Irmas Enkel - Leandra Moor - E-Book

Irmas Enkel E-Book

Leandra Moor

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Beschreibung

Als Anni 1946 in einem der Auendörfer, die sich beschaulich entlang der Bahnlinie zwischen Leipzig und Merseburg abducken, zum zweiten Mal vor den Traualtar tritt, schließt sie mit ihrem Leben ab. Die vergangenen Jahre haben ihr die Familie genommen, die Hoffnung geraubt. Ihr einziger Anker ist das Versprechen einer Wahrsagerin. Wird sich mit dem Mann an ihrer Seite die Prophezeiung erfüllen und ihr Leben in ein glückliches Dasein münden, obwohl die Menschen, die den Auswirkungen von Denunzierung und Verfolgung eben erst knapp entkommen sind, bereits wieder aufpassen müssen, wem sie vertrauen dürfen? "Die Autorin hat hier ein wunderbares Porträt der Personen gezeichnet. Sie lässt ihre Leser tief ins Geschehen eintauchen, hinter die Fassaden blicken und hautnah miterleben, was die Zeit mit und aus der Familie gemacht hat." "Wir erleben die Vorkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und das sich anschließende Leben - erst mit den wechselnden Besatzern, dann in der DDR. Alles aus Sicht der Frauen. Dies bringt eine ganz andere Seite zum Vorschein und lässt einen oft tief beeindruckt zurück." "Für mich war dieses Buch eine Bereicherung, weil es eine selten beschriebene, sehr menschliche Seite des Krieges zeigt. Die Seite der Zivilbevölkerung."

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Das Buch

Drei Familien stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte, die zwischen 1914 und 1981 im heutigen Sachsen-Anhalt spielt. Neben den familiären Folgen der beiden Weltkriege und die daraus resultierende Trennung Deutschlands wird von staatlicher Bevormundung erzählt, ebenso vom sähen der Angst, von politischen Zweifeln und von Gefügigkeit. Im Vordergrund stehen die Frauen jener Zeit - deren Liebe, Schmerz und Glück.

Die Autorin

Leandra Moor wurde 1973 in Sachsen-Anhalt geboren und lebt bis heute in Ostdeutschland. Sie fasziniert die Vielfalt von Charakteren und die Frage, was Menschen zu den Personen macht, die sie sind. In „Irmas Enkel“ taucht sie in verschiedene Abschnitte der deutschen Geschichte ein und offenbart, warum es zwischen den Generationen derartige Konflikte gab - und heute noch gibt.

Hinweis

Die zum Teil abweichende Schreibweise in Dialogen und Briefen spiegelt Dialekte und für die Region typische Mundarten wider.

Im Nachwort werden einige Fragen beantwortet, die der Autorin wiederholt gestellt werden.

Heimat ist, in hüfthohem Unkraut zu stehen und in der Ferne noch immer jenen Zug zu hören, der seit Jahrzehnten nicht mehr fährt.

Wir existieren, solange sich jemand an uns erinnert.

Für Euch, Olga und Alexander.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das dritte Kind

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Nachwort

Vorwort

Ich wurde durch die Lücken in meiner eigenen Familienbiografie dazu inspiriert, mich mit der geschichtlichen Zeitspanne zwischen 1914 und den 1980er Jahren zu beschäftigen. Dabei zogen mich vor allem die Lebensläufe der Frauen in ihren Bann. Im Zuge meiner Recherchen bin ich darauf gestoßen, dass in beinahe jeder deutschen Familie nie erzählte Leerstellen zu finden sind. Zum einen ist das Fehlen der Familienmitglieder, die von jenen Zeiten berichten könnten, dafür verantwortlich, zum anderen wird ein generationenübergreifendes Schweigen gepflegt.

Ich habe diesen Roman nicht geschrieben, um zu erzählen, was sich in der Vergangenheit wirklich zugetragen hat. Dies könnten nur die Verstorbenen selbst, doch auch deren Erinnerungen wären kein lückenloser Film ihres Lebens.

„Irmas Enkel“ ist ein Roman und damit in seiner Gesamtheit eine fiktive Geschichte, die aus vielen Zusammenhängen entstanden ist, die mir meine Recherchen geschenkt haben. Zwar ähneln einzelne Handlungsstränge Ausschnitten meiner eigenen Familienbiografie, doch keiner ist eine exakte Kopie der tatsächlichen Ereignisse. Perlitz findet man auf keiner Landkarte, alle Personen mit ihren Namen und Eigenschaften sind in meiner Phantasie entstanden. Unverrückbar ist allerdings der Umstand, dass sich die Lebensläufe jener Zeiten durch ihr kollektives Erleben ähneln.

„Irmas Enkel“ ist kein Sachbuch und erhebt als Roman nicht den Anspruch der Lückenlosigkeit. Er erzählt lediglich drei Familiengeschichten von Millionen, von denen die erste im Dezember 1914 im heutigen Sachsen-Anhalt beginnt …

Leandra Moor, im Mai 2023

Das dritte Kind

Sie schrie, was ihrer Mutter ein Lächeln entlockte. Der Doktor hob das Neugeborene in die Höhe. „Es ist ein Mädchen“, verkündete er. Helene streckte ihm ihre Hände entgegen, um das Bündel in Empfang zu nehmen. Die Erleichterung, dass alles gut gegangen war, ließ die Warnung des Arztes, dass dieses Kind besser ihr Letztes sein sollte, an ihr abperlen. Sie hatte nur Augen für das zerknitterte Gesicht, das unbeholfen das Repertoire seiner Mimik erprobte.

„Kochen Sie ihr eine kräftige Suppe“, sprach der Arzt zu Helenes Mutter, die den Raum in den letzten Stunden lediglich verlassen hatte, um frische Tücher herbei zu schaffen. Auch sie hatte kein Ohr für den Doktor - Irmas Gedanken waren bei Emil, ihrem Mann. Er hatte ihr im Jahr 1890 diese Kate gebaut, nachdem er dem reichen Nachbarbauern Plotz ein Fleckchen Erde abgekauft hatte. Damit war er den Pakt mit dem Schuldenteufel eingegangen, aber die Hoffnung, in diesem Dorf glücklich zu sein, wog schwerer. Wie Irma entstammte er einer der Tagelöhnerfamilien, die seit Jahrhunderten von eng abgesteckten Feldern und der Jagd in den Auenwäldern lebten. Keiner ihrer Vorfahren hatte als sein eigener Herr gewirtschaftet. Stattdessen schuftete eine Generation nach der anderen auf den Gütern des Landadels, was Hochzeiten über die Dorfgrenzen hinweg nach sich zog. So war es auch bei Irma und Emil gewesen. Allerdings hatte sie das erhoffte Glück rasch im Stich gelassen - sie hatten nicht zu denen gehört, die kinderreich die Bauernschar der nächsten Jahrzehnte in die Welt setzten. Einzig Helene war ihnen geblieben. Die beiden wertvollen Söhne waren im Kindbett entschlafen. Bereits da hatte Irma befürchtet, dass das Versprechen vom ewigen Sorgenlossein nicht viel wert sein könnte. Drei Jahre später, als Emil es nicht mehr ausgehalten hatte, durch Perlitz zu laufen, hatte sie es schließlich gewusst. Die Scham drüber, dass er keine zufriedenstellenden Antworten geben konnte, wenn ihn die Geldverleiher nach der Rückzahlung fragten, war stetig größer geworden. Eines Tages war Emil nicht mehr auf die Dorfstraße hinausgetreten, bald wagte er sich nicht einmal zu den Hühnern in den Stall. Erst blieb er im Haus, später versteckte er sich in einem einzigen Zimmer, zuletzt lag er nur noch im Bett. Und als die Zeit gekommen war, dass der Gemischtwarenhändler Irma das Anschreiben verwehrte, war er mit gesenktem Kopf über den Hof gelaufen, um sich in einer verborgenen Ecke des Ziegenstalls ein Seil zurecht zu knoten und den wurmlöchrigen Sägebock unter sich umzustoßen. Das war kurz vor dem Weihnachtsfest gewesen, als Helene drei Finger in die Luft streckte, um ihr Alter anzuzeigen, und Irma keine Ahnung hatte, von welchem Geld sie ihrer Tochter den Wunsch nach einer Puppe erfüllen sollte.

„Frau Köhler, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, versuchte Doktor Sass, Irmas Blick zu lockern.

„Natürlich“, versicherte die Angesprochene, die die ganze Nacht gebetet hatte, dass ihr dieses neue Kind nicht das Eigene fortreißen möge.

„Bitte passen Sie auf, dass sich Ihre Tochter in den nächsten Tagen schont.“

Irma nickte.

„Gut“, gab der Arzt Zufriedenheit vor, obwohl er wusste, wie viel Arbeit auf den Schultern der beiden Frauen lastete.

„Helene, gönn dir für ein paar Tage Ruhe“, appellierte er an die Wöchnerin, „die letzten Stunden waren schwer.“ Er interpretierte Helenes Lidschlag als Versprechen, ergriff seine Tasche und verließ den Raum.

Augenblicklich tobten zwei Blondschöpfe an ihm vorbei. „Mama“, riefen sie im Chor.

Helene straffte ihre Schultern und löste eine Hand vom Säugling, um über die Gesichter ihrer Söhne zu streichen.

Seine Mutter schweißnass im Bett liegen zu sehen, ließ den zweijährigen Alfred just losweinen. Besorgt tupfte Helene ihrem Jüngsten die Nasenspitze trocken. „Mir geht es gut“, versicherte sie. „Ich bin nur müde.“ Alfreds Kopf sank auf ihre Decke, die Daunen dämpften sein Schluchzen.

Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte der ein Jahr ältere Willi nicht vor zu heulen. Neugierig zupfte er am Bündel auf Helenes Bauch, bis seine Schwester zum Vorschein kam. Die zugekniffenen Äuglein rührten ihn, auch bestaunte er den Flaum auf ihrem Kopf. Beinah zärtlich stupste er gegen die dünnen Finger. Seine Angst, das Baby kaputtzumachen, war groß, doch dem Mädchen gefiel die Berührung ihres Bruders. „Willi, Alfred.“ Helenes Stimme gewann an Kraft. „Das ist eure Schwester Annemarie.“

„Hallo Annemarie“, flüsterte Willi, dessen Finger die Kleine umschlossen hielt. „Schau, das Baby kann mich gut leiden“, machte er seine Mutter auf die erste Annäherung aufmerksam.

Irma zog den Schürzenstoff durch ihre Augenwinkel. „Genug jetzt“, bereitete sie der Rührseligkeit ein Ende. „Ab in die Küche Jungs, ich brauche Hilfe beim Kochen.“

Alfred jammerte: „Mama bleiben.“

„Lass ihn ruhig hier.“

„Aber Willi, du kommst mit.“

Von Annemaries Anblick verzückt, bemühte sich Willi, seine Großmutter zu überhören.

„Los, das Tagwerk ruft“, wurde Irma deutlicher.

Den Ton kannte Willi, um den kam niemand herum. Seufzend zog er seinen Finger aus Annemaries Fäustchen, versprach: „Ich beeile mich, kleine Anni“, und wirbelte hinter seiner Oma her.

Alfreds Schluchzen hatte sich gelegt, sein Atem ging gleichmäßig. Helene summte ein Schlaflied, das jede Sekunde abzubrechen drohte, denn in ihrem Herzen kämpften Glück und Kummer. „Hermann, wir haben eine Tochter bekommen“, flüsterte sie. „Sie heißt Annemarie und ist wunderschön.“

Die Wände schwiegen.

Gleich morgen würde sie ihm die Neuigkeit in die Fremde schicken, wo er mit seinen Kameraden Gefechte für den Kaiser ausfocht. Hoffentlich erreichte ihn die Nachricht schnell.

Das Baby zuckte. „Willkommen auf dieser Welt, Annemarie.“ Die Liebkosung, die Willi benutzt hatte, bevor er mit Irma in die Küche verschwunden war, gefiel Helene. Zwei kurze Silben. „Willkommen kleine Anni“, verbesserte sie ihre Begrüßung. Nebenher strich sie über Alfreds Schopf, sprach ein Gebet - erst für Hermann, dann für ihre um eine Seele reicher gewordene Familie - und ließ zu, dass sich der Schlaf über sie legte.

Erster Teil

Für Kaiser, Reich und Vaterland

1

Große Höfe gab es in Perlitz nicht, denn reich an Platz war Annis Heimatdorf nie gewesen. Lediglich ein Weg, kaum einen Kilometer lang und ohne Namen, führte durch den Ort. Nebeneinander aufgereihte Katen hielten Abstand zu den Ställen, die Häuser endeten bei Nummer 45. Doch so bescheiden sich Perlitz auf den ersten Blick auch zeigte, für Anni glich es einem Paradies. Im Frühling mischten sich Forsythien mit der Blütenpracht der gebeugten Apfelbäume. Dazwischen leuchteten rosa Sprenkel der Mandelbäume und saftiger Löwenzahn tupfte sonnengelbe Flecken in das zarte Grün der Flussauen. Mittendrin behaupteten sich Gänseblümchen, am Rand der Wasserläufe strahlten Sumpfdotterblumen, Frösche besiedelten die Lachen und die Vögel tirilierten. Gleichermaßen liebte es Anni, wenn die goldenen Felder in der Sommerhitze flirrten. Dazwischen tanzten Schmetterlinge um Wiesenblumen, am Himmel schwebten Graureiher und Weißstörche. Wenn sie und die anderen Dorfkinder mit ihren Rädern den Staub der ausgetretenen Feldwege aufwirbelten, gab es nur ein Ziel - das Ufer des Flusses, an dem sie auf nackten Füßen Spiele erfanden. Im Herbst, wenn die Ernte eingebracht war, kam die Landschaft zur Ruhe. Die Getreidefelder, auf denen streunende Katzen endlich freie Sicht zur Jagd hatten, blieben stoppelig zurück. Ebenso die leer gewühlten Kartoffeläcker, über die schnatternde Vogelformationen in ihre Winterquartiere zogen. Mit jedem Tag wehte der Wind ein wenig frischer, der Landstrich atmete wohlverdient auf.

Jetzt lag Winter in der Luft und die Jahre des verspielten Herumtollens lagen weit zurück. Anni war kein Kind mehr. Der Herbstwind hatte das Laub der Obstbäume in die Feldgräben geweht, trocken verweilten die letzten Blätter an den Zweigen, sie warteten auf den ersten Schnee. Auf der menschenleeren Dorfstraße war es totenstill. Kein Pferdegetrappel. Kein Rasseln schwerer Fuhrwerke. Kein Hundegebell. Kein Scheppern von Fahrradklingeln. Kein Viehgebrüll. Kein Kinderlachen. Kein lästerndes Geplapper vor den Toren der Häuser. Im Moment fand das Leben im Inneren des Gotteshauses statt, einem Backsteinbau auf einer winzigen Anhöhe am Perlitzer Dorfplatz. Hinter den Scheiben flackerte Kerzenschein, durch die zugigen Ritzen der Kirchenfenster drang: „Stille Nacht, heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht ...“. Im Gesang schwangen Last und Frohsinn, Trauer und Hoffnung. „Jesus der Retter ist da.“ Der letzte Orgelton. Das Kirchenportal öffnete sich. Licht erhellte die Pflastersteine. Landpfarrer Gnaus, dessen Talar auf dem frostigen Boden schleifte, trat als Erster in die Dunkelheit. Mit gesenkten Häuptern folgten ihm die Perlitzer, um in die Realität zurückzukehren, dazu spendete ihnen die einzige Glocke, die dem Ort geblieben war, festliches Geleit.

Pastor Gnaus schüttelte die Hände seiner Gemeinde. Die weichen der Kinder, die rissigen der Feldarbeiter, die verbliebene der Versehrten und die schmutzigen derer, die heute Nacht in den Ställen schlafen würden. Auffallend lange hielt er die Hände der Frauen. „Gesegnete Weihnachten!“

Rasch füllte sich der Platz um die Friedenseiche, die drei Generationen zuvor gepflanzt worden war. Im Jahr 1871, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, anlässlich der Reichsgründung. Im Davonziehen murmelten sich die Frauen Wünsche zu, wenige ließen eine Umarmung folgen. Die Alten unter den Männern klopften sich gegenseitig auf die Schultern, manche von ihnen zogen die abgewetzten Schiebermützen. Die Jüngeren schlurften kraftlos nebenher. Manche hievten sich einbeinig an Krücken nach Hause, andere hoben zum Abschied die in den umgeschlagenen Ärmeln steckenden Stümpfe. Schweigsam bildeten sie einen Strom, der sich in beide Richtungen von der Kirche entfernte. Jeder verschwand hinter seiner Tür, und wenn sie dort auf die Schemel sanken, um sich ihre löchrigen Schuhe von den Füßen zu streifen, läutete die Glocke von Perlitz noch immer. Sie schellte zum Trost, klang für den Mut und rief auf zur Hoffnung des Heiligen Abend ´46.

2

Seit 57 Jahren stand die Kate von Emil Köhler auf Perlitzer Boden, die Ziegelscheune und zwei zusätzliche Ställe hatte die Generation nach ihm gebaut. Weder umgab die geduckten Gebäude ein schmucker Garten, noch existierte ein Gemüsebeet. Mehr als ein verlässlicher Schutz war das Häuschen seinen Bewohnern nie gewesen. Schutz vor Winterkälte und Sommerhitze. Vor Bettlern und Fremden, vor Wölfen und Dieben, ebenso hatte es Feuer und Kriegsluft standgehalten. Wärme, trockene Wände und Vertrautheit.

Kaum ein Dorfbewohner, der den Weihnachtsgottesdienst besucht hatte, kam auf dem Heimweg an der Kate vorbei. Zu weit war sie von der Dorfmitte entfernt, nur zwei Häuser standen näher am Wald. Das von Maria Heinze und die Hütte der Knappeschwestern. Würde Anni aus dem Fenster schauen, könnte sie sehen, wie die drei Frauen mit ins Gesicht gezogenen Kopftüchern vorbeischlichen. Doch Annis Augen hingen am Schein der Kerze, die sie angezündet hatte, als die Kirchen-glocke zu schlagen begonnen hatte. Die Nachbarinnen blieben unbemerkt.

Anni fühlte sich ausgeschlossen, obwohl es ihre eigene Entscheidung war, die Andacht nicht zu besuchen. Am Nachmittag war sie zu Pastor Gnaus gegangen. Wie ein Häufchen Elend hatte sie in der Kirchenbank gesessen und der Landpfarrer, von dem sie als 13-Jährige die Kommunion empfangen und vor über elf Jahren den Ehesegen erhalten hatte, hatte ihren Kummer bewacht. „Anni, ich kann dir nicht prophezeien, was richtig sein wird. Hör auf das, was dein Herz sagt, und vertrau auf Gott. Du wirst sehen, dann wird alles gut.“ Mehr Trost hatte er nicht für sie, dabei hatte sie auf einen seiner lebensklugen Gedanken gehofft. Vergeblich hatte sie in seinen Augen nach einem hilfreichen Zeichen gesucht.

„Bis morgen Anni.“

„Natürlich Herr Pfarrer, morgen um zehn.“

3

Irma, Annis Großmutter, war nach Emils Freitod tapfer gewesen. Verlegen hatte sie die gelegentlichen Gaben der Perlitzer angenommen und dass sie Helene in die abgetragenen Kleider der Nachbarsmädchen stecken musste, hatte sie täglich mehr gebrochen. Um Emils Schulden abzutragen, hatte sie für den wohlhabenden Bauern Plotz geschuftet. Tag für Tag hatte sie dessen Furchen gehackt, sein Heu gewendet und das fette Vieh in seinen Ställen gefüttert. Bei Mondschein hatte sie dann ihre eigenen Verschläge ausgemistet und jedes Ei, das sie unter ihren Hennen aufgesammelt hatte, gegen Mehl, Butter oder Milch getauscht. Eine eigene Kuh besaß sie nicht mehr, die Einzige, die ihr gehört hatte, musste sie im Witwenstand verkaufen.

Helene war acht Jahren, als sie sich mit Nadel und Faden geschickt genug anstellte, um mit schlichten Näharbeiten ein paar Groschen zu verdienen. Zuweilen brachte Irma eine Handvoll Münzen zu den Verleihern, vor deren Begegnung Emil geflohen war. Zwar drängte keiner von ihnen, dennoch knöpften sie der Witwe jeden Pfennig ab. Für die Zukunft wünschten sie ihr einträglichere Geschäfte. Zwar blieb dieser Wunsch unerfüllt, aber Irma und Helene kamen durch. Jahr für Jahr. Irgendwie.

Als Helene 21 Jahre alt war, hatte sie den Perlitzer Bauernsohn Hermann Bar geheiratet. Seit sie gemeinsam die Bank der Einklassenschule gedrückt hatten, war sie in den blauäugigen Lockenkopf verliebt gewesen, jedoch waren viele Jahre verstrichen, bis Hermann sie bemerkt hatte. Im April 1911 hatten sie Hochzeit gefeiert, da hatte sie ihren ersten Sohn bereits unter dem Herzen getragen. Sie hatten ihn Willi getauft, ein Jahr später hatte sein Bruder Alfred neben ihm gelegen, und als Helenes Leib mit Anni gesegnet war, ist Hermann für den Kaiser in den Krieg gezogen.

4

Verstummt war das Geläut des Heiligen Abend 1946. Das Gardinenmuster flackerte über die Kreidewände, der Spalt zwischen den Platten des Küchenofens gab den Schein des knackenden Feuers preis. Anni saß an der Stirnseite des Tisches, auf dem sie ihre Familie verteilt hatte. Sie hatte die Fotos aus dem mit Erde beschmutzten Karton geholt und wünschte sich die Zeit zurück, in der sie miteinander gelacht und geweint hatten, je nachdem, wie das Leben es vorgeschrieben hatte.

Trotz der ausgelegten Lappen in den Fensterbrettern streifte die Dezemberluft über die vergilbten Aufnahmen. Wie gern hätte Anni ihre Lieben bei sich. Wenigstens einen von ihnen. Sie würde fragen: „Ist das wirklich alles Gottes Wille?“, aber wüssten sie eine Antwort, die ihre Entscheidung erleichtern würde? Vermutlich nicht, gestand sie sich ein. Sie griff nach einer Fotografie, die für ihren Vater entstanden war, als er lange nicht zu Hause war. Im Sommer 1918, da war Anni drei Jahre alt gewesen.

Zuerst blieb sie bei sich selber hängen. Das Blenden der Sonne zwang sie, die Augen zusammenzukneifen und an ihrem Knie hatte sich das Jucken der gestrickten Strümpfe wichtig gemacht, erinnerte sie sich. Sie hatte an der kratzigen Wolle herumgerieben, sobald die Mutter nicht hingeschaut hatte. Die abgetragenen Latschen, die für ihre Füße zu kurz geworden waren, hatten gedrückt. Anni sah auf ihre zusammengerollten Zehen. Ihre Hacken hingen über den Sohlen, doch barfuß wollte sie damals nicht sein, denn sie hatte extra wegen des Fotos ihr Sonntagskleid angezogen. Verwachsen waren die Ärmel, dazu war der Stoff für eine Dreijährige zu derb.

Ein Fleck am Kragen. Die Brosche. Sie leuchtete auf dem hochgeschlossenen Bündchen um Annis Hals. Als wäre es gestern gewesen hörte sie ihre Mutter sagen: „Du sollst hübsch aussehen.“ Das Schmuckstück hatte in einem hölzernen Kästchen gelegen. Anni war sich wie eine Prinzessin vorgekommen, als es ihr Helene an den Kragen gesteckt hatte. Da hatte sie verstanden, dass jenes Foto ein Besonderes sein würde. Später, als Helene versucht hatte, Annis Locken zu bändigen, hatte sie dann doch geweint. Sie mochte keine Klemmen auf dem Kopf, aber ihre Mutter hatte es wie jedes Mal geschafft, sie von der notwendigen Tortur mit dem Summen einer erfundenen Melodie abzulenken.

Zärtlich streichelte sie Helenes Fotowangen. Ihre Mutter war die Einzige, die auf dem Bild lächelte. Ihre Mimik signalisierte mit aller Macht: „Halt durch.“ Vielleicht auch: „Den Kindern geht es gut.“ Oder: „Mach dir keine Sorgen um uns.“ Doch mit Sicherheit: „Wir denken an dich und hoffen, dass du bald nach Hause kommst.“

Daran, dass ihre Mutter jemals wie auf diesem Bild ausgesehen hätte, konnte sich Anni nicht erinnern. Die Haare ihrer Mutter waren schick aufgesteckt, damit die Hochzeitsohrringe, die in der Sonne teurer funkelten, als sie es waren, zum Vorschein kamen. Dazu trug sie ihr hübschestes Kleid. Zwar war der Stoff schlicht und der Rüschenkragen unauffällig, aber die Anstecknadel über dem letzten Knopf hübschte es auf.

Mit einem Mal roch Anni Helenes Veilchenwasser. Durch den Frost der Scheiben durchsuchte sie die Dunkelheit. Der Zaun, an dem ihre Mutter damals gelehnt hatte, zeichnete Striche in die Nacht. Heute verstand sie, wie sehr Helene dessen Stütze gebraucht hatte. Das Drücken der Bretter in ihrem eigenen Rücken war gegenwärtig. Eng hatte sie sich an die Latten geschmiegt, um zwischen ihren Brüdern, deren Köpfe bis an die Lattenspitzen reichten, so groß wie möglich zu wirken. Alfred wachte rechts neben ihr. Willi, der den Zaun ein bisschen überragte, links. Sie waren eine Einheit, doch, anders als sie, wussten ihre Brüder an jenem Sommertag, wem sie entgegen lächelten. „Er ist ein tapferer Mann“, so viel hatte ihre Mutter verraten, mehr wusste Anni über ihren Vater nicht.

Anni drehte die Fotografie ins Licht der Kerze und musterte den Erstgeborenen. Auch wenn Willis Hose, die seine Knie knapp bedeckte, um seine Hüfte schlackerte, lehnte er erwachsener als sein Bruder am Zaun. Er war eben 7 Jahre alt geworden und Alfred war noch 5, das sollte der Vater sehen. Mit kessen Hosenträgern stand er barfuß im Dreck und Anni fand, dass er traurig aussah.

Genauso Alfred, auch er lächelte nicht und trug wie sein Bruder millimeterkurzes Haar. Die Jacke in alle Richtungen zu weit, verschlissene Hosenbeine, Schrammen unter den Knien. Alfreds Ohren waren zu groß für seinen Kopf, sie lagen nicht so gefällig an, wie die seiner Geschwister. Anni sah, wie er sich übertrieben streckte, um die fehlenden Zentimeter zwischen: „Ich bin fast 6 Jahre alt und du gerade mal seit neun Tagen 7“, wettzumachen. Wie Anni blinzelte er gegen die Sonne. Sein Mund stand offen: „Hallo Vater!“ Vielleicht.

Willi, Alfred und Anni. Die Geschwister standen dicht bei ihrer Mutter, um den unerschrockenen Soldaten in Frankreich zu grüßen. Hinter ihnen gab Irma ihrem Alter nach. Gestützt auf die Fensterbank schaute sie in die Linse des Fotografen, die Spuren ihres harten Lebens waren nicht zu übersehen. Schatten unter den Augen, Furchen in den Wangen. Bewusste Erinnerungen an ihre Großmutter hatte Anni nicht, sie war gestorben, kurz nachdem dieses Foto verschickt worden war.

Das Gefühl, sich in Irma wiederzuerkennen, raubte Anni die Luft. Ihre Finger suchten Halt auf den Mustern der Eisblumen. Kälte überfiel sie, denn schlagartig wurde ihr klar, warum ihre Großmutter dasselbe getan hatte, wie ihr Mann 25 Jahre zuvor. Ebenfalls im Stall, sogar am selben Haken. Der Preis für Irmas Erlösung war, dass sich bei Helene die Geschichte wiederholt hatte. Von einem Moment auf den anderen allein mit Kate, Feld und Hof. Allein mit ewig hungrigem Vieh und mit bedürftigen Kindern. Vermutlich hatte Irma gehofft, dass der Tag, an dem Hermann heimkehren würde, nicht mehr in weiter Ferne lag.

Hamburg, im Dezember 1918

Sehr geehrte Frau Bar!

Leider sind wir uns nie begegnet, doch Ihr treuer Gatte Hermann hat so viel von Ihnen und Ihren Kindern gesprochen, dass Sie mir so vertraut sind, als würde ich Sie kennen. Gerade deshalb bin ich zutiefst betroffen, Ihnen keine erfreulichere Nachricht zukommen zu lassen.

Im Sommer kämpfte ich mit Ihrem Hermann Seite an Seite in Frankreich. Am Morgen des 22. Juli 1918 wurde unsere Einheit von den Schusswaffen einer französischen Einheit überrascht. Wir lagen am Westufer der Avre, zwischen Soissons und Reims. Viele unserer Kameraden fielen dem Angriff zum Opfer und der Rest unserer Truppe hat sich verloren. Ich selbst irrte drei Tage und zwei Nächte umher, bis ich wieder Anschluss fand. Ich fragte überall nach Hermann, ohne eine Botschaft zu erhalten.

Liebe Frau Bar, Ihr Hermann gilt seit dem Tag als vermisst. Ob im Kampf oder in ruhigen Stunden, seine Gedanken waren zu jeder Zeit bei Ihnen und den Kindern. Hermann war mir stets ein treuer Kamerad und ich bete mit Ihnen für seine sichere und baldige Heimkehr. Mein Hoffen, auch das meiner Familie, sei Ihnen versichert!

Emil Netzer, ein Kamerad Ihres Mannes.

Als Anni diese Zeilen zum ersten Mal in der Hand gehalten hatte, war sie neun Jahre alt gewesen. Sie hatte nicht schlafen können und war zu ihrer Mutter ins Bett gekrochen, um sich Geschichten erzählen zu lassen. An jenem Abend hatte Helene befunden, dass sie alt genug sei, um diesen Brief zu lesen. Das Entziffern der Erwachsenenschrift war ihr nicht leichtgefallen, aber als sie den Dreh raushatte, las sie die Nachricht wieder und wieder. Weil dieser Emil Netzer von einer baldigen Heimkehr geschrieben hatte, wuchs mit jeder Wiederholung die Hoffnung, ihren Vater bald kennenzulernen. Als sie die Zeilen auswendig konnte, hatte sie das Papier zusammengefaltet und unter ihr Kissen geschoben.

Am nächsten Morgen hatte sie ihrer Mutter begeistert von ihren Plänen erzählt, die sie über Nacht für die Ankunft ihres Vaters geschmiedet hatte. Noch heute konnte sich daran erinnern, wie besonnen ihre Mutter gesprochen hatte: „Wir warten seit über sechs Jahren auf deinen Vater, doch nicht ein Lebenszeichen ist bis nach Perlitz gekommen. Herr Netzers Brief ist das Einzige, was wir erhalten haben. Es tut mir leid Anni, wir müssen aufhören zu hoffen.“ Fürsorglich hatte sie Anni die Locken hinters Ohr geschoben. „Ich befürchte, euer Vater ist tot, sonst wäre er längst daheim.“

Statt zu weinen, war Anni in die Scheune gegangen, um nach Holzleisten zu suchen. Als sie zwei passende gefunden hatte, war sie auf der Suche nach ihren Brüdern in alle Ecken des Hofes gerannt. Alfred war ihr als Erster über den Weg gelaufen. Resolut hatte sie ihm die Hölzer unter die Nase gehalten und gebeten: „Mach mir die wie ein Kreuz mit einem Nagel zusammen.“

Alfred, der seiner Schwester keinen Wunsch abschlagen konnte, heftete die Leisten zusammen, ohne Anni zu fragen, was sie damit vorhatte. Kaum fertig, riss ihm Anni das Kreuz aus den Händen und schleppte es zu ihrer Mutter. „Wir beerdigen den Vater.“

Schlagartig hatte Helene aufgehört, Zucker in den Haferbrei zu rühren. Ihr Körper verlangte nach tieferen Atemzügen, ihr Herz bereitete sich aufs Zerspringen vor, Sekunden später zog sie den Topf vom Feuer und rief nach ihren Söhnen.

Als sie vors Tor traten, trug Anni das Kreuz, Helene pflückte Wiesenblumen vom Straßenrand, die Jungs liefen sich abwechselnd überholend vornweg.

Auf dem Friedhof angekommen legte Anni fest: „Dort, unter der dicken Eiche.“

„Da ist es gut“, stimmte Willi seiner Schwester zu.

Alfred nickte und auch Helene gefiel der Platz für Hermanns Seele.

Anni stieß ihr Kreuzchen solange in die verwurzelte Erde, bis es hielt. Willi half ihr, indem er mit einem Stein obendrauf klopfte. Alfred wischte die herabgefallenen Blätter beiseite, Helene legte die Blumen zwischen Kreuz und Baumstamm ab. Hiernach ging Hermanns Familie auf die Knie, die Kinder falteten die Hände. Helene tat es ihnen gleich, dann sprach sie ein Gebet.

„Amen“, piepste Anni.

„Amen“, murmelten Alfred und Willi.

Sie nahmen sich an den Händen und Anni sang: „Ich höre Glocken läuten, oh wie traut.“ Helene stimmte ein: „Daheim. Daheim. Es ist der alte Laut.“ Die Jungs brummten: „Wo dort am Berg das Kirchlein steht, allein, da liegt ein Dorf im Tal. Die Heimat mein, Heimat mein, die Heimat mein.“

So hatten sie ihn begraben - Hermann Bar, geboren im Sommer 1887 in Perlitz, vermisst seit dem 23. Juli 1918 irgendwo im Westen.

5

Anni löste sich von der Erinnerung. Sie stand auf, um Holz nachzulegen, und lächelte auf die Katze nieder, die sich an ihren Knöcheln rieb. Das Klimmen hinter der gusseisernen Ofentür blendete. Anni warf ein paar trockene Stücke in die Glut, das wärmende Pochen belebte ihre Wangen. Anders ihr Rücken, der schmerzte, als sie sich nach dem Blecheimer bückte. Der Deckel schepperte, beim Eintauchen des Emailletopfes brach der klare Wasserspiegel. Sekunden später zischten auf der Herdplatte die hängen gebliebenen Wassertropfen.

Die Katze mauzte. Anni hob die Milchkanne und befüllte den Teller neben den Holzkorb. Zu sehen, wie das Tier gierig über das Porzellan schleckte, wärmte ihr Herz. Anni strich über den Fellrücken. Die Antwort war ein Schwanzschlängeln um ihren Unterarm. Katzendank. Sie streute trockene Pfefferminzblätter in eine schmucklose Kanne und goss brodelndes Wasser hinzu. Die Kräuter knisterten, das Aroma breitete sich aus. Anni wendete sich wieder ihren Fotos zu.

Gedankenversunken griff sie nach dem Holzengel auf dem Fensterbrett. Wie jedes Jahr hielten seine betenden Hände eine Kerze, geleuchtet hatte er nie. Sie kramte im Schubfach unter der Tischplatte nach Zündhölzern, rieb die klammen Phosphorspitzen über die Schachtelpappe und hielt die Flamme unter das Engelsgesicht. Der Docht zögerte, der Faden wurde schwarz, das tanzende Licht erhellte die Gesichter ihrer Familie. Anni musterte deren Augen, um eine bessere Antwort zu finden, als sie ihr Pastor Gnaus am Nachmittag gegeben hatte. Sag Mutter, ist es richtig, was ich tue?

Stummes Leuchten.

Lene sprang ihr auf den Schoss, drehte sich ein paarmal im Kreis und trampelte rechtslinks, bis sie eine Position gefunden hatte, die sie zufriedenstellte. Annis Finger gruben sich ins Fell. Der Herzschlag der Katze beruhigte und sie wünschte, die Zeit möge stehen bleiben.

Doch die Küchenuhr tickte weiter. Anni fror, auch wenn der Ofen genug Wärme spendete. Vielleicht hätte sie doch in die Kirche gehen sollen. Wie schon am Weihnachtsabend des letzten Jahres lähmte sie dieses Fest. Sie wollte sich nicht verpflichtet fühlen, so zu tun, als ginge es ihr gut. Das war es, was die Leute von ihr erwarteten. Sie hatte nicht gezählt, wie oft man ihr gesagt hatte, dass es nun, wo so viel Zeit ins Land gegangen war, mit dem Trauern gut sein müsse. Doch wie sollte das gehen?

In wenigen Stunden würde sie es wissen. Morgen um zehn. „Bitte sagt mir, was ich tun soll!“ bettelte sie ihre Familie an.

Keine Antwort.

Im nachtdunklen Fenster fand sie ihr Spiegelbild. Das wiederholte Anheizen hatte die Eisblumen in eine Pfütze auf dem Fensterbrett verwandelt. Sie tauchte einen Finger in die Lache, zog Kreis um Kreis. Erst kleine. Dann größere. Sie zeichnete Striche, senkrecht und quer. Unweigerlich wandelten sie sich zu Kreuzen. Das Wasser sog sie wieder auf. Als wären sie nicht wahr. Kein Muster. Kein Beweis. Kein Andenken. Vermisst. Stempel. Unterschrift.

Annis Herz tickte wie das Pendel der Stubenuhr. Es ließ die Zeit ablaufen, um nach dem zwölften Schlag von vorn zu beginnen. Immer wieder. Von vorn. Ein Tag nach dem anderen brach an, obwohl sie sich oft gewünscht hatte, das Schlagen möge ihr den Dienst versagen, ihr endlich Ruhe gönnen. Doch ihr Herz war treu, hielt zu ihr und Anni damit am Leben. Was war das für ein Dasein, wo das Lebenswerte daran vorüber war? Nie wieder konnte es sein wie in ferner Vergangenheit, als das Glück in ihr Leben Einzug gehalten hatte - damals, als sie im Alter von 19 Jahren auf ihren Bruno getroffen war.

6

Anfang September 1934, als die Perlitzer ihren alljährlichen Herbstmarkt feierten, hatte Bruno das erste Mal vor ihr gestanden. Später hatte er ihr verraten, dass er an jenem Abend nicht nach Perlitz gekommen wäre, hätte seine Schwester nicht die Lust auf einen Ausflug über die eigene Dorfgrenze gepackt. Als Ältere hatte sie keine Widerrede geduldet und ihn mitgeschleppt.

Anni dagegen hatte sich auf den Tanzabend gefreut, bot er doch die Gelegenheit, ihre neueste Kreation auszuführen. Wochenlang hatte sie an dem gewagt geschnittenen Kleid gearbeitet. Es ähnelte denen, die in der Stadt zum Tanz getragen wurden. Stolz stellte sie fest, dass man dem geschickt arrangierten Stoff nicht ansah, dass er einst ein abgetragenes Alltagskleid war, wenngleich es nicht mit der Vorlage zu vergleichen war. Zwar saß das an ihren Körper angepasste Kleid wie angegossen, doch die Dame auf dem Musterfoto des Schnittbogens hatte Federboa und Perlenkette getragen, die Anni fehlten. Dennoch war sie mit ihrem Spiegelbild zufrieden, was auch daran lag, dass sie seit gestern ungewohnt erwachsen aussah.

Zu Anfang hatte Barbier Klausen seinen polierten Glatzkopf geschüttelt, als Anni eindringlich gefordert hatte, er möge ihr den dicken Zopf abschneiden. „Die schönen Haare“, hatte er gejammert und mit geschultem Blick zu bedenken gegeben: „Das wirst du bereuen.“ Sie hatte dem Dorffriseur versichert, sich des Entschlusses, sich ihre Locken stutzen zu lassen, absolut sicher zu sein, und als ein Berg dunkler Kringel auf dem Boden gelandet war, hatte er anerkennend in die Hände geklatscht. Annis Veränderung schmückte sie zu ihrem Vorteil. Geschickt hatte er das nun kinnlange Haar gescheitelt und flink ein paar Wellen hineingedrückt. Im Nacken hatte er es mit dem Brenneisen bearbeitet und der klebrige Duft, den er zum Abschluss versprüht hatte, umhüllte sie, als sie den Tanzsaal neben dem Gastraum der Erbschänke betrat.

Der Dielenboden war uneben und knarzte bei jedem Schritt. Anni bewegte sich gehemmt. Weder war sie es gewohnt, wie eine Dame zu laufen, noch darin geübt, schicke Garderobe zu tragen.

Lotte, Annis Schwägerin in spe, die von Alfred zu diesem traditionellen Dorfvergnügen ausgeführt wurde, lief neben ihr. Die Verlobte ihres Bruders war um ein paar Zentimeter kleiner als sie, dennoch trug sie ihr Kleid mit einer Größe, die Anni bestaunte - jeder konnte sehen, dass Lotte aus der Stadt kam.

Willi, der Dritte im Bunde, trottete träge hinter seinen Geschwistern her. Kaum, dass sie den Saal betreten hatten, hielt er nach der entlegensten Ecke Ausschau. Dort würde er den Beginn des Abends verstreichen zu lassen und sich später, wenn alle tanzten, aus dem Staub zu machen. Er fand einen freien Schemel und ließ sich neben einem Burschen nieder, dessen Kopf im Takt der Kapelle wippte.

„Bin Willi“, rief er dem Fremden zu.

„Bruno“, stellte sich sein Gegenüber vor. „Bier gibt es da drüben.“ Er deutete nach links.

Willi schüttelte den Kopf. „Kein Geld.“

Bruno winkte der Bedienung zu: „Noch ein Bier!“, dann wies sein Kopf auf die Tanzenden. „Hoffentlich geht das nicht zu lange.“ Willi war seiner Meinung: „Hoffe ich auch.“ Ihre Gläser schlugen aneinander.

Aus den Augenwinkeln konnte Willi erkennen, wie Alfred inmitten der wogenden Menge durch den Saal schwebte. Er bewegte seine Braut derart stilsicher, dass sich Willi fragte, woher sein Bruder wusste, was er zu tun hatte. Zum wiederholten Mal war er froh, dass seine Trude auf derartige Vergnügungen keinen Wert legte. Aber Lotte schien es zu gefallen - sie lachte vergnügt, was sicher auch daran lag, dass sie und Alfred in zwei Monaten heiraten würden.

„Biste allein hier?“, wollte Bruno wissen.

„Nee, meine Geschwister haben mich mitgeschleppt.“ Willi nicke in Alfreds Richtung, die nach einer Sekunde nicht mehr aktuell war. „Mein Bruder dreht dort die Lotte wie verrückt. Der da hinten, der so blöde dabei grinst.“ Die Verlobten hatten schon wieder ihren Kurs geändert. „Und du?“, interessierte er sich. „Sieht aus, als biste alleine mit deinem Bier.“

„Wie bei dir, meine Schwester. Die da vorn.“ Bruno löste den Zeigefinger vom Glas, um auf die vergnügte Menschentraube zu deuten. „Die Dunkelhaarige, die mit der Schicken redet.“

„Oh.“ Willi verschluckte sich beinah. „Die Schicke ist Anni.“

„Kennste die?“

„Klar!“ Willi schlug seinen Humpen gegen Brunos. „Ist meine kleine Schwester.“

Aufmerksam geworden drückte Bruno den Rücken durch. „Schau“, er gestikulierte in die Richtung der Frauen, „unsere Schwestern scheinen sich zu kennen.“

Ins Gespräch vertieft schlenderten Anni und Victoria durch die Tanzenden. Als sie bei ihren grinsenden Brüdern ankamen, befanden sie einstimmig: „Was für ein Zufall.“

„Wir waren zusammen auf der Schneiderschule“, erklärte Victoria, „und nun treffen wir uns hier wieder. Schön was?“

„Das ist mein Bruder Willi.“

„Und das ist mein Bruder Bruno“, hielt Victoria dagegen.

Anni streckte dem mit Sicherheit ein paar Jahre Älteren die Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennenzulernen."

„Guten Abend.“

Brunos Blick machte Anni verlegen. Sie lenkte ihre Augen auf den Dielenboden, wo ihr sofort seine tadellos geputzten Schuhe auffielen. Auch der gutsitzende Zweireiher verblüffte sie.

Victoria entging Annis Musterung nicht. „Habe ich ihm geschneidert“, gab sie an. Sie schnippte eine imaginäre Fluse von Brunos Kragen.

Willi schwante Arges: „Komm mir nicht auf blöde Ideen“, zischte er in Annis Richtung, denn er glaubte zu erkennen, dass die in Gedanken bereits einen Schnittbogen für so ein einzwängendes Ding entwarf.

Anni winkte lachend ab: „Für dich doch nicht.“

Victoria klatschte in die Hände: „Los Kinder, wir sind hier, um uns zu amüsieren.“ Sie zog Willi von seinem Schemel und ehe der Überrumpelte widersprechen konnte, waren beide inmitten der Tanzpaare verschwunden.

Bruno rutschte von seinem Hocker und verbeugte sich vor Anni. „Darf ich bitten?“ Das Erröten ihrer Wangen gefiel ihm.

Er war kein besonders guter Tänzer. „Egal“, zeigte Anni für das Malträtieren ihrer Fußspitzen Verständnis. „Beim Melken stelle ich mich auch besser an.“ Sie wollte ihrem Gegenüber ein paar nette Worte schenken, gleich darauf schalt sie sich für dieses peinliche Geständnis. Doch Victorias Bruder sah sie nur fasziniert an.

„Schwester von Willi, wie heißen Sie?“

„Annemarie Bar.“ Das Schmunzeln von Bruno machte ihr weiche Knie und als sie richtigstellte: „Aber alle nennen mich Anni“, schlug ihr ein unbekanntes Kribbeln gegen die Rippen.

Die Kapelle stimmte das nächste Stück an. „Schenken Sie mir auch diesen Tanz, Anni Bar?“

Anni nickte.

Bruno übernahm das Drehen und Anni wünschte sich, die Kapelle möge nie aufhören zu spielen.

Stunden später, der letzte Ton war verklungen, traten sie auf den Kirchplatz hinaus. Die Schießbuden hatten ihre Verschläge heruntergelassen, die Gondeln des Karussells waren allesamt abgedeckt. Die Perlitzer Luft war klamm geworden, der ins Dorf kriechende Herbst ließ Anni frösteln. Bruno legte ihr seinen Mantel über die Schultern. Sie schlenderten die Dorfstraße entlang, als hätten sie denselben Weg. Hinter ihren Rücken ebbte das Lachen der Anderen ab und bald liefen sie nur noch zu zweit durch die Nacht. Lediglich ein paar umherhuschende Scheunenmäuse kreuzten ihren Weg.

Anni versuchte zu verbergen, dass sie seine Nähe genoss. Am Hoftor ihres Zuhauses angekommen, erklärte sie: „Hier wohne ich.“

Brunos fixierte die Kate, nebenher führte er Annis Hand zu seinen Lippen. „Vielleicht baue ich Ihnen eines Tages ein größeres Heim“, orakelte er. Er schaute von Annis Handrücken zu ihr auf. „Dieser Abend mit Ihnen war wundervoll.“

Annis Herz strauchelte und sie erfasste ein Schwindel, der ihre Finger in Brunos erschlaffen ließ.

Seine Lippen berührten ihre Haut, eine flüchtige Verbeugung folgte. „Gute Nacht“, flüsterte er.

Als Bruno ging, schaute sie ihm nach. Nie da gewesene Gefühle schwirrten in ihr, ihre Hand pulsierte, ihre Knie drohten, ihren Dienst zu versagen, sie rief: „Ihre Jacke!“ „Bruno kommen Sie zurück“, fügte sie leise hinzu.

Bruno drehte sich nicht um. Anni atmete tief den Geruch seines Mantels und sah, wie Brunos Silhouette von der Dunkelheit verschluckt wurde. ‚Was war das?‘, fragte sie sich, und stellte fest, dass sie keine Ahnung hatte, in was für einen Sturm sie geraten war.

7

Anni rechnete. Über 13 Jahre war dieser Abend her. Mauzend tapste Lene über die Schwelle, die Beute dieser Nacht fiel vor Annis Pantoffel. Frohe Weihnachten. Lobesworte flüsternd beugte sich Anni hinab. Auf den Rücken gerollt genoss die Katze ihr Streicheln. Sie schnurrte unter Annis Händen, bis sie mit einem Mal aufsprang, den Mäusehals schnappte und ihren Fang in die Küchenecke schleppte. Anni legte Holz nach und brühte die Minzblätter ein zweites Mal auf. Unterdessen war Kerzenwachs auf die Tischdecke geflossen, statt die Flamme auszupusten, sah sie dem Engel in die Augen.

Wenige Tage nach ihrem Kennenlernen waren Anni und Bruno durch die Aue geradelt, wo ihnen in den Senken liegende Rinderherden entgegenmuhten. Ausgelassen ließen sie ihre Räder fallen, um zwischen den Feldrainen Fangen zu spielen. Als sie hungrig wurden, fütterten sie sich gegenseitig mit an den Bäumen vergessenen Pflaumen. Im nächsten Augenblick stibitzten sie sich den Saft von den Lippen.

Wochen später spazierten sie Hand in Hand durch den herbstlich gefärbten Wald. Sie sprangen am Flussufer von Stein zu Stein, schlenderten über die abgeernteten Flurstücke und als der erste Schnee auf Perlitz fiel, war sich Bruno sicher genug, um zu gestehen: „Anni ich liebe dich.“

Mit galoppierendem Herzen taumelte Anni durch die Flocken. „Und ich liebe dich“, rief sie aus. Erleichtert, sich der Gegenseitigkeit gewiss sein zu können, fielen sie sich um den Hals. Aneinandergeklammert kullerten sie über die gefrorene Erde. Lachend trotzten sie dem böigen Wind, der ihnen um die geröteten Nasenspitzen wehte.

Helene hatte an Bruno seit dem ersten gemeinsamen Kaffeetrinken einen Narren gefressen, und das nicht nur, weil er ihren Kuchen über alle Maße lobte. Darüber hinaus fand er mit Annis Brüdern Gemeinsamkeiten - sie waren drei Handwerksburschen im selben Alter.

Zu gern hätte Anni gewusst, ob auch ihr Vater zufrieden gewesen wäre. „Er kann ja nicht widersprechen“, sagte sie zu Bruno, „trotzdem bestehe ich darauf, dich ihm vorzustellen.“

Es war einer der ersten Frühlingstage, als sie gemeinsam durch die Pforte des Friedhofes spazierten. Die Glocken kündigten die elfte Stunde an, die Sonnenstrahlen waren kräftig genug, um ihnen die Gesichter zu wärmen. Anni legte ein Bündel Narzissen an den Fuß des Denkmals, das Anfang der 20er Jahre für die Gefallenen des Weltkrieges an der Nordseite des Kirchhofes errichtet worden war. Der dritte Name von unten war der ihres Vaters.

Hermann Bar, 22.7.1918

Mehr nicht. Als Bruno respektvoll Haltung annahm, sich in Richtung des Steines verbeugte und: „Mein Name ist Bruno Wertes und ich vergöttere ihre Tochter“, erklärte, rang sie mit den Tränen.

Sie ließen sich neben der Gedenktafel ins Gras fallen und Anni erzählte von jenem Tag, an dem sie Hermanns Seele zur Ruhe gelegt hatten. Das Holzkreuz, das sie in diese Stelle gesteckt hatte, gab es nicht mehr, dennoch drückte sie die Erde an, als wolle sie dem Symbol neue Festigkeit geben. Den Blick zum Himmel gerichtet versicherte sie ihrem Vater, dass Bruno der liebevollste Bursche der Welt sei. Bruno war sichtlich gerührt. Er rappelte sich auf die Knie: „Anni Bar“, er griff nach ihren Händen, seine Stimme klang dünner als sonst. „Möchtest du dein Leben an meiner Seite verbringen?“

„Nichts lieber als das!“

„Ich meine es ernst. Willst du mich heiraten?“

Anni hauchte: „Natürlich“, und als sie ihr Vorhaben mit einem langen Kuss besiegelten, spürten beide Hermanns Segen.

8

Dieser Tage führte der Reichskanzler die Wehrpflicht ein. Zugleich verkündete er, dass sich alle 1914 und 1915 geborenen Männer ab Juni für eine Musterung bereithalten sollten. Die Frischverlobten atmeten auf. Bruno war Jahrgang 1910 und damit für Soldatenspiele zu alt.

Sie heirateten an einem heißen Julitag desselben Jahres. Bis in die Morgenstunden wurde gefeiert und immer wieder stießen sie mit jedem, der ihnen sein Glas entgegenstreckte, darauf an, dass ihr Glück zu keiner Zeit versiegen möge.

Vor der Hochzeit hatten sie beschlossen, dass Bruno zu Anni und Helene in die Kate zog. Zwar war sein Zuhause wesentlich größer, komfortabel und nicht so ärmlich wie das seiner Frau, doch sein Vater hatte sich quer gestellt: „Diese Anni hat es nur aufs Familiengeld abgesehen.“ Nicht nur einmal hatte Bruno versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Als er sich eingestehen musste, dass der Sturkopf nicht einlenken würde, beschloss er, Anni diese Beschuldigungen und die mit Sicherheit folgenden Intrigen seiner Mutter zu ersparen. Er war Zimmermann und es war ihm egal, aus welchem der Auendörfer er frühmorgens zur Arbeit aufbrach - er konnte ebenso im Nachbardorf leben.

Anni fiel ein Stein vom Herzen. Es wäre ihr schwergefallen, ihre Mutter mit Feld, Hof und all dem Vieh allein zu lassen und auch Helene klatschte in Vorfreude auf das sich wieder füllende Haus in die Hände. Flugs räumte sie ihr Schlafzimmer, überließ den Raum den Frischvermählten und richtete sich in der Kammer neben der Küche ein, in der früher, als sie in diesem Haus mit Hermann glücklich war, ihre Mutter gewohnt hatte. Selbstverständlich hätte sie den Lauf der Dinge hingenommen und ihre Tochter ziehen lassen, doch nun war sie froh, dass sich für sie alles zum Guten wendete. Die Einsamkeit hätte sie zermürbt. Im vergangenen Jahr hatten Annis Brüder das Haus verlassen. Gleich nach der Hochzeit war Alfred zu Lotte an den 7 Kilometer entfernten Stadtrand gezogen, wo kurz darauf deren Söhnchen Horst das Licht der Welt erblickt hatte. Vor Weihnachten hatte auch Willi geheiratet, der seitdem mit seiner Frau Trude im Haus ihrer Familie wohnte, die neben der Perlitzer Kirche einen Hof bewirtschaftete.

Ab jetzt war Bruno der Mann im Haus. In der Scheune stützte er die morsch gewordenen Balken ab. Am undichten Schweinestall reparierte er das Dach und die wackeligen Hühnergatter, die Anni mit einem zusammengedrehten Draht verbunden hatte, waren bald stabil verschraubt. Außerdem baute er den Kaninchen geräumigere Ställe. Er schaufelte die Mistgrube leer, sortierte in der Scheune Kaputtes von Brauchbarem, flickte sämtliche Fahrradreifen, strich Zaun und Hoftor dunkelgrün und zimmerte einen stabileren Kasten für die Post.

Inmitten des Gehämmers fegte Anni über die krumm getretenen Sandsteine des Innenhofes und wirbelte, ein Liedchen summend, mit dem Reisigbesen Hühnermist und Stallstreu über den Rand der Mistgrube gegenüber den Ställen. Eines Morgens fand sie, dass dem Hof etwas Entscheidendes fehlte. Ein Garten. Sofort begann sie, den zwischen Küchenfenster und Zaun liegenden Streifen vertrockneter Erde umzugraben. Nicht mehr als einen Meter Breite maß das Stück, auf dem sich Helene vor 18 Jahren für die Familienfotografie am Baumstamm festgehalten hatte. Anni hieb die Hacke in den festgetrampelten Dreck, lockerte den Boden, zog Furchen, streute Möhren, Salat und Radieschen aus. Sorgfältig wässerte sie an, abschließend erklärte sie das Beet zum Gemüsegarten der Familie. Helene beobachtete ihren Eifer mit Skepsis, doch Anni lachte die Bedenken ihrer Mutter weg. „Ach komm“, tirilierte sie aufgeregt. „Das wird schon werden. Wirst sehen.“ Kurze Zeit später musste sie einsehen, dass Helene Recht behalten sollte. Die Erde war zu karg für den Gemüseanbau und bekam nie Sonne, weil sie im Schatten des Hauses lag. Annis Ernte misslang, im Spätsommer zupfte sie ihre welken Versuche aus der dürftigen Krume.

Eines Abends kam Bruno mit einem breiten Lächeln auf den Lippen nach Hause. Er schlich sich an Anni heran und wirbelte sie ohne Vorankündigung in die Höhe. Vor Schreck fiel ihr die halbgeschälte Kartoffel aus der Hand, die daraufhin über den Küchenboden kullerte, bis sie unter dem Küchensofa verschwand.

„Bruno“, schimpfte Anni verliebt.

Der drehte sie im Kreis.

„Lass mich runter, ich bin zu schwer für so was.“

„Bist du nicht.“ Er küsste Annis Nasenspitze, stellte sie auf die Dielen zurück und zupfte am Schürzenband seiner Schwiegermutter. „Los zieht euch an!“

Helene widersprach: „Ich mache jetzt den Spinat.“ So sehr sie ihren Schwiegersohn mochte, zeitweise war er ihr ein wenig zu spontan.

„Sofort?“, wollte Anni wissen.

„Sofort!“

Helene erbat Aufschub: „Hat das nicht bis nach dem Essen Zeit?“

„Sei kein Spielverderber.“ Auffordernd warf Anni ihre Schürze in die Richtung ihrer Mutter.

Überrumpelt nestelte Helene am Knoten ihres Schürzenbandes. „Geht es weit weg?“ Das Glück ihrer Tochter steckte sie immer wieder an.

„Ach, liebe Schwiegermutter, frag nicht so viel.“ Brunos Augen leuchteten. „Wirf dir einfach die Stola über und komm.“

Wenige Minuten später spazierte Bruno - Anni hatte sich links, Helene rechts eingehakt - über die Dorfstraße. Sie kamen am Spritzenturm der Feuerwehr vorbei, ebenso an der Bäckerei und ließen Erbschänke und Kirche hinter sich.

Anni spekulierte: „Also weiter weg.“

Helene nörgelte: „Wie weit denn noch?“

Statt zu antworten, summte Bruno ein Lied.

Als sie den Krämerladen passiert hatten, drängte auch Anni: „Nun sag schon!“ Vor ihnen lagen nur noch drei Häuser, dann fing die Allee an, die durch die Felder zum Bahnhof führte. „Du willst doch nicht etwa zum Zug? Ach Bruno, da hätte ich mir was anderes angezogen.“

Bruno pfiff.

Hinter seinem Rücken schauten sich Anni und Helene schulterzuckend an.

„Hier ist es.“

„Wo?“

„Na hier.“ Brunos Grinsen wurde breiter, die Gesichter der Frauen länger.

Anni entdeckte nichts, was Brunos Freude rechtfertigte. „Was ist denn hier?“

„Dein Gemüsegarten.“ Bruno wippte auf die Fußspitzen.

„Mein was?“

Bruno federte auf die Hacken zurück. „Dein Gemüsegarten“, wiederholte er und zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite.

Anni folgte seinem Finger, doch sie sah nichts als hohle Bäume, an deren Stämmen sich gefräßiger Efeu emporgearbeitet hatte. Dazwischen wucherte ein Teppich aus trockenen Disteln, hüfthohen Brennnesseln und miteinander verflochtenem Gestrüpp. Ein Gemälde mustergültiger Verwilderung, gerahmt von den geschniegelten Gärten der Nachbarhäuser. Sie war irritiert. Sollte sie bei anderen Leuten die Beete bearbeiten?

Helene schüttelte den Kopf.

Bruno hatte erwartet, dass ihm Anni und Helene um den Hals fallen würden. „Was ist, freut ihr euch nicht?“

Annis Augen suchten zwischen ihm, Helene und Unkraut nach einer Erklärung.

„Du hast dir doch einen Garten gewünscht.“

Anni begriff, dass es sich bei Brunos Überraschung um das verwahrloste Grundstück handelte. „Ja schon, aber ...“ Sie wollte Bruno, dessen Schultern sichtlich herabhingen, nicht verletzen. „Ich bin sprachlos“, lenkte sie ein.

„Ihr werdet sehen“, nahm Bruno erneut Anlauf. „Wir müssen ein bisschen Ordnung schaffen, dann wird’s hier richtig schön.“

Ein vages Versprechen fand Anni, doch sie konnte nicht anders, als Bruno einen beherzten Kuss auf die vom Tage stopplig gewordenen Wangen zu drücken. „Was du bist für ein verrückter Hund.“

Helene rollte mit den Augen und schaute ihrer Tochter mit schräg gelegtem Kopf zu, wie sie mitten im Gestrüpp stehend zwei Unkrautbündel aus der Erde zog. Warum sie diese in die Höhe hob und sich im Kreis drehte, bis Erdklumpen um sie flogen, war ihr schleierhaft. Anni rief: „Lasst uns anfangen.“ Das Einzige, was Helene sah, war die viele Arbeit, die auf ihren 45 Jahre alten Rücken zukam. Sie stieß einen Seufzer aus, schloss zu ihrer Tochter auf und beteiligte sich an der Jäterei, indem sie eine Distel aus der Erde zog, die sie Bruno in hohem Bogen entgegenwarf. „Danke, lieber Schwiegersohn.“

„Was macht ihr denn da?“ Klara und Aaron Rosenberg von Nummer 36 waren unbemerkt aufgetaucht.

Anni fiel ihrer Freundin um den Hals. „Willkommen in meinem Gemüsegarten.“

„Gemüsegarten?“ Klara kniff die Augen zusammen.

„Na ja, wir müssen noch ein bisschen Unkraut zupfen.“ Durch den Schleier der Euphorie bemerkte Anni erst jetzt, wie niedergeschlagen ihre Freundin aussah. In Klaras Augen standen Tränen, auch Aaron, der zwei Koffer trug, wirkte bedrückt. Ihr Blick blieb an dem prall gefüllten Rucksack auf Klaras Rücken hängen. „Nein!“ Sie schlug die Hand vor den Mund.

Bruno legte seine Hand auf Aarons Schulter. „Seid ihr euch sicher?“

„Sind wir.“ Aaron sprach ungewohnt schleppend. „Wir fahren zu meiner Schwester nach Hamburg. Sie hat für uns und ihre Familie eine Schiffspassage von Bremerhaven nach New York gebucht. In zwei Wochen legen wir ab. Ihr Mann ist längst suspendiert und jetzt hat man auch ihren Kindern verboten, in die Schule zu gehen.“

„Amerika?“ Anni glitt das Unkraut aus der Hand. „Aber dann sehen wir uns nie wieder!“

„Kann sein.“ Klaras Blick glitt auf den Boden. „Vielleicht kommen wir aber auch bald zurück. Wer weiß schon, was passiert.“

„Was wird bis dahin mit eurem Haus und euren Möbeln?“

„Wir haben den Schlüssel in der Bürgermeisterei abgegeben. Ullrich hat versprochen, auf alles achtzugeben.“

Aaron wog die Koffer. „Wir müssen weiter, der Zug wartet nicht.“ Seine Stimme zitterte und als sich Anni zum Abschied an seinen Mantel drückte, hörte sie, wie hart das Herz des Freundes schlug.

Bruno nahm Klara in den Arm. „Passt auf euch auf.“

„Und ihr auf euch.“ Klara versuchte zu lächeln. „Pflanzt für uns einen Apfelbaum, wenn wir zurückkommen, ernten wir gemeinsam.“ Sie hauchte Anni einen Kuss auf die Wange, fasste nach den Trageriemen ihres Rucksackes und setzte neben Aaron den Weg zum Bahnhof fort.

Anni konnte nicht fassen, dass ihre Freunde aus der Heimat gingen, ohne sich umzuschauen. Ihre Freude über den zukünftigen Garten war verebbt. Helene hatte sich abgewandt, Bruno schluckte gegen seine trockene Kehle. „Komm, wir freuen uns morgen weiter.“ Er zog sie aus dem Unkrautdickicht.

Langsamer als sie gekommen waren, schlichen sie heim und mit jedem ihrer Schritte gewann der Abstand zwischen ihnen und den Freunden an Bedeutung.

9

Bruno hatte das Grundstück von der Gemeinde erstanden, nachdem ihm auf der Heimfahrt im Zug zu Ohren gekommen war, dass es nach einem ausgeschlagenen Erbe günstig zu haben sei. Zwei Tage später hatte ihn Bürgermeister Ullrich beglückwünscht und bekundet, wie froh er sei, dass sich jemand für das Land interessiere. „Junge Leute wie ihr werden was Jutes draus machen.“

„Machen wir“, versicherte Anni, als ihr Bruno das Kaufgeschehen schilderte.

Da der Winter bevorstand, legten sie sofort mit der Urbarmachung los. Trotz der kühlen Temperaturen kamen sie beim Aufwühlen des Unkrautdickichts ins Schwitzen. Rhythmisch zog Anni den Wetzstein über die Sense, bevor sie die Klinge dicht am Boden entlangführte. Entgegen ihrer Androhung hatte es Helene nicht übers Herz gebracht, ihre Tochter mit der Arbeit allein zu lassen, und so trug sie den zu Fall gebrachten Wildwuchs zusammen. Bruno machte sich derweil über die morschen Bäume her. Als sie die Fläche freigelegt hatten, kam Anni aus dem Staunen nicht heraus - ihr Grundstück reichte bis an den Dorfbach heran. Mit so viel Platz hatte sie nicht gerechnet.

Ende Oktober loderte der Unkrautberg. Aus der Speisekammer hatten sie Kartoffeln und Würste mitgebracht, die sie, auf Stöcke gesteckt, in die knisternden Flammen hielten. Während sie aßen, wackelten bei den Nachbarn, die kleingläubig das Picknick beäugten, die Gardinen. Es gab aber auch Dorfbewohner, die im Vorbeigehenden die Hand zum Gruß hoben oder anerkennend nickten. Anni winkte jedem zurück. Was war sie selig.

Der erste Schnee zwang sie zur Pause. Anni nutzte die Wintermonate, um bei den fliegenden Händlern allerlei Saatgut zu erstehen und die Kartoffeln mit den besten Augen für die Aussaat auszusuchen. Sorgsam sammelte sie alles, was sie in die Erde bringen wollte. Sie stapelte eine Holzkiste auf die andere und schaute gespannt beim Keimen zu. Am liebsten hätte sie beschleunigend an den Trieben gezogen, doch der Frühling ließ sich Zeit.

Anni führte ihre Ackerkuh durchs Dorf, als die Märzsonne den Boden aufgetaut hatte. Alfred und Willi rollten den Pflug hinterher. Im zukünftigen Garten angekommen, zerrten sie die Zinken durch die Erde. Es war lange her, dass die Geschwister zusammen geschuftet hatten. Anni trieb die Kuh über die Erdklumpen, auf denen ihre Brüder den Dung verteilten, den sie in mehreren Fuhren herangekarrt hatten. Der Pflug half, den Mist in den Boden zu ziehen. Nachdem jeder Meter durchmischt war, stöhnte Anni: „Ich kann nicht mehr.“

Alfred deutete auf einen frischen Baumstumpf. „Hau dich hin Schwesterchen, Mutter kommt gleich mit dem Essen.“

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Helene mit einem üppig gefüllten Weidenkorb um die Ecke bog. „Pause“, befahl sie und ehe sie sich versah, warfen sich die von der Arbeit Hungrigen die Brotscheiben zu. Dazu gab es gut bestückte Hühnersuppe.

Wie immer, wenn sie beieinander waren, schwelgten sie in der Vergangenheit. So kramten sie Alfreds Geschichten mit der Kuh Minna, die nie gemolken werden wollte, aus und Helene erinnerte an Willis unermüdliche Streiche mit dem Dorflehrer. Nicht nur einmal war er von ihm am Ohr nach Hause geführt worden. Als Anni ihren Brüdern gestand, dass sie den Kreisel, den Alfred für sie geschnitzt hatte, als sie fünf Jahre alt war, immer noch aufbewahrte, tupfte sich Helene die Tränen von den Wangen. Sie war stolz auf ihre Kinder und wünschte, Hermann könnte bei ihnen sein, um zu sehen, wie Alfred und Anni, deren Beine auf Willis Schoss lagen, Rücken an Rücken lehnten.

In den folgenden Wochen steckte Anni Beete ab, zog Furchen, verteilte Samen. Sie versenkte die kräftigsten Setzlinge, vergrub Erdbeerpflanzen und brachte Kartoffeln unter die Erde. An den Wegrändern streute sie Kartäusernelken aus. Sie liebte diese Blumen, deren Pracht sie seit ihrer Kindheit in den Gärten der Nachbarn bestaunte. Nicht mehr lange, dann würde sie an ihren eigenen Blüten schnuppern können.

Von Nachbar Erdmann bekam sie einen Johannisbeerstrauch geschenkt. Er war es auch, der ihr verriet, dass der alte Klotz von Nummer 35 zwei Obstbäume ausgraben wollte. Gleich am selben Abend schickte sie Bruno mit Karre und Spaten los. Am darauffolgenden Tag gruben sie zwei Löcher zwischen die Beete und gossen eine Süßkirsche und einen Pflaumenbaum an. Aus dem Garten seiner Tante schleppte Bruno drei Stachelbeerbüsche heran. Aus seiner Jackentasche ragten zwei Triebe aus deren Himbeerhecke. Dazu brachte er drei Rosenstöcke mit, die er in einer Gärtnerei erstanden hatte, einen weißen, einen gelben und einen tiefroten. Ein von Brunos Kollegen spendierter Apfelbaum war vorerst das Letzte, was es zu pflanzen gab. Beim Festtrampeln der Erde schlichen sich Klara und Aaron in Annis Kopf. „Pflanzt für uns einen Apfelbaum … Ob sie gesund angekommen sind? Wie es Klara wohl geht, so weit weg von zu Hause?“

„Bestimmt sind sie angekommen mein Schatz, und Klara wird’s gut gehen, sie hat doch ihren Aaron dabei.“ Bruno kippte einen Eimer Wasser an den Stamm. „Klara und Aaron, auf euch!“

Wochen später, glühende Sommerhitze prasselte auf Perlitz, schob Bruno frisch gefällte Stämme über die Kreissäge. „Ein Garten braucht einen Gartenzaun“, erklärte er.

„Natürlich braucht ein Garten einen Gartenzaun, sonst wäre es kein Garten, sondern ein Feld.“ Anni schaute vom Pflücken der ersten Johannisbeeren auf. „Ich habe eine Schwäche für dich Bruno Wertes“, rief sie gegen das Kreischen der Maschine.

Bruno schäkerte zurück: „Das kann ich gut verstehen. Hinten am Bach knüpfe ich einen aus Draht. Das reicht, um die Waldtiere fernzuhalten.“

„Bist ein Schatz mein Schatz.“

„Stets zu Diensten die Dame.“ Bruno schickte Anni einen Luftkuss durchs Grün. „Mal sehen, was ich mir als Nächstes einfallen lasse, um dich glücklich zu machen.“

„Kannst mir ja mal beim Nähen helfen“, schlug Anni vor.

„Von mir aus, aber ob das Ergebnis deinen Geschäften zuträglich ist, bezweifle ich.“

In Annis Küche stapelten sich die Änderungsarbeiten, deren Fertigstellung sie vor Wochen zugesagt hatte. Seit es im Garten viel Arbeit gab, hatte sie weniger Zeit, sich an ihre Nähmaschine mit der geschwungenen Aufschrift Singer zu setzen. Allmählich konnte sie die Leute jedoch nicht mehr vertrösten, also trat sie in den folgenden Tagen fleißig das Pedal ihrer Nähmaschine. Nebenbei dudelte das Radio. Sie summte die Melodien mit, doch sobald die Stimmen aufhörten zu trällern, kam sie ins Grübeln. Nachrichten. Reden. Verschwörungen. Anni schob den Stoff unters Füßchen. Sie wusste nicht, was sie von diesem Hitler halten sollte, der sich mit jedem Tag tiefer in die Köpfe der Leute propagierte und nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit mit Willi darüber zu sprechen.

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Bruno hatte darauf bestanden Tisch, Korbstühle sowie einen gestreiften Liegestuhl anzuschaffen. Der Grund war seine neueste Idee: sonntags gibt es im Garten Kaffee und Kuchen. Und so war es bereits Ende des Sommers zum Ritual geworden, dass sich die Familie in Annis Gartenfrische traf. Alfred, Lotte und das Baby Horst saßen stets als Erste am Tisch, auch Willi und Trude ließen sich Helenes Kuchenbleche nie entgehen. Für maues Wetter hatte Bruno einen Pavillon gezimmert, was sie sogar bei Regen beieinanderhocken ließ.

Eines Sonntags schlenderte Bürgermeister Ullrich durchs Dorf. Willi und Bruno diskutierten über die neuesten Nachrichten um den Reichskanzler, der sich im Moment in Spanien Respekt verschaffte und auch Alfred bemerkte den Ortsvorsteher nicht. Zu sehr war er damit beschäftigt, seinen Sohn zum Jauchzen zu bringen. Anni war die Erste, die den Dorfschulzen sah. Auf seinen Spazierstock gelehnt, beugte er sich über den Zaun. „Hätte nich jedacht, dass hier was außer Brennnesseln wächst“, unterstrich er seine Anerkennung zur Urbarmachung. „Aber sag mal Bruno, warum habt ihr mit dem Jarten anjefangen und nich mit dem Haus?“

Anni suchte Brunos Blick, doch auch der wollte von Ullrich wissen: „Welches Haus?“

„Mensch Kinder“, die Stimme des Bürgermeisters erhob sich, als wollte er eine Rede halten. „Das ist Bauland, viel zu schade, um nur Jartoffeln und Blumen in die Erde zu stecken.“

„Bauland?“

„Ja Bruno, da kann man ein Stein auf den andern bauen, und dann jannste dir ´nen schicken Dachstuhl druff zimmern.“ Die Hände des Dorfsprechers zeichneten ein Haus in die Luft. „Aber jut“, winkte er ab, „wenn euch der Holzverschlag reicht. Ist ja och jemütlich.“ Er zückte seinen Hut, um seinen Sonntagsspaziergang fortzusetzen. Nach links grüßend, blieb er beim Nachbarn stehen. „Na Erdmann, was machen die Tomaten? Sind alle rot jenuch?“, interessierte er sich. Dabei schlenkerte er seinen Spazierstock durch die Luft.

Annis Kaffeegäste schauten ihm nach.

„Bauland“, warf Willi als Erster in die Runde. „Das ist ´ne Sache! Hast du das wirklich nicht gewusst Bruno?“

„Nee, habe ich nicht. Hat mir keiner gesagt. Ging doch alles ganz schnell mit dem Kauf. Aber das Grundstück war billig“, zweifelnd schaute er von einem Gesicht zum Nächsten. „Bauland ist doch teuer, oder?“ Niemand reagierte. „Ich glaub´s nicht, wir haben Bauland.“

„Und was heißt das jetzt?“, wollte Anni wissen.

„Schwesterchen, das heißt, dass ihr hier ein hübsches Häuschen bauen dürft.“ Alfred grinste breit.

„Ein Häuschen? Hier?“ Anni wurde blass. „Und meine Beete?“