine eigene Kategorie der Wahrnehmungen darstellt, wird es natürlich vom empirischen Wissen über den Körper überlagert. Wenn wir etwa unter den letzten Rippenbögen in der Mitte des Körpers Schmerz wahrnehmen, vermuten wir, dass es der Magen sei, den wir da spüren, aber den Magen als solchen und als Ganzen spüren wir nicht. Wenn wir Lustempfindungen haben, spüren wir den eigenen Leib in der Gegend der Geschlechtsorgane, aber mit ausgeweiteten, unklaren Rändern. Beim Schreiben dehnen wir unsere Leiblichkeit durch die Hand hindurch bis in die Bleistiftspitze hinein aus. In dieser und ähnlicher Weise betrifft dies das Gesamt der phänomenologischen Leiberfahrungen.
Entfremdungsprozesse vom eigenleiblichen Spüren registrieren wir, wenn wir uns im Falle von Unwohlsein nicht mehr zutrauen zu wissen, was mit uns los ist. Der Mensch hochtechnisierter Gesellschaften weiß entweder nichts mehr von seinem Leib, will nichts von ihm wissen oder er möchte die Verantwortung für ihn an Wissenschaftsexperten delegieren. Seine Leiblichkeit ist ihm unheimlich, er kann die leiblichen Regungen nicht mehr als Empfindungen und Gefühle deuten, die ihm etwas zu sagen hätten, weiß sich in ihnen nicht zurechtzufinden, noch weniger, sich ihnen hinzugeben, sich vom Angenehmen oder Unangenehmen assoziativ leiten zu lassen. Er hat die Vertrautheit darein – das „Leibwissen“ (von Schnakenburg, 1994) – verloren. Das kann zu Ängsten vor Kontrollverlust führen und weiter bis zur ständigen Besorgnis, krank zu werden. Bedingungslos begibt er sich dann in die Hände von Spezialisten.
Dort aber wird nur der Körper behandelt. In der neuzeitlichen Medizin geht die Entfremdung von Leiblichkeit so weit, dass in Form evidenzbasierter Behandlungsleitlinien nicht mehr der Mensch, sondern nur noch die vermeintlichen körperlichen Ursachen von Funktionsstörungen medikamentös oder instrumentell manipuliert werden. Obwohl also die Stimmungen und Gefühle leiblich erfahren werden – sie den eigentlichen Grund zur Aufnahme einer ärztlichen Behandlung darstellen – und auch körperliche Schmerzen immer mit affektiver Betroffenheit einhergehen, richtet sich die Behandlung nicht mehr an den phänomenologisch wahrgenommenen Symptomen oder dem subjektiven Unwohlsein aus, die den Menschen unmittelbar betreffen.
Begriff und Vorstellung von Leiblichkeit versuchen, diesen verstörenden Dualismus aufzuheben. Der Leib wird zum ersten, unhintergehbaren Ausgangspunkt der Verstehensweisen des Menschen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Diagnostik und Therapie psychischer und psychosomatischer Krankheiten. Wenn der Leib die Einheit darstellt, die die Kategorien des Körpers, der Gefühle, des Geistes, der Erinnerung, der Wahrnehmungen, des Willens und des Verhaltens in das Bild einer einzigen, in sich komplex aufgebauten Entität fasst, ist es nicht mehr nötig, einen wie auch immer gearteten Übergang vom Geistigen ins Körperliche zu suchen. Rein phänomenologisch drücken sich Befindlichkeiten und Verstörungen des Menschen dann auf irgendeiner dieser Ebenen – den vulnerablen – aus und sind nur noch drauf angewiesen, dass sie vom Subjekt oder von Spezialisten richtig verstanden und gedeutet werden, nämlich als vitaler Ausdruck des Lebendigen selbst, als Resonanz auf innere und äußere Belastungen. Von dort aus beginnt die Suche nach den Sinnimmanenzen von Symptomen auf dem Weg des Sicheinlassens