Irish Love – Vom Glück geküsst - Josie Donovan - E-Book

Irish Love – Vom Glück geküsst E-Book

Josie Donovan

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Beschreibung

Zwischen grünen Hügeln und der malerischen Meeresküste wird die Liebe gefeiert

Allie Malone ist die einzige Tochter des letzten Matchmakers von Irland. Sie arbeitet in London und steht kurz davor, mit ihrem Freund Giles in die USA auszuwandern. Ihrem idyllischen Heimatdorf im County Clare und dem dort jährlich stattfindenden Matchmaking-Festival hat sie schon seit einiger Zeit den Rücken gekehrt. Als ihr Vater einen Herzinfarkt erleidet, ist Allie jedoch gezwungen, seine Rolle als Matchmaker einzunehmen. Die Rückkehr in den kleinen Ort an der irischen Küste, in dem jeder jeden kennt, zwingt Allie dazu, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Begegnung mit dem attraktiven Landarzt Jake wirbelt ihre Gefühle zusätzlich durcheinander, und plötzlich stellt Allie alles infrage: ihre Beziehung zu Giles, ihre Arbeit und ihre Zukunft. Und sie fragt sich, was Liebe eigentlich bedeutet ...

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Seitenzahl: 456

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Das Buch

»Die Kunst des Matchmakens besteht darin, denjenigen Partner zu finden, den die Menschen brauchen, nicht zwangsläufig den, den sie wollen.«

Als Allie Malone von ihrem Vater gebeten wird, die Rolle der Matchmakerin für das jährliche Festival ihrer Heimatstadt Doolinvarna einzunehmen, ist sie zunächst überfordert. In dem kleinen irischen Dorf im County Clare war sie seit Jahren nicht mehr. Schmerzhafte Erinnerungen an vergangene Tage sind noch zu präsent, und eigentlich möchte sie mit ihrem Partner Giles bald in die USA auswandern und Irland ganz den Rücken kehren. Doch sie hat keine Wahl: Nur eine Malone kann als Matchmakerin Paare zusammenführen. Aber woher soll Allie wissen, welche Menschen gut harmonieren? Als sie auf den attraktiven Landarzt Jake trifft, gerät ihr Leben endgültig aus den Fugen, und Allie muss herausfinden, was Liebe wirklich bedeutet. Für das Matchmaking-Festival. Für ihren Vater. Und vor allem für sich selbst.

Die Autorin

Josie Donovan teilt sich mit ihrer Protagonistin Allie den Traum, am Meer zu leben – am liebsten in Irland. Bis es so weit ist, bewohnt sie ein Häuschen in den Bergen, zusammen mit Mann und Kindern und mehr Büchern, als sie jemals lesen kann. Wann immer sie Zeit hat, reist sie auf die Britischen Inseln, auf der Suche nach spannenden Schauplätzen und neuen Geschichten.

Mehr unter: www.josie-donovan.de

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 07/2024

Copyright © 2024 by Josie Donovan

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Redaktion: Eva Jaeschke

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com (pashabo, Lekchalit) und AdobeStock (michaeljung, Creative Station)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30414-0V002

www.heyne.de

»Think you’re escaping and run into yourself. Longest way round is the shortest way home.«

James Joyce

Für meine Schwester Nicole

Das Doolinvarna Matchmaking-Festival

Zehn Jahre zuvor

Winnie!«, rufe ich aus vollem Hals, um die Menschenmenge, die mich umgibt, zu übertönen.

»Was ist?«, ruft meine beste Freundin von der kleinen Tanzfläche, auf der sich die Leute stapeln, bestens gelaunt zurück. Ihr Gesicht ist knallrot und ihre weißblonden Haare kräuseln sich in der feuchten Hitze des Pubs. Seit dem frühen Abend tanzt sie zur Musik der Jolly Fiddlers, die sich regelrecht die Seele aus dem Leib spielen. Winnies Partner wechseln ständig, aber der letzte, ein gut gebauter, breitschultriger Polizeischüler namens Paul aus Ballyvaughan, weicht ihr jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr von der Seite, und ich sehe ihr an, dass sie ihn richtig gut findet.

»Weißt du, wo Dad ist?«, rufe ich. »Er ist schon seit über einer halben Stunde weg!«

Ich halte an unserem Tisch die Stellung so gut ich kann, aber langsam werden die Leute richtig ungeduldig. Schließlich sind sie alle wegen meines Dads gekommen: Dem letzten Matchmaker in ganz Irland. Und jeder will in sein großes, schweres, in Rindsleder gebundenes Buch eingetragen werden – nur dann nämlich hat man die Chance, dass der Matchmaker jemand Passenden findet. Einen Partner, Seelenverwandten, im besten Fall die Liebe eines Lebens.

»Er ist kurz raus, telefonieren!«, ruft Winnie. »Steht glaub ich noch immer vor der Tür!«

Seltsam. Hier drin ist die Hölle los, und Dad steht draußen und telefoniert?

»Es geht gleich weiter«, versuche ich die Leute zu beschwichtigen, stehe auf und kämpfe mir einen Weg durch die Menschenmassen. Dabei fällt mein Blick auf Niall, den Pubbesitzer und Dads besten Freund, der hinter dem Tresen mit dem Bierzapfen kaum noch nachkommt. Über ihm hängt ein riesiges Plakat, das in pinken Buchstaben den Höhepunkt des Jahres verkündet: »THEDOOLINVARNAMATCHMAKINGFESTIVAL«. Seine Frau Trish räumt im Akkord die Tische ab und macht dabei wie immer ein griesgrämiges Gesicht, obwohl sie doch froh sein müsste, dass das Pub an den Festivaltagen so gut besucht ist.

Endlich bin ich draußen im Freien. Wir haben Riesenglück mit dem Wetter, es ist ein lauer Spätsommerabend, wie es ihn nur selten gibt, hier, an der Westküste Irlands. Um mich herum wimmelt es nur so von ausgelassenen Besuchern, die die Hauptstraße entlangflanieren, lachen und miteinander schäkern. Wie jedes Jahr sind Tausende von Singles aus dem ganzen Land und auch von weiter weg nach Doolinvarna gekommen, in der Hoffnung, die große Liebe zu finden. Die grün-weiß-orangefarbenen Wimpel, mit denen wir das ganze Dorf geschmückt haben, flattern leicht im Abendwind, und vom Hafen her höre ich, wie die Möwen aufgeregt kreischen, weil sie heute wahrscheinlich so viele Essensreste erwischen wie sonst das ganze Jahr über nicht. Suchend blicke ich mich um, und schließlich sehe ich Dad, der nur ein paar Meter neben dem Eingang zum Pub steht. Er umklammert sein vorsintflutliches Nokia-Handy mit beiden Händen, sodass die Knöchel weiß hervortreten, und hält den Kopf gesenkt.

»Dad!« Schnell gehe ich zu ihm. »Was ist denn los? Wieso bist du hier draußen? Wenn wir nicht weitermachen, steigen uns die Leute gleich auf die Barrikaden!«

Dad hebt langsam den Kopf und sucht meinen Blick. Er sieht nicht gut aus. Gar nicht gut.

»Was ist los, Dad?«, frage ich noch einmal, und plötzlich überkommt mich ein unheilvolles Gefühl. »Ist etwas passiert?« Noch während ich den Satz ausspreche, bin ich mir sicher: Es ist etwas passiert.

»Dad!«, stoße ich hervor. »Los, sag schon!«

»Es ist …« Er wirkt plötzlich hilflos, so hilflos, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. »Deine Mum. Und Declan.«

»Was ist mit ihnen?« Die beiden sind heute Morgen zu den Irish Open nach Dublin gefahren. Mein Bruder Declan ist einer der besten Nachwuchstennisspieler des Landes, und wenn er morgen das Finale gewinnt, hat er die Chance, sich für die richtig großen, internationalen Turniere zu qualifizieren. Ich erkenne die Verzweiflung in Dads Augen und spüre Panik aufsteigen, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe. Enge erfüllt meinen Brustkorb, und ich glaube, keine Luft mehr zu bekommen. »Dad!« Ich packe ihn an der Schulter und schüttle ihn, doch ich bekomme keine Antwort. »Was ist mit ihnen?«

»Allie, sie … sie …« Er will weitersprechen, doch seine Stimme versagt.

Das Letzte, was ich sehe, ist Dads zu Tode betrübtes Gesicht, bevor sich alles um mich herum wie in einem Kaleidoskop zu drehen beginnt – der dumpfe Partylärm, der aus dem Pub nach draußen dringt, die johlenden Menschengruppen, die vorbeiziehen, der Geruch von Hot Dogs und Zuckerwatte.

Und dann wird es schwarz um mich herum.

Kapitel eins

London, heute

Du musst jetzt ganz ruhig bleiben, Allie«, beschwört mich Winnie und schnauft dabei so heftig in den Hörer, dass sie genau das Gegenteil bewirkt.

»Was ist los?«, frage ich, und mein Blick wandert zu der Dame, die gerade die Rezeption ansteuert. Mich ansteuert. Und sicher im nächsten Moment eine Beschwerde über den mangelhaften Zimmerservice vorbringen will (wir können da wirklich noch Boden wettmachen, Giles hat deshalb schon mehrere Schulungen abhalten lassen, mit schmissigen Namen wie »Effektiv auf der Etage«).

»Versprichst du mir, nicht durchzudrehen?« Winnie hat sichtlich Mühe, selbst ruhig zu bleiben.

»Jetzt SAG schon!«, rufe ich fast durch den Hörer und ernte einen missbilligenden Blick von der Dame.

Winnie atmet tief durch. »Pat. Dein Dad. Er hatte einen Herzinfarkt.«

»Dad? Aber er … er lebt doch noch? Lebt er noch, Winnie?«

Meine Knie geben nach, und ich muss mich gegen das Rezeptionspult lehnen, um nicht zu Boden zu gehen.

»Ja, er lebt noch. Er ist notoperiert worden und liegt jetzt im Krankenhaus in Galway.«

»Er lebt noch«, sage ich mit zittriger Stimme und klammere mich an diese Worte. Dad lebt.

»Ja, aber es war verdammt knapp«, sagt Winnie tonlos. »Wenn Niall ihn nicht so schnell gefunden hätte …«

»Wo hat er ihn gefunden? Zu Hause?«

»Nein, auf der Toilette im Gemeindezentrum.«

»Auf der Toilette im Gemeindezentrum?«

»Nun ja, wir hatten gerade eine Sitzung. Wegen des Festivals …« Winnies Stimme verliert sich.

»Und dabei hatte er einen Herzinfarkt?«, frage ich ungläubig und werde augenblicklich wütend. Dieses vermaledeite Festival.

»Jap. Es ging ziemlich heiß her, Kelly und Mum waren mal wieder richtig in Fahrt, und du weißt, wie dein Dad ist … hat nicht viel gesagt, vermutlich alles in sich reingefressen …« Winnie klingt bekümmert. »Und dann wollten wir zuerst Jake anrufen …«

»Wer ist Jake?«

Sie ignoriert meine Frage. »Aber dann hat Kelly gemeint, dass wir besser gleich die Rettung holen, und das war goldrichtig. Wir waren gerade noch rechtzeitig dran. Ein paar Minuten später, und er wäre hopsgegangen, hat Dermot gesagt.«

»Wer ist denn jetzt schon wieder Dermot?«, frage ich kraftlos, obwohl es eigentlich gar keine Rolle spielt. Ich befinde mich gerade in einem luftleeren Raum, einem Vakuum, aus dem ich nicht raus kann. Es fühlt sich komplett surreal an.

»Der Notarzt«, sagt Winnie. »Ziemlich entspannter Typ, übrigens. Hatte noch sein Golfoutfit an, ist direkt vom Platz am Burren losgefahren.«

»Ich muss so schnell wie möglich zu Dad«, sage ich verzweifelt. »Ich rede mit Giles, er soll meine Schichten tauschen. Dann kann ich vielleicht schon morgen früh bei ihm sein.«

»Das wäre sicher gut, Allie«, sagt Winnie. »Aber mach dir inzwischen nicht zu viele Gedanken. Er wurde erfolgreich operiert und liegt auf der Intensivstation, ist aber stabil, und wir sind alle für ihn da. Aber das sind wir ja immer.«

Im Gegensatz zu seiner einzigen Tochter, die sich davongemacht hat.

Dieser Vorwurf existiert nur in meinem Kopf, aber er hallt so laut darin herum, als hätte Winnie ihn durchs Telefon gebrüllt.

Genau zehn Jahre ist es her, dass ich von einem Tag auf den anderen weg bin. Obwohl, Knall auf Fall stimmt nicht ganz. Ich hatte mir schon lange vorher ausgemalt, wie es wohl sein würde, wegzugehen, auszubrechen, aus meinem Leben dort, in dem Mum und Declan immer noch so präsent waren, an jedem einzelnen Tag, obwohl sie längst nicht mehr da waren. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, wirklich und wahrhaftig ohne sie zu leben, wollte frei sein. Und darüber hab ich Dad einfach im Stich gelassen. Das nagende Schuldgefühl, das mich nie ganz verlässt, ist im Moment so stark geworden, dass es mich fast zerreißt.

Inzwischen hat sich die Dame vor mir zu einem regelrechten Berg an Frust und Ungeduld aufgebaut und nagelt mich mit ihrem Blick fest. Ich kann sie unmöglich länger ignorieren. »Winnie, ich muss Schluss machen. Ich meld mich bei dir.«

»Ist gut. Tschüss, Allie.«

»Tschüss.« Ich lege auf und wende mich meinem Gast zu.

»Bitte, was kann ich für Sie tun?« Ich versuche, die Gedanken an meinen bewusstlosen Dad in einem grell beleuchteten OP beiseitezuschieben und lächle mein Gegenüber an. Professionell bleiben ist das Wichtigste, sagt Giles immer. Der Gast darf nie merken, was gerade in einem vor sich geht.

»Die Klimaanlage in meinem Zimmer«, blafft sie. »Sie ist viel zu kühl eingestellt. Ich bekomme einen steifen Hals davon.«

»Sie können die Temperatur auf einer Fernbedienung selbst regulieren«, erkläre ich höflich und versuche, meine Gedanken im Zaum zu halten, was mir natürlich nicht gelingt. Dad hasst Krankenhäuser. Er war erst einmal länger dort, als er andauernd diese diffusen Bauchschmerzen hatte und ein paar Untersuchungen machen lassen musste (zum Glück nichts Ernstes, nur ein kleines Magengeschwür). Die Luft dort macht ihn nervös, und er vertritt fest die Ansicht, dass man Krankenhäuser kränker verlässt, als man sie betritt. Was doch sehr unfair gegenüber unseren Krankenhäusern ist.

Ach Dad, bitte halte durch.

»Und wo soll diese Fernbedienung bitte sein?« Die Frau beäugt mich misstrauisch, als hätte ich sie höchstpersönlich versteckt. »Ich hab nur die für den Fernseher gesehen. Oder ist das eines dieser multifunktionalen Dinger, die Jalousien und Beleuchtung und weiß der Kuckuck was auch noch mit regeln?«

»Vielleicht darf ich es Ihnen kurz zeigen?« Plötzlich steht Giles hinter mir. Er ist durch die Tür zum Backoffice, das direkt hinter der Rezeption liegt, getreten, und strahlt die Dame an.

»Giles Letherby, unser Hoteldirektor«, stelle ich ihn vor und muss trotz allem lächeln. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er gekommen ist.

»Der Direktor … nun, wenn Sie Zeit hätten, das wäre natürlich … das wäre …« Die Dame gerät ins Stammeln und zeigt das erste Mal seit ihrem Erscheinen so etwas wie ein Lächeln.

Natürlich kriegt er sie, er kriegt jeden damit.

»Na dann kommen Sie mal mit.« Mit flinken Schritten umrundet er das Rezeptionspult und bietet der Dame galant seinen Arm. Während sie in Richtung Aufzug gehen, dreht er sich kurz um und zwinkert mir zu. Ich lächle schwach zurück, zu mehr bin im Moment nicht imstande.

Mich hat Giles auch gekriegt. Gleich, als er das erste Mal als frischgebackener Hoteldirektor durch die Drehtür des Fairfax Clerkenwell Hotels getreten ist, mit seinem entschlossenen Lächeln, und testweise nach einem Einzelzimmer gefragt hat. Ich wusste noch nicht, dass ich meinen neuen Chef vor mir hatte, war aber furchtbar nervös, weil dieser attraktive, verbindliche Mann, der sich später als Giles vorstellte, vor mir stand und habe mich pausenlos verhaspelt.

Er hat sich sofort in meine »frische irische Art« verliebt, sagt er immer (was genau er damit meint, hab ich noch nicht ganz herausgefunden. Will ich aber auch gar nicht.) Auf jeden Fall sind wir seitdem ein Paar. Giles Letherby, einer der vielversprechendsten Hotelmanager des Landes, und ich. Allie Malone, stellvertretende Leiterin des Rezeptionsteams im Fairfax Clerkenwell Hotel und ebenfalls aufstrebend. Vielleicht nicht ganz so wie Giles, aber er ist auch extrem ehrgeizig. Ich dagegen bin froh, wenn ich einen weiteren Tag mit unserer anspruchsvollen Klientel erfolgreich überstehe. Besonders heute, wo ich unmöglich mit meinen Gedanken noch bei etwas anderem sein kann als bei Dad.

Bitte, geh du nicht auch noch, Dad.

»Das ist gelebter Kundenservice, oder?« Fünf Minuten später tritt Giles wieder aus dem Fahrstuhl und lehnt sich mit einem Augenzwinkern über die Rezeption. »Sie spielt jetzt da oben sicher die nächsten zwei Stunden mit ihrer Klimaanlage herum, und du hast deine Ruhe.«

»Giles, Winnie hat angerufen.« Ich sehe ihn hilflos an. »Dad hatte einen Herzinfarkt.«

Giles macht ein erschrockenes Gesicht. »Oje, der arme Patrick!«

Mein Freund ist der einzige Mensch, der Dad bei seinem vollen Namen nennt. Das kommt vielleicht daher, dass er Dad bisher nur zweimal in seinem Leben gesehen hat. Immer zu Weihnachten besucht mich Dad in London und bleibt bis Neujahr. Giles hingegen verbringt die Weihnachtsfeiertage bei seiner Familie in Nottingham und stößt dann erst zu Neujahr wieder zu uns, meist, nachdem ich Dad zum Flughafen gebracht habe. Dad in London zu erleben, ist ungefähr so, wie einen Eisbären in der Sahara auszusetzen. Die Großstadt ist absolut feindlicher Lebensraum für ihn, und ich bin ihm sehr dankbar, dass er die Strapazen, die eine Reise hierher für ihn bedeuten, für mich in Kauf nimmt. Und dass ich dadurch nicht nach Hause fahren muss.

»Er wurde notoperiert und liegt jetzt auf der Intensivstation, aber er ist stabil«, wiederhole ich monoton das wenige, was Winnie mir berichtet hat.

»Natürlich musst du sofort zu ihm, Liebling.« Giles kommt zu mir hinter das Pult und nimmt mich in den Arm. Ich kuschle mich an seine Hemdbrust, atme sein Aftershave ein (er riecht wie immer nach Ginseng und Zitrone), und das beruhigt mich etwas.

»Ich könnte deine nächsten Schichten mit denen von Caterina tauschen …« Mit einer Hand greift er zur Tastatur und loggt sich in das Dienstplanprogramm ein. Er mustert die vielen bunten Balken. Jeder von uns hat seine eigene Balkenfarbe (ich bin grün, Caterina pink).

»Wann bist du wieder zurück? Übermorgen Abend?«

»Giles, mein Vater hatte gerade einen Herzinfarkt!« Ich starre ihn ungläubig an. »Zumindest übers Wochenende muss ich dortbleiben und mich um ihn kümmern!«

»Nun ja, er ist ja sicher noch länger im Krankenhaus und wird dort sicher bestens betreut …«, sagt er abwesend, während er weiter auf den Bildschirm schaut, aber er korrigiert sich eilig, als er meinen Blick sieht. »Klar, entschuldige, das war gerade echt unsensibel von mir. Natürlich musst du ihm beistehen. Dann teile ich jemanden bis Mitte nächster Woche für dich ein? Wäre das okay? Und dann beginnt ja schon unser Urlaub.«

Ich nicke bloß. Emsig schiebt Giles die bunten Balken herum, bis alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert ist.

»Gut, dann wäre das hiermit erledigt.« Er streichelt mir über den Rücken und sieht mich zerknirscht an. »Hör mal, das kommt jetzt wahrscheinlich so rüber, als wäre ich der unsensibelste Tropf weit und breit, aber ich hab den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen. Was hältst du von Sushi heute Abend?« Das ist typisch Giles. Indem er einen Fehler freimütig zugibt, wirkt er allein dadurch schon wieder charmant. »Ich könnte uns was mitnehmen, muss noch nach Islington, und dann unterhalten wir uns in aller Ruhe über deinen Dad und was wir tun können, um ihm zu helfen. Ich hab von tollen Reha-Einrichtungen gehört, die auf Herzinfarktpatienten spezialisiert sind …«

»Gern«, sage ich, obwohl mir im Moment gerade viel mehr nach einer Portion tröstlichem Apple Crumble wäre, als nach kaltem, rohem, in Algen gewickelten Fisch, und lasse mir von Giles einen Abschiedskuss auf die Wange drücken. »Okay, bin um spätestens acht da. Du könntest den Sauvignon Blanc kühlstellen, der passt super zu Sushi.« Er sieht mich liebevoll an. »Und hey, mach dir nicht zu viele Sorgen um Patrick. Es wird sicher alles gut.«

Giles hat leicht reden. Für ihn scheint jede auch noch so große Schwierigkeit stets nur eine unangenehme Lappalie zu sein, die sich mit ein wenig Nachdenken und der Besonnenheit, die ihn auszeichnet, mühelos aus der Welt schaffen lässt. »Problemlösungskompetenz«, nennt er das schlicht. Wahrscheinlich sollte ich an meiner dringend arbeiten.

»Ich werd’s versuchen.« Mehr als ein zaghaftes Lächeln bringe ich im Moment immer noch nicht zustande.

»Dann bis später.« Er drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Und wie gesagt, versuch, nicht zu viel zu grübeln. Das bringt keinem was.«

»Ich versuch’s«, rufe ich ihm nach. Giles ist schon so gut wie aus der Tür und ruft noch etwas zurück, aber meine Gedanken sind schon längst wieder bei Dad. Und in Doolinvarna.

Die Intensivstation liegt im dritten Stock des großen, langgestreckten Gebäudes des Universitätskrankenhauses von Galway.

»Ich habe gute Nachrichten für Sie, Ms. Malone. Wir konnten Ihren Vater bereits von der Intensivstation verlegen«, sagt Dr. Leila Sharif zu mir. Sie ist Dads behandelnde Ärztin, groß gewachsen, wunderschön und hat eine pechschwarze Lockenmähne, die einem Löwen alle Ehre machen würde. »Sie können gerne zu ihm, aber nicht zu lange, und bitte keine Themen, die ihn aufregen könnten.«

Ich nicke.

Dr. Sharif sieht mich ernst an. »Es ist ein überstrapazierter Spruch, aber Ihr Vater ist dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder der Alte ist, und dann muss er seinen Lebensstil ändern. Radikal ändern.«

Ich nicke wieder, während wir einen mit beigefarbenem Linoleum ausgelegten Gang entlanggehen, und stelle mir jetzt schon die Frage, wie irgendjemand meinen Dad dazu bewegen soll, seinen Lebensstil (der im Wesentlichen aus Sofasport und Wohlfühlessen – gehaltvoll, fettig, nicht die Bohne gesund – besteht) zu ändern, geschweige denn radikal.

»Ich lasse Sie dann mal allein, Ms. Malone.« Dr. Sharif lächelt mich an und klopft an die schwere Tür zu Dads Zimmer. Ich atme noch einmal tief durch, da öffnet uns auch schon ein streng aussehender Krankenpfleger. Er mustert mich von Kopf bis Fuß.

»Ich bin in ein paar Minuten wieder da«, sagt er, und es klingt mehr wie eine Drohung als eine Auskunft. Dann lässt er mich in den Raum und schließt die Tür hinter sich. Dad liegt in einem dieser multifunktionalen Krankenhausbetten, und sein Gesicht hat nicht die gewohnt rosig-frische Farbe, sondern ungefähr den gleichen bleichen Farbton wie die gestärkte Bettwäsche. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er wach ist oder schläft.

»Dad?«, frage ich vorsichtig.

Er öffnet die Augen ein Stück und streckt mir schwach eine Hand entgegen. »Allie-Schatz!« Es ist mehr ein Murmeln.

Ich setze mich auf den Hartplastikstuhl neben seinem Bett und bemühe mich, die vielen Schläuche, die in Dad rein- und rausführen, zu ignorieren. Schnell nehme ich seine Hand und drücke sie fest und bin erleichtert, dass er zumindest sonst ganz wie der alte Dad aussieht – ein stämmiger Bär mit grauem Vollbart und unzähligen Lachfalten um Augenwinkel und Mund.

»Ich bin so froh, dass du da bist!«, sagt er müde, aber er lächelt.

»Und ich bin erst froh, dass du noch da bist! Was machst du denn bloß für Sachen!« Ich muss mir Mühe geben, um nicht in Tränen auszubrechen.

Dad bemerkt es und streichelt beruhigend über meine Hand.

»Keine Sorge, Unkraut vergeht nicht.«

»So ein blöder Spruch …« Ich schüttle den Kopf. »Die Ärztin hat gesagt, es war verdammt knapp.«

Dad wirkt jetzt wacher. »Aber es ist gut ausgegangen. Pat Malone ist noch nicht bereit, abzutreten. Noch lange nicht.« Er versucht sich ein bisschen aufzurichten, aber die Schläuche behindern ihn dabei.

»Und du bist extra den ganzen weiten Weg aus London gekommen?« Dad sieht mich schuldbewusst an. »Nur meinetwegen?«

»Wegen wem denn sonst?« Ich blicke ihn liebevoll an.

»Konntest du denn einfach so von der Arbeit weg? Ihr habt doch immer so viel zu tun.«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sage ich. »Giles hat alles geregelt, ich kann ein paar Tage bleiben.«

Dads Gesicht erhellt sich kurz. »Das ist schön zu hören, mein Schatz. Wirklich schön. Und tut mir leid, dass ich solche Umstände mache.«

»Du machst keine Umstände, Dad. Ich hätte schon viel früher kommen sollen.«

Wir schweigen einen Moment lang, weil wir beide wissen, dass das stimmt.

»Weißt du, was mich an der ganzen Sache am meisten stört?«, beginnt Dad schließlich wieder zu sprechen. Seine Stimme gewinnt zunehmend an Kraft.

Ich schüttle den Kopf.

»Erstens, dass ich überhaupt hier bin. Wo doch jeder weiß …«

»…, dass man ein Krankenhaus kränker verlässt, als man es betritt«, beende ich seinen Satz und muss schmunzeln. »Dad, du bist wirklich unfair zu den Leuten hier. Dr. Sharif und ihr Team haben dir das Leben gerettet!«

»Ja, mag schon sein«, brummt Dad widerstrebend. »Aber noch mehr stört es mich, dass ich in der wichtigsten Zeit des Jahres wie ein gestrandeter Wal im Krankenhauskittel rumliege!«

»Dad …«

»Na, ist doch wahr! Hätte der verdammte Infarkt nicht zwei Wochen später kommen können?«

»Dad!«

»Da hätte ich mir auch eine andere Zeit zum Nichtstun aussuchen können. Mindestens vierzehn Tage muss ich noch hierbleiben … und danach wollen sie mich gleich in die Reha stecken.« Er verzieht das Gesicht. »Wo ich dann weiter faulenzen soll.«

»Eine Reha ist doch nicht faulenzen«, sage ich. »Du musst wieder fit werden, Dad, und endlich besser auf dich achten. Keine Fish and Chips bei Niall mehr. Die triefen vor Fett. Und kein Feierabend-Pint mehr. Weniger Rugby im Fernsehen, dafür echter Sport.«

»Niall hat schon längst keine fetttriefenden Fish and Chips mehr auf der Karte«, sagt Dad wehmütig.

»Echt?« Ich bin überrascht. Als ich weggegangen bin, bestand die Karte aus genau drei Gerichten, die allesamt vor Fett getrieft haben: Fish and Chips, Hamburger und Cheeseburger.

Dad schüttelt den Kopf. »Die Zeiten sind schon lange vorbei. Er macht sie jetzt in der Heißluftfritteuse. Das schmeckt man auch.«

»Aber siehst du, vielleicht darfst du die Fish and Chips dann weiterhin essen«, versuche ich ihn zu trösten. »Das wär doch mal was, ab und zu.«

Dad seufzt. »Wenn das Essen mein einziges Problem wäre … wie gesagt, das viel, viel größere Problem ist etwas anderes.«

Ich weiß, was jetzt kommt. Und sofort fühle ich die altbekannte Traurigkeit in mir aufsteigen, die mich stets begleitet, mal mehr, mal weniger. Nur in den besten Momenten gelingt es mir, sie vollkommen abzuschütteln, aber jetzt gerade ist sie präsenter denn je.

»Allie, es geht um das Festival.« Er sieht mich ernst an. »Ich kann unmöglich daran teilnehmen, sagt Dr. Sharif. Und schon gar nicht als Matchmaker. Viel zu viel Aufregung.«

»Natürlich kannst du das nicht«, sage ich mit Nachdruck. »Aber jeder wird das verstehen, Dad. Du hattest gerade einen Herzinfarkt. Niall kann das doch übernehmen. Oder jemand anderes.«

»Das geht nicht.« Dad schüttelt den Kopf. »Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr daran … aber es gibt da eine ganz besondere Tradition.«

»Welche genau meinst du?«, versuche ich zu scherzen, denn das Festival besteht eigentlich hauptsächlich aus skurrilen Traditionen. Früher hat mir das alles Spaß gemacht. Jetzt finde ich es nur noch lächerlich. Und viel schlimmer: Die Erinnerung daran weckt Gefühle in mir, die lieber tief vergraben bleiben sollen.

Dad sieht mich ernst an. »Die wichtigste von allen. Und sie besagt, dass nur jemand aus unserer Familie, ein oder eine Malone, den Matchmaker machen kann.«

O nein. Darauf kann er unmöglich hinauswollen. Mein Magen verkrampft sich, aber ich lasse mir nichts anmerken.

»Dann kann vielleicht Onkel Lorcan einspringen?«, frage ich eilig, obwohl ich weiß, dass der Gedanke, meinen betagten Großonkel als Matchmaker einzusetzen, absurd ist.

»Onkel Lorcan?« Dad sieht mich mit einem etwas seltsamen Blick an. »Allie, Onkel Lorcan wird nächstes Jahr hundert. Er ist schon seit Jahren in einem Pflegeheim in Clifden und weiß nicht einmal mehr, wie er heißt!«

»Dann …«, fieberhaft durchforste ich mein Gehirn nach weiteren entfernten Verwandten. Das Problem dabei ist, dass Dads Verwandtschaft überschaubar ist. Er ist Einzelkind gewesen, seine Eltern sind schon lange tot und Declan …

»Wie gerne würde ich Declan fragen können«, sagt Dad mit brüchiger Stimme, wie immer, wenn er den Namen meines Bruders erwähnt. »Aber das geht nicht mehr.«

»Dad …« Schnell drücke ich seine Hand noch ein wenig fester. Ihn so zu sehen, bricht mir das Herz. Schon wieder, zum wahrscheinlich tausendsten Mal.

»Nein, Allie – meine einzige, letzte Chance, die bist du, mein Schatz.« Er drückt meine Hand ebenfalls. »Ich frage dich nicht gern, wirklich nicht, aber ich muss es tun.«

»Dad, ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst«, sage ich so resolut wie möglich. »Ich will das nicht! Ich kann das doch auch gar nicht!«

»Du hast mir jahrelang dabei geholfen, Allie.«

»Das allein macht noch lange keinen guten Matchmaker aus!«

»Aber du trägst es in deinem Herzen.« Dad sieht mich liebevoll und zugleich mit festem Blick an. »Tief in dir hast du alles, was du brauchst, mein Mädchen. Das weiß ich. Und das ist das Allerwichtigste.«

»Dad, das kannst du nicht von mir verlangen.« Ich schüttle den Kopf.

»Wenn du es nicht machst, müssen wir das Festival absagen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Du weißt, was das für das Dorf bedeutet.« Er starrt ins Leere. »Und was es für mich bedeutet. Das Festival ist beinahe das Einzige, was mir geblieben ist.«

Ich winde mich innerlich. Ist das wirklich der richtige Zeitpunkt, um Dad von meinen Plänen zu erzählen? Hier, an seinem Krankenbett, einen Tag nachdem er einen Herzinfarkt hatte?

Keine Themen, die ihn aufregen könnten, hat Dr. Sharif gesagt. Gefährde ich Dads Heilungsprozess, wenn ich ausgerechnet jetzt damit rausrücke? Aber ich kann es ihm nicht länger verheimlichen. Ich muss es ihm endlich sagen, habe es schon viel zu lange herausgezögert.

»Es tut mir wirklich leid, Dad, aber ich kann nicht, selbst wenn ich wollte.«

»Warum nicht, Schatz?«

Ich atme tief durch. »Giles und ich wollen demnächst in die USA übersiedeln, nach Seattle.«

»Ach, wirklich?« Dad sieht mich überrascht an, überrascht und auch ein bisschen verletzt. »Davon höre ich heute zum ersten Mal! Warum hast du nichts erzählt?«

»Ich bin irgendwie noch nicht dazu gekommen«, druckse ich herum. »Und ich wollte nichts sagen, solange es nicht spruchreif war.« Das stimmt nur bedingt. Der wahre Grund, wieso ich Dad gegenüber bisher nichts erwähnt habe, ist, dass ich Angst davor hatte, ihm zu sagen, dass zwischen ihm und seiner Tochter in Zukunft nicht nur eine schmale Meerenge, sondern ein ganzer Ozean liegen wird.

»Und jetzt ist es das?« Dad sieht mich mit einem seltsam neutralen Gesichtsausdruck an.

»So ziemlich.« Ich nicke. »Giles hat in Seattle einen Job als Regionalmanager angeboten bekommen, er betreut dann mehrere Hotels. Und ich darf ein Rezeptionsteam leiten. Mit der Aussicht auf mehr, falls ich mich bewähre.«

Nächste Woche schon fliegen wir los. Zuerst haben wir vierzehn Tage Urlaub, um uns alles anzusehen, eine Wohnung zu suchen und so weiter. Und dann treten wir unsere neuen Jobs an. Wir haben geplant, für mindestens ein paar Jahre drüben zu bleiben, vielleicht auch unser ganzes Leben lang. Wir ziehen in eine der hipsten Städte der USA! Wenn ich daran denke, durchfährt mich ein freudiger Schauer, selbst hier, im Krankenhaus. Aber ein bisschen fürchte ich mich auch und hoffe, dass sie nicht zu hip für mich ist. Ich halte mich selbst nämlich eher für einen normalen Typen (um nicht das Wort durchschnittlich gebrauchen zu müssen). Wahrscheinlich bin ich deshalb auch ganz froh, aus London wegzugehen. Ich bin voller Hoffnung dorthin gekommen, wollte es lieben, habe es wirklich probiert, aber irgendetwas an dieser rasanten, verzehrenden, sich im Sekundentakt ändernden Stadt überfordert mich permanent. Wahrscheinlich ist das kein Wunder, wenn man in einem Dorf mit nicht einmal fünfhundert Einwohnern aufgewachsen ist … Aber jetzt bloß nicht an früher denken. Es ist gut so, wie es ist. In London jagen mich zumindest keine dunklen Schatten aus der Vergangenheit. Und Seattle ist zwar auch groß, aber ich stelle mir das Leben in dieser Stadt im Westen der USA wesentlich entspannter vor. Giles war schon ein paarmal dort auf Urlaub, und er hat immer geschwärmt, wie lässig und relaxed alles sei. Keine britische Reserviertheit, kein kaltfeuchter Winternebel, und fast überall riecht man das Meer. Es wird bestimmt großartig.

Dad macht auf jeden Fall große Augen. »Ein eigenes Team leiten? In einem Hotel in Seattle? Oh, das ist großartig! Das freut mich für dich. Wirklich.« Er versucht zu lächeln, aber es gelingt ihm nicht so recht. »Und ob wir Weihnachten in London oder in Seattle feiern, macht ja auch keinen großen Unterschied mehr. Dann flieg ich eben ein paar Stündchen länger.« Er versucht schon wieder zu scherzen, obwohl ich merke, dass es ihn hart trifft, dass ich ihn vor vollendete Tatsachen stelle.

Eine Weile schweigen wir. Dann beginnt er zögerlich: »Ich weiß, es ist viel verlangt, unheimlich viel sogar … aber könntet ihr diesen Flug nicht vielleicht um ein paar Tage nach hinten verschieben? Das Festival ist schon in zwei Wochen, und danach hättest du alle Zeit der Welt …« Dads Blick ist jetzt flehend. »Bitte, Allie.«

»Es tut mir wirklich leid, Dad, aber ich kann das einfach nicht. Wirklich nicht«, höre ich mich hilflos sagen. »Es ist schon alles geplant, Giles und ich verbringen dort vorher unseren Urlaub, wir lernen den Vorstand und das Team kennen …«

Dad schließt die Augen, und plötzlich fängt das kompliziert aussehende Gerät neben seinem Bett an zu piepsen und zu blinken. Keine fünf Sekunden später steht der Krankenpfleger wieder im Raum.

»Alles okay, Mr. Malone?«, fragt er und mustert mich streng. »Oder ist Ihnen Ihr Besuch zu anstrengend?«

Dad öffnet die Augen wieder und schüttelt den Kopf. »Ian, das ist meine Tochter Allie. Sie ist extra aus London gekommen!«

»Wie schön«, sagt Ian ungerührt. »Aber wenn sie den ganzen Großstadtstress mit in dieses Zimmer bringt, fährt sie besser gleich wieder zurück!«

Die Maschine blinkt und piepst immer noch. Ian tritt an sie heran und tippt auf ihr herum.

Dad sieht mich verzweifelt an. »Allie, Schatz, ich bitte dich!« Die Geräte blinken schneller.

»Ich glaube, dieser Besuch ist hiermit beendet«, sagt Ian resolut und bedeutet mir, aufzustehen.

»Überleg es dir wenigstens!« Dad lässt meine Hand nicht los, obwohl ich schon stehe. »Bitte!« Ich sehe seinen Blick, sein leichenblasses Gesicht, und das lässt mir keine Wahl.

»Okay, Dad, ich überleg’s mir«, sage ich und bereue es bereits im selben Moment. Dads Miene jedoch erhellt sich schlagartig.

»Danke, Allie. Tausend Dank. Denk in Ruhe darüber nach, und dann sehen wir weiter.«

Ich nicke ebenfalls. »Gut. Ich such mir jetzt was zum Übernachten in der Nähe, und morgen komme ich dich wieder besuchen.«

Dad sieht mich erstaunt an. »Wieso schläfst du nicht zu Hause? Du könntest das Geld fürs Hotel sparen, und Winnie und die anderen würden sich sicher unheimlich freuen, dich zu sehen …« Er zögert. »Und so furchtbar kann es doch nicht sein, für ein paar Tage nach Hause zurückzukehren. Oder ist es das für dich, Allie? Furchtbar?«

Ich überlege einen Moment. Dann schüttle ich den Kopf. »Nein, Dad, es ist nicht furchtbar.« Zumindest rede ich mir das in diesem Moment ein, und weil ich Dad nicht noch mehr aufregen will. »Du hast recht. Ich hab Winnie ewig nicht mehr gesehen.« Das letzte Mal vor eineinhalb Jahren, als sie mich in London besucht hat. Ist das wirklich schon so lange her?

»Niall hat den Schlüssel für die Wohnung«, sagt Dad. »Geh einfach zu ihm in den Pub.«

»Okay. Dann bis morgen, Dad«, sage ich. »Und ruh dich schön aus inzwischen, hörst du?«

»Was soll ich denn auch sonst machen?« Er seufzt. »Bis morgen, mein Schatz.«

Ich winke ihm noch einmal zum Abschied, ehe Ian mir die Tür vor der Nase zuschlägt.

Kapitel zwei

Schon lange bevor ich es sehe, rieche ich es: das Meer. Das Fenster an meinem Sitzplatz im Bus ist einen Spalt geöffnet, und durch ihn dringt eine schwere, salzige Brise, mit einem Hauch von Torf. Vor ein paar Jahren war ich mit Giles auf den Lofoten. Dort hat es genauso gerochen, und für einen kurzen Moment hat mir das Heimweh fast die Luft abgeschnürt. Aber dann habe ich es sofort gezwungen, sich wieder aus dem Staub zu machen. Wieso sollte man auch Heimweh haben nach einem Ort, der einem den größten Schmerz seines Lebens gebracht hat?

Noch eine Biegung, dann kann ich sie sehen, das erste Mal seit über zehn Jahren: die Irische See. Es ist später Nachmittag, und die tiefstehende Sonne lässt die vielen Wellenkrönchen glitzern wie tausend Edelsteine. Mein Herz zieht sich zusammen, es verkrampft sich richtig. Ich liebe das Meer, unser Meer, und wenn ich etwas wirklich vermisst habe in der Stadt, dann waren es die Wellen, das Geräusch der Brandung, dieser einzigartige Geruch.

Von hier ab führt die Straße direkt an der Küste entlang, und ich kenne immer noch jeden Meter der Strecke, den der Bus von Galway aus zurücklegt. Ich wundere mich, wie seltsam vertraut mir alles ist, obwohl ich so lange weg war, und obwohl ich so sehr versucht habe, es zu vergessen. Die üppigen Polster aus Heidekraut, die das satte Grün der fruchtbaren Weiden in prächtigen Rosa- und Violetttönen sprenkeln. Die mächtigen Felsbrocken, die schon seit Jahrmillionen diesen Teil der Küste prägen und ihr einen archaischen Ausdruck verleihen. Hie und da ein einsamer Weißdornbaum, der majestätisch aus der Weidelandschaft emporragt und in dem einer Legende nach zauberhafte Feenwesen wohnen. Und natürlich überall Schafe, kleine, pummelige Wollknäuel, die meisten cremeweiß, aber auch ein paar braune und schwarze Exemplare, die friedlich in der Spätsommersonne grasen. Einmal noch windet sich die Straße um einen Hügel. Und dann bin ich da.

Doolinvarna, County Clare. 425 Einwohner. Keine Bank, kein Postamt, kein Arzt. Dafür an die zwei Dutzend Fischer, noch mehr Schafbauern und Kellys Gemischtwarenladen an der Mole, vor dem der Bus jetzt hält. Ich nehme meinen Trolley und steige aus, nicht ohne mich herzlich vom Busfahrer zu verabschieden. In London würde man mich für eine Irre halten, aber hier ist das nun mal anders.

Neugierig sehe ich mich um. Auf den ersten Blick ist alles noch genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Die kleine Hafenpromenade mit ihren windschiefen Häusern, die sich eng aneinanderschmiegen, als wollten sie sich bei dem scharfen Seewind, der hier so oft bläst, gegenseitig wärmen. Sie haben alle bunte Holzfassaden, die von der Sonne ausgebleicht sind. Vom Hafen weg, an dem jeden Vormittag die Fischerboote anlegen, führt die Hauptstraße mit den unzähligen Schlaglöchern. Rudy Hayes, der seit einer gefühlten Ewigkeit der Bürgermeister von Doolinvarna ist, wollte sie eigentlich schon seit ebenso langer Zeit neu asphaltieren lassen.

Aber als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass der Musikladen, in dem Winnie und ich immer die neuesten CDs gekauft haben, jetzt ein Geschäft für kuschelig-warme Aran-Pullover, die so typisch für diesen Landstrich sind, beherbergt und das Fischgeschäft von Kyle MacLachlan, aus dem es immer schon aus hundert Metern Entfernung nach nicht mehr ganz taufrischem Fisch gerochen hat, ist nun ein wirklich niedlich aussehendes Café.

Aber Kelly, die gerade aus ihrem Laden gestürmt kommt, ist noch ganz die Alte. »Alliiiieee!«, kreischt sie und breitet die Arme aus. »Du bist es wirklich!«

»Hey, Kelly«, sage ich überrumpelt und lasse mich von ihr drücken. Sie ist stark parfümiert, riecht nach Lavendel und Moschus und trägt einen blitzblauen, wallenden Kaftan, der nur über dem üppigen Busen und der ausladenden Hüfte spannt. Sie ist ungeheuer weiblich, ein wahrer Berg von Weiblichkeit, umrahmt von feuerrot gefärbtem Haar. Kelly gehört nicht nur der Gemischtwarenladen, sie ist auch so etwas wie die inoffizielle Bürgermeisterin von Doolinvarna. Sie hat Rudy nie in seinem Amt herausgefordert, weil sie jeden Winter in Alicante verbringt (wo sie Gerüchten nach nicht nur einen, sondern sogar zwei glutäugige spanische Lover unterhält, beide deutlich jünger als sie selbst) und auch überhaupt keine Lust hat auf »den ganzen Papierkram, mit dem sich Rudy herumschlagen muss«, aber ich gehe jede Wette ein, dass sie eine Wahl haushoch gewinnen würde.

Als sie mich wieder loslässt, strahlt sie über das ganze Gesicht. »Hey, Leute! Ratet mal, wer hier ist!«, ruft sie.

»Kelly, bitte …« versuche ich sie aufzuhalten, aber sie ist nicht zu bremsen.

»Allie ist wieder da! Allie Malone!« Sofort stecken ein paar Leute ihre Köpfe aus den Fenstern der umliegenden Häuser und rufen ebenfalls »Hallo, Allie!« und: »Schön, dass du wieder da bist!«

»Weißt du, wie lange wir darauf gewartet haben, dass du zurückkommst?«, fragt Kelly aufgeregt. »Viel, viel zu lange!« Sie mustert mich mit ihren stark geschminkten, jadegrünen Katzenaugen. »Aber jetzt bist du ja wieder hier, und genau zum richtigen Zeitpunkt. Warst du schon bei Pat? Natürlich warst du schon bei ihm. Wie lange bleibst du?«

»Ich geh erst mal zu Niall den Schlüssel holen«, antworte ich ausweichend, überfordert von Kellys Redeschwall, und deute die Straße hinunter zum Pub.

»Mach das. Du kommst einfach später auf ein Pläuschchen vorbei.« Walkürenhaft schreitet Kelly zurück in ihren Laden.

Ich biege in die Straße, die zu Dads Wohnung führt, ab, grüße Sam, unseren schon bei meiner Abreise tatterigen Nachbarn, der ebenfalls aus seinem Fenster hervorlugt und noch viel tatteriger wirkt, und betrete dann den Pub. Über dem Tresen prangt bereits das riesige Plakat, das ich noch gut in Erinnerung habe. Es ist schon ziemlich vergilbt, die Buchstaben sind mehr rosarot als pink, und das alte Datum wurde einfach überklebt. Bestimmt ist es immer noch dasselbe, das vor zehn Jahren auch schon hier hing. Der Gedanke stimmt mich melancholisch. So viel ist passiert in all den Jahren, und doch scheint die Zeit manchmal stillzustehen.

»Allie«, begrüßt mich Niall, und hebt dafür nur kurz den Kopf, als sei ich gestern erst das letzte Mal hier gewesen. »Schön, dich wiederzusehen.« An ihm sind die letzten zehn Jahre ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen. Er trägt jetzt einen Vollbart wie Dad, dafür sind die Haare auf seinem Kopf merklich weniger und grau geworden. Ob die tiefen Falten, die sich auf seiner Stirn eingegraben haben, von den ständigen Kabbeleien mit seiner Frau Trish kommen (die wirklich anstrengend sein kann) oder von den unzähligen Stunden, die er hier hinter dem Tresen verbracht hat, ist schwer zu sagen.

Auch das Pub sieht verändert aus. Der dicke Dunst, der früher in der Luft waberte, ist verschwunden, die Stühle und Sitzbänke wurden neu gepolstert und das Holz der dunklen Eichenvertäfelung sandgestrahlt. Es hat jetzt einen freundlichen beigefarbenen Ton.

»Wie geht’s ihm?«, fragt Niall, während er ein Bierglas trockenwischt. »Pat?«

»So weit ganz gut.« Ich nicke. »Er ist nicht mehr auf der Intensivstation, aber es wird natürlich noch dauern, bis er sich ganz erholt hat.«

Niall stellt das Glas beiseite und nimmt sich das nächste vor. »Ich werd dann mal vorbeischauen die nächsten Tage.«

»Darüber würde er sich sicher freuen«, sage ich freundlich.

Die meisten, die Niall nicht gut kennen, glauben, er sei ein ziemlicher Griesgram. Aber Niall ist eine Seele von Mensch, nur gut verpackt unter einer dicken Schicht Bärbeißigkeit.

»Dad hat gesagt, du hast den Schlüssel für unsere Wohnung?«

»Jap.« Er dreht sich um und öffnet einen der Schränke hinter sich.

»Sieht schick aus.« Ich deute auf die deutlich hellere Vertäfelung.

»Dachte, ist mal Zeit für was Neues«, sagt Niall knapp.

»Wirklich schick«, wiederhole ich. Er reicht mir den Schlüssel über den Tresen. »Danke, Niall.«

»Nichts zu danken. Wenn du Hunger hast, komm rüber. Ich mach jetzt alles in der Heißluftfritteuse, ist gesünder.«

»Mach ich.« Ich muss lächeln. »Bis dann.«

Dads Wohnung liegt schräg gegenüber vom Pub, direkt über der alten Postfiliale. Dad ist Briefträger, und das schon seit über fünfunddreißig Jahren. Deswegen hat er auch diese Wohnung bekommen, als er damals, frisch verheiratet, den Dienst angetreten hat. Mum hat sich in ihr nie richtig wohlgefühlt. »Sie ist zu klein für uns vier«, hat sie sich in regelmäßigen Abständen bei Dad beschwert. »Die Kinder haben ein eigenes Zimmer, was willst du mehr?«, hat er dann geantwortet und sich mit der Zeitung an den Küchentisch gesetzt. Dad war immer ein bescheidener Mensch und hat nie verstanden, wieso jemand hoch hinaus wollte. Ob er es wohl irgendwann bereut hat, dass er »seinen Hintern nicht hochgekriegt hat«, wie Mum es einmal formulierte? Ich habe ihn bis jetzt nicht danach gefragt. Mich auf jeden Fall hat es nie gestört, dass wir ein genügsames Leben führten; Declan dagegen schon eher.

Inzwischen hat Doolinvarna schon lange kein eigenes Postamt mehr, die Räume im Erdgeschoss stehen leer, und Dad muss jeden Tag zwanzig Minuten nach Ballyvaughan fahren, um dort die Post für Doolinvarna abzuholen.

Erschöpft steige ich die Stufen in den ersten Stock hinauf und sperre die Wohnungstür auf. Dad muss sie geölt haben, denn sie quietscht nicht mehr. Sofort bemerke ich, dass er seit meinem Weggang sonst nicht viel verändert hat. In der Küche hängen immer noch die altmodische Veilchentapete und die lindgrünen Laura-Ashley-Vorhänge, die Mum unbedingt haben wollte. Im Wohnzimmer fläzt sich der Flokati mit seinen verfilzten Fransen vor der Couch aus abgenutztem Kunstleder, und sogar die Zierkissen darauf, pfirsichfarben und kleinkariert, sind dieselben. Nur der Fernseher ist neu, und davor steht ein ebenfalls recht neu wirkendes, cognacfarbenes Ungetüm von einem Sessel. Hier sitzt Dad wahrscheinlich jeden Abend und schaut sein geliebtes Rugby.

Die Wohnung ist nicht groß, aber gemütlich. Küche, Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und Bad hier im ersten Stock und zwei Mansardenzimmer im Dachgeschoss. Während ich meinen Trolley die schmalen, steilen Stufen hochhieve, denke ich daran, wie oft Declan und ich hier rauf- und runtergesaust sind. Einmal ist er von der obersten Stufe heruntergefallen und musst mit drei Stichen am Kinn genäht werden. Die Narbe hat er als Teenager immer noch gehabt. Auf dem Treppenabsatz führt eine Tür nach links und eine nach rechts. Mein Zimmer ist das rechte. Ich öffne die Tür, stelle den Trolley neben das Bett und lasse mich darauf fallen. Für einen Moment schließe ich die Augen. Ich wusste nicht, dass es mich so viel Kraft kosten würde, hierher zurückzukommen. Eine Weile liege ich einfach da und lausche in die Stille hinein. Unten von der Straße kann ich gedämpfte Schritte und Stimmen hören. Und kreischende Möwen, die bestimmt gerade ein einlaufendes Fischerboot umkreisen, in der Hoffnung auf Futter. Wie lange habe ich dieses Geräusch nicht mehr gehört.

Ich muss kurz eingedöst sein, denn ich schrecke hoch, als jemand unten an der Tür läutet und nach mir ruft. »Allie? Allie, bist du da?«

Ich kann es bis hier oben hören, weil die Wände so dünn sind. Schnell springe ich auf, hechte die Treppen hinunter und öffne die Eingangstür. Vor mir steht Winnie, eine selig strahlende Winnie McLaughlin.

»Allie!«, ruft sie und umarmt mich ebenfalls, nicht minder stürmisch als Kelly zuvor. »Wie schön, dass du gekommen bist!«

»Oh, ich freu mich so, dich zu sehen!«, sage ich aufrichtig. Winnie ist meine allerbeste Freundin, wir kennen uns schon ewig, und es tut mir im Herzen weh, dass wir uns so selten sehen, seit ich weg bin. Sie sieht gut aus, wie immer. Winnie ist eine wahre Amazone, muskulös und kräftig, fast eins neunzig groß, mit langen, glatten, weißblonden Haaren, die ihr ein nordisches Aussehen verleihen. Ihre Entschlossenheit und Energie springen einem aus ihrem Gesicht beinahe entgegen, und wenn jemand auf die Idee kommt, sich mit ihr anzulegen, bereut er das meistens schnell.

Sie nimmt mein Gesicht zwischen ihre großen, überraschend feingliedrigen Hände. »Lass dich anschauen. Sind das neue Strähnen? Und der Haarschnitt? Ist der auch neu? Oh, du siehst so nach Großstadt aus!« Wie immer, wenn sie aufgeregt ist, stellt sie tausend Fragen fast gleichzeitig.

»Ich wollte mir gerade Tee machen«, sage ich und deute Richtung Herd. »Willst du auch eine Tasse?«

»Oh, super, gerne!« Winnie lässt mein Gesicht los, marschiert in die Küche, schnappt sich einen der wackeligen weiß lackierten Holzstühle und setzt sich an den alten Resopaltisch. Er hat viele Schrammen, und Declan und ich haben gerne Sachen in das Holz geritzt, als wir noch Kinder waren. Mein Bruder hat sich an allem Möglichen versucht: an Totenköpfen, Piratenflaggen und auch Tennisschlägern. Ich dagegen habe mit dem harten Bleistift aus der Krimskrams-Schublade am liebsten unsere Initialen verewigt: D+A, A+D.

Ich versuche nicht allzu oft daran zu denken, an unsere wunderbare, unbeschwerte Kindheit, die für mich noch immer nach den Zimtschnecken duftet, die wir so oft an diesem Tisch gegessen haben. Mum war weiß Gott keine begnadete Köchin, sie hat auch nicht sonderlich gern gebacken, aber ihre Zimtschnecken waren einfach unvergleichlich. Schnell fülle ich den Teekessel mit Wasser und setze ihn auf. Winnie hat inzwischen ihr Kinn auf die Hände gestützt und mustert mich aufmerksam.

»Wie geht’s dir? Wie geht’s Pat? Schon etwas besser, hab ich gehört?«

Ich nicke. »Er ist schwach, aber sie haben ihn auf die Station verlegen können.«

Winnie atmet erleichtert aus. »Ah, da bin ich froh. Wir haben uns riesige Sorgen um ihn gemacht.«

»Es sieht den Umständen entsprechend gut aus, hat die Ärztin gesagt. Nur muss er sich unbedingt schonen, und er muss in die Reha.«

Winnie nickt. »Mit einem Infarkt ist nicht zu spaßen. Er soll es mal ganz langsam angehen lassen.«

Ich nehme das kochende Wasser vom Herd und stelle zwei Tassen auf den Tisch. Teebeutel finde ich, wo sie immer schon waren: in der alten, zerkratzten O’Neills Shamrock Shortbread-Dose im Schrank über dem Dunstabzug.

Dann gebe ich einen Teebeutel in jede Tasse und fülle das Wasser ein. Ich stelle eine Tasse vor Winnie und setze mich.

»Erzähl mal, wie geht’s dir?«, fragt sie mich. »Und Giles?«

Ich nicke. »Uns geht’s gut, danke. Giles hat mächtig viel zu tun, wie immer. Deswegen konnte er auch nicht mitkommen«, füge ich eilig hinzu.

»Ist doch klar«, nickt Winnie verständnisvoll. »Es war ja auch alles so plötzlich …«

»Und bei euch?«, frage ich zurück. »Was ist bei euch los?«

Winnie winkt ab und verdreht die Augen. »Frag besser nicht. In der Schule drehen die Kids gerade komplett durch, die sind in der vierten echt schon richtig pubertär. Kannst du das glauben? Zehn Jahre und in der Pubertät! Wir waren da doch mindestens dreizehn, vierzehn. Und zu Hause … was soll ich sagen. Paul arbeitet wahnsinnig viel zurzeit, ich hab auch einiges um die Ohren, und manchmal hab ich den Eindruck, dass wir eher nebeneinander als miteinander leben.« Winnie seufzt. »Aber wenn man so lange zusammen ist, ist es wohl klar, dass man auf Sparflamme kocht und nicht mehr auf einem heiß lodernden Strohfeuer. Er trinkt nicht, spielt nicht, geht höchstens einmal die Woche ins Pub und kocht die besten Enchiladas, die du jemals gegessen hast, also müsste ich wohl eigentlich zufrieden sein.« Sie grinst, aber ich glaube, hinter ihrer Flapsigkeit eine Spur traurigen Ernsts zu erkennen.

»Da hast du vermutlich recht.« Ich nicke. Ein bisschen lassen mich ihre Worte auch an Giles und mich denken. Auch bei uns ist die erste Verliebtheit, in der wir kaum die Finger voneinander lassen konnten, mittlerweile vorüber. Aber ich meine – wem geht es denn anders? Ich kenne niemanden, der nach ein paar Jahren Partnerschaft noch täglich zwischen den Laken herumturnt oder sich ständig gegenseitig anschmachtet und händchenhaltend durch die Straßen spaziert. Außerdem liebe ich das Beständige an unserer Beziehung. Und ich liebe Giles. Er würde mich niemals im Stich lassen und er ist immer verlässlich und aufmerksam. Und wir haben ein wahnsinnig aufregendes und spannendes Abenteuer vor uns, von dem ich insgeheim hoffe, dass es auch unserer Beziehung ein wenig frischen Wind einhauchen wird.

»Seattle?« Winnie macht große Augen, als ich ihr davon berichte. »Das ist ja cool! Wurde da nicht Starbucks erfunden?«

»Genau«, sage ich, ein kleines bisschen stolz auf unsere neue Heimat. »Und die ganzen Tech-Konzerne, die haben da auch ihren Hauptsitz.«

Winnie seufzt. »Das klingt super. Ich werde richtig neidisch.«

»Obwohl ich natürlich nicht weiß, ob ich Dad jetzt hier allein lassen kann.« Ich nehme einen Schluck Tee. »Ich meine, richtig hier bin ich ja sonst auch nicht, aber London liegt eine Flugstunde entfernt und Seattle über zehn …«

Winnie schüttelt den Kopf. »Allein wird Pat nie sein, dafür sorgen wir schon. Aber ich verstehe, was du meinst.« Sie runzelt die Stirn. »Du weißt ja, Mum hatte letztes Jahr diese komischen Gallensteine, die ihr fast gefährlich geworden wären, und da überlegt man dann schon, wie lange sie’s noch machen und so …«

Wir schweigen einen Moment lang. Ich sehe Gwendolyn, Winnies Mum, vor mir und kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals von der Bühne des Lebens, die sie mit Inbrunst ausfüllt, abtreten wird.

»Da ist noch was …«, beginne ich zögerlich. »Dad hat mich gefragt, ob ich dieses Jahr seine Rolle als Matchmaker übernehmen kann.«

Winnie sieht nicht im Geringsten erstaunt aus. »Und? Was meinst du?«

»Wieso bist du nicht überrascht?«, frage ich, und dann mit einem Anflug Misstrauen: »Habt ihr das etwa schon hinter meinem Rücken besprochen?«

Sie geht nicht auf meinen Vorwurf ein. »Also, machst du’s?«

Ich zucke mit den Schultern. »Du weißt, was ich vom Festival halte. Und ich könnte das doch auch gar nicht. Die Leute würden mich für eine Hochstaplerin halten. Ich wohne nicht mal hier.«

»Nicht mehr«, korrigiert Winnie mich. »Aber du bist original aus Doolinvarna. Einhundert Prozent original. Und wenn du erst mal in Fahrt gekommen bist, werden dich die Leute als Matchmaker lieben.«

Ich lächle schief. »Nett, dass du das sagst. Ich halte es für eine Schnapsidee, um ehrlich zu sein. Aber ich habe Dad versprochen, es mir zu überlegen.« Ich seufze. »Du hättest ihn mal sehen sollen, zuerst hat er sich fast gar nicht getraut zu fragen, und dann, als ich ablehnen wollte, hat das Gerät neben seinem Bett angefangen zu tuten und zu blinken …«

Wenn ich nur daran denke, wird mir wieder ganz anders. Wenn Dad gestorben wäre, wenn er wirklich gestorben wäre, dann hätte ich auch noch den Rest meiner Familie verloren. Dad ist der Einzige, der mir geblieben ist.

Winnie lehnt sich vor. »Dann bleibt dir eigentlich gar nichts anderes übrig, als es zu machen, oder?« Bilde ich mir das ein, oder klingt sie gerade eine Spur hinterlistig?

»Ich weiß nicht«, sage ich und trinke noch einen Schluck Tee.

»Aber du überlegst es dir.«

»Hab ich doch gerade gesagt«, entgegne ich ein wenig gereizt. »Wobei es eigentlich das Letzte ist, was ich tun möchte.«

»Gut, dann sag ich dir jetzt einfach die Wahrheit.« Winnie atmet tief durch. »Wir hatten gestern eine außerordentliche Komiteesitzung. Und sie haben mich geschickt, um dich zu überzeugen.«

»Wie bitte?« Ich sehe sie ungläubig an.

»Na, dass du es machst.«

»Ihr wusstet alle schon, dass Dad mich fragen würde?«

»Na ja«, druckst sie herum. »Wir haben es vermutet, es war ja auch das einzig Naheliegende.« Sie lässt den Löffel in ihrer Tasse kreisen und vermeidet es, mich anzusehen. »Und möglicherweise hat Pat vorhin Niall geschrieben, dass er dich gefragt hat.«

»Das ist ein Komplott!«, sage ich entrüstet. »Ihr habt euch alle gegen mich verbündet!«

»Aber doch nicht gegen dich, Allie«, widerspricht Winnie. »Wir wollen einfach nur, dass das Festival stattfinden kann. Und das geht dieses Jahr nun mal unmöglich ohne dich!« Winnie macht eine energische Geste mit der Hand. »Kein Festival ohne Matchmaker! So sind die Regeln.«

»Ihr solltet dringend mal euer Veranstaltungskonzept überdenken«, versuche ich zu scherzen, aber dann bemerke ich Winnies Blick.

»Ist es wirklich so furchtbar für dich, wieder hier zu sein?«, fragt sie. »Oder liegt es an uns? Bedeuten wir dir gar nichts mehr?«

»Das ist es doch nicht!« Ich sehe sie bestürzt an. »Natürlich bedeutet ihr mir etwas, du sowieso, aber … du weißt, wieso ich von hier weg bin. Wieso es wichtig für mich war, vielleicht überlebenswichtig.«

Das ist nicht übertrieben. Ich war damals so verzweifelt, ich hatte das Gefühl, keine Sekunde länger in Doolinvarna bleiben zu können, dem Ort, an dem mich alles an Mum und Declan erinnerte. Alles, was mir früher Heimat war, alles Vertraute und Bekannte, engte mich plötzlich ein, raubte mir die Luft zum Atmen. Und ich habe sie nicht ertragen können, die gut gemeinten Hilfsangebote, die Tuscheleien hinter meinem Rücken, die mitleidigen Blicke. Ich verstehe bis heute nicht, wie Dad das ausgehalten hat.

»Ich weiß, Allie.« Winnie berührt sachte meinen Arm. »Wir alle wissen das. Aber es würde vor allem deinem Dad unglaublich viel bedeuten, wenn du seine Aufgabe übernimmst.« Sie sieht mich ernst an. »Wir haben den Eindruck, das Festival ist zu seinem Lebensinhalt geworden, seit der Sache mit Gloria und Declan. Seit du weg bist.« Sie schluckt. »Es hat ihn buchstäblich am Leben gehalten die letzten Jahre. Und damit will ich dir auf keinen Fall ein schlechtes Gewissen machen, wirklich nicht. Aber ich glaube, es ist für ihn fast noch wichtiger als für uns alle, dass das Festival stattfindet.« Winnie zögert einen Moment. »Und vielleicht ist es auch an der Zeit, dass du dich mit Doolinvarna versöhnst. Es ist alles so lange her. Hier ist schließlich immer noch dein Zuhause.«

»Ja. Nein. Vielleicht. Keine Ahnung.« Ich bin immer noch sauer auf sie. Meine beste Freundin fällt mir in den Rücken! Gleichzeitig spüre ich, dass sie im Grunde recht hat. Und dass mir eigentlich keine Wahl bleibt, ob ich will oder nicht.

»Überleg’s dir. Bitte. Denk in Ruhe darüber nach.«

Ich erwidere nichts.

»Es wäre ja auch nur für zwei Wochen«, fügt sie hinzu. »Zwei Wochen, und dann kannst du nach Seattle fliegen und mit deinem Giles Flat Whites unter der Space Needle schlürfen.«

Ich sehe Winnie misstrauisch an. »Wieso zwei Wochen? Falls ich den Posten übernehmen sollte, dann erklärt mir Dad alles, ich bin pünktlich zum Festivalwochenende hier und genauso pünktlich wieder weg. Und aus allem anderen halte ich mich komplett raus.«

Winnie will etwas einwenden, überlegt es sich dann aber anders. »Okay«, sagt sie bloß.

»Aber wie gesagt, ich habe mich noch nicht entschieden«, füge ich etwas stur hinzu.

»Okay«, sagt sie wieder und klingt jetzt versöhnlicher. Sie merkt wohl, dass es besser ist, wenn sie mich nicht weiter drängt.

»Treffen wir uns später noch? Auf einen Willkommens-Drink bei Niall?«

Ich nicke. »Gerne. Kommt Paul auch? Ich würde ihn echt gerne wiedersehen!«