Into The Void - Geezer Butler - E-Book

Into The Void E-Book

Geezer Butler

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Beschreibung

Black Sabbath Die Geburtsstunde des Heavy Metal Die scheinbar Unheil verkündende Glocke auf dem LP-Debüt von Black Sabbath aus dem Jahr 1970 war nicht nur das Intro zu einem Song, sondern läutete gleichzeitig den Beginn eines neuen Genres ein – Heavy Metal! Es folgten Generationen von Musikern, die den Metal inspiriert weiterentwickelten, bereicherten und zu einem weltweiten Phänomen machten. Geezer Butler war der stilprägende Bassist und hauptsächliche Texter der Band um Ozzy Osbourne, Tony Iommi und Bill Ward. In dieser packenden und lang erwarteten Autobiografie erzählt er seine Geschichte – die eines Kindes, das in einem Birmingham voller Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg aufwuchs, vom Establishment als "Satansjünger" verunglimpft wurde und dann die Musikwelt auf den Kopf stellte. Dabei spart er nicht mit Anekdoten und unglaublichen Erinnerungen aus einer Zeit, in der die Musik noch wild und ungezähmt war und der Exzess zum Alltag gehörte. Neben den haarsträubenden Storys und vielen bislang unbekannten Informationen steht Geezer Butlers Text für einen angenehmen und bescheidenen Plauderton, der den Leser abholt und in eine atemberaubende Ära entführt.

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Geezer Butler

INTO THE VOID

Mein bizarres Leben vor, während und nach Black Sabbath

Aus dem Englischen von Andreas Schiffmann

www.hannibal-verlag.de

WIDMUNG

Zum Gedenken an James und Mary Butler.

Ein Dankeschön an alle meine Fans und Anhänger, ohne die mein Leben ein völlig anderes wäre.

IMPRESSUM

Deutsche Erstausgabe 2023

© 2023 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-769-5

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-768-8

Titel der Originalausgabe: INTO THE VOID – From Birth to Black Sabbath – And Beyond

Copyright © 2023 by Terence Butler

Erschienen bei Dey Street Books, einem Imprint von HarperCollins Publishers, 195 Broadway, New York, NY 10007

ISBN 978-0-06-324250-0

Coverdesign: Brian Moore

Coverfoto: Ross Halfin

Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer

Übersetzung: Andreas Schiffmann

Deutsches Lektorat und Korrektorat: Dr. Matthias Auer

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Autors, sofern nicht anders angegeben.

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Geezer Butler ist Gründungsmitglied, langjähriger Bassist und Haupttexter der bahnbrechenden Heavy-Metal-Band Black Sabbath. Außerdem hat er Musik mit seiner Soloband GZR sowie den Supergroups Heaven & Hell und Deadland Ritual veröffentlicht. Er pendelt zwischen Wohnsitzen in den USA und Großbritannien.

INHALT

ANMERKUNG DES AUTORS

PROLOG

1 VERFLIXTE SIEBEN

2 JESUS, MARIA UND JOSEF

3 ETWAS AN DER TÜR

4 VORAHNUNG

BILDERSTRECKE

5 DER RUF AMERIKAS

6 BELASTUNGSPROBE

7 BLUT, SCHWEISS UND FRACKSAUSEN

8 ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE

9 THE MOB RULES

10 KEINER WEISS, WAS MORGEN IST

11 HIN UND HER

12 TIEFERGELEGT

13 ALLES GUTE HAT SEIN ENDE

EPILOG

DANKSAGUNGEN

ÜBER DEN AUTOR

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ANMERKUNG DES AUTORS

Eines Morgens im September 1971 warteten zwei Damen, Mrs. Bagley und Mrs. Heath, in der Victoria Road in Aston, wo ich geboren und aufgewachsen war, auf einen Bus. Plötzlich bemerkten sie eine Frau in einem „grünen Rüschenkleid“, die mitten auf der Straße stand. Dann sahen sie ihren Bus, der geradewegs auf sie zufuhr. Sie erstarrten vor Entsetzen. Doch kurz bevor der Bus die Frau überfahren hätte, verschwand sie.

Einige Monate später, diesmal am Abend, ging eine gewisse Mrs. McFarlane an derselben Stelle vorbei, als plötzlich eine Frau in einem „gelblich grünen Kleid“ neben ihr erschien. Die Frau eilte über die Straße und verschwand, als sie den Bürgersteig auf der anderen Seite erreichte. Später stellte sich heraus, dass Jahre zuvor eine Platzanweiserin des Aston Cross Picture House beim Überqueren der Victoria Road an ebendieser Stelle umgekommen war. In Aston geschahen ständig merkwürdige Dinge. Dass Black Sabbath dort entstanden, leuchtet absolut ein.

PROLOG

Ein Freund hat mir kürzlich ein zerknittertes Foto mit Eselsohren von meinem allerersten Auftritt geschickt. Wir schreiben das Jahr 1965, der Veranstaltungsort ist die Pfarrhalle Erdington, und ich posiere wie John Lennon, während ich auf meiner wunderschönen roten Höfner-Colorama-Gitarre klimpere.

Der Junge auf dem Foto ist jetzt über 70. Die Haare sind weiß, und die Höfner Colorama befindet sich wahrscheinlich irgendwo in einem Antiquitätenladen oder rostet auf dem Dachboden eines alten Kumpels vor sich hin. 60 Jahre, vergangen im Handumdrehen. Wie zum Teufel ist das passiert? Wenn ich mir vergegenwärtige, wie es ablief, finde ich es nahezu unbegreiflich.

Wenn man so lange in einer Rock’n’Roll-Band spielt, wie ich es getan habe, erlebt man verhältnismäßig viel Drama. Wenn man in den Siebzigern und Achtzigern in einer Rock’n’Roll-Band spielte, wurde es mit dem Drama übertrieben. Bei Black Sabbath kam man sich vor wie ein Schauspieler in einer Seifenoper.

Dass alle vier Mitglieder der Originalbesetzung über die Siebziger hinaus überlebt haben, ist ein kleines Wunder, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir immer noch alle hier sind. Denn wir haben genug Alkohol und Drogen konsumiert, um ein Schlachtschiff zu versenken. Musikjournalisten haben jahrzehntelang versucht, uns niederzumachen. Unsere Besetzung änderte sich so oft, dass ich manchmal nicht wusste, welcher Band ich da angeblich angehörte. Wir verdienten Millionen, verloren alles, mussten uns zurückbesinnen und alles noch einmal machen. Einige Platten waren großartig und verkauften sich wie geschnitten Brot, andere weniger. Wir räumten überall von Lichfield in Staffordshire bis nach Auckland in Neuseeland ab, ließen uns aber hin und wieder auch zu Affentheater auf Spinal-Tap-Niveau hinreißen. Bandkollegen haben einander schreckliche Dinge gesagt und angetan, die teilweise an Verbrechen grenzten, und sich gegenseitig bekämpft wie verwundete Tiere.

Wenn Sabbath aber aus allen Rohren feuerten, was die meiste Zeit über der Fall war, gab es kein schöneres Gefühl. Da war Ozzy, der wie ein Irrer aussah, während er auf seine unnachahmliche Weise sang und klatschte; Tony, der ein weiteres monströses Riff vom Stapel ließ; Bill, der dafür sorgte, dass die Band swingte; und ich, der seinen Bass grollen ließ. Vier Sandkastenfreunde aus einem Arbeiterviertel, die einander nahekamen wie Brüder, indem sie etwas taten, wofür sich die meisten Menschen den rechten Arm abhacken würden (es sei denn, sie sind Musiker). Vier Träumer, die von Anfang an abgeschrieben wurden, aber den Kritikern eine lange Nase drehten und Millionen von Fans zum Ausrasten brachten.

Deshalb war ich jedes Mal, wenn ich auf die Bühne ging – bis zum allerletzten Auftritt –, immer noch der glückliche Junge auf dem Schwarz-Weiß-Foto. Trotz aller Unannehmlichkeiten, die damit einhergingen, gab es keine bessere Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wette, euch fällt auch keine ein. Rocket engines burning fuel so fast, up into the night sky they blast1. Das sind Black Sabbath auf den Punkt gebracht – obwohl nur ein Verrückter geahnt hätte, dass der Treibstoff so lange ausreichen würde …

1 Aus „Into the Void“: „Raketenantriebe verbrennen Treibstoff so schnell, hinauf in den Nachthimmel schießen sie.“

1 VERFLIXTE SIEBEN

ASTON

Als ich sechs Jahre alt war, um 1955 herum, bekam ich Besuch aus der Zukunft.

Da war ich also und lag zugedeckt im Bett, als mich ein seltsames Leuchten weckte. Ich öffnete die Augen und sah eine rotierende Kugel, die dicht über meinem Kopf schwebte. Now from darkness, there springs light2.

Ich starrte in die Kugel und sah einen Mann auf einer Bühne. Er hatte lange Haare und silberne Stiefel und spielte Gitarre. Die einzige Bühne, die ich je gesehen hatte, stand in meiner Schule und wurde für Krippenspiele genutzt. Ich hatte keine Ahnung, wie eine Gitarre aussah, geschweige denn eine Gitarre, die von einem Mann mit langen Haaren und silbernen Stiefeln gespielt wird. Damals besaßen wir noch keinen Fernseher, und in den Zeitungen in England wimmelte es nicht unbedingt vor Popstars.

Die Kugel schwebte vielleicht eine Minute lang, bevor sie in den Kamin des Zimmers flog und durch dessen Schacht verschwand. Das hört sich an wie ein Albtraum und würde manchen Kindern vermutlich eine Heidenangst einjagen, auch wenn es mir nicht eigenartig vorkam. Es dauerte nicht lange, bis ich wieder einschlief.

Ihr denkt jetzt vielleicht: Donnerwetter, es heißt doch, Geezer sei der Vernünftige bei Black Sabbath gewesen. Wie konnte ein Junge aus der Arbeiterschicht in Birmingham die Vision haben, er wäre dazu bestimmt, Rockstar zu werden, obwohl es in den Fünfzigern noch gar keine Rockstars gab?

Tja, genau das habe ich gesehen. Und nicht nur einmal.

Als ich Stunden später aufwachte, war es still und ruhig im Haus. Der erhitzte Ziegelstein, den ich wie eine Wärmflasche benutzte, war nicht mehr in ein Handtuch gewickelt und lag wie ein Eisblock an meinen Füßen. Falls das Fragen bei euch aufwirft: Meine Mutter machte Ziegel oder Eisenstücke im Ofen heiß, wickelte sie in einen Lappen oder ein Handtuch und legte sie in mein Bett, um es aufzuwärmen, da unser Haus keine Zentralheizung hatte. Löste sich das Handtuch, kurz nachdem man es unter die Decke gesteckt hatte, verbrannte man sich die Füße und wachte schreiend auf. Vor Feuchtigkeit abgelöste Tapete schälte sich von der Wand neben meinem Bett. Ich wurde von Bettwanzen gebissen, die mitten in der Nacht aus dem Nichts auftauchten wie eine kleine Armee aus dem Hinterhalt. Immer wenn ich eine zerquetschte, spritzte mein Blut gegen die Wand, und wir bekämpften diese kleinen Mistviecher mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel namens Flit, das uns bestimmt übler zusetzte als ihnen. Ziemlich trostlos, echt. Aber hinsichtlich dieser Kugel sah die Zukunft recht vielversprechend aus. Was um alles in der Welt sie auch bedeuten mochte.

Abgesehen von schwebenden Kugeln und rätselhaften Rockstar-Träumen war das Aufwachsen in Birmingham während der Nachkriegszeit hart. Aston, der Innenstadtbezirk, wo wir wohnten, erholte sich noch immer von den Schäden, die es im Zweiten Weltkrieg genommen hatte. Die Luftwaffe hatte Birmingham große Aufmerksamkeit geschenkt. Unser Haus, Victoria Road 88, lag nur wenige Meilen von der großen Spitfire-Fabrik in Castle Bromwich sowie den ICI- und Kynoch-Werken entfernt, wo Chemikalien und Munition hergestellt wurden. Eine Bombe beschädigte das Dach des Gebäudes, wobei man aber von Glück reden konnte, denn sie schlug an der Ecke der Victoria Road ein, wo sie zwei Häuser und ein Geschäft zerstörte.

Ich kam am 17. Juli 1949 im vorderen Schlafzimmer dieses Hauses zur Welt. Im selben Schlafzimmer sollte ich 20 Jahre später mit dem Text und den Basslinien zu „Behind the Wall of Sleep“ im Kopf aufwachen. Dieser Song landete auf dem ersten Album von Black Sabbath.

Ich war das siebte Kind eines siebten Kindes, geboren sieben Minuten vor Mitternacht am 17. Tag des siebten Monats des Jahres 1949. Tags darauf versuchte meine Schwester Eileen, mich aus dem Schlafzimmerfenster zu werfen. Sie war fünf Jahre alt und bis dahin das Nesthäkchen der Familie gewesen, also handelte es sich um einen Anflug eifersüchtiger Wut. Gott weiß, was sie getan hätte, wenn Mom noch einmal schwanger geworden wäre.

Mein Vater James und meine Mutter Mary stammten ursprünglich aus Dublin in Irland, wo auch meine Schwester Maura und meine Brüder James und Patrick geboren wurden. Meine älteste Schwester Sheila kam in Aldershot zur Welt, wo mein Vater bei der britischen Armee stationiert war, Eileen und mein Bruder Peter hingegen wie ich in Aston.

Dad floh mit 15 von zu Hause. Sein Vater war furchtbar streng und prügelte in Nullkommanichts drauflos. Mit 18 trat Dad dem Royal Scots Regiment bei, woraufhin er in den Zwanzigern und frühen Dreißigern in Indien und Ägypten diente, ehe er in Aston sesshaft wurde. Er war ein intelligenter Mann, der eine Menge erlebt hatte – den Osteraufstand in Irland 1916, die „Invasion“ der britischen Armee in Irland, seinen Wehrdienst und seine Dienstzeit in einem Löschhilfstrupp während des Zweiten Weltkriegs. Er konnte ausführliche Gespräche über jedes Thema führen, insbesondere Geschichte und Geografie. Es gab jedoch nicht viele Möglichkeiten für Veteranen aus der Arbeiterschicht wie ihn, egal wie heldenhaft und klug sie waren. Darum kam mein Vater schließlich bei einem Maschinenbauunternehmen namens Tube Investments unter, wo er Stahlrohre für den weltweiten Export verpackte.

Dad arbeitete sich den Allerwertesten ab. Er kam jeden Tag völlig erschöpft von der Schicht nach Hause, aß zu Abend und ging vor 20 Uhr ins Bett. In 30 Jahren nahm er sich nur einmal frei, als ein Geschwür in seinem Zwölffingerdarm platzte und er ins Krankenhaus musste. Nach 25 Jahren Dienst schenkten Tube Investments ihm eine goldene Armbanduhr. Es war keine Rolex, aber trotzdem etwas ziemlich Teures. Weil Dad sie viel zu protzig fand, trug er sie nie.

Mom (in Aston hieß es immer „Mom“ anstelle von „Mum“) war das siebte von neun Kindern, die arm unter der Tyrannei der britischen Armee und der Black and Tans, die das irische Volk terrorisierten, in Dublin aufwuchsen. Nach ihrem Schulabschluss wurde sie Kindermädchen, bevor sie 1929 Dad heiratete. Mom war eine unglaubliche Frau, die das Haus tadellos sauber hielt und immerzu kochte. Etwas anderes blieb ihr angesichts der vielen Mäuler, die gefüttert werden wollten, auch gar nicht übrig. Bevor Kohle allgemein verfügbar war, nahm mich Mom im Kinderwagen zum örtlichen Gaswerk mit, das etwa zwei Meilen entfernt lag. Dort füllte sie einen Sack mit Koks (nein, nicht das Nasenpuder), hob mich aus dem Kinderwagen, um den Sack hineinzulegen, und trug mich nach Hause. Obwohl nie viel Geld da war, musste keiner von uns je auf eine Mahlzeit verzichten, und Mom achtete stets darauf, dass wir neue Kleidung hatten, sauber und ordentlich blieben.

Wie Dad trank auch Mom niemals Alkohol, sie war ein Gewohnheitsmensch mit eiserner Disziplin. Jeden Freitag putzte sie alle Fenster im Haus, von denen ich innerhalb einer Woche zwei kaputtmachte, indem ich einen Fußball durchschoss. Ich spüre heute noch, wie weh Dads Ledergürtel tat, wenn er mich damit schlug, weil ich zu frech wurde. Meine Mutter fackelte auch nicht lange: Als ich eines Tages weinend nach Hause kam, weil mich ein größerer Junge verprügelt hatte, schickte sie mich mit der Aufforderung, ihm „eine ordentliche Abreibung“ zu verpassen, wieder hinaus. Ich tat genau das und erlangte so den Respekt der Kinder in der Umgebung.

Mom bestrafte mich nur einmal, mit einem Stock, den sie für den Fall bereithielt, dass einer von uns außer Rand und Band geriet. Aber so war es damals – wenn deine Mutter dich verdroschen hatte, wusstest du, warum. Man stellte es bestimmt nicht infrage. Ich hätte mir keine besseren Eltern wünschen können. Sie haben mir eine unheimlich liebevolle, glückliche Kindheit beschert.

Aston war stark vom Arbeitermilieu geprägt und bestand hauptsächlich aus viktorianischen Back-to-Back-Reihenhäusern. Das Leben entsprach wahrscheinlich eher Charles Dickens’ Zeit als der Moderne. Milch und Brot wurden mit einem Pferdewagen geliefert (auf Astons Straßen gab es nur wenige Autos und noch weniger Fahrräder). Das Brot war heiß und knusprig, wenn es bei uns zu Hause ankam – so gutes habe ich seitdem nicht mehr gegessen. Da sich Großbritannien noch immer vom Krieg erholte, wurden andere Lebensmittel bis 1954, als ich fünf Jahre alt war, rationiert. Aber wenn man noch nie Süßigkeiten wie Schokolade, Bonbons und all das gegessen hat, die Kinder heute für selbstverständlich halten, kann man sie unmöglich vermissen.

Bis in meine späten Jugendjahre verließ ich Aston fast nur für gelegentliche Tagesausflüge und Ferien in Dublin. Meine Welt beschränkte sich beinahe nur auf diesen Ort, aber das ging für mich in Ordnung. Da niemand viel hatte, passten wir alle aufeinander auf, und es gab keinen Sozialneid. Aston war ein florierender Teil von Birmingham mit einer großen Bibliothek, einem Park, Sportplätzen, mehreren Kirchen und Schulen, vielen Pubs, Geschäften und Kinos. Mein erster Film war Invasion vom Mars, den ich mit meiner Mutter im nächstgelegenen Kino sah und der immer noch einer meiner Lieblingsstreifen ist. Ich schaute mir jede Woche die Serie FlashGordon an – kein Wunder, dass mich alles faszinierte, was mit dem Weltraum zusammenhing.

Das Aston Hippodrome richtete Shows vieler großer Stars aus, darunter Laurel und Hardy und Judy Garland. Wir hatten sogar ein prachtvolles Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert namens Aston Hall, das der Adelsfamilie Holte gehörte und während des Englischen Bürgerkriegs von parlamentarischen Truppen angegriffen wurde. Irgendwie hat die Luftwaffe es verfehlt. Der große amerikanische Schriftsteller Washington Irving wohnte 1821 darin und schrieb dort den Episodenroman Bracebridge Hall.

Was aber noch wichtiger war: Es gab jede Menge Arbeit, unter anderem in der berühmten Fabrik, die HP Sauce herstellte, und der Brauerei Ansells. Aston hatte nichts Glanzvolles an sich, und manchmal ging es auch grob zu, doch man bekam alles, was das Herz begehrte. Ich bin sehr froh darüber, dort aufgewachsen zu sein.

Unser Haus wäre durchaus geräumig gewesen, wenn nicht acht Personen darin gewohnt hätten, nachdem Sheila 1951 geheiratet hatte und ausgezogen war. Meine drei Brüder schliefen im vorderen Zimmer, Mom und zwei meiner Schwestern im mittleren und ich mit Dad im hinteren. Es gab kein Telefon und weder warmes Wasser noch ein Bad. Die einzigen Steckdosen befanden sich im Erdgeschoss. Wir hatten noch den ursprünglichen viktorianischen Kamin, der 80 Jahre alt gewesen sein muss. Es war ein schweres, schwarzes Gusseisending mit Kammern auf beiden Seiten, in denen wir Kastanien rösteten, Kartoffeln und Puddings backten. Wir hatten einen recht großen Garten, Platz zum Lagern von Kohle und einen Raum, in dem die vorigen (viktorianischen) Bewohner Futter für ihr Pferd gelagert hatten. Wenn es regnete, spielte ich dort zwischen dem ganzen Krempel. Gelegentlich entdeckte ich Bilder von nackten Frauen, die wohl einer meiner Brüder dort versteckt hatte. Wenn Mom oder Dad sie gefunden hätten, wären sie vor Entsetzen tot umgefallen.

Einmal wöchentlich war Badetag. Eine Blechwanne wurde vom Hof hereingeschleppt und Wasser im Kupferkessel auf dem Gasherd erhitzt. Als wir jünger waren, badeten wir Kinder vorm Feuer im Wohnzimmer. Als wir älter wurden, taten wir es in der Küche, wo unsere Intimsphäre nicht gestört wurde. Zumindest theoretisch. Eines Abends nahm meine Schwester Maura ein Bad, als eine meiner Murmeln unter der Küchentür steckenblieb. Während ich sie herauszog, sah ich Maura aus der Badewanne steigen. Als sie abgetrocknet und bekleidet ins Wohnzimmer zurückkehrte, fragte ich sie, warum sie eine Bürste zwischen den Beinen habe. Na ja, ich war erst sechs.

Wir hatten das Glück, über eine eigene Außentoilette zu verfügen, wohingegen sich einige unserer Nachbarn eine teilen mussten. Als ich erfuhr, dass manche Leute Innentoiletten besaßen, war ich empört: Wollt ihr mir erzählen, dass jemand A-a- in seinem Haus macht? Eine eigene Toilette zu haben war kein großer Luxus, denn im Winter wurde es verdammt kalt. Und wir hatten kein Klopapier. Stattdessen benutzten wir Zeitungen … nachdem alle sie gelesen hatten. Die Lokalfußballzeitung, die samstags herauskam, war aus rosa Papier und fühlte sich etwas weicher an. Das machte den Sonntag zum besten Tag, um seinen Darm zu entleeren. Falls sie ein Foto eines Spielers von Birmingham City oder West Brom enthielt, mit dem man sich den Hintern abwischen konnte, umso besser.

AVFC

Wenn man aus Aston kam, war man damals Anhänger des Aston Villa Football Club. Ohne Wenn und Aber. Keine Unterstützung für Manchester United, Liverpool oder Chelsea, wie es manche Kids aus Aston heutzutage vorgeben, nur weil diese Mannschaften mehr Geld haben und Titel gewinnen. Und auf keinen Fall hielt man zu Birmingham City, denn der Verein war der gefürchtete „Abschaum“ aus der falschen Gegend der Stadt. Ich muss seinen Fans jedoch eines lassen, sie bleiben ihm in guten wie in schlechten Zeiten treu. Und es waren größtenteils schlechte. Ich würde sogar sagen, die Mannschaft ist eine Schande für die Stadt.

Für diejenigen, die nicht viel über Fußball wissen, hier eine kurze Erklärung: Villa war in den Anfangsjahren der organisierten Form der Sportart in England eine Macht, die von 1886 bis 1920 sechs Meistertitel und sechs FA Cups gewann. Angeblich war Queen Victoria ein Fan, genau wie Prinz William heute. Als ich zur Welt kam, hielt Villa immer noch den Rekord für die meisten FA-Cup-Siege und war eines von nur zwei Teams, die in derselben Saison die Meisterschaft und den Pokal geholt hatten. Es war für mich wie eine zweite Religion nach dem Katholizismus. Jetzt ist es meine einzige.

Von unserem Haus aus konnte ich das Gebrüll aus dem Holte End des Villa Park hören, das damals eine Tribüne ohne Überdachung war und ungefähr 20.000 Zuschauer fasste. Jede Woche solchen Lärm zu hören hatte eine tiefgreifende Wirkung auf ein kleines Kind. Ich erinnere mich auch daran, wie in den Fünfzigern Flutlichter installiert wurden, woraufhin das Stadion das ganze Viertel ausleuchtete wie ein am Ende der Straße gelandetes Raumschiff. Bei Heimpartien spielte ich hinterm Haus Ball mit unserem Border Collie Scamp. Und wenn Villa ein Tor schoss, sodass der laute Jubel herüberrollte wie eine Flutwelle, stellte ich mir vor, er würde mir gelten.

1957, als ich gerade sieben war, erreichte Villa das FA-Cup-Finale, und Dad ging einen winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher kaufen, damit wir es alle sehen konnten. Die Mannschaft bekam nicht den Hauch einer Chance zugestanden, weil unser Gegner Manchester United gerade erst den Meistertitel einkassiert hatte und sein Star Duncan Edwards so etwas wie der David Beckham seiner Zeit war. Der Kauf des Fernsehers lohnte sich aber, denn Villa gewann 2:1 und holte zum siebten Mal den Pokal (da ist sie wieder, die besondere Sieben!), ein Rekord dank zweier Tore meines Helden Peter McParland.

Meine Schwester lag an dem Tag mit einer Mandelentzündung im Bett, also schickte mich meine Mutter zum Laden, um ihr Lucozade und ein Rohr Smarties zu besorgen – im Vereinigten Königreich dachte man damals, dass Lucozade, eine goldgelbe Limonade, ein Wunderheilmittel sei. Statt den Süßkram aber meiner Schwester zu geben, behielt ich ihn für mich. Seitdem habe ich mir jedes Cup-Finale mit Lucozade und Smarties (wohlgemerkt der veganen Variante) angeschaut.

Ab meinem siebten Lebensjahr durfte ich allein oder mit ein, zwei Freunden zu den Spielen gehen. Der Eintritt fürs Holte End kostete nur einen Schilling, also fünf Pence. Und wenn ich den nicht hatte, schlich ich mich zur Halbzeit umsonst rein. Beim Abpfiff sprang ich über den kleinen Zaun hinterm Tor, watete durch den dicken, klebrigen Matsch (wie sie darin spielen konnten, weiß ich nicht) und klopfte Peter McParland auf die Schulter. Jede Wette, dass der arme Kerl nicht schnell genug von mir wegkommen konnte.

In jenen frühen Tagen gab es noch keine Zuschauertrennung, daher konnte man problemlos mit Auswärtsfans zusammen sein und sich ein bisschen necken. In den Sechzigern wurde es allerdings gefährlich. Die Fans von Manchester United waren die ersten, die für ihre Gewaltbereitschaft in Verruf gerieten. Nachdem wir sie im Pokalfinale 1957 besiegt hatten, erschienen sie mit „Wir hassen Villa“-Buttons im Villa Park. Eines Samstagnachmittags stand ich an meiner gewohnten Stelle hinterm Tor, als mir auffiel, dass sich Hunderte United-Fans auf den Weg zum Holte End machten. Und wenige Minuten nach dem Anpfiff brach der Kerl neben mir zusammen, während Blut aus seinem Kopf strömte. Eine Bierflasche hatte ihn getroffen. Auf einmal regnete es förmlich Flaschen, und massenweise Villa-Fans gingen nieder. Die Polizei schritt rasch ein, doch die Schlagzeilen in der Abendausgabe der Lokalzeitung drehten sich nur um das beschämende Verhalten der United-Anhänger. Fußballhooliganismus hatte sein hässliches Gesicht gezeigt und ist eigentlich nie wieder verschwunden. Dann war da dieses eine Mal, als wir gegen Nottingham Forest spielten. Davor lauerten Fans des Gastgebers Villa-Anhängern auf der Trent Bridge auf und schickten sich an, sie in den Fluss zu werfen. Gnädigerweise blieb ich vor einem Tauchgang verschont und schaffte es, nach Spielbeginn aufs Gelände zu schleichen.

Zwei Jahre nach dem siebten FA-Cup-Sieg stieg Villa aus der Division One ab, wie die Premier League damals hieß. Ich war mit Dad im Kino, und als wir nach Hause zurückkehrten, kam die Nachricht vom Abstieg des Vereins im Radio. Ich brach in Tränen aus und hörte erst am Morgen mit dem Schluchzen auf. Das Schlimmste, das mir aber in Bezug auf Villa passierte, war weder eine Niederlage noch ein Abstieg. Ich weiß noch genau, welcher Tag es war: der 14. November 1959. Villa spielte gegen Charlton Athletic, und ich sollte meinen Freund Francis Egan auf dem Weg zum Stadion abholen. Als wir sein Elternhaus verlassen wollten, rief uns sein Vater und fragte: „Warum spart ihr euch den Schilling nicht und helft mir, das Wohnzimmer zu streichen?“ Ich traute meinen Ohren nicht: Ein Villa-Spiel verpassen? Mir die Chance entgehen lassen, Peter McParland und Gerry Hitchens, meine Helden, voll aufdrehen zu sehen? Niemals. Allerdings bestand Francis’ Vater darauf, das Spiel werde sowieso langweilig verlaufen, vielleicht sogar mit einem 0:0-Unentschieden ausgehen, und er behauptete, uns einen Gefallen zu tun. Ich ahnte, worauf es hinauslief. Falls wir ihm nicht gehorchten, verbot er mir bestimmt den Besuch meines besten Freundes und verprügelte Francis dann. Also erklärte ich mich zähneknirschend einverstanden.

Beim Streichen hörten wir einen Beifallssturm nach dem anderen aus dem Stadion, noch lauter als sonst. Was geht da bloß vor sich? Auf dem Nachhauseweg fragte ich einen Villa-Fan, wie das Spiel ausgegangen sei. „Elf zu eins“, antwortete er breit grinsend und streckte beide Daumen hoch. Es war einer von Villas größten Siegen, und ich ärgerte mich schwarz. Müßig zu erwähnen, dass meine Freundschaft mit Francis nie mehr dieselbe war. Mein Herz blutet selbst jetzt noch.

TIERE

Bedauerlicherweise taugte ich nicht viel als Fußballer. Ich wurde nur ein paarmal fürs Schulteam ausgesucht, und der gute alte Scamp war vermutlich ein besserer Torwart als ich. Ich bekam ihn zu meinem siebten Geburtstag. Wir machten lange, weitläufige Spaziergänge und wurden unzertrennlich. Ich gewann ihn so lieb wie keinen menschlichen Freund.

Seinerzeit ließen Leute ihre Hunde unbeaufsichtigt durch die Straßen streifen. Eines Abends kam Scamp mit schrecklichen Schmerzen heim, weil ihn jemand mit Säure bespritzt hatte. Sie fraß ein Loch in seinen Rücken, also brachten wir ihn schnell zum örtlichen Tierarzt, wo meine Eltern einen guten Teil ihrer Ersparnisse in seine Behandlung steckten. Die Wunde brauchte Monate zum Heilen und hinterließ eine große Narbe, die auffiel, weil an der betreffenden Stelle kein Fell mehr wuchs. Wenige Tage nach dem Angriff stand in der Lokalzeitung ein Artikel über einen feigen Typen, der jemanden mit Säure angegriffen hatte. Er gab auch zu, sie an einem Hund getestet zu haben. Ich hoffe, er hatte ein grässliches Leben.

Unser Haus war voller Tiere. Der Lumpenhändler, der mit seinem Pferdewagen herumfuhr und „Nehme Alteisen, nehme Altkleider“ rief, tauschte Hühnerküken gegen alles, was man loswerden wollte. Wir hatten einen Hasen und einen Goldfisch, Fischelchen und Kaulquappen, ja sogar eine Schildkröte, die ich im Eingang hinterm Haus fand. Sie büxte ständig aus und kroch zum nächsten Pub hinüber. Reingelassen wurde sie nie, obwohl der White Swan nicht wählerisch war. Scamp war hauptsächlich dafür verantwortlich, dass ich Vegetarier wurde, was man in Aston in den Fünfzigern als sonderbar empfand.

Als kleiner Junge wusste ich nicht, woher Fleisch kam, es war einfach etwas, das auf meinem Teller auftauchte (Mom aß selten welches, bereitete es aber für den Rest der Familie zu). Eines Tages aber, als ich in ein Stück schnitt, trat Blut aus. Ich fragte meine Mutter: „Woher kommt dieses Fleisch?“ Sie antwortete: „Von Tieren.“ Das fand ich unvorstellbar widerlich. Wer würde das verwesende Fleisch eines toten Lebewesens essen? Und was ist der Unterschied zwischen Scamp und einem Schwein oder einer Kuh? Seitdem habe ich kein Fleisch mehr angerührt.

GEEZER

Mit meinen Geschwistern kam ich prima zurande, aber sie waren fast alle zu alt, um mit mir zu spielen. Jimmy und Paddy wurden zum Wehrdienst einberufen, deshalb habe ich Anfang der Fünfziger nicht viel von ihnen mitbekommen. Mein Spitzname geht auf Jimmy zurück (eigentlich heiße ich Terence). Er war mit vielen Cockneys stationiert, und als er im Urlaub nach Hause kam, nannte er plötzlich alle „Geezer“ (in London fragt man: „Alright, Geezer?“, was dem amerikanischen „What’s up, dude?“ entspricht)3. Und weil ich mit meinen sieben Jahren zu Jimmy aufschaute, fing ich an, auch alle „Geezer“ zu nennen.

Jimmy liebte Schlägereien. Eines Samstagabends kam er blutüberströmt mit zwei blauen Augen aus dem Pub nach Hause. Ich sagte zu ihm: „Oh nein. Hast du verloren?“ Und er antwortete: „Nein, der andere Kerl ist im Krankenhaus.“ Jimmy liebte auch den Militäralltag und wollte dem Special Air Service beitreten, stellte aber während der Ausbildung fest, als er sich von einem Turm stürzen sollte, um einen Fallschirmsprung zu simulieren, dass er Höhenangst hatte.

1956 wurde Paddy nach Afrika geschickt, um an der britisch-französisch-israelischen Invasion Ägyptens teilzunehmen (auch bekannt als Sueskrise). Das war das erste Mal, dass ich Mom weinen sah. Paddy war Scharfschütze und hatte eine gründliche Gefechtsausbildung genossen. Als er aus Ägypten zurückkehrte, erhielt er eine Medaille. Er steckte sie in eine Schublade, und sie ward nie mehr gesehen. Als er eines Abends von zwei Straßenräubern überfallen wurde, brauchte er zwei Handgriffe, und sie lagen wimmernd am Boden. Seine Sonderausbildung zahlte sich letztendlich aus.

Peter, Moms und Dads zweitjüngster Sohn, kam nicht für den Wehrdienst infrage, weil er nach einem Unfall in seiner Kindheit auf beiden Ohren hörgeschädigt war. Er wurde stattdessen ein Teddy Boy und stiftete auf den Straßen von Birmingham Chaos. Peter trug einheitlich schwarze Kleider: ein langes Jackett, eine Röhrenhose, Creepers und eine Schnürsenkel-Krawatte. Das Jackett war auf besondere Art mit ins Revers eingenähten Rasierklingen angepasst. Wer ihn an diesem Revers packte, zerschnitt sich die Finger. Zudem hatte er eine längliche Innentasche, in der er einen Totschläger aus Gummi mit einem drei Zoll dicken Stück Blei an einem Ende und mindestens drei Springmesser bei sich trug. Einmal, als wir Verwandte in Dublin besuchten, sah ein findiger Ire meinen Bruder und sagte: „Schau an! Der Tod auf Urlaub!“ Alle haben sich kaputtgelacht; selbst Peter schmunzelte. Der Alte hatte jedoch nicht Unrecht: Auf Peter und auch auf mich übte der Tod einen morbiden Zauber aus.

Da der Zweite Weltkrieg, in dem meine Eltern und Geschwister Luftangriffe, an Hungersnot grenzende Rationierung und Evakuierungen überlebt hatten, in deren Verlauf sie bei merkwürdigen Familien auf dem Land untergekommen waren, nur wenige Jahre hinter uns lag, herrschte im Haus eine greifbar beklommene Stimmung. Die Tatsache, dass Paddy in die Sueskrise beordert wurde, und die Angst vor nuklearer Vernichtung während des Kalten Kriegs waren auch nicht förderlich. Im Haushalt gab es Luftgewehre und -pistolen, Messer, Bajonette, ja sogar einen Revolver, den ich unterm Kupferkessel versteckt gefunden hatte. Diese Waffen wurden alle vom Krieg behalten, aus Angst vor einer Invasion.

Ich hatte ein Plakat für den Film Die gelbe Hölle gesehen, auf dem ein japanischer Soldat im Begriff war, jemanden zu enthaupten. Manchen Kindern mochte von diesem Bild mulmig werden, doch ich fand die angedeutete Gewalt sonderbar aufregend. Ich tat auch so, als wäre ich ein japanischer Soldat, und spielte Enthauptungen mit einem Bajonett durch, so richtig samt Holzklotz, auf den das imaginäre Opfer seinen Kopf gelegt hätte. Eines Tages schickte mich einer meiner Brüder zu einer Tankstelle, um Petroleum für ihren Schlafzimmerheizofen zu besorgen. Ich ging mit einer Gasmaske und einem deutschen Soldatenhelm hinein, woraufhin der Angestellte ausflippte: „Eine Menge Leute von hier sind im Kampf gegen dieses Pack draufgegangen! Nimm den Helm ab!“

Peter war von Hitler und den Nazis fasziniert. Einige Leser finden das möglicherweise eigentümlich, zumal er im Krieg geboren wurde. Er und seine Freunde spielten England und Deutschland im Kampf, so wie meine Freunde und ich Cowboy und Indianer spielten, wahrscheinlich weil sie den Krieg nur aus ihren ersten sechs Lebensjahren kannten. Wer weiß schon, was ständige Bombenangriffe und das Eingesperrtsein in Luftschutzbunkern mit dem noch formbaren Verstand eines jungen Menschen machen? Peter sammelte Monturen, Abzeichen, Orden sowie Uniformen der Nazis und brachte sich sogar ein wenig Deutsch bei. Er entdeckte einen Plattenladen in Dublin, der Aufnahmen von Hitler-Reden und IRA-Rebellenlieder verkaufte, die beide im Vereinigten Königreich verboten waren. Indem er sie in Hüllen der Platten traditioneller irischer Sänger steckte, schmuggelte er sie ins Land und hörte sie in seinem Zimmer auf einem Kurbelgrammofon, weil wir oben keine Steckdosen hatten.

Unser Vater war tätowiert, also ging auch Peter mit 16 zum Tätowierer und ließ sich ein Hakenkreuz, das von einem Schwert durchbohrt wird, auf den Unterarm stechen. Dad rastete völlig aus, als er es sah. Die Wunde entzündete sich, was ihm recht geschah. Und als Peter das Fieber auskuriert hatte, schickte Dad ihn zurück zum Tätowierer, damit er das Motiv zu einem weniger anstößigen abändern ließ. Am Ende bekam er eines mit Rosen, unter denen „MOM“ stand. Zum Glück gehörten Hitler und die Nazis der Vergangenheit an, sobald er sich für Mädchen interessierte – und ich wollte mich aufgrund dessen, was ihm passiert war, nie selbst tätowieren lasse.

Jeden Samstagmorgen führten Peter und ich Ringkämpfe auf. Schließlich ließ er sich einmal gehen und verpasste mir ein blaues Auge. Danach gab es keine Kämpfe mehr, er war zu grob geworden. Ich verbrachte viel Zeit mit meiner jüngsten Schwester Eileen, wir ärgerten uns gegenseitig erbarmungslos. Und wenn ich nicht bei ihr war, unternahm ich etwas mit Schulkameraden oder Nachbarskindern. Ich hatte nicht viele Freunde, war aber auch nicht schüchtern. Das kam später nach jahrelangem Touren mit Sabbath, als ich mich nach Privatsphäre sehnte.

Unser Lieblingsspielplatz war im wahrsten Sinne des Wortes ein Trümmergrundstück, denn die zwei Häuser und das Geschäft, die die Luftwaffe zerstört hatte, waren nicht wiederaufgebaut worden. Eines Tages fand ich einen gewaltigen Splitter der Bombe, die den Schaden angerichtet hatte. Ein zurückgelassener Lastwagen auf dem Gelände wurde zu unserer Höhle. Wir stahlen Brot und Milch von der Haustür unserer Nachbarn, zogen uns in die Höhle zurück und schlugen uns die Bäuche voll. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Luftschutzbunker, der halb unter Wasser stand, und wir stachelten einander an, hineinzusteigen. Meine Eltern und Geschwister hatten ihn während des Krieges benutzt, als die Bombardierungen zu heftig geworden waren, um sich noch in den Wellblechunterstand hinter unserem Haus zurückzuziehen.

Die Einschlagsstelle einer Bombe als Spielplatz zu verwenden wirkt vielleicht ein bisschen grausig, war aber alles andere als das – ein Kinderparadies, wo man seiner jungen Fantasie freien Lauf lassen konnte. Ich hatte bestimmt eine aufregendere Kindheit als viele Kids von heute, die in ihren Zimmern hocken und auf Computerbildschirme glotzen. Ich stapfte mit Spielzeugpistolen – einer Weltraum- oder Cowboykanone je nachdem, welche Figur ich am jeweiligen Tag spielen wollte – auf dem Grundstück herum und träumte mich an einen anderen Ort. Da die örtlichen Geschäfte günstig überschüssige Armeeausrüstung verkauften, konnten wir Kinder uns damit ausstatten, wodurch unsere Kriegsspiele viel realistischer wurden.

Ich hatte immer ein Messer bei mir, das ich allerdings hauptsächlich zur Schau trug. Ich zückte es nur einmal, als mich ein anderer Junge mit seinem bedrohte. Wir bedrohten einander eine Weile, bis wir übereinkamen, dass wir eigentlich nicht niedergestochen werden wollten. Dennoch konnte es ziemlich derb werden. Einmal kämpften mein Nachbar Johnny Smith und ich auf dem Dach der Schule mit Schwertern (wohlgemerkt aus Holz). Ich übertrieb es ein wenig und stieß ihn vom Dach, wobei er sich einen Arm brach. Ein andermal spielte ich mit Johnnys Bruder Robert und schnitt ihm mit der Deckelkante einer geöffneten Blechbüchse den Kopf auf. Er musste genäht und gegen Tetanus geimpft werden, und seine Mutter kam zu uns nach Hause, um sich über mich zu beschweren. Ich konnte es ihr echt nicht verübeln.

DIVERSITÄT

Bei uns Kindern war es meistens nur wildes Raufen, doch ich habe viel richtige Gewalt erlebt, besonders im White Swan und davor. Als ich klein war, bestand unsere Nachbarschaft überwiegend aus Iren, hinzu kamen ein paar schottische Familien und eine aus Yorkshire. Als aber mehr Familien aus der Karibik, Indien, Pakistan und Bangladesch, von Jobs in den verschiedenen Industriebereichen angelockt, in die Region zogen, kamen Rassenkonflikte auf.

Eines Abends beobachtete ich, wie ein Ire jemandem aus der Karibik mit einem Ziegelstein den Schädel einschlug. Was hatte er verbrochen? Er wollte etwas im White Swan trinken. Zu einer anderen Gelegenheit wurde ein junger Pakistaner vor dem Pub erstochen. Mama hielt ihn im Arm, bis der Krankenwagen eintraf. Dann kam ich einmal nach Hause und fand einen Mann, der an der Frontmauer unseres Hauses zusammengebrochen war, nachdem ihn Pakistaner mit zerbrochenen Milchflaschen übel zugerichtet hatten. Sein Gesicht war zerfleischt, und er atmete kaum noch, als ein Krankenwagen und die Bullen kamen.

Einiges von dem, was ich gesehen habe, war einfach verrückt. Zum Beispiel lehnte sich ein Typ aus der Karibik, der in eines der Häuser bei uns gegenüber einzog, aus einem Schlafzimmerfenster und rief jedem Schwarzen zu, der zufällig vorbeiging: „Geh zurück nach Afrika, du schwarzer Bastard!“ Weiß Gott, was ihm durch den Kopf ging, doch er blieb nicht lange in dem Haus – vermutlich landete er in einer psychiatrischen Klinik.

Ein Lehrer wies uns an, neue asiatische Mitmenschen mit Salamalaikum („Friede sei mit dir“) zu grüßen, wenn wir ihnen auf der Straße begegneten, aber als ich es zum ersten Mal bei jemandem versuchte, zog der Kerl ein Messer und rannte mir hinterher. Ich habe keine Ahnung, warum, doch er fühlte sich offensichtlich beleidigt. Ein andermal ging ich mit meiner Freundin durch die Victoria Road, als wir von einem Asiaten angehalten wurden. Ich dachte, er habe sich verirrt und würde nach dem Weg fragen, erkannte aber schließlich, dass er mir Geld geben wollte, um meine Freundin mit zu sich zu nehmen. Ich sagte nein und wurde wieder mit einem Messer bedroht, doch wir schafften es, ihn abzuschütteln.

Gleichwohl gab es nicht nur Missverständnisse und Anfeindungen. Als bei uns nebenan eine indische Familie einzog, freundete ich mich mit ihrem Sohn Magenlal an und verliebte mich in seine Schwester Madhu. Am Tag ihrer Ankunft klopfte die Mutter in Panik bei uns. Ich folgte ihr in ihr Haus, wo sie auf einen laufenden Wasserhahn zeigte, dessentwegen die Küchenspüle überlief. Sie wusste nicht, dass sie den Knauf lediglich gegen den Uhrzeigersinn drehen musste, um den Wasserfluss zu unterbrechen.

Ich war immer von ihrem Haushalt angetan. Weil sich indische Zutaten nicht ohne weiteres auftreiben ließen, bauten sie Kräuter und Gewürze im Garten hinterm Haus an und trockneten Chapatis auf dem Dach des Nebengebäudes. Drinnen an den Wänden hingen Bilder von einem Elefantengott und Gurus wie bei uns Jesus und Maria. Da Dad mit der Armee in Indien gewesen war, erklärte er mir, dass es sich bei dem Elefanten um die indische Gottheit Ganesha handle und ein Guru im Hinduismus ein spiritueller Lehrer sei. Er freundete sich mit dem Vater an, und sie unterhielten sich oft an der Gartenmauer, während sie Stumpen rauchten, was er seit seiner Zeit in Indien nicht getan hatte.

Meine Eltern gaben nie zu, dass sie diskriminiert wurden, doch damals in Großbritannien irisch zu sein war häufig schwierig. Ich haderte damit, das zu begreifen, weil Dad und Tausende andere Iren in beiden Weltkriegen fürs Königreich gekämpft hatten. Mein Onkel Tommy wurde in Burma verwundet und stellte sich tot, damit ihn die Japaner nicht gefangen nahmen. Er lag so lange im Schlamm, dass er sich Malaria einfing, und musste sich in unserem Haus in Aston auskurieren, bis er wieder fit genug war, um heim nach Dublin zu fahren. Ich schätze, die Anfeindungen hingen mit den IRA-Anschlägen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammen. Im nahegelegenen Coventry tötete eine Bombe 5 Personen und verletzte 70, also glaubten viele britische Bürger, die Iren stünden auf Hitlers Seite. Bei manchen stimmte das wohl auch, bei der breiten Mehrheit – einschließlich meines Vaters und Onkels – jedoch nicht.

Eines Tages, als ich draußen mit einem Freund aus Belfast spielte, meinte ein Müllmann: „Aus dem Weg, ihr irischen Hurenkinder.“ Ich hatte dieses Wort noch nie gehört. An jenem Abend – wir saßen alle zusammen beim Essen – plapperte ich drauflos: „Was ist ein Hurenkind?“ Bei uns zu Hause gab es strenge Regeln fürs Fluchen – wenn mir nur ein „verdammt“ oder „scheiße“, herausrutschte, sagte Dad, nur ungebildete Menschen würden fluchen, und schlug mich mit seinem Gürtel –, weshalb das so war, als hätte ich behauptet, der Teufel zu sein.

Meine Brüder und Schwestern erstickten fast an ihrem Essen. Mom und Dad bekreuzigten sich und beteten ungefähr zehn „Gegrüßet seist du, Maria“. Ich hakte unerschrocken mit „So was Ähnliches wie ein Enkelkind?“ nach. Lange herrschte betretene Stille, bis mir endlich jemand erklärte, das sei ein schlimmes Wort, das ich nie wieder benutzen dürfe. Selbst heute fluche ich selten, obwohl ich Tausende Tage mit Ozzy Osbourne verbracht habe.

Wir haben nie Urlaub in Großbritannien gemacht und sind auch nicht zum Essen in Restaurants oder Cafés gegangen. Auf Tagesausflüge in Küstenorte wie Rhyl, Weston-super-Mare und Aberystwyth nahmen wir unser eigenes Essen mit. Meine Schwester Maura buchte einmal ein Zimmer in einer Frühstückspension in Blackpool. Als sie dort ankam, sah sie ein Schild an der Tür mit der Aufschrift: KEINE IREN. KEINE SCHWARZEN. KEINE HUNDE. Sie drehte sich um und kehrte stehenden Fußes nach Hause zurück.

Wir fuhren alle zwei Jahre nach Dublin, mit der Dampflok von Birmingham nach Holyhead und dann mit dem Schiff nach Dún Laoghaire. Während einer Zugfahrt nach Holyhead waren wir in einem Abteil mit zwei Nonnen. Eine davon aß belegte Brote aus einer Metalldose, die sie, als sie fertig war, durch ein winziges offenes Fenster warf. Weil ihr das so genau gelang, dachte ich, sie hätte außergewöhnliche Kräfte. Als ich zum ersten Mal an Bord des Schiffs nach Dún Laoghaire ging, fiel mir auf, dass es dicke, fassförmige Anhängsel an beiden Seiten hatte. Ich nahm an, es seien Unterwasserbomben, und bekam Angst, weil ich befürchtete, wir würden von U-Booten angegriffen.

Wir wohnten im Haus meiner Oma in der Upper Leeson Street, während wir Tanten, Onkel und Cousins besuchten, und sangen irische Rebellenlieder wie „Kevin Barry“ oder „The Rising of the Moon“. Granny Butler war die Einzige, die ich von meinen Großeltern kannte, denn die anderen starben, bevor ich geboren wurde. Von ihrem Haus aus gingen wir am Kanal auf der Mespil Road spazieren oder runter zum St. Stephen’s Green. Am Park bemerkte ich, dass sich Leute bekreuzigten, wen sie an einem Gebäude auf der anderen Straßenseite vorbeigingen. Ich fragte Dad nach dem Grund, und er erzählte, vor einiger Zeit sei ein Kreuz in dem Fenster erschienen, und die Leute würden das als Wunder ansehen. Andere Spaziergänge waren weniger angenehm: Einmal geriet ich in eine Prügelei mit zwei irischen Jungen, die sich an meinem englischen Akzent aufrieben. Ich hatte verdammt noch mal keine Chance!

2 Aus „Behind the Wall of Sleep“: „Jetzt entspringt aus der Dunkelheit Licht.“

3 Die Begriffe „geezer“ und „dude“ bedeuten in diesem Zusammenhang „Typ“, „Alter“ oder „Kumpel“, also „Alles klar, Kumpel?“ und „Was liegt an, Alter?“.

2 JESUS, MARIA UND JOSEF

GEHIRNWÄSCHE

Ich wurde streng katholisch erzogen und fand Gefallen an Ritualen wie dem Messamt, der Kommunion, Beichte oder Segnungen, außerdem am berauschenden Weihrauchduft und an der Tatsache, dass man seine besten Sonntagskleider trug.

Alle Religionen sind meines Erachtens überlieferte Gehirnwäsche. Jede Religion wird als „einzig wahrer Glaube“ hingestellt, obwohl ihre Grundsätze von irgendeinem Typen festgelegt wurden, der bloß nicht den vorigen folgen wollte. Als Kind war ich ein kleiner Fanatiker. Ich mochte die Vorstellung von Jesus, Maria und dem Heiligen Geist. Sie erinnerte mich an ein Märchen. Sogar der fürchterliche Anblick eines an ein Kreuz genagelten Mannes mit einer klaffenden Wunde an der Seite – was für kindgerecht gehalten wurde – stieß mich nicht ab.

Ich fing an, mich für Seelen zu begeistern, weshalb ich meine Fische, wenn sie starben, mit einer Rasierklinge aufschnitt, um zu schauen, ob ihre Seelen noch in ihnen steckten. Als ich sechs war, starb unser Hund Rusty und wurde hinterm Haus begraben. Ein paar Monate später buddelte ich ihn aus und schnitt ihn ebenfalls auf. Ich konnte seine Seele nicht sehen, also ging ich davon aus, sie sei entwischt.

Nach meiner Erstkommunion mit sieben begann ich, mein Taschengeld für alle möglichen religiösen Sammelobjekte auszugeben. Eine Zeitlang waren Spielzeugpistolen und Comics passé. Stattdessen kaufte ich Rosenkränze, Kreuze, Medaillen, Gebetbücher, Jesusbilder – alles, was ich mir leisten konnte und was am Devotionalienstand der Sacred-Heart-Kirche erhältlich war.

Mein erstes Ziel bestand darin, Messdiener zu werden, doch es gab eine lange Warteliste. Ich war offensichtlich nicht der einzige religiöse Spinner in Aston. Als ich endlich mit ungefähr elf Jahren die Gelegenheit bekam, verschlief ich und verpasste meine Anhörung. So wie es aussah, war Gottes Ruf nicht sonderlich laut, und früh aufzustehen ist immer eine meiner Schwächen geblieben.

Der Katholizismus, der in der Kirche gelehrt wurde, war ziemlich alttestamentarisch und sollte uns gottesfürchtig machen. Eines Sonntags besuchte ein Missionar vom anderen Ende der Welt unsere Kirche und hielt eine Predigt. Es war ein entsetzlicher Anblick: Er trug ein wallendes schwarzes Gewand, wodurch er aussah wie eine Fledermaus im Flug, während er sich auf der Kanzel in Rage redete und mit den Armen ruderte. Der Gemeinde zu sagen, wir seien alle verloren und müssten bald sterben, schien ihn auf eigentümliche Weise zu freuen. Sogar von der Verdammung Unzüchtiger war die Rede, wobei ich nicht sicher bin, ob ich schon wusste, was „unzüchtig“ bedeutet. Ich habe noch ein Flugblatt von dieser einen Messe mit einer Warnung vor Todsünde und Hölle, ein Andenken an einen schrecklichen Nachmittag. Zufälligerweise lautete die Überschrift HeavenorHell.

Den Gottesdienst am Sonntag oder anderen Feiertagen zu verpassen zählte zu diesen Todsünden. Zum Glück fanden sonntagmorgens mehrere Messen statt. Ich ging jeden Samstag beichten, wobei ich jedes Mal die gleichen Sünden vorbrachte – keinen Abwasch machen, mit meiner Schwester zanken – und mit drei „Gegrüßet seist du, Maria“ Buße tun musste. Einmal ging ich mit Jimmy hin, dem Sohn meiner Schwester Sheila, der nur zwei Jahre jünger war als ich. Er setzte sich zuerst in den Beichstuhl, und ich hörte von draußen, wie der Priester in Gelächter ausbrach. Als Jimmy rauskam, wollte ich wissen, was er erzählt habe. Seine Sünde bestand darin, seiner Mom zu sagen, sie habe eine dicke rote Nase. Dafür bekam Jimmy wohl nur ein „Gegrüßet seist du, Maria“.

Meine Brüder gaben vor, die Elf-Uhr-Messe zu besuchen, die praktischerweise kurz vor Mittag zu Ende ging, wenn die Kneipen öffneten. Wann immer der Pastor bei uns anklopfte, rannten sie durch die Wohnzimmertür, stürzten die Treppe hoch und versteckten sich in ihren Zimmern, bis er wieder verschwunden war. Normalerweise setzte sich der Pastor und starrte eine Viertelstunde lang aufs Fernsehgerät, als wäre es von Außerirdischen heruntergebeamt worden. Falls ich nett darum bat, segnete er einen meiner neuen religiösen Käufe, ehe er sich verabschiedete und seine Visiten fortsetzte.

Ich wurde der Rituale des Katholizismus schließlich aber überdrüssig, weil mich eine Nonne aus der Gegend ständig „Miss“ nannte, nachdem ich mir die Haare hatte wachsen lassen. Jedes Mal, wenn ich in die Kirche ging, kam sie schnurstracks auf mich zu und fragte: „Darf ich Ihnen einen Platz suchen, Miss?“ Sie fand das lustig, aber irgendwann konnte ich mich nicht mehr beherrschen und zeigte ihr das V-Zeichen (die gute alte britische Alternative zum Stinkefinger), ging raus und kehrte nie mehr zurück. Allerdings bleibt man im Herzen ein Katholik, wenn man mal einer war. Zumindest habe ich das festgestellt.

SCHULE

Fast alle Kinder auf meiner ersten Schule, der Sacred Heart, waren Iren oder hatten irische Elternteile, obwohl es auch ein paar Italiener und einen jüdischen Jungen gab. Bei uns herrschte eiserne Disziplin. Wer sich verspätete oder im Unterricht aß, wurde vom Rektor mit dem Stock geschlagen. Als Mom wegen einer Schilddrüsenoperation ins Krankenhaus musste, fing ich in der Klasse zu weinen an, weil ich Angst davor hatte, sie nie wiederzusehen. Statt dass mich jemand in den Arm nahm, wurde ich aus dem Saal gezerrt und geprügelt. Was Grausamkeit anging, konnte es allerdings niemand mit den Nonnen aufnehmen.

Als ich fünf und in der Vorschule war, bekam ich ein brandneues Set Zinnsoldaten, die ich liebte. Leider waren sie zerbrechlich, und ich machte einen versehentlich einen Kopf kürzer. Als die Nonne das sah, schlug sie mir mit der Kante eines Holzlineals auf die Finger – sechs „Klapse“, bis ich arge Schmerzen hatte. Ich konnte die Finger nicht mehr beugen, sie waren geschwollen und aufgeplatzt. Und ich konnte meinen Eltern nichts davon erzählen, denn damals wurde davon ausgegangen, dass man seine Strafe verdiente, und als Iren bekamen wir beigebracht, niemals jemanden zu „verraten“. Seit jenem Tag machte ich lieber Nickerchen, als mit Soldaten zu spielen.

Als ich zehn war, wurden mein Klasse und ich völlig unerwartet überprüft. Ich beantwortete die Fragen und vergaß das Ganze schnell, doch wenige Monate später hieß es, ich hätte die Grundschulabschlussprüfung bestanden, die ich abgelegt hatte, ohne es zu wissen. Diese Leistung war für Kids aus der Arbeiterschicht in England eine große Sache, weil sie bedeutete, dass man eine höhere Schule besuchen durfte. Diese waren etwas Besseres als Haupt- oder Gesamtschulen, wo man hinkam, wenn man den Grundschulabschluss nicht schaffte. Außerdem kam man über eine höhere Schule üblicherweise in eine solide Anstellung, statt in einer Fabrik arbeiten zu müssen. Aus dem Grund waren meine Eltern überglücklich.

Ich ging ab September 1960 auf die Holte Grammar School, die sogar noch näher an unserem Haus war als die Sacred Heart. Es fühlte sich merkwürdig an, weil die Holte zuvor der gemeinsame Feind gewesen war. Es gab ständig Streit zwischen den Katholiken der Sacred Heart und den Protestanten (oder „Prods)“ der nahegelegenen Prince Albert School, die Ozzy besuchte. Man tat sich jedoch zusammen, um gegen die Schüler der Holte zu kämpfen, weil sie als vornehm und hochnäsig angesehen wurden. Nun war ich aber einer davon, ein sogenannter „Grammar Grub“.

Der Lehrstoff auf höheren Schulen war schwierig, und mit elf Jahren lernte ich auf einmal alle möglichen schräg-schönen Dinge wie Französisch, Latein, Griechisch, Physik, Musik und englische Literatur. Ich hatte immer einen Hang zum Lesen und zur englischen Sprache. Ich verschlang Comics wie Dandy, Beano oder Eagle mit Raumschiffpilot Dan Dare. Zudem las ich viele Horror-Comics meines Bruders, die grundsätzlich unterm Ladentisch verkauft wurden. Egal welches Thema: Kein Tag verging, an dem ich nicht irgendetwas las. An der Holte beschäftigten wir uns hingegen mit Shakespeare, Homer und Gedichten. Ich wurde durch meine Fantasie, die immer lebhaft war und nie stillstand, gut in sprachlichen Konstruktionen.

Auf der Holte geschahen seltsame Dinge, zumindest an modernen Maßstäben gemessen. Jungen und Mädchen hatten getrennte Eingänge, und falls ein Junge den Mädcheneingang nahm, wurde er geprügelt. Als ich 13 war, wurde für katholische Schüler eine „Freizeit“ eingeführt. Später fand ich heraus, dass die anderen Kinder, während wir Katholiken Däumchen drehten, Sexualkunde hatten. Bestrafungen konnten an der Holte je nach Lehrer brutal und ungewöhnlich sein. Beim Englischlehrer Mr. Hinds musste man sich vor der Klasse bücken, woraufhin er einem je nachdem, wie schwer der Verstoß war, mit der Faust auf den Hintern haute. Hatte man Pech, wurde man zum Konrektor Mr. Mordecai geschickt, der einen 40 Minuten lang auf dem Steinboden vor seinem Büro knien ließ und dann schonungslos mit dem Stock schlug.

Alle fürchteten sich vor Mordecai. Einmal trat er mich, sodass ich die Steintreppe vorm Jungeneingang hinunterfiel. Meine Missetat? Ich hatte meine Schulmütze drinnen statt unmittelbar nach dem Hinausgehen aufgesetzt. Vor dem letzten Sportfest, das ich mitmachte, schmiedete ich mit einigen anderen Kids den Plan, ihn mit einem Speer zu durchbohren. Ich wollte dann sagen, er sei mir aus der Hand gerutscht. Zum Glück – oder leider, je nach Sichtweise – tauchte Mordecai nicht auf. Da wir uns nicht beirren lassen wollten, pinkelten ein paar von uns am letzten Schultag an seine Bürotür.

Unsere Lehrer waren nicht alle so furchteinflößend wie Mordecai. Mr. Thompson ließ es deutlich lockerer angehen, wodurch er zu einem leichten Ziel für Streiche wurde. Vor einer Stunde sägte eines der frecheren Kinder alle Beine seines Stuhls durch. Als sich Mr. Thompson hinsetzte, brach er zusammen, und der Lehrer tat sich am Rücken weh. Er rastete komplett aus und nannte uns „Dreck aus Astons Gossen“. Ich glaube, nervlich war er nach dem Vorfall ein bisschen angeschlagen, weil er wochenlang nicht zum Unterricht kam.

Meine schlimmste Abreibung in der Schule bekam ich jedoch nicht von einem Lehrer, sondern von elf Kindern aus einer gegnerischen Fußballmannschaft. Während des Spiels brach eine Schlägerei los, und ich schlug jemanden mit einer Kette, die ich in meinem Seesack hatte (wie ihr vermutlich begriffen habt, ging es damals in Aston recht rüde zu, also musste man gerüstet sein!). Um vom Sportplatz nach Hause zu kommen, fuhr ich mit einem Bus der Linie 33, doch als er ankam und meine Teamkameraden einstiegen, war für mich kein Platz mehr. Während ich auf den nächsten Bus wartete, kreuzte die gesamte gegnerische Mannschaft auf und vermöbelte mich nach Strich und Faden. Als ich heimkam, war ich von oben bis unten grün und blau. Ich musste Mom erklären, dass es ein besonders gewaltsames Spiel gewesen sei und wir – klar – verloren hätten.

Etwas Liebe gab’s aber auch auf der Holte. Weil es eine gemischte Schule war, bekamen wir beigebracht, wie wir uns auf den Abschlussball vorbereiten sollten. Den musste man sich wie die amerikanische Variante vorstellen, bloß maßvoller ohne Herausputzen und übertriebenes Planen. Wir lernten Walzer und Foxtrott, nichts zu Modernes oder Gewagtes. Jedenfalls lernte ich auf diesem Ball Georgina kennen, die ich sechs Jahre später heiratete.

Mit 13 durfte ich zwei Fächer abwählen, also entschied ich mich für Deutsch und Wirtschaftslehre anstelle von Musik und Kunst. Das mag überraschen, wenn man bedenkt, womit ich den Großteil meines Lebens zugebracht habe, doch Musik auf der Holte war nicht gerade spritzig: Der Lehrer ließ eine Klassik-Platte auf einem alten Kurbelgrammofon laufen, verschwand prompt und kam pünktlich zum Ende des Unterricht wieder, falls man es so nennen konnte. Gut möglich, dass er unterdessen im Pub gewesen war.

ROCK’N’ROLL

Wir waren keine ausgesprochen musikalische Familie. Genaugenommen gab es, bis Elvis auftauchte, nur zwei LPs im Haus, beide von Ruby Murray, einer Sängerin aus Belfast, die eher dafür bekannt wurde, dass man ihren Namen als Rhyming Slang für „Curry“ benutzte. Popmusik war im Großbritannien der Fünfziger unheimlich fade. Abgesehen von Ruby hörte Dad Jimmy Shand im Radio; der war ein schottischer Folk-Akkordeonspieler und eigentlich nicht mein Ding. Außerdem mochte mein Vater Billy Cottons Bigband, die Gesangsgruppe The Stargazers und eine BBC-Radioreihe mit dem Titel Sing Something Simple, in der meistens die Cliff Adams Singers mit einem weiteren verdammten Akkordeonisten als Begleitung auftraten. Die mehr oder weniger einzige Musiksendung im Fernsehen war The Black and White Minstrel Show