Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht der Grundschule - Gwendoline Lovey - E-Book

Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht der Grundschule E-Book

Gwendoline Lovey

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Beschreibung

Die Studie zum interaktiven Sprechen im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht der Grundschule ist in zweierlei Hinsicht innovativ: Einerseits werden die fremdsprachlichen Äußerungen junger Lernender mit Anfangsniveau erforscht, wozu erst wenige empirische Ergebnisse vorliegen. Andererseits liegt der Fokus auf dem dialogischen Sprechen unter den Lernenden, was auf die neokommunikative Ausrichtung des Lehrwerks zurückzuführen ist, mit dem die untersuchten Klassen Französisch lernen: Die Förderung der Kompetenz Sprechen ist hauptsächlich beim Bearbeiten von Aufgaben in Kleingruppen vorgesehen. Für die angewandte Wissenschaft liefert das Werk ein 5-Schritte-Programm zur Förderung des interaktiven Sprechens. Für die Grundlagenforschung wird ein empirisch basiertes Sprechmodell vorgelegt, das die bisherigen Modelle erweitert und die Lernsituation im Fremdsprachenunterricht berücksichtigt.

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[1]Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht der Grundschule

[2]Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung

Herausgegeben von Daniel Reimann (Berlin)und Andrea Rössler (Hannover)

Band 35

Gwendoline Lovey

[3]Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht der Grundschule

[4]Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381120321

© 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

CPI books GmbH, Leck

ISSN 2197-6384ISBN 978-3-381-12031-4 (Print)ISBN 978-3-381-12032-1 (ePDF)ISBN 978-3-381-12033-8 (ePub)

[5]

Ziel des Sprachunterrichts müsste sein,

„dass man nicht nur sprechen kann,

sondern dabei auch etwas zu sagen hat“

Hunfeld 2008: 73.

[7]Vorwort und Danksagung

Wenn die Arbeit an einer Dissertation vom ersten bis zum letzten Wort als etwas Gewinnbringendes angesehen wird, dann ist das ein Privileg. Ich war in dieser glücklichen Lage und hatte stets das Gefühl, mich beim Forschen und Schreiben persönlich und beruflich weiterzuentwickeln. Die Beschäftigung mit der Qualifikationsarbeit empfand ich als spannend, weil es in der vorliegenden Arbeit um wahre Menschen geht, die in ihrem Alltag bestmöglich eine Fremdsprache zu lehren oder zu lernen versuchen. Dank diesen Menschen konnte ich mein eigenes Tun als Lehrende und Lernende spiegeln und hinterfragen. Mein grösster Dank gilt deshalb den Lehrerinnen und ihren Schülerinnen und Schülern, die sich bereit erklärt haben, an der Studie teilzunehmen. Ich hoffe, dass die Untersuchung zu zeigen vermag, wie das interaktive Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht zielführend gefördert werden kann und dass sie angehenden und amtierenden Fremdsprachenlehrpersonen vielleicht sogar die Augen öffnet, wozu unsere jungen Lernenden bereits auf A-Niveau fähig sind.

Ich möchte mich sehr herzlich bei Frau Prof. Dr. Christiane Fäcke bedanken, die das Dissertationsvorhaben gestützt, begleitet und immer wieder zurechtgerückt hat; auf eine Art, die bei mir grosse Bewunderung auslöst. Tatkräftig unterstützt wurde sie dabei von Frau Prof. Dr. Michaela Rückl und Herrn Prof. Dr. Engelbert Thaler im Rahmen des gemeinsam ausgebrachten Forschungskolloquiums der Universität Augsburg und der Universität Salzburg (Internationales Forschungskolloquium Sprachendidaktik „InFokoS“), die beide mit ebenso wertvollen wie wohlwollenden Rückmeldungen und Hinweisen das Projekt gestärkt haben. Meine Professurleitung, Frau Prof. Dr. Mirjam Egli Cuenat, war stets bemüht, mir nebst den Pflichten als Dozentin die nötigen Zeitfenster für ein ergiebiges Schaffen an der Dissertation einzuräumen, wofür ich mich sehr bei ihr bedanke. Frau Prof. em. Dr. Barbara Grossenbacher, ihre Vorgängerin, möchte ich ebenfalls namentlich erwähnen und ihr für alles danken, wofür sie keine schriftliche Danksagung wünscht. Ihre Unterstützung hat das Einreichen der Dissertation in dieser Form erst möglich gemacht. Es macht mich stolz, als erwerbstätige Frau und Mutter zweier Kleinkinder eine Qualifikationsarbeit abzuschliessen. Das Thema der Vereinbarkeit konnte ich dank der Unterstützung meines Mannes und meiner Familie lösen. Ihnen sei deshalb die abschliessende Danksagung gewidmet.

[9]Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Danksagung

1

Einleitung

1.1

Interaktives Sprechen

1.2

Rollen der Forscherin

1.3

Ziele und Forschungsfragen

2

Forschungsüberblick

2.1

Interaktives Sprechen im Fremdsprachenunterricht

2.2

Sprechen in der fremdsprachendidaktischen Forschung ab 2001

2.3

Sprechen in Schweizer Lehrwerken (~1890 bis ~2020)

2.3.1

Grammatik-Übersetzungs-Methode

2.3.2

Direkte Methode

2.3.3

Kommunikative Methode

2.3.4

Neokommunikative Phase

2.3.5

Zusammenfassung und Übersicht

2.4

Psycholinguistische Modelle zum Sprechvorgang

2.4.1

Levelt (1999/1989)

2.4.2

De Bot (1992)

2.4.3

Bachman/Palmer (1996)

2.5

Forschungsdiskurse zur mündlichen Sprachproduktion

2.6

Forschungsdiskurse zum Handeln und Denken von Lehrpersonen

2.6.1

Handeln der Lehrpersonen im lehrwerkbasierten Unterricht

2.6.2

Denken der Lehrpersonen

2.7

Lehrwerkforschung

2.7.1

Lehrwerkanalyse

2.7.2

Lehrwerkverwendungsforschung

3

Fremdsprachenunterricht in der Schweiz ab 2011

3.1

Bildungspolitischer Hintergrund

3.1.1

Sprachenpolitik in den verschiedenen Landesteilen

3.1.2

Grundkompetenzen und funktionale Mehrsprachigkeit

3.2

Frühes Fremdsprachenlernen

3.3

Mille feuilles

3.3.1

Makroebene

3.3.2

Mesoebene

3.3.3

Mikroebene

4

Forschungsdesign

4.1

Empirische Unterrichtsforschung

4.1.1

Qualitative Studie

4.1.2

Berücksichtigung der Aussen- und Innenperspektive

4.1.3

Triangulation

4.2

Sample

4.2.1

Teilnehmende Probandinnen und Probanden

4.2.2

Untersuchte Aufgaben zum interaktiven Sprechen

4.3

Datenerhebung

4.3.1

Erhebungsinstrumente zur Unterrichtsbeobachtung

4.3.2

Erhebungsinstrumente zur Befragung

4.4

Datenaufbereitung

4.4.1

Datenauswahl

4.4.2

Datenüberführung in Excel für die quantitative Analyse

4.4.3

Datentranskription für die qualitative Analyse

4.5

Datenauswertung: Methodik

4.5.1

Kategoriengeleitete Textanalyse (KT)

4.5.2

Kompetenzorientierte und kategoriengeleitete Analyse (KKAL)

4.5.3

Exkurs: Dokumentarische Methode (DM)

5

Ergebnispräsentation: Fallperspektive

5.1

Sprechen in der Klasse Längmatt

5.1.1

Selbst- und Fremdeinschätzung

5.1.2

Befragungen

5.1.3

Triangulation der Daten (Einschätzungen und Befragungen)

5.1.4

Unterrichtsbeobachtungen

5.1.5

Integrierte Darstellung (Einschätzung, Befragung, Beobachtung)

5.2

Sprechen in der Klasse West

5.2.1

Selbst- und Fremdeinschätzung

5.2.2

Befragungen

5.2.3

Triangulation der Daten (Einschätzungen und Befragungen)

5.2.4

Unterrichtsbeobachtungen

5.2.5

Integrierte Darstellung (Einschätzung, Befragung, Beobachtung)

5.3

Sprechen in der Klasse Amrein

5.3.1

Selbst- und Fremdeinschätzung

5.3.2

Befragungen

5.3.3

Triangulation der Daten (Einschätzungen und Befragungen)

5.3.4

Unterrichtsbeobachtungen

5.3.5

Integrierte Darstellung (Einschätzung, Befragung, Beobachtung)

5.4

Sprechen in der Klasse Hoger

5.4.1

Selbst- und Fremdeinschätzung

5.4.2

Befragungen

5.4.3

Triangulation der Daten (Einschätzungen und Befragungen)

5.4.4

Unterrichtsbeobachtungen

5.4.5

Integrierte Darstellung (Einschätzung, Befragung, Beobachtung)

6

Ergebnispräsentation: Themenperspektive

6.1

Einschätzung des Sprechniveaus

6.1.1

Sprechniveau nach den Unterrichtsbeobachtungen

6.1.2

Sprechniveau nach den Lehrpersonen

6.1.3

Sprechniveau nach den Lernenden

6.1.4

Von der Einschätzung zu einer adäquaten Förderung

6.2

Meinungen zu den Lernaufgaben

6.2.1

Subjektive Theorien der Lehrpersonen

6.2.2

Einstellungen der Lernenden

6.2.3

Von den Meinungen zu den Gelingensbedingungen

6.3

Unterrichtshandeln der Lehrpersonen

6.3.1

Menge und Intensität umgesetzter Sprechanlässe

6.3.2

Zeitliche und sprachliche Gestaltung der Einführungen

6.3.3

Umgang mit

chunks

6.3.4

Folgerungen für eine Optimierung des Lehrpersonenhandelns

6.4

Interaktives Sprechen unter Lernenden

6.4.1

Bearbeitung der Aufgaben nach Vorgaben

6.4.2

Kooperation unter den Lernenden

6.4.3

Interaktion in der Ziel- resp. Schulsprache

6.4.4

Verwendung von Kompensationsstrategien

6.4.5

Kontrolle und Reparaturen

6.4.6

Plurilinguales Sprechen

6.4.7

Fördermassnahmen zum interaktiven Sprechen unter Lernenden

7

Fazit

7.1

Rückblick

7.2

Modell zum interaktiven Sprechen in der Fremdsprache

7.3

Didaktische Prinzipien zur Förderung des interaktiven Sprechens

8

Abkürzungsverzeichnis

9

Literaturverzeichnis

10

Anhang

[13]1Einleitung

1.1Interaktives Sprechen

Wie gut jemand Französisch kann – dies eine gängige Auffassung – zeigt sich daran, wie gut sie oder er1 sich in der Fremdsprache ausdrückt (vgl. Miede 2019: 36). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen bestätigt, dass „produktive Aktivitäten […] besondere Wertschätzung in der Gesellschaft [geniessen]“ (Europarat 2001: 25) und Sprechen „wird häufig als zentrales Ziel des Fremdsprachenunterrichts bezeichnet“ (Lütge 2014: 147). Entgegen dieser Vorrangstellung liegen zur Kompetenz Sprechen im Vergleich zu anderen kommunikativen Kompetenzen wie beispielsweise dem Lesen noch verhältnismässig wenige fremdsprachendidaktische Studien vor, was in der Forschungsgemeinschaft entsprechend als Desiderat ausgewiesen wird (vgl. Henrici et al. 2003: 5; Burwitz-Melzer 2014: 25; Kurtz 2014: 123; Martinez 2014: 160). Sprechen rückte in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der fremdsprachendidaktischen Forschung – nicht zuletzt auch dank der neuen Aufzeichnungsmöglichkeiten, mit denen sich die mündliche Produktion und Interaktion im Unterricht leichter festhalten und analysieren lassen (vgl. Kurtz 2001; Dauster 2006; Helmke et al. 2008; Neveling 2007; Imgrund 2015; Tesch 2010; Miede 2019).

In der vorliegenden Dissertation werde ich den Umgang mit der Kompetenz Sprechen in der Interaktion im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht an der Primarschule in der deutschsprachigen Schweiz untersuchen.2 Die Studie unterscheidet sich von vorangehenden Untersuchungen zur Kompetenz Sprechen dadurch, dass das interaktive Sprechen zwischen Lernenden beforscht wird. Dies ist durch die Ausrichtung der Sprechaufgaben bedingt, deren Bearbeitung untersucht wird, da sie in Paararbeit resp. in Arbeit in Kleingruppen vorgesehen sind. Die Aufgaben stammen aus dem Lehrwerk „Mille feuilles“ (Ganguillet et al. 2014a) und dieses Lehrwerk sieht für den Aufbau des [14]dialogischen Sprechens grösstenteils Interaktionen unter Lernenden vor (vgl. Sauer/Wolff 2018: 93).

1.2Rollen der Forscherin

Die vorliegende Dissertation ist eine qualitativ-empirische Studie. In der qualitativen Forschung ist nicht die Ausschaltung des subjektiven Anteils der Forschenden das Ziel, sondern deren methodische Reflexion (vgl. Caspari 2003: 90). Deshalb mache ich an dieser Stelle transparent, welche Rollen ich vor und während der Arbeit an meiner Dissertation innehatte resp. -habe.

Von 2012 bis 2015 war ich Mitautorin des Lehrwerks „Mille feuilles“ (Ganguillet et al. 2014a), aus dem die Sprechaufgaben stammen, deren Bearbeitung in der vorliegenden Studie untersucht wird, und ich entwickelte als Mitautorin im gleichen Verlag eine Referenzgrammatik für die Volksschule (Lovey/Grossenbacher 2015), die ergänzend zum genannten Lehrwerk erschien. Durch die Verlagsarbeit erhielt ich Zugriff auf die Rückmeldungen aus den dreissig Praxistestklassen, in denen das Lehrwerk „Mille feuilles“ zwischen 2009 und 2013 erprobt wurde. Diese dienten primär der Verbesserung des Lehrwerks, boten aber auch Einblicke in die Unterrichtspraxis. Wichtig für das Forschungsvorhaben ist für mich die Erkenntnis, dass teilweise eine grosse Diskrepanz zwischen der Anlage in den Materialien und deren Umsetzung im Unterricht vorherrscht (vgl. Lovey 2017). Die Tätigkeit im Verlag führt in Bezug auf meine Forschungsarbeit zur Schwierigkeit, dass ich von der Qualität der Aufgaben zum interaktiven Sprechen im Lehrwerk überzeugt und als Mitautorin auch zu einem bestimmten Grad dafür verantwortlich bin. Ich werde zwar im gesamten Forschungsprozess versuchen, diese Voreingenommenheit auszublenden, werde meine subjektiven Überzeugungen jedoch nicht vollends ausschalten können.

Von 2015 bis 2018 unterrichtete ich Primarschulklassen in Französisch mit dem Lehrwerk „Mille feuilles“ (Ganguillet et al. 2014a). Durch die eigene Lehrtätigkeit auf der Zielstufe fiel mir auf, wie wenig Französisch die Schülerinnen und Schüler in meinem Unterricht sprachen und ich stellte fest, dass es eine grosse Herausforderung ist, die Kompetenz des interaktiven Sprechens im Französischunterricht konzeptgetreu zu fördern. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung für die vorliegende Studie bin ich noch als Lehrperson auf der Primarstufe tätig, was sich für den Forschungsprozess insofern als günstig erweisen kann, als ich den Lehrpersonen, deren Klassen ich beforsche, als Berufskollegin begegne. Dies erklärt auch die Familiarität, die sich beispielsweise im Duzen mit den Lehrerinnen zeigen wird, die an der Studie teil[15]nehmen. Für den Forschungsprozess ist die Praxiskenntnis von Vorteil, um die Aussagen der Lehrpersonen und der Schülerinnen und Schülern besser einordnen und verstehen zu können. Allerdings kann es passieren, dass mich die Schülerinnen und Schüler bei der Datenerhebung manchmal als Lehrerin wahrnehmen und u.U. auch mit Fragen zur Aufgabenbearbeitung an mich gelangen. Ich werde zwar versuchen, klarzustellen, dass ich in diesem Rahmen nicht Lehrerin, sondern Forscherin bin, werde mich aber vermutlich nicht allen Fragen entziehen können.

Seit 2012 erteile ich Lehre in Fachdidaktik und Fachwissenschaft Französisch am Institut Primarstufe der Pädagogischen Hochschule FHNW. Durch die erteilte Lehre an der Hochschule merke ich, wie schwer es teilweise den Studierenden fällt, bestimmte didaktische Konzepte zu verstehen und in der Praxis anzuwenden. Im Rahmen meiner Forschungstätigkeit werde ich einer hohen Faktorenkomplexität begegnen, wie sie nur in der Praxis zu sehen ist, und die nicht der Isoliertheit der Konzepte in der Theorie entspricht. Meine Rolle als Wissenschaftlerin wird im Forschungsprozess dennoch insofern dienlich sein, als dass ich von den Lehrpersonen und den Schülerinnen und Schülern als solche wahrgenommen werde und sie mir Einblicke in ihr Unterrichtsgeschehen ermöglichen.

1.3Ziele und Forschungsfragen

Mit der vorliegenden Untersuchung strebe ich an, Wissen über das fremdsprachliche Sprechen in der Interaktion auf der Primarstufe zu generieren. Das Ziel liegt zunächst auf der konzeptuellen Ebene: Es soll beschrieben werden, wie „bestimmte Aufgaben in unterschiedlichen Gruppen realisiert [werden]“ (Caspari 2006: 38), wobei „zwischen Wahrnehmung und der Realisierung der Aufgaben durch die Lehrkraft einerseits und der Wahrnehmung und Realisierung der Aufgaben durch die Schüler andererseits [unterschieden wird]“ (ebd.). Mit der Untersuchung wird auch ein Beitrag zur praxisorientierten Ebene geleistet, da sie „der vielfältigen Wechselwirkung zwischen Material, Lehrenden und Lernern [Rechnung trägt und dadurch] Rückschlüsse auf Kriterien und Prinzipien für stimulierende Aufgaben [erlaubt]“ (ebd.). Um die verschiedenen Zielsetzungen zu erreichen, werden folgende Forschungsfragen bearbeitet (vgl. Tab. 1):

[16]Übergeordnete Forschungsfrage

Wie gestaltet sich der Umgang mit der Kompetenz Sprechen in der Interaktion im lehrwerkbasierten Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe?

1.

Evaluationsperspektive:Fremd- und Selbsteinschätzung

2.

Innenperspektive:Befragungen

3.

Aussenperspektive:Unterrichtsbeobachtungen

a)

Wie schätzen die Lehrpersonen die Sprechkompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler ein?

a)

Welche Subjektiven Theorien haben die Lehrpersonen zu den Aufgaben zum interaktiven Sprechen?

a)

Wie gehen die Lehrpersonen mit den Aufgaben zum interaktiven Sprechen um?

b)

Wie schätzen die Schülerinnen und Schüler ihre Sprechkompetenzen ein?

b)

Wie nehmen die Schülerinnen und Schüler den Umgang mit den Aufgaben zum interaktiven Sprechen wahr?

b)

Wie gestaltet sich die mündliche Interaktion der Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung der Aufgaben zum interaktiven Sprechen?

Tab. 1: Forschungsfragen

Die Forschungsfragen 1a) und 1b) werden mithilfe von Einschätzungen der Probandinnen und Probanden beantwortet. So kann gezeigt werden, ob die Fremd- und Selbsteinschätzungen konvergieren resp. divergieren und inwiefern sie den curricularen Vorgaben entsprechen. Die Antworten auf die Forschungsfragen 2a) und 2b) werden anhand von Befragungen ermittelt. Dabei wird in Erfahrung gebracht, wie sich die Lehrpersonen den Lernzuwachs in der Kompetenz des interaktiven Sprechens erklären und inwiefern die zu bearbeitenden Aufgaben zur Förderung der Kompetenz des interaktiven Sprechens die Probandinnen und Probanden überzeugen. Für die Forschungsfragen 3a) und 3b) wird mittels videografierter Unterrichtsbeobachtungen erforscht, wie sich das Handeln der Lehrpersonen und der Schülerinnen und Schüler beim Bearbeiten von Sprechaufgaben im Französischunterricht gestaltet. Durch das Beobachten der Interaktionen soll herausgefunden werden, „was in den interaktiven Handlungen, aber möglicherweise auch in den Köpfen von Lernenden abläuft, wenn sie mit bestimmten fremdsprachlichen Aufgaben konfrontiert sind und diese […] in Paaren bzw. Gruppen kommunikativ zu bearbeiten und zu lösen suchen“ (Aguado et al. 2010: 15). Damit kann den Fragen nachgegangen werden, welche kognitiven Leistungen Lernende er[17]bringen müssen, um eine sprachliche Äusserung hervorzubringen, die sich in eine sprachliche Interaktion einreiht, resp. wo und wann sie dabei scheitern und was mögliche Gründe für ein Gelingen oder ein Misslingen der Interaktion sein können (vgl. Wolff 2006: 63). So möchte ich mit der vorliegenden Untersuchung „Hinweise auf die konkret stattfindenden Lernprozesse und -ergebnisse [liefern]“ (Caspari 2006: 38).

1

Im Fliesstext bin ich konstant bemüht, gendergerechte Sprache zu verwenden, wohingegen dies in Zitaten an einigen Stellen nicht der Fall ist.

2

Die Sprache in der Dissertation entspricht der in der Schweiz gängigen standarddeutschen Ausdrucksweise. Im Bereich der Lexik ist beispielsweise der Begriff „Lehrperson“ gebräuchlicher als der Ausdruck „Lehrkraft“. Im Bereich der Orthografie gibt es ebenfalls bestimmte Abweichungen. Der wohl augenfälligste Unterschied dürfte das Ausbleiben des Zeichens „ß“ darstellen.

[18]2Forschungsüberblick

2.1Interaktives Sprechen im Fremdsprachenunterricht

In der vorliegenden Studie werde ich mündliche Interaktionen zwischen Schülerinnen und Schülern untersuchen, die auch als „Gespräche“ bezeichnet werden können, da sie die Kriterien der Mündlichkeit, des Dialogs und des gemeinsamen thematischen Bezugsobjekts erfüllen (vgl. Henne/Rehbock 2001: 255; Brinker/Sager 2010: 12). Das Führen eines Gesprächs gilt als eine von fünf möglichen Formen mündlicher Sprachverwendung im Fremdsprachenunterricht (vgl. Tab. 2). Sie ist dialogisch ausgerichtet und setzt im Gegensatz zu den vier anderen Sprachverwendungsformen Paar- oder Gruppenarbeit voraus, wenn alle Lernenden die Sprache verwenden sollen.

Äußerungsform

Fokus

Sozialform

Nachsprechen

Korrektheit in Aussprache und Intonation

Einzelarbeit, Klassenunterricht

Rezitation

Ästhetische Sprachverwendung

Einzelarbeit, Klassenunterricht

Reproduzierendes Sprechen (gesteuert)

Korrektheit in Grammatik

Einzelarbeit, Partnerarbeit, Klassenunterricht

Zusammenhängendes Sprechen

Komplexität, Kohärenz, Flüssigkeit

Einzelarbeit (vor der Klasse)

Interaktives Sprechen

Flüssigkeit, Angemessenheit

Partnerarbeit, Gruppenarbeit

Tab. 2: Formen mündlicher Sprachverwendung (Doff/Klippel 2007: 100)

Die mündliche Interaktion gilt als die komplexeste Form mündlicher Sprachverwendung und entsprechend stellt „die Schulung des dialogischen Sprechens die grösste Herausforderung dar“ (Nieweler in Nieweler 2017 (Hg.): 124). Das Einüben des interaktiven Sprechens beansprucht Unterrichtszeit, denn der Gebrauch der Fremdsprache in einer Interaktion findet „für die meisten Schüler […] in erster Linie im Fremdsprachenunterricht statt. […] Demzufolge ist das gemeinsame unterrichtliche Handeln im Fremdsprachenunterricht von [19]größter Bedeutung für einen erfolgreichen Zielsprachenerwerb“ (Schwab 2009: 50). Das Schaffen von Interaktionsgelegenheiten muss somit ein zentrales Anliegen des Fremdsprachenunterrichts sein. Damit wird auch der Interaktionshypothese Rechnung getragen, nach der der Fremdsprachenerwerb auf der Grundlage von Interaktion geschieht, in die die Lernenden involviert sind (vgl. Königs 2006: 80–81). Nach der Interaktionshypothese werden Sprache und deren Gebrauch als soziales Handeln zwischen Menschen verstanden, das es beim Erwerb einer Fremdsprache zu fördern gilt:

Il est en effet largement reconnu, aujourd’hui, que l’apprentissage d’une langue première (L1) ou seconde (L2) est lié aux contacts sociaux que l’apprenant entretient avec d’autres sujets (des pairs, des enseignants, des locuteurs natifs), aux activités sociales auxquelles il participe (conversations quotidiennes, interactions au travail, lecture et écriture, etc.) et aux contextes socioculturels dans lesquels il interagit (à l’école, à la maison, dans la rue, au travail, etc.) (Pekarek Doehler 2002: 24).

Im GER (Europarat 2001) wird davon ausgegangen, dass Interaktion einerseits ein Fundament für das Lernen und andererseits ein Bestandteil der kommunikativen Kompetenz ist (vgl. ebd.: 86). Die Interaktionsstrategien seien „ebenso wichtig für das kooperative Lernen wie in lebensweltlicher Kommunikation“ (ebd.: 86). Für den schulischen Spracherwerb bedeutet die Interaktionshypothese, dass möglichst viele Situationen geschaffen werden, in denen ein Agieren zwischen den Lernenden ermöglicht resp. eingefordert wird. Im lehrwerkbasierten Unterricht wird die Interaktion von der Aufgabe gesteuert, da die Lernenden die sprachliche Leistung erbringen, die darin von ihnen verlangt wird (vgl. Pekarek Doehler 2002: 26). In der vorliegenden Studie wird Interaktion als gemeinsames Aushandeln von Bedeutung verstanden (vgl. Schmitt 2011: 19), wofür die Lernenden verschiedene Kompetenzen mobilisieren müssen. In diesem Sinne ist Interaktion

ein komplexer, ganzheitlicher und von der Körperlichkeit der Beteiligten sowie von ihrer räumlichen und materiellen Umgebung nicht zu trennender Prozess. Menschen setzen zur Verständigung alle ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten ein, um sich in angemessener Weise auszudrücken, Handlungsziele zu erreichen und soziale Bedeutung zu konstituieren (ebd.: 17–18).

In einer mündlichen Interaktion sind die Schülerinnen und Schüler abwechselnd Sprechende und Hörende, weshalb es für die mündliche Interaktion sowohl rezeptive als auch produktive Kompetenzen braucht (vgl. Europarat 2001: 25). Die Interaktion benötigt neben den sprachlichen auch strategische Kompetenzen, die „als Gelenkstellen zwischen den Ressourcen der Lernenden (Kompetenzen) und dem, was sie mit ihnen tun können (kommunikative Aktivitäten) [20]betrachtet [werden]“ (ebd.: 38, vgl. auch Pekarek Doehler 2002: 273). Dafür gibt es neben den rezeptiven und produktiven Strategien spezifische Interaktionsstrategien wie „Sprecherwechsel, Kooperieren, Um Klärung Bitten“ (Europarat 2001: 88). Diese sorgen dafür, dass Intersubjektivität hergestellt werden kann, denn „wie oder was wir antworten, nutzt der vorherige Sprecher, um zu kontrollieren, ob wir ihn richtig verstanden haben, um dann ggf. einzugreifen“ (Birkner 2020: 238). Als Strategie kann auch die plurilinguale Kompetenz eingesetzt werden, die es beispielsweise ermöglicht, „auf soziolinguistisch angemessene Weise zu antworten, indem man Elemente aus anderen Sprachen und/oder Variationen der eigenen Sprache für kommunikative Zwecke einsetzt“ (Europarat 2020: 145).

Ebenfalls als wesentlicher Bestandteil der Interaktionskompetenz gilt die pragmatische Kompetenz (vgl. Europarat 2001: 24–25), denn „oftmals scheitern Gespräche – nicht nur in der Fremdsprache – nicht an falscher Grammatik oder fehlender Lexik, sondern am ‚falschen Ton (oder Ohr)‘“ (Thaler 2018: 16). Pragmatische Kompetenz heisst, dass die Lernenden fähig sind, die Fremdsprache situations- und kontextangepasst zu gebrauchen (vgl. ebd.: 15). In einer pragmatischen Perspektive ist sprachliches Handeln sowohl „sinnkonstituierend, d.h. der Sprecher verbindet einen Sinn mit seiner sprachlichen Handlung, [und] konventionell, d.h. der Sprecher muss sich am Handeln anderer orientieren und somit einen Sinn voraussetzen“ (Henne/Rehbock 2001: 9). Für die Interaktion bedeutet dies, dass die Lernenden die Fähigkeit besitzen müssen, Sprecherwechsel (turntaking) vorzunehmen (vgl. Konzett 2014), um ein Gespräch zu eröffnen und zu beenden, um im Gespräch Kohärenz und Kohäsion herzustellen oder auch um bestimmte Reparaturmechanismen zu befolgen (vgl. Thaler 2011b: 16).

Aus dem Zusammenwirken all dieser Teilkompetenzen ergibt sich eine Interaktion in Form

ein[es] komplexe[n] Zusammenspiel[s] von Prozessen, bei dem im direkt zwischen Personen in Echtzeit stattfindenden, sprachlichen Austausch, unter Verwendung von Sprachrezeptions- und -produktionsstrategien sowie kognitiven und kooperativen Prozesssteuerungs- und -kontrollstrategien auf linguistischer, paralinguistischer und kontextueller Ebene Bedeutungsaushandlungen geleistet und Diskurse kooperativ konstruiert werden (Schmidt 2016: 103).

Der Kontext Schule stellt eine Sondersituation für die Interaktion dar (vgl. Schwab 2009: 14–15). In einem auf die Lehrperson zentrierten Klassenzimmer [21]sind grundsätzlich eher formalisierte Settings an Interaktionen zu beobachten, da eine klare Rollenverteilung gegeben ist:

Often in such formalised settings there is one participant who has a privileged role position whereby he controls turn-assignment at the conventionally determined points (Edmondson 1981: 38).

In diesem Fall obliegt der Lehrperson nicht nur die Wahl der Sprecherin oder des Sprechers, sondern auch „wer wann wie lange und zu welchem Thema sprechen darf bzw. muss/soll“ (Schmitt 2011: 20). Zwar gibt es innerhalb dieses formalisierten Settings einen gewissen Freiraum, „der von den Schülern in selbstbestimmter Weise sowohl unterrichtskonform als auch subversiv genutzt werden kann“ (ebd.), doch grundsätzlich fällt die Beteiligung im Klassenverbund vonseiten der Schülerinnen und Schüler eher gering aus, da sich die Lernenden, wenn sie in der Fremdsprache sprechen, „dem Risiko aus[setzen], sich und andere zu blamieren und Konventionen zu verletzen“ (Decke-Cornill/Küster 2016: 121). Zudem können ihre Redebeiträge missverstanden oder korrigiert werden, was befremdend sein kann. Fremdinitiierte Korrekturen sind „ein Eingriff in den Redebeitrag und damit in den Handlungsraum des Sprechers, […] stellen dessen Handlungshoheit in Frage [und sie] sind sozial dispräferiert, weil sie ein face-bedrohendes Potenzial haben“ (Bauer 2020: 373). Findet die Interaktion in Kleingruppen zwischen Schülerinnen und Schülern statt, so sind weniger stark formalisierte Settings an Interaktionen zu erwarten, da zwischen den gleichberechtigten Lernenden kein asymmetrisches Verhältnis besteht und sie über dasselbe Rederecht verfügen. Ausserdem wird die Bedrohung des Gesichtsverlusts eingedämmt, da nur eine Gesprächspartnerin resp. ein Gesprächspartner zuhört, die ein ähnlich hohes fremdsprachliches Niveau haben.

2.2Sprechen in der fremdsprachendidaktischen Forschung ab 2001

Um den Stand der Erforschung der fremdsprachigen Kompetenz Sprechen im deutschsprachigen Raum darzulegen, werden ausgewählte Ergebnisse aus fremdsprachendidaktischen Studien präsentiert, die seit dem Erscheinen des GER (Europarat 2001) durchgeführt und publiziert worden sind. Die Studien beziehen sich entweder auf den Englischunterricht (vgl. Thürmann 2013; Helmke et al. 2008; Kurtz 2001; Miede 2019; Manoïlov 2019), den Französischunterricht (vgl. Dauster 2006; Neveling 2007; Tesch 2010; Méron-Minuth 2009) oder den Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen (vgl. Peyer et al. 2016a). [22]Der Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe wird von Thürmann (2013), Dauster (2006), Méron-Minuth (2009) und Neveling (2007) untersucht. Die Aussagen aus Studien zum Englischunterricht und aus Studien zu höheren Schulstufen werden im vorliegenden Kapitel mit der angezeigten Sorgfalt auf den Französischunterricht der Grundschule transferiert.

In der Fremdsprache etwas zu sagen ist anspruchsvoll und es braucht Zeit, bis die Schülerinnen und Schüler dazu fähig sind. Im institutionalisierten Fremdsprachenunterricht ist Sprechen zwar ein zentrales, aber ein nicht leicht umsetzbares Ziel (vgl. Grünewald 2014: 60). Es kann empirisch nachgewiesen werden, dass die Förderung der Kompetenz „Sprechen […] mehr Unterrichtsstunden als die restlichen kommunikativen Kompetenzen [benötigt]“ (Peyer et al. 2016a: 32) und dass die Qualität und Quantität mündlicher Sprachproduktion vielfach hinter den Erwartungen zurückbleiben (vgl. Grünewald 2014: 60). Ausserdem weisen Evaluationsstudien für Englisch

mit hoher Übereinstimmung […] nach, dass es beachtliche Erträge gibt bezüglich der Aussprache, des Wortschatzes (Nomina!), des Hörverstehens, des Leseverstehens, der positiven Einstellungen zum Sprachenlernen und zur Mehrsprachigkeit. Was die produktiven Fähigkeiten angeht, so ist Bescheidenheit in den Erwartungen angesagt. Eine selbstständige Sprachhandlungsfähigkeit stellt sich nur bei wenigen Kindern ein (Thürmann 2013: 25).

Was für den Erwerb der Kompetenz Sprechen in der Fremdsprache Englisch gilt, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Fremdsprache Französisch übernommen werden, zumal es besonders schwierig scheint, sich mit niedrigem Sprachniveau auf Französisch mündlich zu verständigen. Nieweler (2002) macht die Erfahrung, dass Lernende „im Englischen nach kurzer Zeit über eine passable kommunikative Flexibilität verfügen, [während] Französischlerner auch im 3. Lernjahr noch Schwierigkeiten haben, elementare Dinge in einfachen Sätzen auszudrücken“ (ebd.: 4). Kurtz (2001) geht davon aus, dass das Sprechen in Form von freier Sprachproduktion im schulischen Kontext nur beschränkt möglich ist und der lehrwerkbasierte Fremdsprachenunterricht

das freie, selbstgesteuerte und selbstständige Sprechen der Zielsprache kaum zur Entfaltung kommen [lässt]. Das fremdsprachenunterrichtliche Sprechhandeln erstarrt vielmehr in einer gleichförmigen, an der Schriftsprache der jeweiligen Textvorlage orientierten, mehr oder minder mühsam aufrecht erhaltenen Mündlichkeit, der es an Unmittelbarkeit, Lebendigkeit, Emotionalität und vor allem auch an Erlebnisqualität mangelt (ebd.: 14).

Die Videostudie „Deutsch Englisch Schülerleistungen International“ DESI (Helmke et al. 2008) untersucht ab 2001 die sprachlichen Leistungen von Schülerinnen und Schülern und liefert 2008 Erkenntnisse dazu. Die Studie [23]zeigt, dass in den Schulen Deutschlands zwar viel Englisch gesprochen wird, der Ausdruck in Bezug auf Wortschatz und Syntax jedoch beschränkt ist (vgl. ebd.: 353). Zudem wird dargelegt, dass die Lernenden mehrheitlich in Ein-Wort-Sätzen sprechen. Diese Erkenntnis dürfte auch für Französisch zutreffen, zumal das Ergebnis durch die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts erklärt werden kann: Die mündliche Sprachproduktion der Schülerinnen und Schüler besteht mehrheitlich aus Antworten auf (geschlossene) Fragen vonseiten der Lehrperson (vgl. ebd.: 345). Dass dies kein wirksames Grundmuster für den Fremdsprachenunterricht ist, ist mittlerweile empirisch belegt (vgl. Dauster 2006).

Der Kritik an der „weitgehend ungebrochene[n] Dominanz der lehrergesteuerten Frage-Antwort-Gestaltung der fremdsprachlichen Kommunikationsprozesse“ (Kurtz 2001: 23) begegnet Kurtz, indem er in seiner Studie zum improvisierenden Sprechen im gymnasialen Englischunterricht den Anspruch erhebt, dass die Lernenden beim Sprechen in der Fremdsprache sie selbst bleiben und eigene Kommunikationsabsichten verfolgen dürfen (vgl. ebd.: 14). Er zeigt, wie die spontansprachliche Handlungskompetenz durch Improvisationen gefördert werden kann und entwirft ein „Konzept zur Förderung des selbstständigen Sprechhandelns im Fremdsprachenunterricht“ (ebd.: 18), das bedingt, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur überlegen, wie sie etwas sagen, sondern auch was sie sagen (vgl. ebd.: 41). Insgesamt spricht sich Kurtz für die Förderung der Kompetenz in Interaktionen zwischen den Lernenden aus und fordert Sprechaufgaben, die die natürlichen Elemente eines Gesprächs beinhalten: eigene Fragen stellen, das Gegenüber zu etwas auffordern, etwas wünschen, die eigene Meinung sagen, diskutieren, zustimmen, Missfallen äussern, staunen usw. (vgl. ebd.: 37). Inwiefern sich diese Forderungen bereits auf der Primarstufe und in der Fremdsprache Französisch realisieren lassen, wird in der vorliegenden Studie untersucht.

Dauster (2006) stellt in ihrer Untersuchung zum frühen Fremdsprachenunterricht Französisch ebenfalls eine Dominanz des Interaktionsmusters IRF4 fest (vgl. ebd.: 215). Sie untersucht mittels Audio- und Videoaufnahmen den [24]frühen Fremdsprachenunterricht Französisch im Saarland und bezeichnet den Sprachgebrauch im beobachteten Unterricht als „weitgehend unauthentisch, [da die Beiträge der Schülerinnen und Schüler] sehr kurz sind und sich auf das Notwendigste beschränken“ (ebd.: 215). Dies erklärt sie damit, dass der Stimulus mehrheitlich in Form einer geschlossenen Frage erfolgt (z.B. Qu’est-ce que c’est?), und die Antwort entsprechend reduziert ausfällt (z.B. une gomme) (vgl. ebd.: 219). Ausserdem beantworten die Lernenden in der Regel Fragen, deren Antworten dem Gegenüber bereits bekannt sind (vgl. ebd.: 224). Dauster (2006) stellt fest, dass die Kinder wenig aus eigener Initiative zum Unterricht beitragen (vgl. ebd.: 219), wobei dies nicht am niedrigen Sprachniveau der Lernenden liege, sondern an der Lehrperson, die das beschriebene Frage-Antwort-Setting installiere und die Redebeiträge darauf reduziere. Dauster (2006) kann zudem belegen, dass die Imitation einen grösseren Teil der Redebeiträge der Lernenden ausmacht als die eigenständigen Äusserungen (vgl. ebd.: 217). Sie spricht sich für authentischen Input und authentische Interaktionsformen bereits im frühen Fremdsprachenunterricht aus und fordert Aktivitäten, bei denen der Inhalt im Mittelpunkt steht, so dass sich der focus on form auf den focus on meaning verschiebt (vgl. ebd.: 215/224).

Auch Neveling (2007), die die Sprechkompetenz im frühen Französischunterricht in Berlin untersucht, gelangt in ihrer Studie zur Erkenntnis, dass die Sprechleistungen „in der Grundschule auf einem imitativen, reproduktiven Niveau“ (ebd.: 269) bleiben. Allerdings stellt sie fest, dass die Lernenden durchaus bereit sind, Initiative zu ergreifen. Sie kann in ihren Daten ein Gesprächsengagement in Form von Interaktion mit den Mitschülerinnen und Mitschülern durch gegenseitige Vokabelhilfe, Korrektur und spontanen turntake ausmachen (vgl. ebd.: 270). Neveling (2007) erkennt also ein Potenzial für die Förderung der mündlichen Produktion durch Interaktionen von Lernenden in Kleingruppen und das bereits auf Grundschulstufe.

Zum Sprechen in Gruppenarbeiten liegt die empirische Studie von Tesch (2010) vor, der videobasiert kompetenzorientierte Lernaufgaben in der Praxis des Französischunterrichts auf der Oberstufe untersucht. Er stellt fest, dass das Aufgabenmaterial dann am wirkungsvollsten genutzt wird, wenn die Lernenden sich aktiv am Unterrichtsgeschehen beteiligen, beispielsweise in Form von „Rollenübernahmen, kooperative[m] Peer-Verhalten und Orientierung an sprachlicher Progression“ (ebd.: 324). Dies müsse allerdings „mit Lernbegleitung, scaffolding-Verhalten und positivem Feedback bei den Lehrkräften koinzidier[en]“ (ebd.: 324). Schülerinnen und Schüler im Primarschulalter brauchen zwar eine enge Begleitung, um Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen, doch altersunabhängig ist vermutlich die von Tesch empirisch [25]belegte Tatsache, dass die Verwendung der Schul- oder der Zielsprache stark von der Lehrpersonensprache (teacher talk) abhängt (vgl. ebd.: 195). Wenn als Arbeitssprache systematisch Deutsch verwendet werde, habe dies „den Anschein, als traue die Lehrkraft den Schülern schon im Vorfeld nicht zu, alles auf Französisch zu verstehen. […] Die Wirkung auf die Schüler ist entsprechend. Auch sie reagieren nur in kleinen Dosen Französisch, wenn überhaupt“ (ebd.: 195).

In Bezug auf das scaffolding- und Feedback-Verhalten der Lehrpersonen stellt Miede (2019) auf der Grundlage seiner videogestützten Studie zum gymnasialen Englischunterricht die Hypothesen auf, dass es lernzielorientierte Aufgabenstellungen brauche, um zielführende, weil kriteriengeleitete, Rückmeldungen geben zu können und dass Lernende weniger fehlerhafte Äusserungen produzierten, wenn sie bei der Problemlösung aktiv von ihrer Lehrperson unterstützt würden (vgl. Miede 2019: 302). Er kann belegen, dass Schülerinnen und Schüler Produktionsstrategien anwenden. Zudem weist er auf die Wichtigkeit des Textsortenwissens hin, das eine zentrale Rolle spiele, und zwar einerseits bei der Rezeption der Texte, die die Grundlage für Sprechaufgaben bildeten, und andererseits bei der Produktion mündlicher Lernendentexte (vgl. ebd.: 300–301). Mit der vorliegenden Studie kann überprüft werden, ob seine Hypothesen auch für den Französischunterricht an der Grundschule Geltung haben.

Manoïlov (2019) untersucht in ihrem Aktionsforschungsprojekt Interaktionen zwischen Lernenden in einem aufgabenorientierten Lernsetting des Englischunterrichts an einer Sekundarschule in Frankreich. Dabei geht sie von der Hypothese aus, dass die Schülerinnen und Schüler beim Bearbeiten solcher Aufgaben in Kleingruppen oft in die Schulsprache wechseln würden. Je komplexer die Aufgabe, desto grösser sei das Risiko, dass die Lernenden sie vereinfachten, indem sie für die mündliche Interaktion die Schulsprache anstelle der Fremdsprache verwendeten (vgl. ebd.: 18). Sie untersucht die mündlichen Interaktionen ihrer Schülerinnen und Schüler nach verschiedenen durchgeführten Interventionen (z.B. obligate Vorbereitung des Sprechanlasses und Vermittlung von Kommunikationsstrategien) (vgl. ebd.: 21–22) und stellt fest, dass die turns länger und komplexer würden, die thematische Auseinandersetzung reicher ausfalle und weniger oft auf die Schulsprache zurückgegriffen werde (vgl. ebd.: 25). Das iterative Vorgehen für die mündliche Interaktion habe den Vorteil, dass „ainsi la surcharge cognitive liée à la double mobilisation du fond et de la forme“ (ebd. : 25) verhindert werden könne. Manoïlov (2019) postuliert, dass sich diese Erkenntnisse auf andere Fremdsprachen und Sprachniveaus übertragen liessen.

[26]Zusammengefasst zeigt der Stand der Forschung, dass für eine optimale Förderung der Kompetenz Sprechen das IRF-Interaktionsmuster möglichst vermieden und durch Interaktionen unter Lernenden in Kleingruppen ersetzt werden sollte (vgl.u.a. Méron-Minuth 2009: 84). Dabei muss ein focus on meaning erfolgen, damit die Schülerinnen und Schüler nicht nur über die Form, sondern auch über den Inhalt ihrer Redebeiträge zu entscheiden haben. Bei aufgabenorientierten Lernsettings sollte die kognitive Belastung, die mit der doppelten Mobilisierung von Inhalt und Form einhergeht, mit vorbereitenden Übungen reduziert werden. Ausserdem sollten gezielt Kommunikationsstrategien vermittelt werden, die den Schülerinnen und Schülern das Aufrechterhalten der Interaktion in der Zielsprache ermöglichen, ohne zurück in die Schulsprache zu wechseln. In der vorliegenden Studie gilt es zu prüfen, ob Interaktionen unter Lernenden in Kleingruppen im frühen Fremdsprachenunterricht an der Primarschule tatsächlich vermehrt zu Äusserungen in der Zielsprache führen, und ob ein focus on meaning Redebeiträge nach sich zieht, die mehrheitlich eigenständig und nicht rein imitativ ausfallen.

2.3Sprechen in Schweizer Lehrwerken (~1890 bis ~2020)

Im Nachfolgenden wird dem Ratschlag von Königs (2014) Folge geleistet und aufgezeigt, wie es zur heutigen Auffassung von Mündlichkeit gekommen ist:

Wer sich über die Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht Gedanken macht, ist gut beraten, dabei auch im Blick zu halten, wie es zu der heutigen Auffassung von ‚Mündlichkeit‘ gekommen ist, wie sie sich heute darstellt und natürlich auch zu überlegen, wohin genau wir denn mit der Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht tatsächlich wollen (ebd.: 108).

Für die vorliegende Studie wird ausschliesslich in den Blick genommen, wie die Mündlichkeit in Lehrwerken gefördert wurde resp. wird. Dabei liegt der Fokus auf den Entwicklungen von Französischlehrwerken für die Volksschule der deutschsprachigen Schweiz, die verschiedenen Methodenparadigmen zugeordnet werden können.

Ein Methodenparadigma entsteht aus einer Methodenkonzeption, wobei unter einer Methodenkonzeption „ein (intersubjektiv überprüftes) mentales Modell für Unterrichtsabläufe“ (Reinfried 2001: 1) verstanden wird. Methodenkonzeptionen können sich unterschiedlich lange halten und durchsetzen, je nachdem, wie gut sie das Versprechen einlösen, Lösungen auf Unterrichtsprobleme zu liefern, die sich in einem bestimmten Zeitraum stellen (vgl. ebd.: 2). Aus einer Methodenkonzeption wird erst dann ein Paradigma, „wenn sie [27]während eines bestimmten Zeitraums im Fremdsprachenunterricht dominiert und in der Lehreraus- und -fortbildung bevorzugt tradiert wird“ (ebd.: 1). In Bezug auf die Fertigkeit Sprechen sind die Versprechen der verschiedenen Methodenkonzeptionen seit 150 Jahren mehr oder weniger immer dieselben: Die Schülerinnen und Schüler sollen rascher und besser sprechen lernen. Bislang konnten diese und auch andere Versprechen nur bedingt eingelöst werden, weshalb es immer wieder zu „Paradigmenwechseln“ kam. Auch die sich laufend ändernden Anforderungen und möglichen Unterrichtsprobleme führen dazu, dass ein Paradigma von einem nächsten abgelöst wird. In der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts hat es

Methodenparadigmen gegeben, die sich antithetisch zu vorangegangenen Methodenparadigmen definiert haben, andere Methodenparadigmen wiederum sind eher als Modifikation oder verbesserte Fortsetzung aus einem vorangegangenen Methodenparadigma entstanden (ebd.: 2).

Als die „grossen“ Methodenparadigmen der modernen Fremdsprachen gelten die Grammatik-Übersetzungs-Methode, die Direkte Methode, die Audiolinguale Methode, die Audiovisuelle Methode, die Kommunikative Methode und die Neokommunikative Phase (vgl. Reinfried 2017: 73).5 Für den Französischunterricht an der Schweizer Volksschule sind m.W. keine rein audiolingualen oder audiovisuellen Lehrwerke entwickelt worden, was einerseits mit der meist spärlichen technischen Ausrüstung an den Volksschulen zusammenhängen dürfte und andererseits auf einen Bildungsauftrag zurückzuführen sein könnte, der über eine rein funktional ausgerichtete Sprachbeherrschung hinausgeht. Allerdings finden sich bestimmte Merkmale der audiolingualen bzw. -visuellen Methode in verschiedenen Lehrbüchern anderer Methodenparadigmen. In Tab. 3 sind die Lehrbücher resp. die Lehrwerke aufgeführt, anhand derer in den nachfolgenden Kapiteln die Förderung des Sprechens nach verschiedenen Methodenparadigmen aufgezeigt wird:

[28]Banderet, P.; Reinhard, Ph. (1893): Cours pratique de langue française. A l’usage des écoles allemandes. 2. Aufl. Bern: Schmid & Francke.

Baumgartner, Andreas; Zuberbühler, Arnold (1900): Neues Lehrbuch der französischen Sprache. 12. unveränderte Auflage. Zürich: Orell Füssli Verlag

Eberhard, Otto (1908): Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles. Zürich: Orell Füssli Verlag.

Keller, E. (1941): Cours élémentaire de langue française. Première partie. En classe et en famille. 7. Aufl. Bern: Librairie académique Paul Haupt.

Müller, Otto (1947): Parlons français! Cours élémentaire de langue française. Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag.

Binder, Heidy; Kessler, Sigrid; Ritschard, Charlotte; Walther, Rudolf; Schneiter, Käthy; Wallimann, Helen (1981): Bonne chance! Bern: Staatlicher Lehrmittelverlag.

Ganguillet, Simone; Grossenbacher, Barbara; Lovey, Gwendoline; Sauer, Esther; Thommen, Andi; Trommer, Bernadette (2014a): Mille feuilles 6. 6.1: Eurêka – j’ai trouvé! 6.2: Quelle question! 1. Auflage. Bern: Schulverlag plus AG.

Tab. 3: Korpus der analysierten Lehrwerke

Für das vorliegende Kapitel sind Werke berücksichtigt, die zwischen 1893 und 2014 in der Schweiz für den Französischunterricht an der Volksschule entwickelt worden sind.6 Ich habe sie einer Lehrwerkanalyse unterzogen, die die vier folgenden Hauptkategorien beinhaltet (vgl. Tab. 4):

1.

Mündliche Interaktion zwischen den Akteurinnen und Akteuren (Lehrperson, Lernende)

2.

Form des Sprechens (monologisch, dialogisch)

3.

Funktion von Sprechen (formbezogen, kommunikativ ausgerichtet, inhaltsorientiert)

4.

Sprachliches Vorbild resp. korrigierende Instanz (Lehrperson, schriftliche Hinweise zur Aussprache, Hörbeispiele ab Tonträger, Lernende)

Tab. 4: Kriterien für die Lehrwerkanalysen

[29]2.3.1Grammatik-Übersetzungs-Methode

Das älteste Lehrwerk in dem für diese Studie zusammengestellten Korpus ist der „Cours pratique de langue française“ (Banderet/Reinhard 1893). Das Kursbuch besteht aus 133 Lektionen, die verschiedene Grammatikthemen bedienen. Im Vorwort von 1893 geben die Autoren an, dass sich die von ihnen befolgte Methode in zwei Worten ausdrücken lasse: „Verständnis und Uebung“ (ebd.: III). In jeder Lektion stehe ein schriftlicher Ausgangstext, den es zu verstehen gelte und anhand dessen die „Sprachfertigkeit“ der Schülerinnen und Schüler geübt werde, wobei mit der Sprachfertigkeit das Lesen und Schreiben gemeint sind. Mit der Ausrichtung auf das Üben schriftlicher Fertigkeiten entspricht der „Cours pratique de langue française“ (ebd.) den Lehrwerken des 19. Jahrhunderts, die sich dadurch auszeichnen, dass sich darin nur wenige Sprechaufgaben finden, da in der Grammatik-Übersetzungs-Methode die schriftlichen Sprachfertigkeiten Vorrang vor den mündlichen Fertigkeiten haben und im Vordergrund eine theoretische und praktische Grammatikbeherrschung steht (vgl. Reinfried 2017: 73).

Bei der 3. Auflage von 1897 bringen die Autoren Änderungen am „Cours pratique de langue française“ (Banderet/Reinhard 1897) an: Diese bestehen „hauptsächlich in der Vermehrung der Konversationsübungen“ (ebd.: IV), die wie die anderen Übungen das Grammatikthema bedienen und von den Übungsstücken ausgehen. Am Beispiel der „Leçon 13“ wird aufgezeigt, wie Sprechen in der 3. Auflage dieses Lehrwerks gefördert werden sollte:

Abb. 1: ebd.: 10

[30]Abb. 2: ebd.: 11

Die einzelnen Lektionen sind nummeriert und direkt unter der Lektionsnummer steht das behandelte Grammatikthema (vgl. Abb. 1). Innerhalb der Lektionen findet man zu Beginn jeweils eine Liste mit Wortschatz auf Deutsch [31]und Französisch zu einem bestimmten Wortfeld und eine Grammatikregel. In der Lektion 13 geht es um den Garten und Gartenwerkzeuge, sowie die Anwendung des hinweisenden Fürworts, genauer gesagt um die Singularformen ce, cet, cette. Der Wortschatz und die Grammatikstrukturen werden anschliessend in Sätzen verbunden, woraus ein Übungstext entsteht (vgl. Abb. 2). Dieser wird von der Lehrperson vorgelesen und soll von der Klasse nachgesprochen werden. Dabei ist die Lehrperson das sprachliche Vorbild für die Klasse. Auf den Übungstext folgt eine schriftliche Übersetzung. In der ersten Auflage des „Cours pratique de langue française“ (ebd.) endet die Lektion 13 mit dieser Übersetzung und es liegen keine weiteren Sprechübungen vor. In der Version der 3. Auflage kommt eine Konversationsübung, ein exercice de conversation, dazu. Im Vorwort zum Lehrbuch steht bzg. der Umsetzung dieser Konversationsaufgaben der Hinweis, dass die Bearbeitung der Sprechübungen „bei offenem oder geschlossenem Buch“ (ebd.: V) erfolgen könne. Die Sprechübung könnte darin bestehen, dass eine Gruppe resp. eine Bankreihe die Fragen aus dem Buch im Chor vorliest und die andere Gruppe resp. eine andere Bank ohne Vorlage die Fragen beantwortet. An der mündlichen Interaktion beteiligen sich also die Schülerinnen und Schüler als Gruppe, eng geführt von der Lehrperson und dem Lehrbuch. Es handelt sich um ein dialogisches Sprechen, wobei vorgegebene Fragen gestellt und beantwortet werden müssen. Im Vorwort geben die Autoren an, dass das Ziel dieser Aufgaben sei, den „Wortvorrat praktisch [zu] verwenden“ (ebd.: III).7 Die Mitteilungsabsicht der Schülerinnen und Schüler wird dabei kaum berücksichtigt. Es handelt sich in erster Linie um ein formbezogenes Sprechen, da der Wortschatz und die eingeführten Grammatikstrukturen damit wiederholt werden. Die Aussprache der französischen Laute wird im Übungstext durch Angaben zur liaison unterstützt. In einem einleitenden Kapitel „Prononciation“ sind zudem die Ausspracheregeln schriftlich dargestellt, wobei nicht explizit erklärt wird, wie und wann dieses Kapitel bearbeitet werden soll und inwiefern es den Schülerinnen und Schülern ebenfalls als Referenz für das Sprechen dienen kann.

[32]Die Bestrebungen, „den Schüler mehr zum Sprechen zu veranlassen“ (ebd.: IV-V), sind vermutlich auf den Paradigmenwechsel zurückzuführen, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts einstellt. Es entsteht eine Reformbewegung, die fordert, dass Sprechen mehr sein solle, als einen schriftlichen Text richtig auszusprechen und zu betonen. Als tragende Stimme für die Kritik gilt Viëtor (vgl. Quousque Tandem 1882), der der Überzeugung ist, dass der Sprachunterricht auf falschem Wege sei, und der den Wunsch hegt, „dass eine Umkehr erfolge“ (Viëtor 1905: V). Viëtor macht als Problem den hohen Aufwand und den geringen Ertrag aus, denn seiner Meinung nach ist auch nach ca. 7’000 Stunden Sprachunterricht der „reelle Sprachgewinn am Ende der sechs- bis neunjährigen Schulzeit ein höchst mäßiger“ (ebd.: 2). Er wünscht sich einen Fremdsprachenunterricht, in dem die Mündlichkeit Vorrang hat, denn „die Sprache besteht aus Lauten und nicht aus Buchstaben“ (ebd.: 5–6).

Doch die Grammatik-Übersetzungs-Methode geniesst in nicht reformistischen Kreisen weiterhin grosse Beachtung. Beispielsweise erscheint rund 50 Jahre nach dem „Cours pratique de langue française“ (Banderet/Reinhard 1897) das Lehrbuch für Sekundär- und Mittelschulen „Parlons français! Cours élémentaire de langue française“ (Müller 1947). Die Lektionen beginnen in diesem Lehrbuch jeweils mit einer tabellarischen Übersicht zu einem bestimmten Grammatikthema, das auf Deutsch erklärt wird. Darauf folgen formale Übungen und ein Lesetext. Am Ende einer Lektion steht die Übersetzungsarbeit und ab und zu auch eine Konversationsaufgabe, wobei diese exercices de conversation hauptsächlich mündliche Verständnisfragen zum Lesetext sind, die in der Zielsprache zu beantworten sind (vgl. z.B. ebd.: 20–23). Der Autor von „Parlons français! Cours élémentaire de langue française“ (ebd.) erklärt im Vorwort zur 6. Auflage von 1959 in der dritten Person Singular, warum er nicht bereit sei, Neuerungen in seinem Lehrbuch umzusetzen und grenzt sich dabei explizit von den reformistisch geprägten Bestrebungen ab:

Er war sich dabei bewusst, dass nur eindeutige Verbesserungen in Frage kommen durften und vermied es, Bewährtes durch Problematisches zu ersetzen. Vor allem konnte er sich nicht dazu entschliessen, den Gesamtaufbau des Lehrgangs zu ändern oder den grammatikalischen Stoff wesentlich zu beschneiden, weil er nach wie vor der Überzeugung ist, dass eine solide Grammatikschulung im Französischunterricht einen wesentlichen Beitrag zur Denkerziehung gerade des Sekundarschülers leisten kann, und dass ein nur zweckdienliches Unterrichten der ersten Fremdsprache – „ein wenig Französisch lernen“ – wohl einem rein praktischen Unterrichtsziel, nicht aber der Bildungsaufgabe einer Sekundarschule dienen kann (Müller 1959: 5).

Seine Haltung teilen insbesondere Lehrpersonen aus den Sekundarstufen I und II, wie dies eine Rezension von 1949 belegt, in der das Lehrbuch dafür gelobt wird, dass es die Schriftlichkeit vor die Mündlichkeit stelle und die Über[33]setzungsarbeit zur Festigung der grammatischen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler als Kernstück einsetze:

Es war einfach ein Irrtum zu glauben, daß die Schule den Schülern hauptsächlich durch das Sprechen eine Fremdsprache beizubringen vermöge. Dazu ist die Anzahl der Stunden für den fremdsprachlichen Unterricht viel zu beschränkt. […] Also zurück zur Grammatik! […] „Parlons français“ bietet auch viel Uebungsmaterial zur Uebersetzung vom Deutschen ins Französische, was zeitweilig so verpönt war und vernachlässigt wurde – zum großen Schaden der Schüler. Die Uebungssätze ermöglichen die wünschenswerte Vertiefung des grammatikalischen Stoffes, sodass der Schüler festen Boden unter die Füße bekommt (St. 1949: 94).

2.3.2Direkte Methode

Eines der ersten Französischlehrbücher für die Schweizer Volksschule, von dem die Autoren sagen, dass es nach der Direkten Methode entwickelt worden sei, ist das Neue Lehrbuch der französischen Sprache (Baumgartner/Zuberbühler 1900). Im Unterschied zum „Cours pratique de langue française“ (Banderet/Reinhard 1893) oder auch zu „Parlons français! Cours élémentaire de langue française“ (Müller 1947) beginnen die Kapitel vom Neuen Lehrbuch der französischen Sprache (Baumgartner/Zuberbühler 1900) jeweils mit einem (Vor-)Lesetext. Der Titel des Kapitels beschreibt nicht ein Grammatikthema, sondern bezieht sich auf den Inhalt dieses Eingangstextes. Allenfalls ist neben dem Kapiteltitel meistens auch das Grammatikthema zusätzlich angegeben.

[34]Abb. 3: ebd.: 42

Abb. 4: ebd.: 43

Die Ausgangstexte bedienen ein bestimmtes Wortfeld und ein Grammatikthema, das induktiv erarbeitet wird. Beim Kapitel 43 geht es um den Bauernhof, das Verb aller und die Relativpronomen qui und que (vgl. Abb. 3). Unter[35]halb der Texte stehen die zentralen Wörter und Ausdrücke des Ausgangstextes und es werden bestimmte grammatische Strukturen herausgelöst. Dabei wird der Rückgriff auf die Schulsprache Deutsch möglichst vermieden. Direkt wird die Methodenkonzeption deshalb genannt, weil sie auf „den Umweg“ über die Muttersprache, die Orthografie und die so genannt überflüssigen Grammatikregeln möglichst verzichten will (vgl. Wickerhauser 1907: 211–232, zitiert nach Christ 2020: 177). Wenn immer möglich werden Wörter durch Anschauung eingeführt, d.h. die Lehrperson zeigt entweder auf Gegenstände im Klassenzimmer oder verwendet Bilder. Das analytische Vorgehen und das Ausgehen vom Text sind die wesentlichen Neuerungen der Direkten Methode (vgl. Christ 2020: 190) und die beiden Autoren weisen im Vorwort explizit darauf hin, dass ihr Lehrbuch auf der Direkten Methode basiere:

Im wesentlichen ist die Methode die sogenannte direkte, diejenige, die unmittelbar von der fremden Sprache ausgeht, und zwar im Anfang von eigens gewählten einfachen Sätzen, die nichts Neues enthalten als die in Behandlung kommende Schwierigkeit, so dass die Aufmerksamkeit des Schülers auf diese allein gerichtet bleibt. Dies ist die notwendige Vorbereitung auf ein Gespräch oder auf ein zusammenhängendes Lesestück, das immer den Mittelpunkt des Unterrichts bleiben soll (Baumgartner/Zuberbühler 1900: III).

Die Direkte Methode entwickelt sich zwar als Gegensatz zum vorangehenden Methodenparadigma, doch sie ist keine einheitliche Methodenkonzeption, sondern bündelt verschiedene Ausprägungen der von Viëtor geprägten Reformbestrebungen in sich. In ihrer radikalen Ausprägung erhebt sie die Förderung der mündlichen Fertigkeiten der Lernenden zum zentralen Desiderat (vgl. Schmidt 2016: 103) und verlangt, dass die Sprachaneignung eher unbewusst erfolgen solle, analog zum Erwerb der L1 (vgl. Viëtor 1905: 1–5). In der gemässigten Ausprägung wird eine vermittelnde Methode angestrebt, die nicht mit der ganzen Tradition bricht, sondern an die Grammatik-Übersetzungsmethode anknüpft (vgl. Christ 2020: 187). Bei den Autoren des „Neuen Lehrbuchs der französischen Sprache“ (Baumgartner/Zuberbühler 1900) dürfte es sich um gemässigte Reformer handeln, da sich beispielsweise noch (wenige) deutsche Texte im Lehrbuch finden und auch Übersetzungsaufgaben noch vorhanden sind. Sie fügen nun zwar systematisch zu jedem Kapitel eine Conversation hinzu (vgl. Abb. 4), doch die Sprechübungen erinnern an solche, die bereits in früheren Lehrbüchern praktiziert worden sind. Es handelt sich grösstenteils um Fragen, deren Antwort dem Lesetext zu entnehmen ist. An der Interaktion nehmen die Schülerinnen und Schüler im Chor teil, geführt von ihrer Lehrperson. Im Vorwort gibt es Hinweise, wie ausgehend vom Lehrbuchmaterial zusätzliche Sprechanlässe geschaffen werden können:

[36]Wir erinnern neuerdings daran, dass deutliches Vorsprechen, streng überwachtes Nachsprechen, Chorlesen mit gedämpfter Stimme, freies Vortragen von Gedichten, Gesprächen und prosaischen Stücken – Bedingungen sind, die nicht ausser acht gelassen werden dürfen, wenn der Schüler richtig und fliessend lesen lernen soll. Auch ist es von grösster Wichtigkeit, dass möglichst viel bei geschlossenem Buch gefragt und geantwortet werde. Der Schüler muss sich an das Sprechen und an die gesprochene Sprache gewöhnen und vom Buch unabhängig werden (ebd.: IV).

Das Sprechen wird in verschiedenen Formen wie Nachsprechen, Vorlesen und Rezitation eingeübt. Dabei nimmt die Lehrperson als sprachliches Vorbild eine wichtige Rolle ein und sollte möglichst viel mit geschlossenem Buch unterrichten: Den Autoren ist es wichtig, dass dadurch der Weg zum freien Sprechen geebnet wird. Die Konversationsübungen sind formbezogen und das Sprechen erfüllt die Funktion von Wortschatz- und Grammatikeinüben. Im Anhang zum Lehrbuch rückt die Mündlichkeit stärker in den Vordergrund: Er beinhaltet Hilfestellungen zur Konversation, die so genannten „Phrases de tous les jours“ (vgl. Abb. 5), die heutzutage als chunks bezeichnet würden. Ausserdem gibt es „Poésies“ zum Rezitieren oder auch „Airs populairs“ zum Singen (vgl. ebd.: 210–218).

Abb. 5: ebd.: 210

[37]Im Anhang zum Lehrbuch lässt sich also eine Änderung der Funktion des Sprechens ausmachen, das kommunikativen Zwecken dienen soll. Allerdings geben die Autoren an keiner Stelle im Lehrbuch einen Hinweis auf die Arbeit mit dem Anhang. Es sind keine Hinweise auf die Aussprache enthalten, auch keine Angaben zur liaison. Für die Aussprache liegt ein eigenes Kapitel vor, es ist jedoch wie bei Banderet/Reinhard (1893) weder im Inhaltsverzeichnis aufgeführt noch werden explizite Bezüge zu den Lektionen hergestellt. Es ist davon auszugehen, dass die Sätze wie auch die Konversationssätze des Lehrbuchs im Chor vorgetragen werden sollen. Sprechen findet im „Neuen Lehrbuchs der französischen Sprache“ (Baumgartner/Zuberbühler 1900) und allgemein in der Direkten Methode noch in Form einer „Imitation des gebotenen Sprachmaterials durch Hören und Nachsprechen [und den] Einsatz eng gesteuerter Kommunikationsübungen“ (Schmidt 2016: 103) statt.

Das Lehrbuch „Cours élémentaire de langue française. Première partie. En classe et en famille“ (Keller 1941), das vierzig Jahre später erscheint, nimmt einige Ideen von Baumgartner/Zuberbühler (1900) auf und geht in Bezug auf die Umsetzung der Direkten Methode einen Schritt weiter. Um möglichst keinen Umweg über die Schulsprache Deutsch zu machen, sind im „Cours élémentaire de langue française. Première partie. En classe et en famille“ (Keller 1941) zahlreiche Illustrationen vorhanden und das Sprechen wird wenn immer möglich mit einer Handlung unterstützt.

[38]Abb. 6: ebd.: 6

[39]Abb. 7: ebd.: 10

An der mündlichen Interaktion beteiligen sich die Schülerinnen und Schüler wiederum als ganze Klasse, im geführten Dialog mit der Lehrperson. Es sind Übungen zum Nachsprechen, zum Vorlesen, zur Rezitation sowie zum handelnden Sprechen im „Cours élémentaire de langue française. Première partie. En classe et en famille“ vorhanden, auch wenn sie nicht explizit als solche ausgewiesen werden. Beim handelnden Sprechen geht es um das Stellen [40]und Beantworten vorgegebener Fragen, indem möglichst viel Gestik eingesetzt und auf die entsprechenden Gegenstände gezeigt wird (vgl. Abb. 7). Es sind aber noch keine Rollenspiele. Das Sprechen bleibt formbezogen und dient dem Einüben von Wortschatz und Grammatik, auch wenn der Titelzusatz „En classe et en famille“ eine kommunikativere Ausrichtung vermuten liesse. Um die Mündlichkeit zu stärken, wird die Aussprache stärker in den Lehrgang eingebettet. Das Kapitel zur Aussprache heisst nun Exercices de prononciation und es wird im Inhaltsverzeichnis aufgeführt (vgl. Abb. 6). Ausserdem wird beim Bearbeiten der (Vor-)Lesetexte jeweils auf das Kapitel zu den Exercices de prononciation verwiesen (vgl. Abb. 7). Zu den französischen Lauten gibt es Beispiele, Redewendungen, chunks, Zungenbrecher, Reime oder Schnabelwetzer (Keller 1941: 5–9).

Keller (1941) geht bei der Umsetzung der Direkten Methode in seinem Lehrbuch zwar weiter als Baumgartner/Zuberbühler (1900), doch es stellt sich in diesen beiden obligatorischen Lehrwerken für die Schweizer Volksschule heraus, dass das innovative Gedankengut eher vorsichtig umgesetzt wird und dass die Lehrbücher der gemässigten Ausrichtung zuzuordnen sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass sie vor ihrer Verwendung an der Primar- oder Sekundarschule jeweils von einer Lehrwerk-Kommission validiert und empfohlen werden müssen. Im Gegensatz zu den obligatorischen Lehrwerken finden sich in ergänzenden Zusatzmaterialien Umsetzungen, die radikaler sind: Ein Autor eines fakultativen Zusatzbüchleins (Eberhard 1908) macht ebenfalls die Feststellung, dass das Prinzip der Priorität der Mündlichkeit vor allem an Privatschulen angewendet wird:

Leider aber sind es bisher meist nur Privatschulen gewesen, die mit der Durchführung dieses Prinzips wirklich Ernst gemacht haben, während in den gewöhnlichen Schulen das lebendige Wort stets vom toten Buchstaben überwuchert worden ist (ebd: 6).

Eberhard (1908) entwickelt eine neue Methode, die die Direkte Methode in ihrer radikalen Ausprägung umsetzt, indem er in seinem Lehrbuch keine einzige Grammatikregel formuliert, kein Wort Deutsch verwendet und indem er den Sprechanteil der Schülerinnen und Schüler massiv erhöht. Es handelt sich um das Lehrbuch „Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles“ (ebd.).

[41]Abb. 8: ebd.: 23

[42]Abb. 9: ebd.: 68

Abb. 10: ebd.

[43]Abb. 11: ebd.: 73–74

Im Lehrbuch „Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles“ (ebd.) erhält das Sprechen einen hohen Stellenwert. Die Schülerinnen und Schüler sprechen mit ihrer Lehrperson, aber auch untereinander, als Klasse und einzeln. Es finden sich Übungen zu allen möglichen Sprechformen (monologisch: Nachsprechen (im Chor oder einzeln), Vorlesen, Rezitation, handelnd sprechen / dialogisch: Stellen und Beantworten vorgegebener Fragen, Vorspielen eines vorgegebenen Dialogs, Realisieren eines selbst entwickelten Gesprächs). Je nach Übungsformat kommt dem Sprechen eine unterschiedliche Funktion zu: In Kapitel 17 (vgl. Abb. 8) sprechen die Schülerinnen und Schüler ein Gespräch nach, das dem Einüben von Strukturen dient (Verb avoir im Präsens). Es handelt sich um ein formbezogenes Sprechen und die Schülerinnen und Schüler stellen und beantworten dafür die vorgegebenen Fragen. In Kapitel 70 (vgl. Abb. 9 und Abb. 10) spielen die Schülerinnen und Schüler einen vorgegebenen Dialog vor, wobei es sich um kommunikativ ausgerichtetes Sprechen handelt. In Kapitel 75 (vgl. Abb. 11) wird schliesslich auch zum inhaltsorientierten Sprechen angeleitet, da die „Schüler“ im Sportunterricht oder in der Pause einander Anweisungen geben können. Es gibt weitere solche Kapitel mit inhaltsorientiertem Sprechen zum Fach Mathematik (vgl. Eberhard [44]1908: 54/71–72), in denen die Lernenden sie selbst bleiben und in der Zielsprache Sachinformationen austauschen. Das Marktgespräch von Kapitel 70 (Abb. 9–10) erinnert an die Sprechakt-Dialoge, wie sie Jahrzehnte später in zahlreichen Lehrwerken zu finden sind. Das Gespräch weist zwar keine touristische Perspektive auf, wie dies bei kommunikativ ausgerichteten Lehrwerken i.d.R. der Fall ist, wirft man aber einen Blick ins Verzeichnis der Gespräche, so stellt man fest, dass tatsächlich eine bestimmte Nähe zu Lehrwerken der kommunikativen Methode gegeben ist: In „Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles“ (ebd.) finden sich Gespräche mit den Titeln Chez l’épicier, J’ai perdu mon porte-monnaie, Chez le boulanger, A la boucherie, Au marché, Chez le cordonnier, Chez le médecin, A la chapellerie, Chez la modiste, Chez le menuisier oder auch Chez l’horloger (vgl. Eberhard 1908: 94–95). Es ist auch in diesen Zusammenhang auffällig, wie lange es geht, bis sich eine Methodenkonzeption als Methodenparadigma durchsetzt (vgl. Reinfried 2001: 1). Das Schweizer Lehrwerk „Bonne chance!“ (Binder et al. 1981a), das kommunikativ ausgerichtet ist, erscheint erst gut siebzig Jahre später. Die Methode des bilingualen Unterrichts, wie sie in den Kapiteln zum Mathematik- oder Sportunterricht auf Französisch im Lehrbuch (Eberhard 1908) angelegt ist, gelangt erst in den 1990er Jahren aus Kanada nach Europa (vgl. Le Pape Racine 2022: 19).

Das Primat der Mündlichkeit ist in „Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles“ (Eberhard 1908) auch bzg. der ausschliesslichen Verwendung der Zielsprache zu erkennen. Dabei ist die Lehrperson das sprachliche Vorbild für ihre Schülerinnen und Schüler. Die ausschliessliche Verwendung der Zielsprache ist auf die Prämissen der Direkten Methode zurückzuführen, nach der „die Darbietung der fremden Sprache unter möglichstem Ausschluss der Muttersprache […] die erste und wichtigste Forderung [ist]. Zur Durchführung dieser sog. Direkten Methode in der Schule stehen der Lehrperson verschiedene Mittel zur Verfügung, in erster Linie die Anschauung“ (ebd.: 3). Um diesen Grundsatz im Lehrbuch einzuhalten, bettet Eberhard (1908) die Grammatikphänomene, die es zu bearbeiten gilt, in den Ausgangstexten ein. Im Gegensatz zu vorgängigen Lehrbüchern findet sich beispielsweise für die Konjugation des Verbs avoir im Präsens anstelle einer Tabelle ein erfundenes Gespräch, in dem das gesamte Paradigma vorkommt (vgl. Abb. 9). Damit die Lehrpersonen die Prämisse der Direkten Methode in ihrem Unterricht befolgen, spricht Eberhard (1908) im Vorwort zu seinem Lehrbuch Empfehlungen zur Anschauung aus. Er erklärt u.a., wie eine Lektion abläuft, die auf Mündlichkeit ausgerichtet ist:

[45][Der Lehrer] spricht, bei geschlossenem Buche, langsam und mit schöner Aussprache Satz um Satz eines Abschnittchens vor, indem er, wenn nötig, die dazu gehörige Handbewegung damit verbindet. Die Schüler wiederholen die Sätze, zuerst einzeln, dann im Zusammenhang, worauf die ganze Klasse den Abschnitt im Chor hersagt. Hernach wird zum folgenden Abschnittchen übergegangen und die ganze Lektion auf diese Weise gründlich und unermüdlich durchgesprochen. Erst jetzt darf das Buch geöffnet werden: das Lesen ist nun eine leichte und angenehme Beschäftigung, indem das Kind den fremden Laut unmittelbar, ohne Übersetzung, aufnimmt, ähnlich wie es seine Muttersprache zu erfassen gewohnt ist (ebd.: 6).

Das Zeigen auf Bilder oder Gegenstände, das Zeichnen an die Wandtafel oder auch das Ausführen von Handbewegungen seien ebenfalls wichtige Mittel, die die Lehrpersonen zur Anschauung nutzen könnten (vgl. ebd.: 3). Im Lehrbuch „Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles“ (ebd.) wird so das Einüben der geschriebenen Sprache zugunsten der gesprochenen Sprache hinausgezögert. Dies erinnert an den Paradigmenwechsel der Audiolingualen Methode, der jedoch erst fünfzig Jahre später stattfindet und in dem essentiell ist, „daß die Sprachaufnahme rein oral erfolgt […], daß anschließend hörend-sprechend umfangreich und immer wieder geübt wird und daß die Schrift erst dann genutzt wird, wenn sie nicht mehr negativ interferiert, d.h., wenn die Hör- und Sprechgewohnheiten gefestigt sind“ (Christ 2020: 196). Eberhard (1908) formuliert im Vorwort zu seinem Lehrbuch also Prinzipien, die sich erst in den 1960er Jahren durchsetzen. Nach der Anschauung wird eine Verbindung mit Bewegungen hergestellt, die nicht nur von der Lehrperson vollzogen wird, sondern auch von den Schülerinnen und Schülern (vgl. Eberhard 1908: 3–4; 7). Die Bewegungen münden in kleinen Inszenierungen der Gespräche, was die Kinder laut dem Autor sehr gerne machen würden:

Aber am glücklichsten ist [das Kind], wenn es als kleiner Schauspieler vor die Klasse treten darf in der Rolle eines Krämers, eines Bäckers, Schneiders oder gar eines Doktors. Dann entspricht der Unterricht auch ganz seiner Natur, die ihm nicht gestattet, beständig ruhig dazusitzen, sondern die tätig sein und handelnd zugreifen will (ebd.: 3–4).

Eberhard (1908) verwendet für die Direkte Methode auch den Begriff der Anschauungsmethode. Der Begriff der Anschauung erinnert neben den didaktischen Hilfestellungen für die Lehrpersonen auch an die Erziehungsmethode von Pestalozzi. Nach Pestalozzi (1922, nach der letzten Ausgabe vom Jahre 1821) ist Sprache ohne Anschauung nicht denkbar und umgekehrt die Anschauung in der Natur ohne Sprache nicht fruchtbar. Die Reformpädagogik führt in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz gegen 1900 in den Schulsprachenfächern Deutsch resp. Französisch zu tiefgreifenden Veränderungen:

[46]Das schulische Wissen und seine Ordnung, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet und etabliert hat, wird unter der Perspektive der Individualisierung, der SchülerInnenaktivität und der Kindzentrierung infrage gestellt. Pädologie und Psychologie sind Referenzen, um diese Entwicklung auch wissenschaftlich zu legitimieren. Allerdings werden in dieser Phase weniger inhaltliche Umstrukturierungen des Faches angestrebt, sondern vielmehr Veränderungen in den Unterrichtsmethoden (Schneuwly et al. 2016: 9).

Eberhard (1908) erwähnt zwar weder die Reformpädagogik noch Pestalozzi im Vorwort zu seinem Lehrbuch, aber er grenzt sich explizit gegen die Grammatik-Übersetzungs-Methode im Fremdsprachenunterricht ab und stützt seine Argumentation dabei ebenfalls auf die Individualisierung, die Aktivierung der Schülerinnen und Schüler und die Lernendenorientierung. Er vertritt die Meinung, dass „die geistige Tätigkeit des Kindes […] nach unserer Methode in ganz anderer Weise in Anspruch genommen [wird], als bei der Anwendung des gewöhnlichen Grammatik- und Übersetzungsverfahren“ (Eberhard 1908: 10):

Bisher hatte [das Kind] beständig nur Gedanken anderer überzutragen oder, vermittelst des bekannten Frage- und Antwortspiels, den Inhalt eines behandelten Lesestückes wiederzugeben. Unser Unterricht dagegen kommt in weitgehender Weise seinem Bedürfnisse entgegen, selbst etwas zu tun und zu gestalten. Das erfreut und belebt die geistige Kraft des Kindes ganz anders, als die beständige Reproduktion, und gestattet zugleich, dass sich der Unterricht in natürlicher Weise seinen Fähigkeiten und sogar seiner kleinen Welt- und Lebensanschauung anzupassen vermag (ebd.).

In engem Zusammenhang zur Lernendenorientierung steht die Differenzierung. Auch darauf geht Eberhard (1908) in seinem Vorwort ein:

Auch die schwächern Schüler kommen jetzt zu ihrem Rechte, indem jeder nach seiner Art etwas leisten kann, sobald nur der Lehrer Mut und Vertrauen in ihnen zu erwecken versteht. Andererseits sieht der intelligentere Teil der Klasse ein weites Arbeitsfeld vor sich, wo sich die Kräfte in freien Wetteifer miteinander messen können – aus der bisher vielleicht langweiligen und geistlosen Französischstunde wird jetzt eine der schönsten und lebensvollsten Stunden des ganzen Unterrichts (ebd.: 10).

Die Differenzierung zeigt sich in den Sprechübungen dadurch, dass die Interaktionsformen ausgeweitet werden: In „Je parle français. Conversations et lectures françaises à l’usage des écoles“ (Eberhard 1908) sind systematisch Interaktionen zwischen den Schülerinnen und Schülern vorgesehen. Sie können wie die Lehrperson füreinander sprachliches Vorbild sein, sie können sich gegenseitig unterstützen oder korrigieren. Eberhard (1908) empfiehlt, dass die lernstärkeren Schülerinnen und Schüler Verantwortung für ihre Gruppe über[47]nehmen (ebd. 7). Auch in diesem Bereich kann Eberhard (1908) eine Vorreiterrolle zugestanden werden: Die Konzepte der Lernendenorientierung und der Differenzierung werden in den Französischlehrwerken der Schweiz in dieser Konsistenz erst hundert Jahre später in der Neokommunikativen Phase umgesetzt (vgl. Ganguillet et al. 2014a).

2.3.3Kommunikative Methode

Wie im vorangehenden Kapitel aufgezeigt, wird das Primat der Mündlichkeit bis in die 1950er Jahre in den obligatorischen Französischlehrwerken für die Schweizer Volksschule nicht konsequent umgesetzt. Allgemein kann „von einer Orientierung zur Mündlichkeit im schulischen Fremdsprachenunterricht erst viel später, mit der Einführung der audiolingualen Methode in den 1960er Jahren [gesprochen werden]“ (Gnutzmann 2014: 51). An der Schweizer Volksschule gibt es jedoch kein obligatorisches Lehrwerk, das die audiolinguale Methode umsetzt und die Orientierung zur Mündlichkeit erfolgt deshalb erst mit dem Erscheinen des Lehrwerks „Bonne chance!“ (Binder et al. 1981a). Dieses Lehrwerk wird für das erste Lernjahr in der Primarstufe entwickelt, d.h. für die 5. Klasse, in der die Lernenden elf Jahre alt sind:

Abb. 12: ebd.: 101

[48]Abb. 13: ebd.: 102

[49]Abb. 14: ebd.: 109

Die drei Abbildungen (Abb. 12, 13, 14) aus „Bonne chance!“ (Binder et al. 1981a) zeigen den Aufbau, der den 16 „Étapes“ des Schülerbuchs zugrunde liegt: Zuerst werden die neuen Wörter ohne Buch eingeführt (Abb. 12), dann wird ein Hörtext gehört, imitativ gelesen und als Rollenspiel umgesetzt (Abb. 13) und schliesslich erfolgt die Transferleistung, in der die Schülerinnen und Schüler die geübten Strukturen frei in neuen Situationen und Zusammenhängen verwenden sollen (Abb. 14). Jede „Étape“ bedient unterschiedliche Sprechakte. Für die „Étape 13“, aus der die Beispiele stammen, sind dies Exprimer ses préférences et ses aversions / Demander un article à un vendeur / [50]Demander au client ce qu’il désire / Indiquer le prix (Binder et al. 1981b : 8). Das Ausweisen der Sprechakte geht auf einen erneuten Paradigmenwechsel zurück, der mit dem Aufkommen der Pragmalinguistik erfolgt. Die Pragmalinguistik rückt

mit den Konstrukten des Sprechakts und der sprachlichen Handlung die funktionale Seite von Äußerungen in den Mittelpunkt des Fremdsprachenunterrichts […], sodass es mit der kommunikativen Wende zu einer Neuausrichtung der Lernprogression an Mitteilungsabsichten kommt (Schramm 2014: 215).

Mit dem Werk Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht (Piepho 1974) wird der Grundstein für eine Neuorientierung gelegt und fortan besteht das Ziel von Sprechen nicht mehr ausschliesslich darin, zusammen zu sprechen, sondern es soll gemeinsam kommuniziert werden (vgl.u.a. Allwright 1984: 196; Königs 2014: 109). Die Kommunikationsfähigkeit steht in „Bonne chance!“ (Binder et al. 1981a) im Zentrum, so dass es im Beiheft für die Lehrpersonen unter Grundlagen und Absichten