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Entgegen der weitverbreiteten Forschungsmeinung, die von einem Rückgang der Gewalt in europäischen Gesellschaften im 18. Jahrhundert ausgeht, ist für Lancashire in England während dieser Zeit ein deutlicher Anstieg von Tötungsraten festzustellen. Die Fallstudie untersucht anhand von Tötungsdelikten die Auswirkungen von Frühindustrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum auf das Auftreten von gewaltsamen Auseinandersetzungen und ordnet gängige Fortschrittsnarrative kritisch ein. Methodisch verbindet das Buch dazu einen sozialgeschichtlich-quantitativen mit einem kulturgeschichtlich-qualitativen Zugriff auf die Akten der Strafjustiz und wirft im Ergebnis ein neues Licht auf das Verhältnis von Gewalt und gesellschaftlichem Wandel in dieser wichtigen Transformationsphase am Übergang zur Moderne.
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[2]Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Herausgegeben von Carola Dietze · Joachim Eibach · Mark HäberleinGabriele Lingelbach · Ulrike Ludwig · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff
Band 42
Wissenschaftlicher Beirat: Norbert Finzsch · Iris GareisSilke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt
[4]Umschlagabbildung: George Beattie: John O’ Arnha’: to which are Added The Murderit Mynstrell, and Other Poems, 5. Aufl., John Smith 1826, Frontispiz.
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Oestreich-Stiftung und der Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster.
Zugl.: Dresden, Univ., Diss. 2021 unter dem Titel: Töten im Wandel. Gewalt und sozioökonomische Transformationsprozesse in Lancashire, 1730–1830.
DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783739882253
© 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
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Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
ISSN 1437-6083ISBN 978-3-7398-8225-3 (ePDF)ISBN 978-3-7398-0635-8 (ePub)
Vorwort
I
Einleitung
1
Problem- und Fragestellung
2
Gewalt als Untersuchungsgegenstand
3
Quellen und Methodik
3.1
Quellen
3.1.1
Minute Books
3.1.2
Coroners’ Inquisitions
3.1.3
Depositions
3.2
Methodik
4
Historischer Kontext: Lancashire im 18. und frühen 19. Jahrhundert
II
Makroebene: Ein Blick auf die Zahlen
1
Methodische Vorbemerkungen und Sample
1.1
Quellenkritische Überlegungen
1.2
Sample
1.3
Bevölkerungszahlen
2
Tötungsraten
2.1
Entwicklung der Tötungsraten
2.2
Kriege als Einflussfaktoren
2.3
Tötungsraten im Vergleich
2.4
Ausblick bis 1847
3
Anklagen, Urteile und Strafen
3.1
Anklagen
3.2
Urteile und Strafen
4
Sozialprofile
4.1
Geschlechterverhältnisse
4.1.1
Angeklagte und Opfer
4.1.2
Dominanz der Männer
4.1.3
Frauen, Kindstötungen und Rollenbilder
4.2
Beruf und Stand
4.2.1
Frauen
4.2.2
Männer
4.2.3
Rückzug der Eliten?
4.3
Bevölkerungsstruktur
4.3.1
Altersstruktur
4.3.2
Migration
5
Geographie der Tötungen
5.1
Geographische Verteilung in Lancashire
5.2
Urbaner und ländlicher Raum
6
Zwischenfazit
III
Mikroebene: Gewalt im Kontext
1
Methodische Vorbemerkungen und Sample
2
Sexualisierte Gewalt
3
Räuberische Gewalt
4
Streitbezogene Gewalt
4.1
Männliche Ehre und Gewalt
4.1.1
Ehrkonflikte 1728–1770
4.1.2
Wandel im langen 18. Jahrhundert?
4.2
Räumliche Kontexte
4.2.1
Gewalt in Wohnhäusern
4.2.2
Public Houses
4.2.3
Konfliktaustrag auf der Straße
4.3
Struktureller Wandel und neue Konfliktpotenziale
4.3.1
Soziale Missstände und Proteste
4.3.2
Knappes Geld und schlechte Wohnverhältnisse
4.3.3
Arbeit und neue Routinen
4.4
Zusammenfassung
5
Gewaltpraktiken und Konfliktaustrag
5.1
Duelle
5.2
Faustkämpfe
5.3
Tötungsmethoden und Einsatz von Waffen
6
Schlichtungsversuche und Problematisierung von Gewalt
IV
Ergebnisse
Anhang
Glossar
Tabellen und Karten
Rohdaten der quantitativen Quellenauswertung
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Quellenverzeichnis
The National Archives (TNA), Kew, London
Lancashire Archives (LancsA), Preston
Gedruckte Quellen
Literaturverzeichnis
In der Rückschau wird einem bewusst, wie viele Menschen auf die ein oder andere Art an einem Buch mitgewirkt haben, auf dem letztlich doch nur ein Name steht. Bei all diesen Menschen möchte ich mich bedanken.
Zunächst gilt mein Dank Gerd Schwerhoff, der nicht nur meine Promotion betreut, sondern bereits früh im Studium meine Faszination für die Frühe Neuzeit geweckt und mich auf dem Weg bis zum Abschluss der Promotion begleitet hat. Ohne seine vielseitige Unterstützung und sein Vertrauen wäre das nicht möglich gewesen. Ich danke zudem Beat Kümin für das Zweitgutachten und für anregende Gespräche während meiner Zeit an der University of Warwick.
Danken möchte ich auch meinen Dresdner Kolleg:innen Alex Kästner, Franziska Neumann, Jan Siegemund, Maximilian Rose, Matthias Bähr, Wiebke Voigt, Sebastian Frenzel und Stefan Beckert für gewinnbringende Diskussionen, kritische Anmerkungen, genaues Korrekturlesen, aber vor allem auch für gesellige Runden und ihren wichtigen Beitrag zu der Erfahrung, dass es viel Spaß machen kann, sich mit frühneuzeitlicher Geschichte zu beschäftigen. Maike Ludley danke ich für Teerunden und das Teilen ihres Büros. Bei der Überarbeitung des Manuskripts haben mir besonders Kommentare und Hinweise von Ulrike Ludwig und Vera Teske geholfen. Ihnen sei ebenfalls gedankt.
Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2021 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet. Ermöglicht wurde die Promotion durch die finanzielle Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Graduiertenakademie der TU Dresden. Ihnen bin ich ebenso zu Dank verpflichtet wie der Oestreich-Stiftung und der Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit von Ulrike Ludwig an der Universität Münster für ihre Hilfe zur Finanzierung der Druckkosten. Den Herausgeber:innen der Reihe danke ich für die Aufnahme dieses Buchs und Stefan Selbmann für die sehr gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung.
Besonderer Dank gilt Maria für lange Spaziergänge und Kaffeerunden, Johanna D. für Küchengespräche über ‚Gott und die Welt‘, Johanna H. für Abende bei Wein und kulturelle Bereicherungen und Johanna J. für Zuhören und Dasein. Zuletzt möchte ich meiner Familie und ganz besonders meinen Eltern und Geschwistern danken, die mich jederzeit darin bestärkt haben, meinen Weg zu gehen, diesen begleiteten und gerade auch in schwierigen [10]Zeiten ein Halt für mich waren. Danke für eure fortwährende Unterstützung und die Geduld, mit der ihr euch immer wieder Geschichten über Gewalt und die Tücken des Wissenschaftsbetriebs angehört habt. Euch ist dieses Buch gewidmet.
Münster, Oktober 2023
Mit der Frage nach dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels auf interpersonelle Gewalt ist ein Untersuchungsfeld abgesteckt, das die Geschichts- und Sozialwissenschaften seit langer Zeit beschäftigt. Dass Gewalt ein zentrales Element bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit sozioökonomischen Transformationsprozessen darstellt, ist nicht überraschend, nimmt sie doch als „konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens“, wie sie die neue Gewaltsoziologie beschreibt, eine wichtige Rolle „in der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung“ ein.1
Zu den Auswirkungen des Aufbrechens sozialer Ordnungen und traditioneller Normsysteme auf Gewalthandeln existieren zahlreiche Erklärungsansätze, Interpretationen und eine unüberschaubare Menge an Publikationen. Bereits die frühe Soziologie beschäftigte sich mit dem Einfluss sozioökonomischer Transformationsprozesse auf (Gewalt-)Kriminalität, die im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung vor allem in Großstädten, den Kristallisationspunkten des Wandels, zugenommen hätte.2 Mithilfe neuer sozialwissenschaftlicher Methoden und der elektronischen Datenverarbeitung konnten dann ab den 1970er Jahren größere Datenmengen analysiert und damit langfristige Entwicklungen besser untersucht werden. In verschiedenen Studien wurde so festgestellt, dass Urbanisierung und Industrialisierung gerade nicht zwangsläufig zu mehr Gewalt in den Städten geführt hätten, sondern Gewaltkriminalität vielmehr insgesamt zurückging und stattdessen Eigentumsdelikte einen immer größeren Anteil der Kriminalität ausmachten. Die von diesen Ergebnissen abgeleitete und auf modernisierungstheoretischen Ansätzen beruhende violence-au-vol-These geht davon aus, dass die Veränderung der Kriminalitätsmuster auf einen Wertewandel innerhalb der sozialen Systeme schließen lässt. Materielle Güter hätten im Zuge der Entstehung moderner Industriegesellschaften an Bedeutung gewonnen, was wiederum zu einer verstärkten Kriminalisierung und Verfolgung von Eigentumsdelikten führte.3
Diese These wurde aufgrund teils gravierenden Probleme bei der Auswertung der empirischen Daten und ihrer Implikation einer linearen Entwick[14]lung kritisiert, aber auch mit neu erhobenen Daten versucht zu widerlegen.4 Die daraus hervorgegangenen empirischen Daten bildeten die Basis für eine Neuinterpretation, die Gewaltkriminalität nun isoliert betrachtete und die mit der Zivilisierungstheorie nach Elias5 eine neue theoretische Grundlage erhielt.6 Aufbauend auf der Beobachtung von sinkenden Tötungsraten, die man als Indikator für das Gewaltniveau von Gesellschaften in die Debatte einführte, wurde die These des Rückgangs von interpersoneller Gewalt auf die Zeit seit dem späten Mittelalter und auf weite Teile Europas ausgeweitet.7 Der Rückgang sei eingebettet gewesen in einen weitreichenderen Zivilisierungsprozess, der – ausgehend von den gesellschaftlichen Eliten – auch einen kulturellen Wandel umfasste und dazu führte, dass Gewalt immer stärker problematisiert, abgelehnt und als nicht länger akzeptierte Handlungsoption aus sozialen Interaktionen verdrängt wurde. Diese These erhielt sehr viel Aufmerksamkeit und Zuspruch, gerade auch in der nicht-akademischen Öffentlichkeit.8
In unterschiedlich starken Ausprägungen wird dabei das Bild eines ‚dunklen Mittelalters‘ bemüht, das als Hintergrundfolie dient, vor der die Moderne als friedliches Zeitalter erscheint. Dieses Narrativ lässt sich schon bei dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Ted Robert Gurr erkennen.9 Sein 1981 publizierter Text stellte einen wichtigen Startpunkt der Forschungsdebatte zu sinkenden Tötungsraten in England und darüber hinaus dar. Der Ausgangspunkt seines Textes war die Beobachtung eines Anstiegs schwerer Gewalt- und Eigentumskriminalität in den USA und vielen westeuropäischen Gesellschaften in den 1960/70er Jahren. Dieser Anstieg erschien durch einen Vergleich mit den vermeintlich um ein Vielfaches höher liegenden Tötungsraten in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften plötzlich deutlich weniger besorgniserregend. Daran zeigten sich, so Gurr, die Errungenschaften des Zivilisie[15]rungsprozesses gegenüber einer brutalen und von alltäglicher Gewalt geprägten Vormoderne: „Medieval Europeans were easily angered to the point of violence and enmeshed in a culture which accepted, even glorified, many forms of brutality and aggressive behavior.“10
Ein solch verkürzte Darstellung vormoderner Gesellschaften war nicht neu und findet sich etwa schon Anfang des 20. Jahrhunderts in den Werken Huizingas.11 Das Wiederaufkommen dieses Bildes, allen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, sei kein Zufall, so Carroll, und habe auch politische Gründe.12 Für ihn stellt das Narrativ des langfristigen Rückgangs der Gewalt eine Form von „comfort history“ dar, die – weitgehend losgelöst von gewissenhafter historischer Kontextualisierung – in erster Linie das Werk von Evolutionspsycholog:innen13 und Politikwissenschaftler:innen sei, die mit veralteten Vorstellungen von historischem Wandel operierten, um die Leser:innen in der Gewissheit zu wiegen, in der friedlichsten aller Zeiten zu leben.14
Ungeachtet der problematischen Quellenbasis, die die These vom langfristigen Rückgang der Gewalt nicht ausreichend zu stützen vermag sowie weiterer grundlegender Einwände,15 vermittelt diese „comfort history“ nicht nur ein falsches Bild früherer Gesellschaften, sondern sie hat auch schwerwiegende Folgen für die historische Gewaltforschung. Denn sie verstellt den Blick auf kleinteiligere Entwicklungen innerhalb konkreter historischer Kontexte, die jedoch essenziell für das Verständnis der Geschichte der Gewalt sind. Kürzere Zeitabschnitte gehen in der Großerzählung unter, werden zusammen mit ihren historischen Eigenheiten unsichtbar und gliedern sich in eine Jahrhunderte überspannende, wenn auch nicht lineare, so doch zumindest auf ein klares Ziel ausgerichtete Entwicklung ein. Gegenläufige Trends werden nicht [16]als eigenständige Phänomene untersucht, sondern zu kurzfristigen Anomalien degradiert.16
Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen der jüngeren historischen Gewaltforschung ist einer der Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit. Sie schließt dabei an bereits vorgebrachte Kritiken an17 und setzt sich zum Ziel, die Argumente anhand einer Fallstudie mit einem soliden empirischen Fundament zu untermauern. Gleichzeitig soll sie aufzeigen, dass es entscheidend ist, den spezifischen historischen Kontexten wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu wird das 18. und frühe 19. Jahrhundert in den Blick genommen – eine Zeitspanne, die als wichtige Transformationsphase in der Entwicklung interpersoneller Gewalt hin zu ihrem Platz in modernen (westlichen) Gesellschaften angesehen wird.
Als Untersuchungsgebiet wurde die im Nordwesten Englands liegende Grafschaft Lancashire ausgewählt, die in mehrfacher Hinsicht besonders gut geeignet ist. Für Lancashire ist mit den Akten des königlichen Gerichts in Lancaster (assizes) nicht nur ein außergewöhnlich guter Quellenbestand überliefert, sondern die Region nahm auch eine Vorreiterrolle in der Industrialisierung ein, sodass hier Transformationsprozesse frühzeitig und vehement einsetzten, die auf eine noch stark frühneuzeitlich organisierte Gesellschaft trafen. Eine Fallstudie Lancashires schafft außerdem ein Gegengewicht zur vornehmlich auf London und den Südwesten konzentrierten Gewaltforschung zu England.
Untersucht werden Tötungsdelikte, zu denen eine gute Basis aus seriell und dicht überlieferten Kriminalakten existiert. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1728 bis 1830. Der Anfangspunkt wird durch die erst dann in ausreichendem Maße einsetzende Quellenüberlieferung markiert, der Endpunkt befindet sich vor den Reformen in Strafrecht und Strafverfolgung in den 1830er Jahren. Insbesondere die schrittweise erfolgende Einführung moderner Polizeikräfte ab den 1830er Jahren hatte dann einen großen Einfluss auf die Strafverfolgung und das Aktenwesen.18 Vor allem für den quantifizierenden Teil der Arbeit ist aber entscheidend, dass Strafrecht und Strafverfolgung in Bezug auf Tötungsdelikte weitgehend konstant blieben.
[17]Trotz der guten Quellenlage ist Lancashires Kriminalitätsgeschichte für das 18. und frühe 19. Jahrhundert bisher wenig erforscht.19 Besser sieht es für das spätere 19. Jahrhundert aus, insbesondere für Manchester und Liverpool.20 Weitere Referenzpunkte liefern Studien zum benachbarten Cheshire.21 Es kann aber an die lange Tradition der englischen Kriminalitätsgeschichte und die in den letzten Jahrzehnten sehr produktive historische Gewaltforschung zu England angeknüpft werden.22 Hervorzuheben sind die Langzeitstudie von Cockburn zu Kent, die Untersuchung zu Surrey und Sussex von Beattie sowie der umfassende Überblick zur Geschichte der Gewalt in England von Sharpe.23
Lancashire entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert von einem hauptsächlich agrarisch geprägten Gebiet in der Peripherie Englands zum nach London wichtigsten wirtschaftlichen Zentrum. Diese Veränderungen stellten die Menschen vor große Herausforderungen, wirkten sich unmittelbar auf ihre Lebensweisen aus und führten schließlich dazu, dass mit der Industriegesellschaft eine neue soziale Ordnung entstand. Innerhalb dieses historischen Rahmens lassen sich die Fragestellungen konkretisieren: Welche Veränderungen – und welche Kontinuitäten – lassen sich in Lancashire hinsichtlich interpersoneller Gewalt feststellen und ist ein Zusammenhang mit dem strukturellen, sozioökonomischen Wandel auszumachen? In welche Kontexte war Gewalt jeweils eingebettet und kam es im Untersuchungszeitraum zu einer Zu- oder einer Abnahme von Gewalthandlungen? Inwiefern änderten sich Gewaltpraktiken sowie die zeitgenössische Wahrnehmung und Bewertung von Gewalt?
Der Untersuchungszeitraum wird in der Forschung häufig durch zwei Hauptthesen charakterisiert. Erstens sei es zu einem allgemeinen Rückgang von schwerer physischer Gewalt gekommen, was vor allem an sinkenden Tötungsraten festgemacht wird. Zweitens sei dieser Rückgang in erster Linie [18]auf die Abnahme von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Männern im öffentlichen Raum zurückzuführen, insbesondere innerhalb der gesellschaftlichen Eliten. Hier hätten sich neue Ehr- und Maskulinitätsvorstellungen durchgesetzt, weshalb sich die Eliten veränderte Verhaltensnormen aneigneten und zunehmend vom Einsatz von Gewalt in Konfliktsituationen Abstand nahmen. Dieser kulturelle Wandel weitete sich nach und nach auch auf die mittleren Schichten aus, wodurch es zu einer Marginalisierung von Gewalt kam, die zunehmend nur noch von Menschen der Rand- und unteren sozialen Schichten eingesetzt wurde.24 Lancashire scheint sich diesem Trend allerdings widersetzt zu haben. Hier kam es – so viel sei verraten – zu einem deutlichen Anstieg tödlicher Gewalt im 18. und frühen 19. Jahrhundert, obwohl in Lancashire ‚Modernisierungsprozesse‘ wie Industrialisierung und Urbanisierung frühzeitig stattfanden und diese Regionen als Vorreiter beim Rückgang der Gewalt gelten.25 Diese Ansicht erhielt in jüngerer Zeit bereits durch die Studien Kings erste Risse. Er stellte besonders in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts gerade in denjenigen Teilen Englands und Schottland steigende Tötungsraten fest, deren Industrialisierungs- und Urbanisierungsgrad am höchsten war.26 Obwohl der Zusammenhang zwischen den Wandlungsprozessen und steigenden Tötungsraten bei King diffus bleibt, stellt seine Arbeit wichtige Anknüpfungspunkte für den vorliegenden Text bereit, um dieser Thematik näher auf den Grund zu gehen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt damit gleich mehrere Anliegen: Sie nutzt Gewalt als Analysekategorie, um Aspekte des menschlichen Zusammenlebens in Zeiten tief greifender struktureller Veränderungen und beschleunigten Wandels zu untersuchen. Zudem möchte sie einen Beitrag zur Geschichte interpersoneller Gewalt leisten, indem sie einen Zeitabschnitt in den Blick nimmt, der zwar immer wieder als wichtige Phase der Veränderungen markiert wurde, für den aber noch viele Fragen ungeklärt sind. Schließlich soll sie neue regionalgeschichtliche Erkenntnisse präsentieren, denn der Untersuchungszeitraum ist aus kriminalitätshistorischer Perspektive für Lancashire noch [19]wenig erforscht und die regionale Perspektive als Ergänzung zu nationalen Betrachtungen notwendig und gewinnbringend.27
Koloma Beck, Gewalt, 432.
Vgl. für eine Übersicht über die Erklärungsangebote und für weiterführende Literaturhinweise: Johnson, Urbanization and Crime, 8–12.
Exemplarisch seien hier nur zwei der bedeutsamsten Veröffentlichung genannt: Zehr, Crime and the Development of Modern Society; Shelley, Crime and Modernization.
Beispielsweise durch: Johnson, Urbanization and Crime; vgl. allgemein dazu: Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung, 115–118; Knepper, Writing the History of Crime, 41–43; siehe zur Kritik an der statistischen Datenauswertung bes.: Thome, Gesellschaftliche Modernisierung.
Elias, Prozess der Zivilisation.
Programmatisch: Johnson/Monkkonen (Hrsg.), The Civilization of Crime; aktuell dazu: Rousseaux/Verreycken, Civilising Process.
Zuerst: Gurr, Historical Trends; Stone, Interpersonal Violence.
Besonders bekannt wurde Pinker, Better Angels, nicht zuletzt durch die öffentlichkeitswirksamen Leseempfehlungen von Bill Gates und Mark Zuckerberg; ebenfalls große Reichweite hatten: Spierenburg, History of Murder; Muchembled, A History of Violence; vgl. auch: Eisner, Long-Term Historical Trends; Eisner, From Swords to Words; Spierenburg, Violence and the Civilizing Process; Spierenburg, Men Fighting Men.
Er arbeitete u.a. in der von Präsident Johnson 1968 einberufenen „National Commission on the Causes and Prevention of Violence“, die sich mit der zu dieser Zeit verstärkt als Problem empfundenen Gewaltkriminalität in den USA beschäftigte.
Gurr, Historical Trends, 342.
„Es ist eine böse Welt. Das Feuer des Hasses und der Gewalt lodert hoch empor, das Unrecht ist mächtig, der Teufel bedeckt mit seinen schwarzen Fittichen eine düstere Erde.“ Huizinga, Herbst des Mittelalters, 35.
Carroll sieht eine Verbindung zwischen der Wiederentdeckung der „Zivilisation“ als analytischer Kategorie und neo-liberaler Politik, deren Positionen von diesem Großnarrativ gestützt werden: „The new orthodoxy both reassures its audience and conveys the message that the ‚present peace‘ is a triumph that requires defending.“ Carroll, Thinking With Violence, 39; vgl. auch: Carroll, Violence, 33.
In diesem Buch wird versucht, gendersensible Sprache zu verwenden. Dies bietet zugleich einen analytischen Mehrwert, da durch die Verwendung des Doppelpunkts bzw. spezifisch weiblicher oder männlicher Formen die geschlechtsbezogene Unklarheit des generischen Maskulinums vermieden werden kann.
Carroll, Thinking With Violence, 24 f.
Vgl. Schwerhoff u.a., Hard Numbers; speziell zu England: Seebröker, Lethal Violence.
Das betrifft nicht nur das 18. Jahrhundert, sondern beispielsweise auch die Entwicklungen in England im 16. und 17. Jahrhundert; vgl. Carroll, Violence, 661 f.
Speziell mit dem einflussreichen Buch von Steven Pinker setzen sich auseinander: Dwyer/Micale (Hrsg.), On Violence; Dwyer/Micale (Hrsg.), Darker Angels; zu Kritik aus globalgeschichtlicher Perspektive vgl.: Charters/Houllemare/Wilson (Hrsg.), Global History; Kivivuori u.a., Nordic Homicide betont die Bedeutung von regionalen sowie zeitlichen Kontexten und weist damit eine ähnliche Stoßrichtung auf wie die vorliegende Untersuchung.
Vgl. Archer, Mysterious and Suspicious Deaths; Taylor, Rationing Crime.
Einige Arbeiten stützen sich jedoch auf Quellenmaterial aus Lancashire: King, War as a Judicial Resource; Walliss, Bloody Code; Lockwood, Conquest of Death.
Siehe etwa: D’Cruze, Sex, Violence and Local Courts; Archer, Poaching Gangs; Archer, Mysterious and Suspicious Deaths; Davies, Youth Gangs; Davies, These Viragoes; Macilwee, Liverpool Underworld; Alker, Street Violence.
Walker, Crime, Gender and Social Order; Sharpe/Dickinson, Infanticide in Early Modern England; Sharpe/Dickinson, Coroners’ Inquests; Sharpe/Dickinson, Revisiting the „Violence We Have Lost“; Sharpe/Dickinson, Homicide in Eighteenth-Century Cheshire; Walliss, Crime and Justice.
Exemplarisch: Sharpe, Crime in Early Modern England; Wiener, Men of Blood; Wood, Violence and Crime; Emsley, Hard Men; King, Crime and Law in England; Hitchcock/Shoemaker, London Lives; Gray, Crime, Policing and Punishment.
Cockburn, Patterns of Violence; Beattie, Crime and the Courts; Sharpe, Fiery & Furious People.
Shoemaker, Decline of Public Insult; Shoemaker, Male Honour; Shoemaker, Taming of the Duel; weiterhin unverzichtbar: Beattie, Crime and the Courts; vgl. auch: Carroll, Introduction; Cockburn, Patterns of Violence; King, Punishing Assault; King, Crime and Law in England, 255–278; Sharpe/Dickinson, Homicide in Eighteenth-Century Cheshire; für das 19. Jahrhundert: Wood, Violence and Crime; Wiener, Men of Blood.
Eisner, Long-Term Historical Trends, 103–106; vgl. allgemein zur historischen Forschung über das Verhältnis von Städten und Kriminalität in dieser Phase: Knepper, Writing the History of Crime, 115–144.
King, Impact of Urbanization; King, Urbanization.
Vgl. den einflussreichen Essay von: Marshall, Tyranny of the Discrete.
Die Forschung zu Gewalt in der Frühen Neuzeit ist mittlerweile ein breit aufgefächertes und kaum noch zu überblickendes Feld,28 in dem sich auch einige der aktuell diskutierten themenübergreifenden Ansätze der Geschichtswissenschaft wiederfinden, etwa die Globalgeschichte29 oder die Emotionsgeschichte.30 Auch Versuche zur Integration evolutionspsychologischer Erkenntnisse, die vor allem zur Erklärung der Geschlechterunterschiede und des für viele gesichert scheinenden langfristigen Rückgangs von Gewalt herangezogen werden, finden sich in der Gewaltforschung wieder,31 der Nutzen dieses Ansatzes für die Geschichtswissenschaft wird allerdings kontrovers diskutiert.32
Ganz allgemein liegt der historischen Gewaltforschung die Annahme zugrunde, dass Gewalt eine soziale Praxis ist, die verschiedensten kulturellen Einflüssen ausgesetzt, veränderbar und damit historisierbar ist.33 So geht auch die neue, maßgeblich von Popitz und von Trotha beeinflusste Gewaltsoziologie davon aus, dass Gewalt ein elementarer Bestandteil jeder sozialen Ordnung ist.34 In den Sozialwissenschaften und besonders in der Kriminologie wurde Gewalt lange vor allem als ein Problem menschlichen Zusammenlebens angesehen, dessen Ursachen verstanden werden müssen, um sie so weit wie möglich zu begrenzen und zu verhindern.35 Eng damit verknüpft ist die Vorstellung, dass Gewalt instrumentell zu verstehen ist, als Mittel zum Zweck und als Ergebnis einer Auswahlentscheidung aus dem Angebot verschiedener [21]Handlungsoptionen.36 Dies vernachlässigt allerdings diejenige Dimension von Gewalt, die Reemtsma als „existenzielles Moment“ beschreibt. Diese Dimension sei Bestandteil einer jeden Gewalthandlung, sodass Gewalt niemals rein instrumentell sein könne.37 Auch emotionssoziologisch-interaktionistische Theorieansätze widersprechen der Vorstellung, dass Gewalt das Ergebnis von rationalen Entscheidungsprozessen ist, und betonen stattdessen die Bedeutung von gewalthemmenden Emotionen (confrontational tension und fear), die jeweils situativ überwunden werden müssen.38 Schließlich verweist die neue Gewaltsoziologie darauf, dass Gewalt keineswegs nur eine störende, sondern auch eine ordnungsstiftende und ordnungserhaltende Funktion hat. Dies wird nicht nur am Einsatz von Gewalt durch Obrigkeiten, etwa in Form von Strafen, deutlich, sondern zeigt sich auch bei Züchtigungen im Kontext von Familie und Haushalt. Ebenso können gewaltsame Reaktionen auf Provokationen und Beleidigungen als eine Form sozialer Kontrolle angesehen werden, die das Ziel hat, ein Fehlverhalten mittels Gewalt zu sanktionieren. Weder diese Feststellung noch die Einsicht, dass Gewalt eine soziale Bedeutung hat und nicht als ein bloßes Problem menschlichen Zusammenlebens angesehen werden darf, sind für kulturwissenschaftlich argumentierende Historiker:innen neu.39
Es bleibt jedoch eine Herausforderung, gegen die weitverbreitete Annahme zu argumentieren, dass Gewalt ein „Modernisierungsdefizit“ darstelle und ihre Kontrolle (im Sinne einer Eingrenzung) ein Merkmal sei, dass moderne von vormodernen Gesellschaften unterscheide.40 Zwar ist Gewalt eine Handlungsoption, auf die jeder Mensch zu jeder Zeit zurückgreifen kann,41 sie ist aber kein Anzeichen einer dysfunktionalen Gesellschaft und ihr Auftreten auch nicht per se problematisch für menschliches Zusammenleben. Vielmehr ist auch Gewaltkontrolle – in unterschiedlichen Formen – Teil einer jeden sozialen Ordnung. Der Einsatz der „Jedermanns-Ressource“ Gewalt wird so an Regeln geknüpft und legitime von illegitimer Gewalt unterschieden.42
Bricht eine soziale Ordnung auf, und mit ihr das System der Gewaltkontrolle, muss auch der Umgang mit Gewalt neu ausgehandelt werden. Auf diesen [22]Umstand zielt Carroll ab, wenn er davon spricht, dass ein Anstieg an Gewalt ein Indikator für sozialen Wandel sein kann.43 Unter den neuen Bedingungen einer veränderten sozialen Ordnung sind die traditionellen Formen der (obrigkeitlichen oder sozialen) Gewaltkontrolle mitunter nicht mehr in gleicher Weise wie zuvor wirksam, sondern müssen ebenfalls angepasst werden, sodass es in einer Phase der Transition zu einer Zunahme von Gewalt kommen kann. Es ist zu untersuchen, ob dieser Erklärungsansatz für die Entwicklung in Lancashire fruchtbar gemacht werden kann.
Die Arbeit beschränkt sich dabei auf physische Gewalt, genauer: auf Tötungen. Diese Entscheidung mag in Anbetracht der anhaltenden Diskussionen zu den verschiedenen Formen eines sehr weit gefassten Gewaltbegriffs (verbale, psychische, symbolische Gewalt) überraschen, sie hat aber gewichtige Gründe. Erstens prägt physische Gewalt das Denken und Sprechen über Gewalt und Gewalterfahrungen, sodass ihr zuweilen sogar ein Primat gegenüber anderen Formen der Gewalt zugesprochen wird.44 Auch Koloma Beck betont als Vertreterin der neuen Gewaltsoziologie die körperliche Dimension von Gewalthandlungen, die in den Sozialwissenschaften bisher zu kurz gekommen sei.45
Für eine historische Untersuchung ergeben sich, zweitens, auf der Ebene der Quellen und der Methodik stichhaltige Argumente für eine Engführung auf physische Gewalt und insbesondere Tötungen. Die seit Langem vorgebrachte Ansicht, dass Tötungen kontinuierlich kriminalisiert worden sind, sie vergleichsweise schwer zu vertuschen waren und konsequent verfolgt wurden, wodurch die Dunkelziffer entsprechend niedrig war, ist zwar nur mit Einschränkungen gültig, wie zur Genüge diskutiert worden ist.46 Ganz von der Hand zu weisen sind diese Punkte jedoch nicht, vor allem im Vergleich zu anderen Gewaltdelikten, die in der Regel deutlich schlechter dokumentiert sind. Da Tötungsdelikte in den Akten entweder als manslaughter oder murder auftauchen, ist zudem das Sample klar abgrenzbar, was quantifizierende Langzeituntersuchungen erleichtert. Für die Quellen aus Lancashire gilt außerdem, dass verschriftlichte Befragungen von Zeug:innen (depositions) nur für Straftaten überliefert sind, die vor den assizes verhandelt wurden, was im Fall von Gewaltkriminalität nahezu ausschließlich Tötungen waren. Für weniger [23]schwere Delikte fehlen also vielfach Informationen zum Hergang und zu den Kontexten der Gewalttaten, die für qualitative Analysen unverzichtbar sind. Das Gleiche gilt für symbolische und psychische Gewalt, zu denen für die Frühe Neuzeit kaum Quellen verfügbar sind, da sie nicht kriminalisiert und somit strafrechtlich nicht relevant waren.
Drittens galt es, das Quellenmaterial einzugrenzen, da bei der hohen Zahl an Tötungen innerhalb des Untersuchungszeitraums eine Ausdehnung der Quellenanalyse auf weitere Gewaltdelikte im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten gewesen wäre. Dass tödliche Gewalt für die Frühe Neuzeit von allen Gewaltformen wahrscheinlich am besten untersucht ist, bietet außerdem Vorteile für eine so umfangreiche Fragestellung, wie sie hier verfolgt wird, denn dadurch ergeben sich viele Referenzpunkte für Vergleiche, Einordnung und Reflexion der Ergebnisse.
Es dürfte unumstritten sein, dass Tötungen nicht repräsentativ für alle Formen physischer Gewalt waren – weder quantitativ (als im Verhältnis zum Rest eindeutig und zahlenmäßig definierbare Spitze des Eisbergs) noch qualitativ (da sich die Kontexte und Formen von verschiedenen Gewalthandlungen stark unterscheiden konnten). Meistens waren Tötungen aber auch nicht das Ziel der Gewaltausübenden, sondern ungewollte Folgen von Auseinandersetzungen, in denen Gewalt eingesetzt wurde. Die Opfer der gewaltsamen Konflikte kamen nur selten unmittelbar im Kampf zu Tode, sondern starben in der Regel an ihren Verletzungen, bedingt durch die mangelhafte medizinische Versorgung. Insofern verweisen Tötungen auf die viel zahlreicheren Auseinandersetzungen, die zwar ebenfalls gewaltsam ausgetragen wurden, aber nicht tödlich endeten.47 Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich Konflikte mit tödlichem Ausgang grundsätzlich von denjenigen ohne Todesfolge unterschieden.48 Die im Folgenden erarbeiteten Aussagen zu Tötungen können also – in Grenzen – allgemeinere Gültigkeit für physische Gewalt in Lancashire beanspruchen.
Exemplarisch: Ulbrich/Jarzebowski/Hohkamp (Hrsg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit; Schwerhoff, Gewaltkriminalität im Wandel; Loetz, Sexualisierte Gewalt; Loetz, Gewalt in der Geschichte der Menschheit.
Neuerdings: Antony/Carroll/Pennock (Hrsg.), Cambridge World History of Violence; Charters/Houllemare/Wilson (Hrsg.), Global History.
Vgl. etwa: Broomhall/Finn (Hrsg.), Violence and Emotions; Strange/Cribb/Forth (Hrsg.), Honour, Violence and Emotions; Jarzebowski, Das gefressene Herz.
Vgl. etwa: Pinker, Better Angels; Wood, Limits of Culture; Wood, A Change of Perspective; Wood, Future Agendas; Hanlon, Decline of Violence.
Vgl. etwa: Rosenwein, The Uses of Biology; Mc Mahon, Histories of Interpersonal Violence, 126 f.
Vgl. Loetz, Sexualisierte Gewalt, 9–15; Koloma Beck, (Staats-)Gewalt, 18.
Vgl. Koloma Beck, Gewalt, 432–435; Popitz, Phänomene der Macht; Trotha, Soziologie von Gewalt; siehe auch: Walby, Violence and Society; Koloma Beck/Schlichte, Theorien der Gewalt.
Vgl. Dwyer, Violence and Its Histories.
Vgl. dazu im Kontext der routine activity theory: Felson, Predatory and Dispute-Related Violence; Tedeschi/Felson, Violence; Felson, Opportunities for Dispute-Related Violence.
Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, 107.
Collins, Violence; Collins, Entering and Leaving.
Vgl. etwa: Amussen, Punishment, Discipline and Power; Schwerhoff, Social Control of Violence.
Vgl. Koloma Beck, (Staats-)Gewalt, 16.
Popitz, Phänomene der Macht, 50.
Trotha, Distanz und Nähe, 32 f.; Trotha, Soziologie von Gewalt, 18; Koloma Beck, Gewalt, 432 f.
Carroll, Introduction, 43; Carroll, Thinking With Violence, 40.
Vgl. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, 104 f.
Koloma Beck, Sozialwissenschaftliche Gewalttheorie; Koloma Beck, Gewalt als leibliche Erfahrung.
Gurr, Historical Trends, 299; Sharpe, Crime in Seventeenth-Century England, 123; vgl. zur Kritik beispielsweise: Taylor, Rationing Crime; Morris, Lies, damned lies; Emsley, Hard Men, 73 f.; Archer, Mysterious and Suspicious Deaths; King, Urbanization, 236 f.
Vgl. Carroll, Violence, 663; unter Rückgriff auf: Gould, Collision of Wills, 5.
Wood, Violence and Crime, 75; vgl. auch: Spierenburg, Long-Term Trends in Homicide, 73 f.
England war in insgesamt sechs assize circuits unterteilt und Lancashire gehörte zum Northern Assize Circuit.49 Den Kern des seit dem 16. Jahrhundert bestehenden assize-Systems bildeten reisende Richter der königlichen Gerichte Londons, die zweimal jährlich in den counties Gerichtstage abhielten und gemeinsam mit einer Jury über die in der Zwischenzeit angefallenen Delikte entschieden.50 Als county palatine genoss Lancashire weitgehende Autonomie in seiner Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Die Organisation des Gerichtswesens unterschied sich aber nur geringfügig von anderen englischen counties.51 Für schwere Verbrechen (felonies) waren die jeweils im Frühjahr und im Sommer in Lancaster stattfindenden assizes zuständig. Weniger schwere Kriminalität wurde vor den viermal jährlich jeweils in Lancaster, Preston, Manchester sowie abwechselnd in Wigan und Ormskirk stattfindenden quarter sessions verhandelt, bei denen justices of the peace den Vorsitz hatten.52
Für die Rechtspflege in Lancashire ist eine hohe Konstanz festzustellen. Trotz des starken Bevölkerungszuwachses wurden bis zum Ende des Untersuchungszeitraums kaum Anpassungen an die neuen Verhältnisse vorgenommen. So wurden weiterhin nur zwei assizes abgehalten, die zudem im weit im Norden gelegenen Lancaster verblieben, obwohl es einen steilen Anstieg der zu verhandelnden Fälle gab und der mit Abstand größte Teil der Bevölkerung im südlichen Teil Lancashires lebte. Erst ab 1835 fanden weitere assizes in Liverpool statt, das von da an für die südlichen Gebiete zuständig war.53 Ebenso blieb das coroner-System, und damit ein zentraler Teil der Strafverfolgung von Tötungsdelikten, unverändert bestehen. Die Arbeitslast für die einzelnen Personen stieg jedoch enorm an.54
[25]Beständigkeit war nicht nur ein Merkmal der Strafjustiz, sondern auch der restlichen Verwaltung. Beispielhaft dafür steht Manchester, in dem laut nationalem Zensus 1831 bereits über 140.000 Menschen lebten und das fraglos zu einem wirtschaftlichen und politischen Zentrum Englands geworden war, das aber bis 1838 noch durch das auf mittelalterliche Traditionen zurückgehende court leet und den boroughreeve verwaltet und regiert wurde. Erst ab 1838 wurden diese Strukturen reformiert und Manchester erhielt den Status eines municipal borough.55 Damit einherging auch die Einführung ‚moderner‘ Polizeikräfte in Manchester, nachdem diese bereits 1836 in Liverpool nach dem Vorbild der Londoner New Police eingeführt worden waren.56 Diese Entwicklungen, die erheblichen Einfluss auf die Strafverfolgung hatten, liegen jedoch bereits außerhalb des Untersuchungszeitraums.
Zusätzlich zur Konstanz des Strafverfolgungssystems in Lancashire schafft die gute Überlieferung der assize-Akten sehr günstige Voraussetzungen für eine kriminalhistorische Langzeituntersuchung.57 Das Quellenfundament dieser Arbeit bilden in erster Linie drei verschiedene Bestände: die Gerichtsbücher (minute books), die Berichte über die Leichenuntersuchung in verdächtigen Todesfällen durch den coroner und seine Jury (coroners’ inquisitions) sowie die verschriftlichten Befragungen der Zeug:innen (depositions).
In den minute books58 verzeichnete der clerk of assizes alle Anklagen, die während der zweimal jährlich im Lancaster Castle stattfindenden assizes verhandelt wurden. Diese Gerichtsbücher bilden damit eine sehr gute Grundlage für quantitative Auswertungen und die Bestimmung langfristiger Trends. Parallel zu den minute books existieren die Bestände der indictments und der assize rolls.59 Bei erstgenannten handelt es sich um die formalen, auf Pergament geschriebenen Anklageschriften, in denen jedoch keine Informationen enthalten sind, die über diejenigen der minute books hinausgehen.60 Die assize rolls sind Pergamentrollen, in denen die Vorgänge der assizes protokolliert wurden. [26]Der Fokus dieser Protokolle lag aber auf verfahrenstechnischen Aspekten, sodass über die Wiederholung der Anklagepunkte hinaus auch hier keine weiteren Informationen zu den Umständen der Taten enthalten sind. Lediglich die vor Gericht angehörten Zeug:innen sind zusätzlich angeführt.
Die minute books liegen als gebundene Bücher vor und bieten sich somit auch aufgrund der leichten Zugänglichkeit der darin enthaltenen Informationen für eine quantitative Untersuchung an. Sie sind ab 1691 verfügbar, bis 1716 scheint die Aufzeichnungspraxis jedoch inkonsistent gewesen zu sein und zwischen 1716 und 1727 weisen die Bücher eine Lücke auf, die nahezu die gesamte Regierungszeit George I. (reg. 1714–1727) umfasst. In einem Eintrag vom 25. März 1728,61 und damit im ersten Regierungsjahr George II. (reg. 1727–1760), kritisiert ein Schreiber die fehlende Disziplin seiner Vorgänger: „No Entrys were made in this Book, but in paper books wh[ich] were only in nature of minute books.“ Zudem befänden sich diese „paper books“ im Privatbesitz des vormaligen custody clerks, der sich jedoch weigere, sie seinem Nachfolger zu überlassen.62 Im Anschluss an diese Rüge setzten die Aufzeichnungen mit den assizes im April 1728 wieder ein und wurden bis auf eine weitere, jedoch kleinere Lücke von 1778–1780 durchgängig geführt.63
Bis zu den assizes im März 1733 sind die Aufzeichnungen in Latein, danach in Englisch verfasst.64 Die Einträge für die einzelnen Gerichtstage folgen immer dem gleichen Muster. Sie beginnen mit einem formalen Text über den königlichen Erlass zur „delivery of the gaol“, nennen Datum und Ort des assize (im Untersuchungszeitraum ausnahmslos Lancaster Castle) und die Namen der vorsitzenden Richter. Anschließend werden die einzelnen Angeklagten, die Anklage und weitere Informationen zu Täter:innen, Opfer, Tatort und Tathergang aufgeführt, wobei der Umfang dieser zusätzlichen Angaben variiert. Nachträglich wurden in der Regel auch das Urteil und gegebenenfalls das Strafmaß nachgetragen. Ab März 1812 wurde auf eine tabellarische [27]Eintragung umgestellt, die sich auf die Angeklagten konzentrierte und keine Informationen zu den Opfern oder dem Tathergang mehr enthält.
Die in den minute books enthaltenen Informationen können für das frühe 19. Jahrhundert durch die parallelen Überlieferungen der criminal registers und der calendars of prisoners überprüft und ergänzt werden. Die criminal registers fassen die Gerichtsakten für England und Wales ab 1805 (für Middlesex bereits ab 1791) zusammen und verzeichnen alle vor den assizes verhandelten schweren Vergehen (indictable offences), die Angeklagten, das Urteil und das Strafmaß.65 In den calendars of prisoners, die für 1801–1822 erhalten sind, werden alle Gefangenen des Gefängnisses in Lancaster Castle aufgeführt, zu denen auch die Verdächtigten gehörten, die darauf warteten, vor den nächsten assizes angeklagt zu werden.66
Der zweite, für die vorliegende Untersuchung zentrale Quellenbestand umfasst die coroners’ inquisitions (auch: coroners’ inquests). War eine Person unter verdächtigen Umständen zu Tode gekommen, wurde ein coroner gerufen, der die Todesursache festzustellen hatte. Er untersuchte zusammen mit einer Jury, die sich aus Männern der näheren Umgebung zusammensetzte, den toten Körper auf Verletzungen und befragte Zeug:innen. Wurde dabei festgestellt, dass eine Tötung vorlag, diente der Untersuchungsbericht anschließend als Grundlage für die Anklage vor Gericht. Dieses Vorgehen bestand in seinen Grundzügen seit dem späten Mittelalter. Das königliche Amt des coroner wurde bereits 1194 geschaffen und ab ca. 1600 war die Untersuchung verdächtiger Todesfälle ihre Hauptaufgabe.67 Sie wurden jeweils für ein county bzw. für ein borough oder liberty ernannt und rekrutierten sich meist aus dem niederen Adel.68
Die auch noch im 19. Jahrhundert auf Pergament geschriebenen coroners’ inquisitions sind nicht für alle Tötungsdelikte überliefert, aber für eine erstaunlich große Zahl. Insgesamt 526 Untersuchungsberichte konnten für den Zeitraum 1728–1812 ausgewertet werden, danach bricht die Überlieferung ab (mit Ausnahme von zwei Berichten aus den Jahren 1822 und 1823).69 Grundsätzlich enthalten die inquisitions in unterschiedlicher Ausführlichkeit Angaben [28]zu Opfern, Verdächtigten, Tatwaffe, Ort und Zeit einer Tötung. Sie besitzen insgesamt aber einen formalen Charakter, der eine hohe Präzision und Eindeutigkeit der Informationen verlangte, sodass sich kaum auf die genaueren Umstände der Tötungen schließen lässt. Darüber hinaus werden die Tötungen kaum kontextualisiert und über den Anlass des Streits, die Motive für den Einsatz von Gewalt oder das Verhältnis zwischen Opfer und Täter:in erfährt man in der Regel nichts.
Die umfangreichsten Informationen zu den Tötungen enthalten die Protokolle der Befragungen von Zeug:innen (depositions, in den Dokumenten selbst oft als informations oder examinations betitelt). Sie stellen die wichtigsten Quellen für den qualitativen Teil dieser Arbeit dar. Die Befragungen fanden vor den Gerichtsverhandlungen im Zuge der Untersuchung von Gewaltdelikten bzw. bei Tötungen im Zuge der coroner’s inquisition statt. Seltener wurden die Befragungen durch einen justice of the peace durchgeführt, etwa wenn später neue Zeug:innen ausfindig gemacht werden konnten. Die verschriftlichten Aussagen wurden in dem auf Mündlichkeit ausgerichteten englischen Gerichtsprozess nicht ohne Weiteres als Beweismittel bei der Verhandlung akzeptiert, sie konnten aber herangezogen werden, wenn die jeweilige Person nicht zum Gerichtstermin erscheinen konnte oder verstorben war.70
Die Protokolle folgen weitgehend einer immer gleichen Form. Sie beginnen mit einer formelhaften Einleitung, in der Anlass, Ort und Zeitpunkt der Befragung genannt werden. Aufgeführt ist auch die befragende Person, bei der es sich in der Regel um einen coroner oder einen justice of the peace handelte, der die Untersuchung „on the behalf of our Sovereign Lord the King“ durchführte. Die Eingangspassage war sprachlich stark standardisiert, sodass mindestens seit 1750 auch Vordrucke Verwendung fanden, in denen Lücken für Ort, Datum und Namen gelassen waren. Im Anschluss an die einleitenden Sätze werden nacheinander die Befragten mit Namen, Wohnort und Beruf bzw. Stand genannt, gefolgt von ihren Aussagen, die als Fließtext in indirekter Rede wiedergegeben sind. Antworten von hoher juristischer Relevanz sind als direkte Rede verzeichnet, beispielsweise Beleidigungen und Provokationen unmittelbar vor einer physischen Auseinandersetzung oder Schuld- bzw. Unschuldsbekundungen von verdächtigen Personen.71
[29]Die Befragten sagten unter Eid aus und unterzeichneten ihre Aussagen am Schluss, die Mehrheit von ihnen jedoch aufgrund fehlender Schreibkenntnisse mit einem Kreuz anstelle ihres Namens. Es gibt Hinweise darauf, dass den Befragten ihre Aussagen noch einmal vorgelesen wurden,72 inwiefern diese Praxis in Lancashire im Untersuchungszeitraum verbreitet war, ist jedoch unklar. Die Fragstücke selbst sind nicht überliefert, anhand der Antworten lassen sich die Fragen aber erahnen. Einige davon scheinen sehr spezifisch gewesen zu sein, sodass die Befragenden auf Vorwissen zum Geschehen zurückgegriffen haben mussten, etwa aus vorangegangen, vorläufigen Befragungen.73
Für die depositions ergeben sich wie für andere Befragungen auch die typischen Quellenprobleme kriminalhistorischer Untersuchungen zur Frühen Neuzeit. Zu beachten sind insbesondere die sprachliche und inhaltliche Überformungen der mündlichen Aussagen im Zuge des Niederschreibens, das Lenken der Antworten durch Suggestivfragen und die Befragungssituation als solche.74 Dennoch waren die Protokolle eng an den Aussagen der Befragten orientiert und die Befragungen stellten nicht zwingend eine antagonistische Gegenüberstellung von Fragenden und Befragten dar, zumal sich die Frage bei den depositions an Zeug:innen und nicht an die Beschuldigten richteten.75
Geständnisse oder Befragungen von Beschuldigten finden sich in den Akten dagegen nur selten. Die Informationen zu ihren Handlungen und Motiven beruhen damit weitgehend auf Fremdzuschreibungen, die sich in den Berichten der Zeug:innen finden. Für einen Fall am Ende des Untersuchungszeitraums (1828) ist dokumentiert, dass der Beschuldigte bei der Befragung der Zeug:innen anwesend war und ihnen Fragen stellen konnte, die auch im Protokoll verzeichnet sind.76 Es gibt jedoch keine Hinweise, dass diese Praxis auch schon früher zur Anwendung gekommen wäre und nach den überlieferten Dokumenten zu urteilen stellte dies auch für das 19. Jahrhundert eine Ausnahme dar.
Der Umfang der depositions variiert stark, sie können weniger als zwei bis weit über zwanzig Seiten umfassen und die Stimmen von nur einer oder mehr als zehn Personen wiedergeben. In der Tendenz wurden die Aufzeichnungen im Laufe des Untersuchungszeitraums immer ausführlicher und detaillierter, auch wurde direkte Rede ab Ende des 18. Jahrhunderts häufiger verwendet. Die depositions liegen als lose Papierblätter in großen Kartons vor und sind – ebenso [30]wie coroners’ inquisitions und indictments – nur sehr grob nach Jahrzehnten geordnet. Da sich in den Kartons Akten zu allen vor den assizes verhandelten Anklagen befinden (einschließlich einer überwältigenden Zahl an Eigentumsdelikten), mussten alle Dokumente zunächst durchgesehen werden, um Tötungsdelikte herauszufiltern.
Depositions sind für weniger Fälle verfügbar als coroners’ inquisitions und ungleichmäßig überliefert. Während für manche Jahre für den überwiegenden Teil der feststellbaren Tötungen depositions verfügbar sind, fehlen sie für andere Jahre vollständig.77 Insbesondere für die 1730er bis 1750er Jahre sind nur wenige Befragungen erhalten geblieben.78 Verglichen mit anderen englischen Grafschaften ist die Überlieferungssituation jedoch sehr gut, da depositions nach Abschluss der Gerichtsverhandlungen nicht mehr benötigt und in der Regel nicht aufbewahrt wurden, sodass sie nur selten in den Akten der assizes überliefert sind.79 Dass für Lancashire eine außergewöhnlich große Zahl an depositions erhalten geblieben ist, mag auch mit dem Umstand zusammenhängen, dass die Akten der Lancaster assizes lange Zeit im Lancaster Castle aufbewahrt und erst im späteren 19. Jahrhundert nach London überführt wurden.80 Aufgrund der hohen Zahl an Befragungsprotokollen und ihres Umfangs konnten nicht alle berücksichtigt werden. Mit depositions zu 144 Fällen ist das Sample aber groß genug, um belastbare Aussagen treffen zu können.81
Eine Herausforderung für alle Analyseschritte stellt es dar, dass je nach Quellentypen verschiedene Informationen zu den Personen und Delikten zu finden sind und sie auch innerhalb eines Quellenbestands im Laufe des Untersuchungszeitraums variieren können, weil sich beispielsweise die Aufzeichnungspraxis geändert hat. Deshalb war es unumgänglich, die Zeiträume der Quellenauswertung an das jeweilige Analyseziel anzupassen, sodass die Zeiträume in den Tabellen und Grafiken teilweise voneinander abweichen.82
Es stellt eine große Herausforderung dar, einen Zusammenhang zwischen Entwicklungen auf der Makroebene und einzelnen Ereignissen auf der Mikroebene, mithin zwischen sozioökonomischen Transformationsprozessen und Gewalt herzustellen.83 Die konkreten Handlungen einer Person können nicht unmittelbar durch strukturelle Veränderungen auf der Makroebene erklärt werden. Der aus der Kriminologie stammende routine activity approach bietet einen Lösungsansatz, indem er sich von der Fokussierung auf die Täter:innen, ihre Handlungsmotive und Beweggründe löst und versucht, (Gewalt-)Kriminalität und ihr Auftreten durch die spezifischen räumlichen, situativen und kulturellen Rahmenbedingungen zu erklären, in denen sie stattfindet. In der historischen Gewaltforschung fand der routine activity approach bislang nur wenig Beachtung.84 Ausnahmen bilden der kürzlich erschienene Band zu Tötungsdelikten in nordeuropäischen Gebieten und Tickells Studie zu Ladendiebstählen in England im 18. Jahrhundert, in denen der Ansatz jeweils zu Erklärung der Muster des Auftretens von (Gewalt-)Kriminalität herangezogen wird.85
Der routine activity approach wurde maßgeblich von Cohen und Felson entwickelt86 und ist stark durch Hawleys humanökologischen Ansatz87 beeinflusst. Er diente ursprünglich dazu, den Anstieg der Kriminalität in den USA in den 1960/70er Jahren zu erklären, und hat sich seitdem als feste Größe in der Kriminologie etablieren können.88 Ausgangspunkt ist die Annahme, dass ein gewisses Gewaltpotenzial in jeder Gesellschaft existiert, es aber in manchen Situationen häufiger abgerufen wird als in anderen. Gewaltkriminalität ist eng mit nicht-kriminellen Handlungen verflochten und in herkömmliche Handlungsroutinen eingebettet. Als Handlungsroutinen werden Handlungsabläufe verstanden, denen Menschen in unterschiedlicher Regelmäßigkeit nachgehen. Zu denken ist etwa an das gemeinsame Trinken in einem Wirtshaus oder die [32]Feierlichkeiten an einem Festtag. Entscheidend sind die strukturellen Merkmale der herkömmlichen Handlungsroutinen, die das Auftreten von Gewalt begünstigen können.89 Damit wird die Aufmerksamkeit weg von persönlichen Eigenschaften der Gewaltausübenden und hin zu den Kontexten der Taten gelenkt: zu den räumlichen Gegebenheiten, den Konstellationen der Akteur:innen, und den kulturellen Konzepten, die in den jeweiligen Situationen handlungsanleitend waren.
Über diesen Zugang lassen sich Makro- und Mikroebene verklammern, da sich strukturelle Veränderungen auf die konkreten Kontexte der Gewalthandlungen auswirkten. Urbanisierung und Industrialisierung konnten zum Wandel der Rahmenbedingungen herkömmlicher Handlungsroutinen beitragen und neue Handlungsroutinen hervorrufen, die mitunter günstige Voraussetzungen für Gewalt boten. Im Zentrum steht damit die Frage, in welchen Kontexten Gewalt auftrat, inwiefern sich diese veränderten oder konstant blieben und ob neue Routinen hinzukamen, in denen Gewalthandlungen verstärkt auftraten. Im Gegensatz zu der in den Sozialwissenschaften und der Kriminologie verbreiteten Ursachenforschung geht es in der vorliegenden Arbeit also darum, sich der Rolle von Gewalt in der sozialen Ordnung anzunähern und den historischen Wandel dieser Rolle zu untersuchen.
Dazu wird ein sozialgeschichtlich-quantitativer mit einem kulturgeschichtlich-qualitativen Zugriff auf die Quellen kombiniert. Ein zentraler Aspekt des quantifizierenden Teils ist die Untersuchung der Entwicklung der Tötungsraten, die als methodischer Zugang und Indikatoren für das Gewaltniveau in Gesellschaften die Gewaltforschung in den letzten Jahrzehnten stark geprägt haben. Tötungsraten adressieren mit der Frage, wie Gewaltniveaus in Gesellschaften ‚gemessen‘ werden können, ein Grundproblem der Geschichte der Gewalt.90 Sie sind jedoch alles andere als unumstritten und es ist wichtig, sich die methodischen Schwierigkeiten vor Augen zu führen. Zweifel an der Verlässlichkeit von historischen Tötungsraten und Diskussionen über ihre Aussagekraft kamen bereits auf, als ihre Nutzung in der historischen Gewaltforschung in den 1980er Jahren populär wurde.91 Das grundlegende Problem besteht in der defizitären Quellenbasis. Kriminalitätsstatistiken im modernen Sinn existieren für das späte Mittelalter und die gesamte Frühe Neuzeit nicht. Die zur Verfügung stehenden Quellen wurden nicht zum Zwecke einer statistischen Auswertung angefertigt, sodass sie zunächst aufbereitet werden [33]müssen, um Tötungsraten berechnen zu können. Die Aussagekraft und Verlässlichkeit der Raten hängen maßgeblich von der Überlieferung geeigneter Akten ab, die jedoch in den seltensten Fällen lückenlos ist. Zudem weist jede Quellengattung, mit der potenziell Tötungsraten berechnet werden können, jeweils eigene Herausforderungen auf, mit denen methodisch sehr unterschiedlich verfahren wird.92 Das bereitet wiederum Probleme für die Vergleichbarkeit der Tötungsraten, die zwangsläufig auf verschiedenen Quellen und methodischen Herangehensweisen basieren. Bereits sehr basale Fragen werden unterschiedlich gehandhabt, etwa ob die Tötungsraten auf angeklagten Personen oder auf Opfern basieren, was als ‚Tötung‘ zu werten ist (nur Fälle mit Schuldspruch, alle Anklagen oder auch schon bloße Verdachtsfälle) oder ob Kindstötungen mit einfließen sollen. Entsprechend repräsentieren Tötungsraten mitunter sehr unterschiedliche Dinge. Als zweiter Faktor der Berechnung kommen die Bevölkerungszahlen für die einzelnen Gebiete hinzu, die gerade für das späte Mittelalter und auch noch für weite Teile der Frühen Neuzeit wenig verlässlich sind und allenfalls als grobe Schätzwerte gelten können.93
Problematisch sind zudem Vergleiche von Tötungsraten über Raum und Zeit hinweg, denn die Raten basieren auf Quellen, die aus unterschiedlichen Strafverfolgungs- und Gerichtssystemen stammen, sodass Form, Inhalt und Überlieferungssituation der Quellen verschieden sind. Zwar wurden immer wieder Vorschläge zur weiteren Standardisierung der Tötungsraten vorgebracht, um diesem Problem zu begegnen. Für die Frühe Neuzeit sind diese meist aber nur sehr begrenzt umsetzbar, wenn beispielsweise für die capture-recapture-Methode zwei unabhängig voneinander entstandene Überlieferungen zu Tötungsdelikten benötigt werden.94 Dies gilt besonders für die Problematik der Bevölkerungsstruktur, die je nach Zeit, aber auch nach Region unterschiedlich sein konnte. Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass in fast allen Zeiten und Kulturen die meiste physische Gewalt von jungen Männern ausgeht, sodass in Gesellschaften mit einem höheren Anteil dieser sozialen Gruppe auch mit höheren Tötungsraten zu rechnen ist (ein wichtiger Aspekt auch für den Vergleich von Tötungsraten in Vormoderne und Moderne).95 Es fehlen jedoch [34]die notwendigen detaillierten demographischen Informationen für die Vormoderne, um nach Alter standardisierte Tötungsraten berechnen zu können oder Raten, bei denen lediglich die erwachsene Bevölkerung in die Berechnungen einbezogen werden.96
Fern von epochenübergreifenden Vergleichen sind Tötungsraten aber bei guter Überlieferungssituation für einen begrenzten Zeit- und geographischen Raum, für den die Rahmenbedingungen der Kriminalisierung und Verfolgung von Tötungsdelikten weitgehend konstant blieben, durchaus geeignet, um Aussagen über die Entwicklung von (schwerer physischer) Gewalt zu treffen. Besonders gute Voraussetzungen haben einige Gebiete Englands vorzuweisen, die sich sehr gut für regionale Fallstudien eignen. Hier lassen sich aufgrund der Organisation des über lange Phasen erstaunlich konstanten Gerichtswesens97 Tötungsraten für Grafschaften berechnen und somit urbane und ländliche Gebiete zusammen untersuchen. Zudem gibt es für England ab 1801 Zensusdaten, mit deren Hilfe sich Bevölkerungszahlen in die Vergangenheit extrapolieren lassen.
An den bereits genannten sozialgeschichtlich-quantitativen und kulturgeschichtlich-qualitativen methodischen Zugriffen orientiert sich auch der Aufbau des Buches, dessen Hauptteil in zwei Abschnitte untergliedert ist. Im quantifizierenden Abschnitt II werden neben Tötungsraten und dem Umgang der Strafjustiz mit Tötungsdelikte, die Sozialprofile der Akteur:innen näher beleuchtet – die Geschlechterverteilung, der soziale Stand und die Altersstruktur. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einer geographischen Verortung der Tötungsdelikte mithilfe eines Geoinformationssystems (GIS), um zu untersuchen, ob es in bestimmten Gebieten Lancashires zu einer Häufung von Tötungsdelikten kam, wie sich ihre geographische Verteilung entwickelte und was sich daraus ableiten lässt.
Die qualitative Quellenanalyse (Abschnitt III) konzentriert sich auf die Mikroebene und damit auf die Untersuchung konkreter Einzelfälle. Grundsätzlich werden dazu die Tötungsdelikte unterschiedlichen Formen der Gewalt zugeordnet, von denen ‚räuberische‘ und ‚streitbezogene‘ Gewalt die wichtigs[35]ten Kategorien darstellen. Diese Gewaltformen werden anschließend getrennt hinsichtlich ihrer räumlichen Kontexte, der Konstellationen von Akteur:innen und der handlungsanleitenden kulturellen Konzepte, insbesondere männlichen Ehrvorstellungen, analysiert, um so kulturellen Wandlungsprozessen auf die Spur zu kommen. Ein jeweils eigenes Kapitel widmet sich den Praktiken des Konfliktaustrags und der Wahrnehmung bzw. Bewertung von Gewalt, bevor die Ergebnisse am Schluss zusammenfassend diskutiert werden (Abschnitt IV). Das folgende Kapitel wirft jedoch zunächst einen genaueren Blick auf den historischen Kontext und die Situation in Lancashire im 18. und frühen 19. Jahrhundert.
Vgl. Cockburn, Northern Assize Circuit.
Siehe ausführlich dazu: Cockburn, History of English Assizes; Cockburn, Calendar of Assize Records, 1–134.
Vgl. Somerville, Palatinate Courts in Lancaster; vgl. zum Rechts- und Gerichtswesen in England: Baker, Introduction to English Legal History; speziell zur Strafjustiz: Sharpe, Crime in Early Modern England, 21–40.
Vgl. zu den quarter sessions in Lancashire im 18. Jahrhundert: Taylor, Quarter Sessions in Lancashire.
Cockburn, Northern Assize Circuit, 129.
Vgl. dazu II, Kap. 1.2.
Vgl. Hewitt, History of Policing; Davies, Classes and Police; allgemein zu Lancashire: Midwinter, Social Administration in Lancashire.
Vgl. Macilwee, Liverpool Underworld, 16–18.
Eine aktuelle Übersicht über die Quellen zum Palatinate of Lancaster bietet: Derbyshire, Introductory Guide.
TNA PL 28/1–6, 10–12, Minute Books Series I und II. Vgl. grundlegend zu den assizes: Cockburn, History of English Assizes; Cockburn, Calendar of Assize Records.
TNA, PL 26 bzw. PL 25.
Vgl. speziell zur verwendeten Sprache in den Anklageschriften: Seebröker, Vom Tatort vors Gericht.
Bis zu Einführung des Gregorianischen Kalenders in England im September 1752 wurde der Julianische Kalender genutzt. Die Datumsangaben, die sich am Julianischen Kalender orientierten, wurden nicht korrigiert, sondern die Angaben aus den Quellen übernommen.
TNA, PL 28/1, fol. 142r. Die Nummerierung der Seiten der minute books erfolgt nicht einheitlich, teilweise wird Folio-Zählung verwendet, teilweise sind Seitenzahlen angeben. Dies wird bei der Zitation jeweils kenntlich gemacht.
Für 1780 ist nur eine der zwei Sitzung der assizes in den minute books aufgeführt, sodass das Jahr 1780 vollständig aus den Analysen ausgeklammert wurde.
Vgl. Baker, Introduction to English Legal History, 94 f. Siehe auch die Notiz in den minute books: „Note all proceedings from 25th of March last [1733] to be in the English Language. By stat[ute] of 4th K. George 2d.“ TNA, PL 28/1, fol. 161r.
TNA, HO 27.
LancsA, QJC 1a.