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Die Arbeiten der afroamerikanischen Soziologin Patricia Hill Collins haben den Begriff von Intersektionalität in den letzten dreißig Jahren entscheidend geprägt. Weltweit wird er von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aufgegriffen. In "Intersektionalität als kritische Sozialtheorie" widmet sie sich den Grundlagen des Konzepts – und leistet damit eine längst überfällige Reflexion. Collins bringt unterschiedliche Denkrichtungen – von der Frankfurter Schule bis zum Schwarzen feministischen Denken – miteinander in Dialog. Die von ihr vorgestellten Denkwerkzeuge ermöglichen es, das Potenzial der Intersektionalität als kritische Sozialtheorie zu verstehen, zu verwirklichen und ihre Bedeutung für gesellschaftliche Veränderung zu erhalten. »Intersektionalität als kritische Sozialtheorie ist ein theoretischer Pageturner. (…) Es ist ein idealer Begleittext für Graduiertenseminare über Intersektionalität; für Praktiker*innen von Intersektionalität, die ihre Praxis vertiefen wollen; und für akademische Leser*innen, die von dem Engagement für Selbstreflexivität, intellektueller Heterogenität, Ethik und Social Justice profitieren können, das Collins treffend und geschickt wieder in die Intersektionalität einbringt.« – Anna Carastathis, Hypatia
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Seitenzahl: 736
Patricia Hill Collins ist emeritierte Professorin für Soziologie an der Universität von Maryland, College Park, und Autorin zahlreicher Bücher. Sie war die erste Schwarze Frau, die Präsidentin der American Sociological Association wurde. Mit Black Feminist Thought (1990/2000) legte sie erstmals einen zusammenfassenden Überblick des Schwarzen feministischen Denkens – innerhalb wie außerhalb der Universität – vor, der große Bekanntheit erlangte und prägend für dessen Widerstands-Wissensprojekt war.
Patricia Hill Collins
Intersektionalität als kritische Sozialtheorie
Übersetzt von Anna von Rath, Daphne Nechyba und Echo Foidl
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Patricia Hill Collins:
Intersektionalität als kritische Sozialtheorie
1. Auflage, Oktober 2023
eBook UNRAST Verlag, Januar 2024
ISBN 978-3-95405-177-9
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Originalausgabe: Intersectionality as Critical Social Theory
© Duke University Press, Durham and London 2019
Umschlag: Katharina Stahlhofen, Köln
Satz: Andreas Hollender, Köln
Danksagung
Einleitung
TEIL I: EINFÜHRUNG INS THEMA – INTERSEKTIONALITÄT UND KRITISCHE SOZIALTHEORIE
1. Intersektionalität als Werkzeug der Kritik
2. Was ist kritisch an einer kritischen Sozialtheorie?
TEIL II: DIE BEDEUTUNG VON MACHT – INTERSEKTIONALITÄT UND INTELLEKTUELLER WIDERSTAND
3. Intersektionalität und Projekte widerständigen Wissens
4. Intersektionalität und epistemischer Widerstand
TEIL III: DIE THEORIEBILDUNG DER INTERSEKTIONALITÄT – SOZIALES HANDELN ALS EINE FORM DER ERKENNENS
5. Intersektionalität, Erfahrungen und Community
6. Intersektionalität und die Frage der Freiheit
TEIL IV: DIE KRITIK DER INTERSEKTIONALITÄT SCHÄRFEN
7. Relationalität innerhalb der Intersektionalität
8. Intersektionalität ohne Social Justice?
Epilog
Endnoten
Bibliografie
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Meine Zeit an der Fakultät für Soziologie der Universität von Maryland, College Park, war von wesentlicher Bedeutung für die Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben. Ich danke meinen Kolleg*innen George Ritzer und Laura Mamo, die mich in unserem Graduierten-Studiengang für Theorie willkommen hießen. Im Laufe der Jahre haben die Gespräche mit meinen Fakultätskolleg*innen innerhalb der Soziologie mein Denken über dieses Projekt sehr bereichert, darunter Bill Falk, Feinian Chen, Harriett Presser, Stanley Presser, Sonalde Desai, Meyer Kestnbaum, Kris Marsh, Jeff Lucas, Rashawn Ray und Dawn Dow. Besondere Anerkennung gebührt Roberto Patricio Korzeniewicz, nicht nur für seine Unterstützung meiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch für seine grundlegende Fairness und Menschlichkeit in Bezug auf die Themen dieses Buches. Welch ein Geschenk, dass er den Lehrstuhl innehatte, als ich dieses Manuskript fertigstellte.
Da ich während meiner gesamten Beschäftigungszeit an der Universität von Maryland an verschiedenen Aspekten dieses Buches gearbeitet habe, hätte ich die verschiedenen Phasen dieses Projekts nicht ohne die Hilfe einer Mini-Armee von Doktorand*innen abschließen können. Meine Lehrtätigkeit und meine Mitarbeit in Promotionsausschüssen in den Fächern Soziologie, Amerikanistik, Pädagogik, Kinesiologie, Journalismus und Frauenforschung haben das Wissen, das ich in dieses Projekt eingebracht habe, sehr bereichert. Diese intensive Arbeit mit Student*innen sowie der Kontakt, den ich durch meine Lehrtätigkeit und gelegentliche Gespräche auf dem Flur mit wunderbaren Student*innen hatte, haben dieses Projekt bereichert. Nun, da die anstrengende Zeit hinter uns allen liegt, möchte ich den Student*innen, deren Promotionen innerhalb der Soziologie ich betreuen oder mitbetreuen durfte, meine Anerkennung aussprechen: Tony Hatch, Michelle Corbin, Nazneen Kane, Paul Dean, Valerie Chepp, Margaret Austin Smith, Kendra Barber, Kathryn Buford, Michelle Beadle, Danny Swann, Rachel Guo, und Sojin Yu. Mein Dank gilt auch den Student*innen, deren Dissertationen wichtige Aspekte dieses Buches beeinflussen. Vielen Dank an Emily Mann, Daniel Williams, Michelle Smirnova, Nihal Celik, Jillet Sam, Chang Won Lee, Aleia Clark, Les Andrist, Wendy Laybourn, Thurman Bridges, Christine Muller, Amy Washburn, Benli Shecter, Rod Carey, Laura Yee, Aaron Allen, Dina Shafey, Kristi Tredway, Allissa Richardson und Kevin Winstead. Ich danke auch den Student*innen, die hier nicht namentlich genannt sind, die aber durch ihren Einsatz als Hilfskräfte in Forschung und Lehre oder durch unvergessliche Gespräche zu diesem Projekt beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Nicole de Loatsch, Zeynep Atalay, Carolina Martin, Beverly Pratt, Shanna Brewton-Tiayon, Melissa Brown, Anya Galli, Bill Yagatich, Dave Stroehecker, Kimberly Bonner, Bryan Clift, Joe Waggle, Heather Marsh und dem unvergesslichen Mehmet Ergun. Ich führe Sie alle auf, weil ich zwar die Breite und den Umfang der Kreativität, die Ihr mir entgegenbrachtet, erkennen konnte, Ihr euch aber oft nicht gegenseitig kanntet.
Im Laufe der Jahre haben meine Gespräche mit alten und neuen Kolleginnen und Kollegen mein Verständnis für die gegenwärtigen Praktiken und zukünftigen Möglichkeiten von Intersektionalität bereichert. Ich kann Sie nicht alle nennen, aber ich bin Ihnen trotzdem dankbar. Besonderen Dank an Margaret Andersen, Sirma Bilge, Nira Yuval-Davis, Bonnie Thornton Dill, Kanisha Bond, Brittney Cooper, Ana Claudia Perreira, Djamila Ribeiro, Kristi Dotson, Evelyn Nakano Glenn, Angela Y. Davis, Angela Randolpho Paiva, Ângela Figueiredo, Laura Trout, Marcus Hunter, Colin Koopman, Waverly Duck, Kathryn T. Gines, Theresa Perry, Shawn Copeland, Juan Battle, Troy Duster, Erin Tarver, Beverly Guy-Sheftall, Elizabeth Higginbotham, Howard Winant, Kimberlé Crenshaw, Linda Tuhiwai Smith, Graham Hingangaroa Smith, Jessie Daniels, Catherine Knight Steele und Emek Ergun.
Ich möchte mich bei allen bedanken, die mich eingeladen haben, ihre Universitäten, Konferenzen und Communitys zu besuchen. Ich arbeite meine Ideen in Gesprächen aus, und die öffentlichen Foren, die Sie zur Verfügung gestellt haben, waren für dieses Projekt von unschätzbarem Wert. Es gibt viel zu viele Menschen, als dass ich Sie einzeln erwähnen könnte, aber ich hoffe, Sie wissen, wie dankbar ich für die Möglichkeit bin, zu Ihren Initiativen beizutragen.
Das Team von Duke University Press, das mit mir an diesem Buch arbeitete, hat Professionalität und außergewöhnliche Geduld bewiesen. Dieses Buch wäre ohne die sorgfältige und fürsorgliche Betreuung von Gisela Concepción Fosado, meiner Lektorin, nicht möglich gewesen. Unser erstes Gespräch hat mich davon überzeugt, wie sehr Gisela an dieses Buch geglaubt hat, und ihr Engagement dafür war für mich während der gesamten Produktion ein wichtiger Maßstab. Ich danke den beiden anonymen Gutachter*innen, die sich durch eine frühere, noch verworrenere Version dieses Manuskripts gekämpft haben. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, aber sie sahen was die Argumentation zu werden versprach und ermutigten mich, weiterzumachen. Das Produktionsteam dieses Projekts war erstklassig: Mein besonderer Dank gilt Andrea Klingler, der unerschrockenen Korrektorin, die sich durch das Manuskript gekämpft hat, sowie Jessica Ryan, der leitenden Redakteurin, Sara Leone, der Projektredakteurin, und Alejandra Mejía, der redaktionellen Mitarbeiterin.
Schließlich ist ein erfülltes und ausgeglichenes Leben notwendig, um das Leben des Geistes zu nähren und ein Projekt dieser Größenordnung zu unterstützen. Ich danke meinen Freund*innen aus dem Stepptanz, vom Zumba und Tai-Chi, die mich immer wieder daran erinnert haben, dass ich mich bewegen muss. Meine Schwester-Freundin Patrice L. Dickerson hatte während des gesamten Projekts ein offenes Ohr für mich. Und wie immer hat mir meine Familie – Roger, Valerie, Lauren, Harrison und Grant – viel Liebe und viel Lachen gegeben. Sie bedeuten die Welt für mich.
Intersektionalität entstand im 20. Jahrhundert zu einer Zeit immenser sozialer Veränderungen. Antikoloniale Kämpfe in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Entstehung einer globalen Frauenbewegung und verschiedener Bürgerrechtsbewegungen in multikulturellen Demokratien, das Ende des Kalten Krieges und der Niedergang der Apartheid in Südafrika kündigten gemeinsam das Ende bestehender Herrschaftsformen an. Gleichzeitig war klar, dass die tief verwurzelten sozialen Ungerechtigkeiten nicht über Nacht verschwinden würden – genauso wenig wie die sozialen Probleme, die ihnen zugrunde lagen. Doch es hatte sich ein neuer Blick auf soziale Ungerechtigkeiten entwickelt und neue Möglichkeiten, soziale Veränderung herbeizuführen, taten sich auf. Soziale Probleme infolge von Kolonialismus, Rassismus, Sexismus und Nationalismus als ineinander verwoben zu verstehen, eröffnete neue Perspektiven auf sozialen Wandel. Viele Menschen begannen auf eine bessere Zukunft zu hoffen, in der sich ihre eigenen Chancen und Möglichkeiten und die von anderen verbessern würden.
Intersektionalität schöpft aus diesem Erbe und führt es fort. Früher galt die Idee, dass es eine Verbundenheit zwischen Menschen, sozialen Problemen und Wissen gäbe, noch als umstritten. Heute sind ebendiese Verbindungen ein zentraler Aspekt von Intersektionalität als analytisches Forschungswerkzeug und kritische Praxis. Aber während die Intersektionalität heranwuchs, veränderte sie sich nicht nur selbst, auch die Welt um sie herum wandelte sich. Die Dekolonisierung nimmt verstärkt neokoloniale Formen an, Feminismus sieht sich mit tiefsitzender Misogynie konfrontiert, Bürgerrechtsbewegungen werden von rassistischen Menschen und Gruppen ausgebremst, die behaupten Race[1] gäbe es nicht, die Geisteshaltung des Kalten Krieges besteht weiterhin in Situationen, in denen ein Krieg nicht offiziell erklärt wird, und der Rassismus der Apartheid existiert innerhalb und über nationale Grenzen hinaus in neuen Erscheinungsformen. Soziale Ungerechtigkeiten bleiben bestehen wie eh und je. Doch die neuen sozialen Bedingungen bringen neue soziale Probleme hervor, die die bereits bestehenden ergänzen. Überall gibt es Veränderungen und sie entsprechen nicht den Vorhersagen derjenigen, die Intersektionalität als erste stark gemacht haben. Demokratische Institutionen, die einst auf mehr Freiheit und die Implementierung von Social Justice[2], Gleichheit und Menschenrechten hoffen ließen, werden verstärkt von den eigenen Führungspersonen unterlaufen, deren Interesse eher auf dem eigenen Machterhalt zu liegen scheint, als im Sinne der Bevölkerung zu handeln. Die genannten großen Ideale scheinen heutzutage an Relevanz verloren zu haben – als handele es sich um altmodische Begriffe, die im vergangenen Jahrhundert zwar nützlich waren, heute aber überhaupt nicht mehr erreichbar zu sein scheinen. Das riesige Ausmaß an sozialen Ungerechtigkeiten, ihre Beständigkeit und die zugrundeliegenden sozialen Probleme führten zu einer unschwer nachvollziehbaren Desillusionierung. Für welche Art von sozialem Handeln sollten sich Menschen also in Zeiten wie unseren, die von großen sozialen Veränderungen geprägt sind, entscheiden? Anders gefragt, welche Ideen erweisen sich in der Gestaltung des sozialen Handelns als besonders nützlich?
Diese Fragen führen mich nun zu den Gründen, die mich veranlasst haben, dieses Buch zu schreiben. Ich sehe wichtige Parallelen zwischen den Herausforderungen, mit denen wissenproduzierende Aktivist*innen zu kämpfen hatten, als sie Intersektionalität als Konzept hervorbrachten, und denen, die wir heute erleben. In Intersektionalität als kritische Sozialtheorie vertrete ich die Position, dass Intersektionalität ein weitaus umfassenderes Feld ist, als viele es sich vorstellen können – Menschen, die Intersektionalität praktizieren eingeschlossen. Wir haben das Potenzial der Ideenkonstellationen, die unter dem Sammelbegriff ›Intersektionalität‹ als Werkzeug für sozialen Wandel zusammengefasst werden können, immer noch nicht vollständig begriffen. Als Diskurs bündelt Intersektionalität verschiedenste Ideen, die zeitlich, örtlich und perspektivisch unterschiedliche Ursprünge haben. So ermöglicht Intersektionalität den Austausch über Standpunkte, die vorher womöglich verboten, geächtet oder unsichtbar gemacht wurden. Aber weil Ideen an sich keine sozialen Veränderungen hervorrufen, beruht Intersektionalität nicht nur auf einer Reihe von Ideen. Intersektionalität beeinflusst soziales Handeln und wirkt sich somit auf die soziale Welt aus.
Intersektionalität ist auf einem guten Weg, eine kritische Sozialtheorie zu werden, die soziale Probleme der Gegenwart und mögliche Lösungswege thematisieren kann. Sie muss aber von Praktiker*innen als kritische Sozialtheorie verstanden und kultiviert werden, damit sie ihre Wirkung überhaupt entfalten kann. Als Werkzeug für kritisches Hinterfragen und als kritische Praxis hat Intersektionalität als kritische Sozialtheorie bisher weder ihr Potenzial vollständig ausgeschöpft noch die eigenen Methoden der Wissensproduktion angemessen demokratisiert. Aber das Fundament dafür existiert. Die Intersektionalität bietet eine solide Wissensbasis, eine Reihe aktueller Fragen, zahlreiche engagierte, interdisziplinäre Praktiker*innen und ebenso viele Praxistraditionen, die zusammengenommen auf ihre theoretischen Möglichkeiten verweisen. Sie ist auf dem besten Weg einen unabhängigen theoretischen Raum zu entwickeln, der für ihre aktuellen Fragen und Anliegen richtungsweisend sein könnte. Aber ohne ernsthafte Selbstreflexion könnte Intersektionalität einfach eine weitere Sozialtheorie werden, die den Status quo aufrechterhält. Wenn Praktiker*innen sich nicht für die kritischen Möglichkeiten, die Intersektionalität bietet, einsetzen, könnte es passieren, dass Intersektionalität sich einfach nur in eine Art »akademischen Bullshit« verwandelt – so hat eine Freundin von mir es ausgedrückt – und sich damit in den Club der Projekte einreiht, deren progressives und radikales Potenzial längst verschwunden ist. Intersektionalität könnte eine dieser Ideen werden, die kurz auftauchen und dann wieder verschwinden.
Die kritische Sozialtheorie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen kritischer Analyse und sozialem Handeln, wobei gerade die Theorien, bei denen die Verbindung zwischen diesen beiden Polen am stärksten ausgeprägt ist, am robustesten und nützlichsten sind. Zu behaupten, Intersektionalität sei eine kritische Sozialtheorie im Entstehungsprozess, bringt zwei Herausforderungen mit sich. Einerseits ist es an der Zeit, innerhalb der Parameter von Intersektionalität ihr kritisches Potenzial als Theorie zu klären. Andererseits wird die Zeit knapp, um Intersektionalität als kritische Sozialtheorie in der Wissenschaft zu etablieren. Wenn Intersektionalität nicht bald selbst ihr eigenes kritisches Theorieprojekt aufklärt und darlegt, werden es andere für sie tun.
In Intersektionalität als kritische Sozialtheorie nutze ich Intersektionalität als Brille, um die Wechselbeziehung zwischen kritischer Analyse und sozialem Handeln zu untersuchen. Ich möchte verstehen, wie und warum Intersektionalität eine kritische Sozialtheorie wird, die kritische Analysen und soziales Handeln in ständiger gemeinsamer Bewegung hält. Intersektionalität wird in der Wissenschaft, in der Forschung, in der Lehre und im administrativen Bereich bereits vielfach angewendet, ohne dass es ein Einverständnis darüber geben würde, was Intersektionalität tatsächlich ist. Die Fachliteratur fasst Intersektionalität als alles Mögliche – als Paradigma, Konzept, theoretischer Rahmen, Heuristik oder Theorie (Bilge und Collins 2016). Meiner Einschätzung nach war diese Heterogenität bisher nützlich, da auf diese Weise unterschiedliche Perspektiven eingebracht werden konnten und somit das Dynamische, was Intersektionalität ausmacht, nach außen getragen wurde. Die Bandbreite existierender Veröffentlichungen, die sich unter dem Oberbegriff Intersektionalität zusammenfassen lassen, bietet eine vielversprechende Grundlage dafür, nun die konkreten Fragen, Anliegen und Analysen von Intersektionalität zu spezifizieren.
Die zunehmende Etablierung von Intersektionalität in der Wissenschaft hat bereits dazu geführt, dass die Intersektionalität Erfahrungen mit den Gatekeeping-Praktiken der Sozialtheorie machen musste. Wenn es um ihre Geltung als Sozialtheorie geht, steht für Intersektionalität in wissenschaftlichen Debatten viel mehr auf dem Spiel als die Fragen, ob der Marxismus wirklich tot ist oder warum der Poststrukturalismus nicht kritisch genug ist. Bei einer Sozialtheorie geht es nicht nur um die Inhalte eines Arguments, sondern auch um die Theoriebildungspraxis, die diese Inhalte hervorbringt. Die Bedeutung einer Sozialtheorie findet sich nicht nur in den Worten, mit denen sie beschrieben wird oder die sie verwendet, sondern auch in der Entwicklung und Anwendung ihrer Ideen. Als heranreifendes Forschungsfeld muss Intersektionalität die Kriterien und die Praktiken evaluieren, die ihrer Theoriebildung zugrunde liegen. Westliche Sozialtheorien wurden häufig in den Dienst von Unterdrückungssystemen gestellt. Deshalb ist es wichtig, Theorien nicht nur zu lesen, sondern herauszufinden, welche Wirkung Sozialtheorien auf Gesellschaften ausüben, insbesondere, wenn sie für sich beanspruchen, kritische Sozialtheorien zu sein.
Im Hinblick auf die kritische Sozialtheorie befindet sich Intersektionalität an einem Scheideweg. Intersektionalität als kritische Sozialtheorie zu bezeichnen, ohne ernsthaft und kritisch zu analysieren, was das überhaupt bedeutet, halte ich für voreilig und problematisch. Die unbekümmerte und sich häufende Art und Weise, mit der Intersektionalität nun als Sozialtheorie bezeichnet wird, erinnert an den anfänglichen enthusiastischen Zuspruch für Intersektionalität an sich. In den 1990er-Jahren machten sich innerhalb relativ kurzer Zeit unheimlich viele Leute Intersektionalität zunutze. Diese Kennenlernperiode war zunächst energetisierend. Aber da Intersektionalität nun als kritisches Analysewerkzeug und kritische Praxis herangewachsen ist und weiterhin von vielen Leuten aufgegriffen wird, müssen ihre Fürsprecher*innen selbstreflexiver im Umgang mit den Zielen, Analysen und Praktiken von Intersektionalität werden. Konkret muss Intersektionalität sich für oder gegen die oft miteinander konkurrierenden Perspektiven auf das, was sie ist oder machen sollte, entscheiden. Da so viele Leute Intersektionalität für sich beanspruchen und sie auf so unterschiedliche Weisen nutzen, steht Intersektionalität vor einem definitorischen Dilemma (Collins 2015). Das theoretische Gerüst der Intersektionalität unbeleuchtet zu lassen, verstärkt dieses Dilemma nur. Ohne also zu hinterfragen, wie die kritischen Analysemethoden mit sozialem Handeln verbunden sind, würde Intersektionalität auf der Stelle stehen bleiben, unentschieden bloß in die verschiedenen Richtungen ihrer eigenen sich überkreuzenden Wege gezerrt werden, in der Fülle der eigenen Ideen untergehen und an den eigenen Ideen scheitern. Ohne nachhaltige Selbstreflexion wird Intersektionalität nicht in der Lage sein auch nur irgendwem bei der Auseinandersetzung mit sozialem Wandel – auch innerhalb intersektionaler Praktiken – behilflich zu sein.
In diesem Buch vertrete ich die Position, dass es sich bei einer Sozialtheorie um eine ganz bestimmte Art von Wissen handelt. Sozialtheorien versuchen die soziale Welt zu erklären, indem sie interpretieren, wie und warum Dinge sind, wie sie sind, und in welche Richtung sie sich entwickeln werden und in welche nicht. Weil Theorien die soziale Welt erklären, nehmen sie auch Einfluss auf sie, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist. Einige Theorien haben die Macht, zu unterdrücken, und tun dies auch recht wirkungsvoll, ohne dass viele Menschen merken, wie ebendiese Theorien soziale Ungerechtigkeiten aufrechterhalten. Andere Sozialtheorien haben in beachtlicher Weise zu sozialem Handeln geführt, indem sie einen kritischen Blick auf die soziale Welt eröffneten, der kleinere oder größere Rebellionen inspirierte. Sozialtheorien legitimieren Aspekte einer gegebenen sozialen Ordnung oder fordern sie heraus. Innerhalb des Universums der Sozialtheorien dienen kritische Sozialtheorien dazu, soziale Ungerechtigkeiten zu erklären und anzuprangern. Dabei behalten sie Möglichkeiten für Veränderungen im Blick. Anders ausgedrückt, kritische Sozialtheorien zielen darauf ab, zu reformieren und das zu verändern, was hoffentlich verändert werden kann.
Die kritische Sozialtheorie ist auch insofern eine besondere Wissensform, weil sie den Fokus auf die soziale Welt legt. Die soziale Welt wird von Menschen geschaffen und verändert. Der besagte Fokus der kritischen Sozialtheorie geht mit einem bestimmten Vokabular einher. Verwandte Begriffe sind beispielsweise soziale Ungerechtigkeit, soziale Probleme, soziale Ordnung, Social Justice und sozialer Wandel. Bei all diesen Begriffen ist es wichtig im Kopf zu behalten, dass es ohne menschliche Interaktion überhaupt keine soziale Welt geben würde. Das primäre Ziel der kritischen Sozialtheorie ist die Erforschung der sozialen Welt, um sie zu verstehen und zu verändern. Derartige Analysen vertiefen das Verständnis der sozialen Welt, aber sie ersetzen sie nicht.
Zwischen kritischen Sozialtheorien und Theoriebildung [theorizing] zu unterscheiden, ist wichtig für dieses Buch. Sozialtheorie als Ergebnis der kritischen Analyse und Theoriebildung als Prozess zu verstehen, der die soziale Welt erklärt, dient der Demokratisierung der Wissensproduktion. Eliten sind nicht die einzigen die Theorien entwickeln. Viele Menschen, egal in welcher Lebenslage, können überaus spannende Erklärungen für ihre soziale Welt anbieten. In einem früheren Buch habe ich beispielsweise Schwarzes feministisches Denken als eine Sozialtheorie erforscht, die nicht in elitären Kreisen entstanden ist (Collins 1998a; 2000). Gebildete Akademiker*innen sind nicht die einzigen, die kritische Sozialtheorien entwickeln. Aber sie sind diejenigen, die die Theoriebildung häufiger für sich beanspruchen und davon profitieren. Egal wo wir arbeiten, ob in der Wissenschaft oder nicht, wer Lesen und Schreiben kann, Bildung genossen hat und über Möglichkeiten verfügt, sollte diese knappen Ressourcen nicht vergeuden. Wissen als Privatbesitz zu verstehen, den wir horten können, ist nicht zielführend. Ich bin dank meiner Erfahrungen als Lehrerin für Sozialkunde an Schulen, als Dozentin für Africana Studies, Sozialwissenschaften und Soziologie an Universitäten, da ich seit Jahrzehnten als Wissenschaftlerin über diese Themen schreiben kann und spannende Forschungsarbeiten von jungen Wissenschaftler*innen lesen darf, von der Wichtigkeit von Ideen, Analysen und der kritischen Sozialtheorie an sich überzeugt. Wissenproduzierende Aktivist*innen in Baltimore, Soweto, Havana, Auckland und Istanbul verfolgen ihre intellektuelle Arbeit in überaus unterschiedlichen Umfeldern. Wahrscheinlich werden sie sich in ihrem Leben nie begegnen, aber oft arbeiten sie an erstaunlich ähnlichen Problemen. Es ist auffällig, wie viele von ihnen überzeugende und komplexe Analysen vorlegen, die herausarbeiten, wie sehr der Kolonialismus, das Patriarchat, Rassismus, Nationalismus und der neoliberale Kapitalismus ihre Realität beeinflussen, entweder einzeln oder in Kombination. Intersektionalität ist ein breit angelegtes, kollaboratives, intellektuelles und politisches Projekt mit vielen verschiedenen sozialen Akteur*innen. Die Heterogenität, die die Intersektionalität ausmacht, ist keine Bürde, sondern vielmehr ihre größte Stärke.
Intersektionalität als kritische Sozialtheorie führt Kernkonzepte und Grundprinzipien ein, die als Grundlage dafür dienen, Intersektionalität als eine kritische Sozialtheorie zu verstehen und weiterentwickeln zu können. Ich beschreibe nicht, was Intersektionalität als kritische Sozialtheorie konkret ist. Stattdessen biete ich konzeptionelle Werkzeuge an, die uns einem solchen Verständnis näherbringen. In anderen Worten schafft dieses Buch ein vorübergehendes Fundament, um über Intersektionalität als eine kritische Sozialtheorie im Entstehungsprozess nachdenken zu können.
Mir ist bewusst, dass dieses Buch – genau wie Intersektionalität an sich – ein unheimlich großes Themenspektrum umfasst. Um die Reihenfolge meiner Hauptthesen zu visualisieren, habe ich ein detailliertes Inhaltsverzeichnis an dieses Buch angehängt, das einen Überblick über seinen Gesamtaufbau liefert. Diese Gliederung dient als Navigationshilfe und zeigt, wie die Argumentation angelegt ist, und ihr gesamtes Ausmaß ist auf einen Blick zu erkennen. Schauen Sie gerne während des Lesens hin und wieder in diese Gliederung. Das sollte Ihnen helfen, zu verstehen, wo Sie sich im Text befinden. Die Ausführlichkeit des Anhangs macht Ihnen deutlich, dass Ihnen einige Themen vielleicht bereits vertraut sind, Sie andere aber noch nicht so gut kennen. Möglicherweise wissen Sie viel über feministische Theorie, aber weniger über den US-amerikanischen Pragmatismus. Vielleicht haben Sie ein solides Verständnis von Epistemologie, wohingegen Ihnen der Schwarze Feminismus noch völlig unbekannt ist. Oder Sie wissen, wie wichtig kritisches Denken für die Kognitionspsychologie und die Pädagogik ist, während Ihnen die Geschichte der Eugenik weniger geläufig ist.
Viele Leute finden Sozialtheorien nicht besonders ansprechend, sie halten sie für übertrieben abstrakt und irrelevant. Während Theoretiker*innen in ihren Erklärungen nicht auf Fachbegriffe verzichten können, empfinden fachfremde Personen diese Art des Ausdrucks manchmal als ausschließend. Das Problem ist, dass Theoretiker*innen und Laien jeweils eine ganz spezifische Sprache verwenden, die ihre komplexen Erfahrungen und Betrachtungsweisen widerspiegeln. Dieses Dilemma ist mir bewusst und dennoch wollte ich einen Weg finden, um eine breite Leser*innenschaft zu erreichen. Mein Lösungsansatz beinhaltet, dass ich Ihnen zunächst vermittle, was Sie wissen müssen, damit Sie anschließend die Argumente dieses Buches in ihrer abstrahierten Form verstehen können. Aufgrund dieser Entscheidung, die ich als notwendig erachte, war es eine große Herausforderung, dieses Buch zu schreiben.
Bitte bedenken Sie beim Lesen dieses Buches, dass Intersektionalität als kritische Sozialtheorie, genau wie Intersektionalität selbst, ein breites Spektrum an Themen, Theorien und Argumenten umfasst, die sonst nicht unbedingt in einen Zusammenhang gebracht werden. Deshalb empfehle ich dieses Buch so zu lesen, als wären Sie Teil einer Interpretationsgemeinschaft, in der sich Expertise über diverse Themenbereiche versammelt. Ich habe die Kapitel so geschrieben – und in einigen Fällen auch einzelne Abschnitte in Kapiteln –, dass sie als eigenständige Essays gelesen werden können und zugänglich für Leser*innen mit verschiedenen Hintergründen sind. Bedenken Sie beim Lesen bitte, dass dieses Buch im Sinne der Intersektionalität verschiedene Ideen miteinander in einen Dialog bringt. Ich möchte eine heterogene Leser*innenschaft erreichen, bei der Darstellung der Ideen aber nichts an Integrität einbüßen müssen. Mit Intersektionalität zu arbeiten, funktioniert genau so.
Intersektionalität als kritische Sozialtheorie besteht aus vier Teilen, die die konzeptionellen Werkzeuge für den Aufbau einer Theorie der Intersektionalität liefern. Teil I stellt das grundlegende Vokabular vor, mit dem verschiedene soziale Akteur*innen für die Theoriebildung zusammengebracht werden können. Eine Darstellung dessen, was Praktiker*innen als Intersektionalität verstehen (Kapitel 1) und was für Soziolog*innen als kritische Sozialtheorie gilt (Kapitel 2), macht diese beiden Interpretationsgemeinschaften miteinander bekannt. Teil II legt den Fokus auf intellektuellen Widerstand, der ein wichtiges Element des kritischen Auftrags von Intersektionalität ist. Intersektionalität hat unzählige Verbindungen zu widerständigen Wissensformen, die intersektionale Ideen und Praktiken inspirieren (Kapitel 3). Außerdem muss hinterfragt werden, wie epistemische Gewalt die Grenzen und Möglichkeiten des intellektuellen Widerstands, den Intersektionalität leisten möchte, beeinflusst (Kapitel 4). Teil III analysiert soziales Handeln als Methode der Wissensproduktion und als wichtigen Aspekt der Theoretisierung von Intersektionalität. Wie Erfahrungen und soziales Handeln im Kontext von Community[3] kontextualisiert werden (Kapitel 5) und was soziales Handeln über die Grenzen der Definition von Intersektionalität verrät (Kapitel 6), sind wichtige Aspekte intersektionaler Theoriebildung. Teil IV befasst sich mit zwei zentralen Konstrukten von Intersektionalität, die oft als selbstverständlich erachtet werden, jedoch im Rahmen von Intersektionalität als kritische Sozialtheorie selbstreflektierend analysiert werden müssen. Das erste Kernthema, welches einer kritischen Analyse bedarf, ist Relationalität (Kapitel 7). Das zweite ist das Engagement für Social Justice. Es kann nicht länger einfach vorausgesetzt werden, dass Intersektionalität eine Social-Justice-Theorie ist, sondern es bedarf vielmehr einer aktiven Entscheidung dazu (Kapitel 8).
Lassen Sie sich nicht täuschen: Es war eine Herausforderung für mich, Intersektionalität als kritische Sozialtheorie zu schreiben, und es wird wahrscheinlich genauso schwierig für Sie, es zu lesen. Da wir in einer Zeit großer Veränderungen leben, musste so viel mitgedacht werden und ich konnte keinen besseren Weg finden, dieses Buch zu schreiben. Ich habe mein Bestes gegeben, komplexe Argumente verständlich darzulegen. Sie werden Ihr Bestes geben müssen, um diese Argumente zu interpretieren.
Wenn es um die theoretischen Konturen von Intersektionalität geht, dann ist es wichtig, nicht das Ideal von Intersektionalität als kritische Sozialtheorie mit dem zu verwechseln, was Intersektionalität aktuell tatsächlich ausmacht. Vielen Leuten gefällt die Idee von Intersektionalität an sich und deshalb glauben sie, sie würden das gesamte Themenfeld verstehen. Tatsächlich ist Intersektionalität ein viel weitläufigeres Feld als viele denken. So geht es sogar einigen von uns, die schon eine ganze Weile zu Intersektionalität forschen. Es fällt mir schwer, das schiere Ausmaß der Ergebnisse zu erfassen, die eine schlichte Literaturrecherche zum Begriff Intersektionalität mittlerweile ergibt. Die riesige Zahl an wissenschaftlichen Arbeiten, die diesen oder verwandte Begriffe – wie etwa Race, Klasse oder Gender – verwenden, bietet ausreichend vielfältigen Stoff dafür, um Intersektionalität als kritisches Analysewerkzeug und kritische Praxis darzustellen. Wenn es um die Inhalte von Intersektionalität geht, gibt es fast zu viel Material, als das es sich noch kategorisieren ließe. Die existierende Forschung reicht inzwischen aus, um die wichtigsten Dimensionen der Architektur dessen, wie über Intersektionalität gedacht wird, für die kritische Sozialtheorie zu erläutern (Bilge und Collis 2016).
Um Intersektionalität besser zu verstehen, lohnt es sich, sich die inneren Dynamiken genauer anzuschauen. Wenn Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen oder Praktiker*innen sagen, ihr Projekt sei ›intersektional‹ oder sie selbst würden ›intersektional handeln‹, was meinen sie damit? Im ersten Kapitel, »Intersektionalität als Werkzeug der Kritik«, untersuche ich das kognitive Fundament von Intersektionalität. Ich schaue mir drei Arten an, auf die Menschen Intersektionalität nutzen, um die soziale Welt zu verstehen – nämlich Intersektionalität als Metapher, als Heuristik und als Paradigma. Ich behaupte, dass diese typischen Verwendungsweisen eine konzeptionelle Grundlage für die theoretische Weiterentwicklung von Intersektionalität bilden. Ich möchte dahin gelangen, die kritischen Denkwerkzeuge, die der intersektionalen Praxis zugrunde liegen, konkret benennen zu können, um zu zeigen, dass Intersektionalität eine kritische Sozialtheorie im Entstehungsprozess ist. Wie können diejenigen, die Intersektionalität praktizieren, auf diesem kognitiven Fundament aufbauen, um das theoretische Potenzial von Intersektionalität nutzbar zu machen? In Kapitel 1 stelle ich außerdem die nötigen Grundvoraussetzungen vor, damit Intersektionalität als kritische Sozialtheorie verstanden werden kann. Im Laufe des gesamten Buches entwickle ich diese Grundgedanken weiter. Intersektionalität befindet sich angesichts ihres breiten Themenspektrums konstant in einem Spannungsfeld zwischen den verschiedenen sozialtheoretischen Konzeptionen, die in den Sozialwissenschaften, der Philosophie und den Geisteswissenschaften vorkommen. Das weit gefasste Verständnis einer Sozialtheorie, das Menschen im Sinn haben, wenn sie Intersektionalität verwenden, spiegelt diese Spannungen wider. Was Menschen unter einer Sozialtheorie verstehen, beeinflusst, ob sie Intersektionalität als solche erkennen und wie sie ihren Status bewerten. Andererseits gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen den Inhalten einer Sozialtheorie und Doing Social Theory, dem Prozess, Sozialtheorie zu ›betreiben‹. Anders ausgedrückt ist die Sozialtheorie eine Wissensform, die die soziale Welt erklärt, und das Theoretisieren ist ein Prozess oder eine Form des Arbeitens, um Sozialtheorien zu entwickeln. Wenn wir möchten, dass Intersektionalität sich zu einer kritischen Sozialtheorie entwickelt, müssen wir beiden Aspekten Aufmerksamkeit schenken.
Einerseits bestehen relevante Unterschiede zwischen der Art und Weise wie die Geistes- und die Sozialwissenschaften Sozialtheorien definieren, andererseits muss die Unterscheidung zwischen dem Inhalt von Sozialtheorien und dem Theoriebildungsprozess ernstgenommen werden. Doch darauf muss ich hinzuweisen: Kein Aspekt einer Sozialtheorie ist inhärent kritisch. Sowohl in den Geisteswissenschaften als auch in den Sozialwissenschaften gibt es Sozialtheorien, die den Status quo aufrechterhalten, ihn kritisieren oder beides gleichzeitig tun. Auch die Inhalte oder die Anwendung irgendeiner gegebenen Sozialtheorie sind nicht per se kritisch. Wenn Intersektionalität als eine kritische Sozialtheorie im Entstehungsprozess verstanden werden soll, lohnt es sich also, zunächst zu definieren, was der Begriff ›kritisch‹ für das intersektionale Projekt bedeutet. In Kapitel 2, »Was ist kritisch an einer kritischen Sozialtheorie?« analysiere ich, dass verschiedene Auffassungen der Bedeutung von ›Kritischsein‹ zu unterschiedlichen Implikationen für Intersektionalität führen. Ich untersuche drei verschiedene kritische Sozialtheorien in ihren jeweiligen nationalen und historischen Kontexten: Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (1930er–1940er), die britischen Cultural Studies (1970er–1980er) sowie einige Stränge der frankophonen Sozialtheorien (1950er–1960er). In Bezug auf kritische Sozialtheorien kann keinem Modell, keiner Vorlage, keinem Rezept oder Regelwerk als inhärent kritisch gefolgt werden. Kritische Sozialtheorien entstehen in einem bestimmten Kontext und sprechen auch zu diesem.
Die Analyse dieser konkreten kritischen Sozialtheorien in ihrem jeweiligen Kontext lässt mich zwei Aspekte des Kritischseins genau erfassen. Der erste ist bekannt: Kritische Theorie dient der Kritik beziehungsweise kritisiert eine Idee, eine Praxis oder eine Verhaltensweise. Etwas zu kritisieren, ist eine gängige Bedeutung des Kritischseins. Aber ich stelle außerdem eine weniger bekannte Art des Kritischseins vor: wenn nämlich eine Entität essenziell ist oder unbedingt gebraucht wird, damit etwas passiert, oder ohne sie ein kritischer Zustand ausgelöst wird. Zum Beispiel ist Wasser unabdingbar für die Aufrechterhaltung des Lebens – ohne Wasser wird es kritisch – und Liebe scheint unbedingt notwendig für die menschliche Entwicklung zu sein. Kann eine Idee wie Intersektionalität eine ähnlich zentrale Rolle in der sozialen Welt spielen? Ich stelle diese Frage gleich zu Beginn dieses Buches, lasse sie aber unbeantwortet.
Gemeinsam dienen die ersten beiden Kapitel dazu, zwei zentrale Aspekte von Intersektionalität als kritische Sozialtheorie zu untersuchen: Einer bezieht sich auf die innere Dynamik von Intersektionalität und der andere auf die Beziehung zwischen Intersektionalität und etablierten kritischen Sozialtheorien. Auf die eigenen Praktiken und die der anderen zu schauen, rahmt die großen Themen, die intersektionalen Untersuchungen zugrunde liegen. Kapitel 1 und 2 stellen Intersektionalität und einige ausgewählte wissenschaftliche Theorietraditionen aber nicht nur vor. Wenn diese Kapitel gemeinsam gelesen werden, stellen sie die Offenheit von Intersektionalität als neu entstehendes theoretisches Vorhaben den etablierten Traditionen der theoretischen Kanonbildung in der Wissenschaft gegenüber. Genauso wie es noch nicht die eine Art gibt, intersektional zu handeln, der alle zustimmen, zeigt meine Analyse ausgewählter kritischer Sozialtheorien, dass auch sie nicht nur auf eine Weise betrieben oder betrachtet werden können. Gleichzeitig dienen die Kapitel dazu, die wissenschaftliche Welt aufzurütteln, indem sie zeigen, dass es bestimmte kritische Sozialtheorien gibt, die anerkannter sind als andere. Im Grunde frage ich danach, wie kritisch oder widerständig kritische Sozialtheorien innerhalb bestehender akademischer Rahmenbedingungen sein können, wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass die Theoriebildung einzig und allein Akademiker*innen vorbehalten ist. Welche Möglichkeiten entstehen für widerständiges Wissen, insbesondere für kritische Sozialtheorien, aufgrund dieser Annahme und welche werden ausgeschlossen?
Bei der Betrachtung von Ideengeschichten wird selten mitgedacht, inwiefern Machtbeziehungen die Fragen und Annahmen, das Wissen und den Einfluss einer bestimmten Sozialtheorie prägen. In Teil II dieses Buches analysiere ich derartige Machtbeziehungen, wobei ich den Fokus nicht auf verschiedene Formen von Herrschaft lege, sondern ein Konzept des intellektuellen Widerstands herausarbeite und frage, welche Beziehung diese Art von Widerstand mit Intersektionalität pflegt. Die Untersuchung der Verbindungen zwischen Intersektionalität und intellektuellem Widerstand muss zwei Aspekte beachten: Zum einen kann Intersektionalität selbst als widerständiges Wissensprojekt verstanden werden, da derartig kritische Analysen ihren eigenen intellektuellen Widerstand untermauern. Des Weiteren stellt Intersektionalität sich den epistemologischen Herausforderungen, die ihren intellektuellen Widerstand beeinträchtigen könnten. Bestimmte Wissensprojekte dienen konkret dem intellektuellen Widerstand und die kritische Sozialtheorie ist eine spezielle Form dieser Art des Widerstands.
Es gibt vielfältige politische und intellektuelle Strömungen, die zur Theoriebildung der Intersektionalität beitragen und weit über das hinausgehen, was wissenschaftliche Sozialtheorien einbringen. Die Kategorien Gender, Race, ›Ethnizität‹, Nationalität, Sexualität, BeHinderung[4] und Alter dienen nicht nur dazu, Intersektionalität für Forschungszwecke leichter nutzbar zu machen. Diese Begriffe verweisen vielmehr auf widerständige Wissenstraditionen, die von unterdrückten Gruppen entwickelt wurden, um zu verdeutlichen, welche sozialen Ungerechtigkeiten und Einschränkungen im Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sie erleben. Derartige Projekte bringen die zentralen Anliegen derjenigen ins Gespräch, die von lokalen oder globalen Erscheinungsformen von Rassismus, Sexismus, Kapitalismus, Kolonialismus oder anderen Systemen politischer oder wirtschaftlicher Ausbeutung in eine untergeordnete Rolle gedrängt werden. Nichtprivilegierte Gruppen haben ein persönliches Interesse daran, Widerstand zu leisten, egal von welcher Art von Unterdrückung sie betroffen sind – die Unterdrückung kann sich z. B. auf Race, Klasse, Gender, Sexualität, Alter, BeHinderung, ›Ethnizität‹ oder Nationalität beziehen.
Kapitel 3, »Intersektionalität und Projekte widerständigen Wissens«, untersucht, welche verschiedenen widerständigen Aspekte die Critical Race Theory, der Feminismus und dekoloniale Wissensprojekte beleuchten. Wenn kritisches Hinterfragen widerständigen Praxen entspringt, eröffnet sich meist ein weitaus größeres Repertoire an kritischen Ideen als es innerhalb eines klar gesteckten Rahmens einer Sozialtheorie mit ihren bestehenden Grundannahmen je möglich wäre. Ich habe mich entschieden, mit Critical Race Theory, Feminismus und dekolonialen Wissensprojekte zu arbeiten, da sie wichtige Aspekte der kritischen Theoriebildung, des intellektuellen Widerstands und der Intersektionalität thematisieren. Alle drei spielen eine Rolle innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Sie ähneln sich darin, dass sie auf eine je eigene aktivistische Geschichte zurückblicken können, die die Wichtigkeit des Theoretisierens als Praxis anerkennt. Keiner dieser drei Wissensbereiche ist eine kritische Sozialtheorie in dem Sinne, wie ich sie in Kapitel 2 diskutiere. Aber indem diese drei Bereiche aufzeigen, wie unterschiedlich intellektueller Widerstand geleistet werden kann, tragen sie alle spezifische Erkenntnisse zum Theorieprojekt der Intersektionalität bei.
Critical Race Theory übt – im weitesten Sinne – schon lange Kritik an den Rassentheorien[5], die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen in Europa und Nordamerika hervorgebracht haben. Dabei bezieht Critical Race Theory sich vor allem auf widerständige Wissenstraditionen der Schwarzen Diaspora oder Indigener Communitys. In den letzten Jahren hat der wissenschaftliche Feminismus mit seiner kontinuierlichen und deutlichen Kritik am Gender-Bias in der westlichen Wissensproduktion mehr Sichtbarkeit als ernstzunehmendes Forschungsfeld erlangt. Während feministische Theorie an Legitimation als kritische Sozialtheorie gewinnt, kämpft der Feminismus gleichzeitig weiterhin gegen die tiefgreifende Misogynie in vielen gesellschaftlichen Institutionen. Allen Herausforderungen zum Trotz geht der Feminismus in der kritischen Selbstreflexion und Analyse der eigenen Praktiken beispielhaft voran. Dekoloniale Wissensprojekte sind über die vergangenen Jahre ebenfalls sichtbarer geworden. Diese Entwicklung passierte zeitgleich mit der Etablierung der Postcolonial Studies in der Wissenschaft, die die postkoloniale Kritik zu verwässern scheint. Widerständige dekoloniale Wissensprojekte sind eine kritische Antwort auf zwei Dinge: auf die Grenzen eines wissenschaftlichen Diskurses, der versucht ebendiese dekolonialen Projekte zu repräsentieren, und auf neokoloniale Beziehungen, die ständig ihre Form verändern.
In Kapitel 4, »Intersektionalität und epistemischer Widerstand«, untersuche ich die Notwendigkeit von epistemischem Widerstand im Kampf gegen Rassismus, Sexismus, klassenförmige Ausbeutung oder ähnliche soziale Phänomene. In meiner Argumentation, dass epistemischer Widerstand für Intersektionalität notwendig ist, konzentriere ich mich auf Epistemologie und Methodologie an Orten der Wissensproduktion. Epistemologien und Methodologien beeinflussen verschiedene Aspekte der Wissensproduktion. Einerseits ist Intersektionalität in einem weitgefassten epistemologischen Rahmen verortet, der festlegt, was für Definitionen von Theorie gelten und wie Theorien bewertet werden. Im Prozess der Definition und Evaluation üben Epistemologien regulatorische Macht über Sozialtheorien aus. Epistemologien sind damit in Machbeziehungen eingebunden und schauen der sozialen Konstruktion von Wissen nicht nur passiv zu. Andererseits stützt Intersektionalität sich in der kritischen Theoriebildung auf bestimmte Methodologien, die Machtkonstellationen aufrechterhalten oder durcheinanderbringen. Keine bereits existierende Methodologie kann unkritisch verwendet werden – wahrscheinlich sollte Intersektionalität eher dahin gelangen, eigene maßgebliche Methodologien zu entwickeln. Gegen Ende dieses Kapitels stelle ich eine grundlegende Leitlinie für eine intersektionale Methodik vor, die ich in diesem Buch bereits durchgängig anwende.
Jedes dieser Kapitel untersucht einen der vielen Aspekte von intellektuellem Widerstand. Um Intersektionalität als kritische Sozialtheorie im Entstehungsprozess zu verstehen, müssen vielfältige analytische Werkzeuge herangezogen werden, die sowohl auf intersektionale Ideen als auch auf ihre Praxis eingehen. In der Wissenschaft geschieht politischer und intellektueller Widerstand in den Bereichen der Epistemologie und Methodologie, die beide lange als unvoreingenommen objektiv und daher unpolitisch galten. Nun helfen sie ganz besonders, Intersektionalität als kritische Sozialtheorie im Werden betrachten zu können. Epistemologien und Methodologien sind nicht neutral, sie haben vielmehr eine direkte Auswirkung darauf, ob widerständiges Wissen wachsen kann oder unterdrückt wird. Wie könnte eine intersektionale Sozialtheorie wohl die eigenen Methoden reflektieren und wie könnten die Methoden helfen, die Sozialtheorie kritisch zu betrachten? Die Erfahrung des Doing Intersectionality ist eine Praxis und so eine Praxis bietet wiederum Grundlagen für intersektionale Theoriebildung.
Die Analyse verschiedener widerständiger Wissenstraditionen in diesem Buch legt nahe, dass soziales Handeln und Erfahrungen wichtige Dimensionen sind, die sich gegenseitig bedingen und von unterdrückten Gruppen genutzt werden, um Theorien zu entwickeln. Für Menschen, die von Herrschaftssystemen wie dem Kolonialismus, Patriarchat, Rassismus oder Nationalismus benachteiligt werden, wird die erlebte Unterdrückung oft zum Katalysator, um ebendiese Systeme kritisch zu hinterfragen und sich aktiv gegen sie zu richten. Die eigenen Erfahrungen bieten Anlass genug, die herausfordernde Aufgabe der Theoriebildung zu übernehmen. Darüber hinaus ist das bewusste soziale Handeln, das die Analyse eigener Erfahrungen kennzeichnet, ebenfalls eine ausschlaggebende Dimension kritischer Theoriebildung. Diese Art des Learning by doing deutet an, dass Denken und Handeln keine voneinander getrennten Unterfangen sind, sondern dass sie sich aufeinander beziehen. Des Weiteren sind sowohl Erfahrungen als auch soziale Handlungen an einen spezifischen sozialen Kontext gebunden – auf diese Weise ist die Theoriebildung in gegebenen Machtbeziehungen verankert und keine Reaktion auf sie. Soziales Handeln ist eine Antwort auf Machtbeziehungen.
In westlichen Sozialtheorien wird soziales Handeln infolge von bestimmten Erfahrungen oft entweder als Datenmaterial interpretiert, das in bestehende Theorien einzubeziehen ist, oder als Vorurteil, das ausgeschlossen werden sollte. Erfahrungen werden bisher nicht als Wissen wertgeschätzt und Theorien, die auf Basis von sozialem Handeln entstehen, werden womöglich gar nicht erst als solche verstanden. Diese epistemologischen Annahmen entwerten theoretische Werkzeuge, die widerständiges Wissen hervorrufen und formen. Gruppen, die Critical Race Theory, Feminismus und Decolonial Studies vorantreiben, werden u.a. häufig für ihren Partikularismus kritisiert, wenn sie für ihre Analysen der Welt eigene Erfahrungen heranziehen und dabei ihren Fokus auf Herrschaft und Unterdrückung legen. Kritiker*innen behaupten, derartiges Handeln, das die Gesellschaft verändern soll, würde nicht zu mehr Wissen beitragen, sondern zu einem vorurteilsbelasteten Blick. Dieser epistemologische Rahmen wirkt sich auf Intersektionalität aus. Folglich sieht sich Intersektionalität dem Vorwurf ausgesetzt, zu eng mit den Ideen und Interessen von Frauen, Schwarzen Menschen, armen Menschen oder Personen aus anderen unterdrückten Gruppen verbunden zu sein. Des Weiteren schränkt die Kritik an Intersektionalität ihr theoretisches Potenzial ein, indem bestimmten Theoriewerkzeugen widerständiger Wissenstraditionen die Legitimität abgesprochen wird. Nicht zuletzt führen diese Annahmen dazu, dass nur einer eingeschränkten Zahl von Menschen in der Theoriebildung Glaubwürdigkeit geschenkt wird und ihre Ideen nur begrenzt in den Prozess einfließen.
Im Gegensatz zum stillen Nachdenken einzelner Wissenschaftler*innen, die ohne jeglichen Kontakt zur sozialen Welt arbeiten, regt Intersektionalität methodologisch gesehen einen viel radikaleren Theoriebildungsprozess an. Ich denke nicht, dass in der Intersektionalität Erfahrungen und soziales Handeln vollständig aus der Theoriebildung herausgehalten werden sollten, stattdessen wäre es sinnvoll, neu zu definieren, auf welche Weise soziales Handeln zur Wissensproduktion beiträgt. So würde Erfahrungswissen wertgeschätzt und intersektionale Theoriebildung potenziell gestärkt. Am besten wäre es, denjenigen, die Intersektionalität kritisieren, gute Argumente entgegenzuhalten, wie und warum Erfahrungen und soziales Handeln wichtige Dimensionen für das intersektionale Theoretisieren sind. Zu diesem Zweck frage ich: Welches Konzept von sozialem Handeln als Methode der Wissensproduktion kann Intersektionalität für ihren Werkzeugkasten der Theoriebildung zugrunde legen? Wie kann das Zurückgreifen auf Erfahrungen intersektionale Theorie stärken?
Kapitel 5 und 6 legen den Fokus auf verschiedene Herangehensweisen und Perspektiven auf die Verbindungen, die zwischen der Wissensproduktion über Erfahrung und soziales Handeln und der kritischen Theoriebildung von Intersektionalität existieren. In Kapitel 5, »Intersektionalität, Erfahrungen und Community«, stelle ich einen Dialog zwischen Schwarzem Feminismus und US-amerikanischem Pragmatismus her, um zwei aktuelle Kontroversen in Bezug auf Intersektionalität genauer zu beleuchten. Die eine Kontroverse thematisiert Erfahrungen als wichtiges, wenn auch oft außenvorgelassenes Mittel für die kritische Theoriebildung. Da Erfahrungen in der sozialen Welt entstehen, können sie als Fenster in diese Welt verstanden werden. Erfahrungen können genauso tiefgründig theoretisiert werden wie Bücher, Filme oder andere kulturelle Texte. Alle Individuen machen bestimmte Erfahrungen, doch welche Bedeutung sie ihren Erfahrungen geben, hängt stark damit zusammen, wie sie sich innerhalb ihrer Familien, in verschiedenen Gruppen, nationalen Zusammenhängen oder anderen Kollektiven, die ihr soziales Umfeld bilden, verorten. Die Texte einer Diskursanalyse können nicht mit den Theoretiker*innen sprechen. Aber Menschen, die Subjekt einer Forschungsarbeit werden, können das durchaus und sie beziehen sich dabei oft auf ihre Erfahrungen als Wissensgrundlage. Die zweite Kontroverse bezieht sich auf das Vokabular, das benötigt wird, um die soziale Welt nicht nur als eine Konstellation von Individuen analysieren zu können. An dieser Stelle kommt soziales Handeln ins Spiel. Die soziale Welt befindet sich nämlich durch das Handeln von Individuen und Gruppen konstant im Aufbau. Das Konstrukt der Community ist überaus nützlich, um kollektive Identitäten und kollektives Handeln zu verstehen, besonders innerhalb oder über die heterogenen Communitys of Inquiry[6] hinaus, die Intersektionalität ausmachen. Bei Schwarzem Feminismus und US-amerikanischem Pragmatismus handelt es sich um sehr unterschiedliche Diskurse. Beide heranzuziehen, eröffnet Perspektiven auf Erfahrungen, Community und folglich auch auf soziales Handeln als Methode der Wissensproduktion, die sich gegenseitig ergänzen.
In Kapitel 6, »Intersektionalität und die Frage der Freiheit«, gehe ich der Frage nach, inwiefern das Verständnis, dass soziales Handeln Wissen produziert, sich auf die Theoriebildung von Intersektionalität auswirkt. Dazu analysiere ich die Werke von Simone de Beauvoir (1908–1986) und Pauli Murray (1910–1985). Die Art und Weise, mit der diese beiden feministischen Intellektuellen sich mit dem Existenzialismus und der afroamerikanischen Politik und Gesellschaft auseinandergesetzt haben, verdeutlicht ihre unterschiedlichen Standpunkte in Bezug auf ihr Verständnis von Freiheit. Indem ich die Ideen zweier feministischer Vordenkerinnen in einen Dialog setze, kann ich zeigen, wie sich ihre jeweiligen Analysen von Unterdrückung und Freiheit darauf stützen, dass Erfahrungen und soziales Handeln Wissen generieren können. Die Arbeit, die die beiden unabhängig voneinander zum Thema Freiheit geleistet haben, wirkt sich auf unterschiedliche Weise darauf aus, dass Intersektionalität nun die rekursive Beziehung zwischen theoretischen Konzepten und sozialem Handeln betont. Beauvoir steht für eine existenzialistische Perspektive auf die Freiheit und obwohl ihr bekannt war, dass es Unterdrückung aufgrund von Race, Gender und Sexualität gibt, setzte sie sich nicht für eine intersektionale Betrachtungsweise von Freiheit und Unterdrückung ein. Murrays Lebensweg, ihr Denken und ihr Werk wandten sich in eine andere Richtung. Ihr immer differenzierter werdender Blick auf Freiheit und Unterdrückung verfeinerte sich, indem sie die Theorie und den tatsächlichen Freiheitskampf ständig in Beziehung zueinander setzte. Murrays intellektuelle und politische Arbeit veranschaulicht den Prozess eines dialogischen Umgangs mit Race, Klassenzugehörigkeit, Gender, Sexualität und Nationalität, um zu einer politischen und intellektuellen Agenda zu gelangen. Murray beanspruchte keine Vollständigkeit für die Grundpfeiler ihres Denkens. Aus diesem Grund verweist ihr engagiertes soziales Handeln auf eine andauernde intellektuelle Reise, die als Vorbild für intersektionale Theoriebildung dienen kann.
Diese beiden Kapitel unterstreichen zwei wichtige methodologische Dimensionen von Intersektionalität, die schon in früheren Kapiteln eingeführt wurden und sich durch das gesamte Buch ziehen. Zum einen geht es um den zentralen Stellenwert des Dialogischen für die intersektionale Theoriebildung: In Kapitel 5 werden Schwarzer Feminismus und US-amerikanischer Pragmatismus in einen Dialog zueinander gesetzt, um Erfahrung und soziales Handeln neu zu denken. In Kapitel 6 dient der Dialog zwischen Beauvoirs und Murrays Werken der Theoretisierung von Freiheit und Unterdrückung. In ihrer Zusammenstellung zeigen die Kapitel, welches Potenzial der Dialog für die intersektionale Theoriebildung hat.
Die zweite ausschlaggebende methodische Dimension bezieht sich auf die Notwendigkeit, den Entdeckungszusammenhang der Intersektionalität zu erweitern, indem Intersektionalität seinen inklusiven Umgang mit verschiedenen Communitys of Inquiry verstärkt. In früheren Kapiteln habe ich mich auf der Suche nach Ideen, die zur theoretischen Ausformulierung von Intersektionalität beitragen, mit Diskursen auseinandergesetzt – anerkannten kritischen Sozialtheorien und widerständigen Wissensprojekten –, die außerhalb des intersektionalen Kanons liegen. Dadurch, dass ich in den Kapiteln 5 und 6 den Fokus auf den Schwarzen Feminismus und Pauli Murray als Schwarze feministische intellektuelle Aktivistin gelegt habe, hebe ich den möglichen Wert einer weiter gefassten Perspektive auf Personen und Communitys hervor, die Intersektionalität praktizieren.
Intersektionalität konnte gedeihen, da Praktiker*innen sich auf ähnliche Grundkonzepte und Prämissen berufen. Aber kann Intersektionalität sich ohne eine andauernde Reflexion der eigenen Grundideen und Praxen weiterentfalten? Intersektionalität als kritische Sozialtheorie im Entstehungsprozess kann sich nicht auf frühere Errungenschaften verlassen. Als Intersektionalität zu einem Teil der wissenschaftlichen Welt wurde, war ihre kritische Herangehensweise deutlich erkennbar, verwies auf ihre Verbindungen mit widerständigen Wissensprojekten und auf ihren Einsatz für die Dekolonisierung von Wissen in wissenschaftlichen Einrichtungen. Doch wie kritisch ist Intersektionalität heutzutage? Es reicht nicht mehr zu sagen, dass Intersektionalität hochaktuelle, kritische Analysen vorantreibt. Als heranreifender Diskurs muss Intersektionalität die Bedingungen für die eigenen Anwendungsbereiche klarer definieren, und zwar nicht als Reaktion auf kritische Stimmen, sondern affirmativ über bewusste Reflexion der eigenen paradigmatischen Prämissen und methodologischen Praxis. Um die intersektionale Kritik zu schärfen, sollte sich auf ein bestimmtes Verständnis der eigenen Grundkonzepte und Prämissen geeinigt werden, auch wenn diese Einigung zunächst vorläufig bleibt.
Relationalität und Social Justice bilden zwei der Kernkonstrukte, die unkritisch als Teil von Intersektionalität verstanden werden. Da es sich um zwei allgegenwärtige und selbstverständlich zur Intersektionalität gehörende Annahmen handelt, werden sie nicht notwendigerweise analysiert oder kritisch bewertet. Dennoch prägen sie die intersektionale Forschung und Praxis.
Relationalität ist ein Kernkonstrukt der Intersektionalität. Es würde keine Intersektionalität ohne Relationalität geben. Der Fokus auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Entitäten ist ein Definitionsmerkmal von Intersektionalität. Doch welche Art von Relationalität benötigt Intersektionalität als kritische Sozialtheorie? Über Relationalität nachzudenken, hat Auswirkungen auf die Hypothese, die dem intersektionalen Verständnis, in welchem Verhältnis verschiedene Machtbeziehungen zueinander stehen, zugrunde liegt. Innerhalb von Intersektionalität wird mittlerweile als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Race, Gender, Klassenzugehörigkeit und andere Machtsysteme sich gegenseitig konstruieren. Doch wo ist der Beweis, dass Intersektionalität bessere Erklärungen für Machtverhältnisse liefert als andere Sozialtheorien? Das Thema Relationalität durchzieht das gesamte Buch und taucht an einigen Stellen als Rahmen für den Dialog zwischen Diskursen und Communitys of Inquiry auf und an anderen als Strategie für die intersektionale Theoriebildung. Allerdings ist diese Aussage an sich hegemonial. Wo ist der Beweis, dass relationale Analysen sozialer Phänomene bessere Erklärungen für die soziale Welt liefern als andere Arten der Analyse?
In Kapitel 7, »Relationalität innerhalb der Intersektionalität«, beschäftige ich mich mit der herausfordernden Aufgabe, die Dynamiken von Relationalität innerhalb von Intersektionalität zu konzeptualisieren. Ich frage: Wie könnte Intersektionalität eine substanzielle, theoretische Argumentation entwickeln, die ihre zentralen, relationalen Prozesse erklärt? Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, skizziere ich die drei Arten relationalen Denkens, die in Intersektionalitätsdiskursen verwendet werden, und zwar Relationalität durch Addition, Artikulation und Ko-Formation. Meiner Meinung nach ist die Systematisierung der relationalen Logik, die intersektionale Forschung und Aktivismus zugrunde legen, ein vielversprechender erster Schritt, um das Ausmaß und die Bedeutung von Relationalität zu klären. Addition, Artikulation und Ko-Formation dienen als Ausgangspunkte und nicht als Endpunkte in der Analyse von Relationalität und bieten somit eine Möglichkeit, die Denkwerkzeuge, die Menschen für unterschiedliche intersektionale Projekte verwenden, zu organisieren.
In Kapitel 8, »Intersektionalität ohne Social Justice?«, analysiere ich die als selbstverständlich vorausgesetzte Idee, Social Justice sei ein inhärenter Teil von Intersektionalität und intersektionale Forschung würde sich automatisch für Social Justice einzusetzen. Zu diesem Zweck setze ich Intersektionalität in einen Dialog mit der Eugenik, einer Wissenschaft, die früher als ›normal‹ galt und stark mit ultranationalistischem Denken in Verbindung gebracht wird. Ich lege dar, dass der Eugenik eine Selbstverpflichtung zur Social Justice fehlte, obwohl ihre Effektivität auf einer Relationalität beruhte, die stark an intersektionale Herangehensweisen erinnert. Die Eugenik berief sich auf Auffassungen von Race, Gender, Klassenzugehörigkeit, Nationalität, Alter, ›Ethnizität‹, Sexualität und BeHinderung, die ihre Kernprämissen verständlich machten und gleichzeitig Unterstützung für ihre politischen Ziele hervorriefen. Welche ethischen Lehren könnte Intersektionalität aus dem Fall der Eugenik für die eigene Forschung ziehen? Welche Rolle spielt Ethik für Intersektionalität ganz allgemein und welche konkret für Intersektionalität als kritische Sozialtheorie?
Diese beiden Kapitel zielen darauf ab, die intersektionale Kritik zu schärfen. Aber sie werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Somit steht es Leser*innen offen zu entscheiden, ob diese Themen relevant für die Debatten der Intersektionalität sind und wenn ja, wie sie behandelt werden sollten. In diesem Sinne entsprechen die Kapitel 7 und 8 der Herangehensweise des gesamten Buches: Sie stellen Fragen und versuchen sie zu beantworten, zeigen dabei aber, dass Intersektionalität nur im Dialog funktioniert und keine einzelne Person oder Gruppe alle Antworten liefern kann. Intersektionalität als kritische Sozialtheorie zu entwickeln, die nicht bei der Idee stehenbleibt, ist ein kollektives und kollaboratives Vorhaben.
Mir ist bewusst, dass Intersektionalität als kritische Sozialtheorie mehr Fragen aufwirft als es beantwortet, aber möglicherweise ist das der eigentliche Sinn einer kritischen Sozialtheorie. Kritische Theoriebildung bedeutet, eine Position zu beziehen und anzuerkennen, dass diese immer nur vorübergehend ist. In diesem Prozess ist es notwendig, nicht nur reflektiert mit dem Verhalten anderer umzugehen, sondern auch mit der eigenen Praxis. Um eine Grundlage für diese beiden Arten der Selbstreflexion zu schaffen – der internen und der externen – lege ich im gesamten Buch ein Augenmerk darauf, wie epistemologische und politische Kriterien der Intersektionalität ihre Kontur als widerständige Wissensform und als Anwärterin auf den Status einer kritischen Sozialtheorie verleihen. Ich stelle die Epistemologie bewusst in den Vordergrund, um zu zeigen auf welche Weise gewisse Wahrheitsverständnisse Wissensprojekte generell beeinflussen und wie sie sich speziell auf Intersektionalität auswirken. Weil Wahrheit und politische Belange derartig eng miteinander verwoben sind, lege ich in diesem Buch sehr viel mehr Wert darauf, Macht und Politik mitzudenken, als es in der Ideengeschichte von Sozialtheorien sonst üblich ist. Dabei verfolge ich die ganze Zeit das Ziel, einen komplexen, weitläufigen, aber nicht zu komplizierten Weg zu finden, in die Kontroversen und theoretischen Schwerpunkte von Intersektionalität einzutauchen.
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Kein Buch kann alles leisten und dieses Buch ist da keine Ausnahme. Intersektionalität als kritische Sozialtheorie ist ein Herzensprojekt und ergänzt meinen intellektuellen Aktivismus um eine weitere Perspektive (siehe z. B. Collins 2013). Das Buch baut auf meiner jahrelangen Auseinandersetzung mit Intersektionalität auf und führt einige neue Aspekte ein. Ich habe mich bereits in zahlreichen Büchern und Artikeln sorgfältig durch bestimmte wissenschaftliche Korpora in Bezug auf Race, Gender, Klassenzugehörigkeit, Sexualität, Nationalität, Alter und andere Analysekategorien durchgearbeitet. Einige Beispiele, die ich in diesem Band zur Illustration meines Verständnisses von Intersektionalität anführe, zeigen deutlich, wie lange und ausführlich ich mich mit diesen verschiedenen Kategorien – mal einzeln, mal in unterschiedlichen Kombinationen – auseinandergesetzt habe. In Black Feminist Thought: Knowledge Conciousness, and the Politics of Empowerment (2000) habe ich das Wissen afroamerikanischer Frauen analysiert. Ich habe dargelegt, dass Schwarzer Feminismus als ein unabhängiges Wissensprojekt verstanden werden kann, das in seiner Antwort auf Unterdrückung bestimmte Standpunkte und politische Agenden vertritt. In Black Sexual Politics: African Americans, Gender, and the New Racism (2004) habe ich Rassismus, Sexismus und Heterosexismus als sich gegenseitig konstruierende Machtsysteme untersucht und erklärt, dass afroamerikanischer Widerstand alle Aspekte dieser Machtsysteme berücksichtigen muss. Mit From Black Power to Hip Hop: Racism, Nationalism, and Feminism (2006) schuf ich einen Rahmen, um Nationalismus als Machtsystem in meine Arbeit zu integrieren, wobei ich mich sowohl auf die ideologische, die politische und die aktivistische Dimension von Rassismus, Nationalismus und Feminismus bezog. Über neun Ausgaben von Race, Class, and Gender: An Anthology hinweg, konnten Margaret Anderson und ich genauestens verfolgen, welche wissenschaftliche Arbeit in Bezug auf Race, Klassenzugehörigkeit, Gender, Sexualität, ›Ethnizität‹, Nationalität und Alter betrieben wurde, indem wir alle drei Jahre zusammenstellten, was Menschen dazu veröffentlichten. Indem wir Artikel auswählten, die einen intersektionalen Ansatz verfolgten, die die Grenzen von Intersektionalität aufzeigten (zum Beispiel im Umgang mit Klassenzugehörigkeit) und darüber hinaus neue Bereiche in der Forschung hervorhoben (Sexualität und Transnationalität), konnten wir in Echtzeit nachvollziehen, wie sich Intersektionalität entwickelte. Insgesamt bilden diese und andere Publikationen das soziologische Fundament dafür, welche Themen und Praktiken relevant für Intersektionalität sind und welche Form die theoretischen Konturen von Intersektionalität annehmen. Ich erwähne meine Beteiligung an diesem Prozess, um zu verdeutlichen, wie ernst ich Intersektionalität nehme. Für mich ist Intersektionalität keine Modeerscheinung und meine Arbeit verdeutlicht ihre unverkürzbare Komplexität.
Intersektionalität als kritische Sozialtheorie ist ein dickes Buch, gefüllt mit großen Ideen. In unserem aktuellen sozialen, intellektuellen und politischen Kontext steht beim Verständnis von Intersektionalität viel auf dem Spiel. Intersektionalität tauchte in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf, als es massive gesellschaftliche Veränderungen gab, die von verschiedenen sozialen Bewegungen ausgelöst und widergespiegelt wurden. Wenn Intersektionalität sich dieses Vermächtnis zu Herzen nimmt und kritische Werkzeuge entwickelt, die an die heutigen Herausforderungen angepasst sind, hat sie ähnlich viel Potenzial wie damals. Intersektionalität ist heutzutage bereits deutlich weiter verbreitet. Sie hat ein Eigenleben entwickelt und taucht in so unterschiedlichen Bereichen wie Menschenrechtsdebatten, staatlichen Politiken und Programmen, den Sozialen Medien und in sozialen Bewegungen auf. Außerdem hat Intersektionalität sich in der Wissenschaft breitgemacht und bereits bewiesen, dass sie gekommen ist, um zu bleiben. Die Reichweite von Intersektionalität geht mittlerweile weit über die Gruppen hinaus, die ursprünglich ihre Forderungen mit ihren kritischen Ideen und Handlungen vorangetrieben haben. Intersektionalität ist ungewöhnlich: Sie besteht aus vielen Bruchstücken und hat ihre Resilienz in schwierigen Situationen längst unter Beweis gestellt. Viele Menschen haben in Intersektionalität ein wertvolles politisches, intellektuelles und ethisches Empowerment-Werkzeug gefunden. Wie kann sichergestellt werden, dass es so bleibt? Das ist eine zentrale Frage dieses Buches.
Teil I: Einführung ins Thema – Intersektionalität und kritische Sozialtheorie
Seit den 1990er-Jahren ist so viel passiert, dass kaum noch Überzeugungsarbeit für Intersektionalität an sich geleistet werden muss. Intersektionalität wird von unzähligen Wissenschaftler*innen, (Online-)Aktivist*innen, Politiker*innen und unabhängigen Intellektuellen als wichtige analytische Forschungsperspektive und als kritische Praxis anerkannt (Collins und Bilge 2016). Innerhalb und außerhalb der Wissenschaft nutzen Verwaltungsmitarbeitende, Lehrende, Menschen, die in Beratungsstellen oder im Gesundheitswesen tätig sind, verstärkt intersektionale Analysen, um auf wichtige soziale Probleme in der Bildung, in Bezug auf Gesundheit, Arbeit oder Armut aufmerksam zu machen (Berger und Guidroz 2009; Dill und Zambrana 2009). Graswurzelaktivist*innen, Aktive aus sozialen Bewegungen und Social-Media-Aktivist*innen beziehen sich immer wieder auf Intersektionalität, um ihre politischen Projekte auszuformulieren. In den USA tauchen intersektionale Ideen beispielsweise in Social-Justice-Bewegungen von Afroamerikaner*innen, Frauen, Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus, LGBTIQ+-Gruppen, armen Menschen oder religiösen Minderheiten auf (vgl. Terriquez 2015). Ironischerweise beziehen sich auch weiße Nationalist*innen auf Varianten intersektionaler Analysen, um die Behauptung zu verteidigen, dass weiße Männer aus der Arbeiter*innenklasse eine vernachlässigte Gruppe seien. Die Reichweite von Intersektionalität beschränkt sich nicht nur auf die USA. Auch im globalen Kontext stellen Graswurzelbewegungen oder Menschenrechtsorganisationen fest, dass der intersektionale Fokus auf die Verbindungen zwischen Race, Klasse, Gender, Sexualität, ›Ethnizität‹, Nationalität, Alter und BeHinderung erlaubt, lokale soziale Ungleichheiten in einem neuen Licht zu betrachten und Zusammenhänge mit globalen sozialen Phänomenen zu erkennen (Collins und Bilge 2016: 88–113).
Seit den 1990er-Jahren hat Intersektionalität verstärkt sowohl Wissenschaft und Forschung als auch Lehrpläne von Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen beeinflusst. In den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es mittlerweile unzählige Forschungsarbeiten, die sich explizit als intersektional positionieren, darunter Anthologien, die verschiedene Aspekte von Intersektionalität hervorheben, sowie Arbeiten, die einige ihrer zentralen Analysekategorien in wechselnden Konstellationen anwenden (Grzanka 2014; Dill 2002; Lutz, Vivar, und Supik 2011; Berger und Guidroz 2009; Andersen und Collins 2016). Sowohl in interdisziplinären Forschungsfeldern als auch in traditionelleren akademischen Disziplinen finden sich mittlerweile wissenschaftliche Arbeiten, die auf Intersektionalität aufbauen (Collins 2017a; Lutz, Vivar und Supik 2011; May 2015). Egal wie unzulänglich die Diversitätsanforderungen in Bildungseinrichtungen und Unternehmen konzeptualisiert und umgesetzt werden – dass überhaupt etwas Derartiges passiert, beweist welchen Einfluss Intersektionalität hat. Intersektional Forschende haben einige Monografien hervorgebracht, die ebendiese und andere Aspekte von Intersektionalität als analytisches Forschungswerkzeug und kritische Praxis untersuchen (Carastathis 2016; Collins und Bilge 2016; Hancock 2016; May 2015; Wiegmann 2012).
Intersektionalität ist gekommen, um zu bleiben – zumindest vorerst. Doch die Schnelligkeit und das Ausmaß ihrer Verbreitung sowie ihre Heterogenität weisen auf definitorische Dilemmata hin, die ihren aktuellen Status und ihre Zukunft betreffen (Collins 2015). Intersektionalität kann sich nicht auf ihren Errungenschaften und ihrem aktuellen Stand ausruhen. Vielmehr scheint es an der Zeit zu sein, zu analysieren, was Intersektionalität ist, was nicht und in welche Richtung sie sich weiterentwickeln wird. In aktuellen Debatten über Intersektionalität finden sich dringend notwendige, kritische Kommentare zu ihren definitorischen Dilemmata. Intersektionalität ist ein weites und komplexes Feld und das gleiche trifft auf die Kritik an ihr zu, die in wissenschaftlichen Kreisen, in den Medien und verschiedenen digitalen Räumen geäußert wird. In diesen Diskussionen geht es beispielsweise um verschiedene Perspektiven auf die Entstehung von Intersektionalität und die Unvollständigkeit der stetig wachsenden Liste von Kategorien, die in intersektionalen Debatten miteinbezogen werden. Es geht um folgende Fragen: Ist Intersektionalität eine Theorie oder eine Methodologie? Welche Verbindungen bestehen zwischen Intersektionalität und Social Justice? Sollten wir überhaupt noch von Intersektionalität sprechen oder in eine Post-Intersektionalitäts-Phase übergehen, bzw. sind wir schon in dieser Phase? Da Intersektionalität so vieles umfasst, wird es wohl eher keinen Konsens unter allen Praktiker*innen geben können. Daher wäre es wohl produktiver, die zentralen Richtungen intersektionaler Forschung zu identifizieren, die vielfältigen Perspektiven Platz bieten.
Die theoretischen Konturen von Intersektionalität zu überdenken, ist der nächste wichtige Schritt für ihre Weiterentwicklung. Da Intersektionalität verschiedene Traditionen des sozialen Handelns und der wissenschaftlichen Forschung umfasst, hat sie eine einzigartige Ausgangsposition, um kritische Analysen der sozialen Welt anzuregen. Intersektionalität kann eine kritische Sozialtheorie hervorbringen, die die vielfältigen Ideen und Akteur*innen, die sich aktuell unter ihrem Dach versammeln, berücksichtigt. Doch dieses Ziel kann Intersektionalität nur erreichen, wenn sie zusätzlich systematisch die Definitionslinien von kritischer Sozialtheorie überdenkt sowie ihre eigenen Theorien und Theoriebildungsprozesse. In diesem andauernden Prozess kann Intersektionalität bereits als kritische Sozialtheorie im Entstehen bezeichnet werden, die womöglich schon jetzt substanzielle theoretische Arbeit leistet, auch wenn sie nicht als solche anerkannt wird.
In diesem Kapitel setze ich mich damit auseinander, wie Praktiker*innen Intersektionalität konzeptualisieren und intersektionale Ideen verwenden. Ich bin an dieser Stelle weniger am Inhalt von intersektionalem Wissen interessiert als an der Art und Weise, wie Menschen denken, um dieses Wissen zu produzieren.[1] Diese Herangehensweise ermöglicht mir, die zentralen Denkwerkzeuge zu identifizieren, die das kognitive Fundament für Intersektionalität als Sozialtheorie im Entstehungsprozess bilden. Cho, Crenshaw und McCall (2003) liefern einen nützlichen Ausgangspunkt für die Identifikation dieser Werkzeuge. Sie charakterisieren Intersektionalität als ein analytisches Empfindungsvermögen und behaupten, dass die Bedeutung von Intersektionalität in ihrer Anwendung zu Tage tritt. Sie erklären, »was eine Analyse intersektional macht, ist weder die Verwendung des Begriffs ›Intersektionalität‹ noch eine Einordnung in eine bekannte Genealogie oder das Zitieren einer standardisierten Reihe von Forschungsarbeiten. Es ist vielmehr die intersektionale Art und Weise, mit der über das Problem von Gleichheit und Differenz und ihre Verquickung mit Machtbeziehungen nachgedacht wird, […] die eine Analyse intersektional macht« (795). Diese Definition legt einige Fragen nahe, die dieses Buch weiterverfolgt: Was genau ist eine intersektionale Denkweise? Bedeutet sie etwa, dass für intersektionale Forschung bestimmte kognitive Werkzeuge verwendet werden? Oder werden konventionelle Formen der kritischen Analyse auf neue Weisen oder für andere Zwecke verwendet? Ist das Problem von Gleichheit und Differenz zentral für Intersektionalität? Und ganz besonders, wie wirkt sich ein Verständnis von Machtbeziehungen auf den theoretischen Inhalt von Intersektionalität und den Prozess der Wissensproduktion aus?[2]
Diesen Fragen gehe ich im gesamten Buch nach, doch in diesem Kapitel lege ich das Fundament für die folgenden Erörterungen, indem ich diskutiere, wie innerhalb von Intersektionalität als Feld des kritischen Hinterfragens[3] metaphorisches, heuristisches oder paradigmatisches Denken verwendet wird. Ich untersuche zuerst, auf welche Weise die metaphorische Verwendung von Intersektionalität einen neuen Blick auf soziale Beziehungen und die Verbindungen zwischen verschiedenen Entitäten möglich macht. Intersektionalität als Metapher ist ein neuer Weg, um Machtbeziehungen zu konzeptualisieren, und gleichzeitig ein Denkwerkzeug, das die Macht der Metapher im Theoriebildungsprozess nutzt. Als nächstes untersuche ich Intersektionalität als Heuristik – also wie die Verwendung von Intersektionalität als Daumenregel oder ›Abkürzung im Denkprozess‹ zur Problemlösung dient. Intersektionalität möchte die soziale Welt erklären und eine heuristische Vorgehensweise ist eine niedrigschwellige Möglichkeit für Menschen, Intersektionalität zu nutzen, um spezifische soziale Probleme zu thematisieren. Daraufhin untersuche ich, wie die Kernkonstrukte von Intersektionalität und ihre Leitprämissen zu einem Paradigmenwechsel in Bezug auf Macht und soziale Ungerechtigkeit beitragen. Diese Diskussionen betrachten hauptsächlich die Werkzeuge und Prozesse, die Menschen zum Denken nutzen, um Intersektionalität entstehen zu lassen. Metaphorisches, heuristisches und paradigmatisches Denken zeigen, welche Wege Menschen nutzen, um in intersektionale Debatten des kritischen Hinterfragens einzutreten, auf sie zu antworten oder sie zu gestalten. Gemeinsam bilden diese drei Denkweisen ein konzeptionelles Fundament oder eine kognitive Architektur auf der Intersektionalität als kritische Sozialtheorie aufbauen kann.
Als Kimberlé Crenshaw in den frühen 1990er-Jahren ihre beiden richtungsweisenden Artikel über Intersektionalität veröffentlichte (Crenshaw 1989 [Dt. 2022], 1991 [Dt. 2021]), konnte sie nicht ahnen, dass sie mit dem Begriff Intersektionalität ein analytisches Forschungswerkzeug und eine kritische Praxis benannte. Crenshaws wissenschaftliche Publikationen markieren einen Wendepunkt in der sich verändernden Beziehung zwischen wissenschaftlichen und aktivistischen Communitys (vgl. Collins und Bilge 2016: 65–77). Mitte des 20. Jahrhunderts setzten sich soziale Bewegungen dafür ein, Wohnen, Bildung, Arbeit und Gesundheit institutionell zu transformieren. Bildungseinrichtungen und das Wissen, das sie verkörpern, zu verändern, war ein zentrales Anliegen dieser Initiativen. Indigene, Afroamerikaner*innen, Frauen, Mitglieder der LGBTQ-Community, Latine[4]