Irrlicht 49 – Mystikroman - Anne de Groot - E-Book

Irrlicht 49 – Mystikroman E-Book

Anne de Groot

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle.

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Irrlicht – 49 –

Engel am Abgrund

Die Todesschlucht fordert gnadenlos ihre Opfer

Anne de Groot

Dina blickte durchs Fenster. Jäher Schreck zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie warf sich herum und hämmerte wie wild gegen die Scheibe. »Umkehren«, schrie sie. »Du sollst umkehren!« Doch die Kutsche fuhr unbekümmert weiter. Der Kutscher schien nichts gehört zu haben. »Dina, was hast du denn? Warum regst du dich so auf?« fragte Nathalie verstört. »Zu spät!« Dina sank auf den Sitz zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Die Todesschlucht«, stammelte sie. »Ich will sie nicht sehen. Der Abgrund, die Kutsche – es war schon dunkel, und sie verfehlte den Weg. Man hat nur noch Trümmer gefunden.« Sie ließ die Hände sinken und starrte Nathalie aus geweiteten, angsterfüllten Augen an. »Nath, sag mir, spürt man etwas, wenn man in einen Abgrund stürzt? Spürt man den Schmerz? Wie lange dauert es, bis man nichts mehr fühlt? Minuten oder Sekunden?« Felsbrocken säumten den Weg, und plötzlich wuchs ein dunk­les Holzkreuz auf. Einen Moment lang sah man weißschimmernde Steine halb von wildem Gestrüpp überwuchert. Wie die Leiber der Toten, dachte Nathalie schaudernd. Und auf den Steinen hockten große schwarze Vögel, die beim Nahen der Kutsche mit wildem Kreischen aufflogen. Eine unheilvolle flatternde Wolke verdunkelte für Sekunden den Himmel.

Das stetige sanfte Rumpeln der Kutsche war einschläfernd wie ein Wiegenlied. An dem kleinen Fenster wanderte die Landschaft vorbei. Die Wälder leuchteten in den glutroten Goldfarben des Herbstes.

Geraldine, Komteß von Trontheim warf einen Blick auf ihre Begleiterin.

Nathalie hatte die Augen geschlossen. Die langen schwarzen Wimpern warfen gezackte Schatten auf die blassen Wangen.

Wie müde sie aussieht, dachte Geraldine gerührt und mitleidig. Kein Wunder, wir sind ja auch seit drei Tagen unterwegs, und die Betten in den Gasthöfen waren nicht immer komfortabel.

Sie selber fühlte sich nicht müde, im Gegenteil. Hellwach war sie, überwach, voller Spannung und ruheloser Erwartung. Eine Mischung aus Freude und Furcht bedrängte sie.

Wie mag sie nur sein, die Fremde, die Stiefmutter, sann Geraldine. Stiefmutter – was für ein häßlicher Ausdruck, aber bestimmt werde ich sie niemals Mutter nennen, das kann niemand von mir verlangen, auch Papa nicht.

Die Kutsche hielt mit sanftem Ruck. Nathalie schrak auf, blickte sich fremd um, fand dann Geraldines Augen.

»Sind wir da?«

»Noch nicht, aber bald.« Sie griff nach Nathalies Arm und drückte ihn vor Erregung.

»Fang bloß nicht an zu heulen«, sagte Nathalie mit leisem Spott.

»Ich heule nicht, bestimmt nicht«, beteuerte Geraldine, während ihr wie zum Hohn die hellen Tränen aus den Augen sprangen.

»Hier, nimm meins!« Gutmütig drückte Nathalie ihr ein Spitzentüch­lein in die Hand, blickte dann diskret durchs andere Seitenfenster. »Ein schöner Park«, bemerkte sie. »Riesig sieht er aus. Gehört das alles euch?«

»Alles«, lächelte Geraldine unter Tränen, »gehört uns, ist meine Heimat. Verstehst du jetzt, warum ich so oft Heimweh hatte? Ich habe unsern Park vermißt, die Wälder ringsum.«

Nathalie seufzte leise. Eine Falte grub sich zwischen ihre dunklen feingeschwungenen Brauen. Die schweren Lider mit den langen dunklen Wimpern flatterten unruhig.

»Hoffentlich wird dein Vater nicht ärgerlich, wenn du mich einfach mitbringst«, sagte sie besorgt. »Du hättest ihn vorbereiten sollen.«

»Unsinn!« Dinas liebliches Gesicht rötete sich. »Schloß Trontheim ist meine Heimat, ich kann mitbringen, wen ich will«, erwiderte sie mit einem Trotz, der in krassem Widerspruch zu ihren engelhaften Zügen stand. »Und du bist meine beste Freundin.«

»Ich bin Nathalie Mereau und du die Komteß von Trontheim«, widersprach Nathalie. »Zwischen uns liegen Welten. Ich habe weder adelige Verwandte vorzuweisen noch Reichtum. Dein Vater wird sich fragen, warum du gerade mich zur Freundin gewählt hast.«

»Zur besten Freundin«, sagte Dina mit Nachdruck.

»Dabei kennen wir uns erst kurze Zeit«, schränkte Nathalie ein.

»Ich mochte dich sofort«, lächelte Dina. »Welche Mühe hast du dir gegeben, mir Französisch beizubringen. In dem halben Jahr mit dir habe ich mehr gelernt, als all die Jahre zuvor.«

»Dafür wurde ich ja bezahlt.« Na­thalie sagte es ohne Bitterkeit, aber in ihren dunklen Augen war ein eigenartiger Ausdruck von Kälte und Stolz.

»Wir sind da, endlich!« Geraldine raffte den Saum ihres langen dunkelblauen Samtkleides und stieg die Stufen hinab. Dann rückte sie ihr blaues Samtbarett zurecht und winkte Na­thalie, ihr zu folgen. »Schloß Trontheim!« Ihre Stimme bebte vor Stolz und innerer Bewegung. »Da sind auch Papa und Matt!« Sie hob die Röcke und lief wenig damenhaft die Freitreppe hinauf, um sich ihrem Vater in die Arme zu werfen.

Nathalie folgte ihr langsam. Ihr Blick streifte die Fassade des imposanten Gebäudes, das aus bräunlichem Sandstein errichtet war und bis zur halben Höhe von wildwucherndem Efeu malerisch umkränzt wurde. In den geschliffenen Scheiben der unzähligen Fenster brach sich das Licht der Sonne, und es erschien Nathalie, als blickte sie das Schloß aus hundert feindlichen Augen an.

Ein Frösteln lief ihr über den Rücken, ein unbestimmtes Unbehagen.

Eine innere Stimme schien sie plötzlich zu warnen, umzukehren, solange sie konnte.

Trotzdem ging sie weiter, gegen ihren inneren Widerstand, gegen die Furcht, die in ihr aufstieg und doch völlig unbegründet war. Niemand ahnte, warum sie wirklich hier war.

»Das ist meine Freundin Nathalie«, hörte sie Dinas mädchenhafte Stimme. »Nathalie Mereau!« Sie nahm ihren Arm und zog die Widerstrebende an ihre Seite. »Nath, das ist mein Papa und unser lieber guter alter Matt. Eigentlich heißt unser Diener Matthias, aber für mich war er immer nur Matt.«

»Fräulein Mereau?« Der Graf nahm flüchtig ihre Hand. Sein Gesicht war eine Schattierung blasser geworden, und sie hatte das Gefühl, als ob seine Hand leicht bebte. »Wie nett, eine Freundin Dinas kennenzulernen«, hieß er sie mit gepreßter Stimme willkommen.

»Hoffentlich kommt Ihnen mein Besuch nicht ungelegen?« sagte Na­thalie in höflichem Tonfall, sah ihm dabei fest in die Augen und bemerkte, wie er nervös ihrem Blick auswich. »Gehen wir doch hinein«, tat er hastig. »Nora möchte dich gern kennenlernen.«

Mit steifen, würdigen Schritten ging Matthias ihnen voraus und öffnete die Türen. Er trug eine grauweißgestreifte Weste zum weißen Hemd und schwarzen Hosen. Sein silbernes glattes Haupthaar reichte ihm bis zu den Schultern. Wie bei vielen hageren Männern seines Alters war sein Rücken leicht gekrümmt, was ihm eine übertrieben devote Haltung gab.

Nathalie war im Moment viel zu erregt, um viel von ihrer neuen Umgebung wahrzunehmen. Sie spürte, daß ihre Schnürstiefel in dicken Teppichen versanken, warf einen flüchtigen Blick auf imposante Gemälde an den mit dunklem Holz getäfelten Wänden und fand sich dann in einem eleganten Salon wieder, mit kostbaren englischen Möbeln aus der Tudorepoche, Sesseln mit handgestickten Gobelins, die sich um ein Intarsientischchen gruppierten und einem englischen Marmorkamin mit Zinnreliefs. In dem Kamin flackerte ein behagliches Feuer, dessen Wärme die Dame im Lehnstuhl offensichtlich genoß, denn sie hatte den Stuhl ganz dicht herangerückt.

»Nora, hier bringe ich dir Geral­dine, meine Tochter«, sagte Graf Trontheim. Sein schöngeschnittenes Gesicht war noch immer bleich, doch das konnte auch eine ganz erklärliche Ursache haben. Immerhin war es die erste Begegnung seiner Tochter mit seiner zweiten Frau.

Frau Nora hatte sich erhoben. Sie war zierlich und schlank wie eine Nippesfigur. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber ihr tiefbraunes Haar, das im Nacken zu einem Knoten geschlungen war, zeigte noch keinen Silberfaden.

Die beiden Damen begrüßten sich mit etwas gezwungener Freundlichkeit. In Dinas Gesicht stand deutlich Überraschung geschrieben. Sie hatte sich Nora ganz anders vorgestellt, eine blendende Schönheit, die ihrem Vater den Kopf verdreht hatte. Statt dessen fand sie eine recht unscheinbare Person, die man beim besten Willen nicht als hübsch bezeichnen konnte.

Und so eine Person hatte den Platz ihrer blendend schönen Mutter eingenommen? Nein, sie verstand ihren Vater wirklich nicht. Schon allein, daß er nach drei Jahren Witwenschaft wieder geheiratet hatte, war ihr unbegreiflich gewesen.

»Vielleicht möchten sich die jungen Damen frisch machen?« meinte die Gräfin mit ihrer leisen, doch angenehmen Stimme. »Ich werde Nanni Bescheid sagen, daß sie das Gastzimmer neben deinem Zimmer richtet.«

»Hoffentlich mache ich Ihnen keine Ungelegenheiten«, murmelte Nathalie.

»Sicher nicht!« Nora lächelte, und für einen kurzen Moment strahlten ihre braunen Augen so auf, daß sie fast hübsch wirkte. »Für Dina wird es nett sein, Gesellschaft zu haben. Wenn man so abseits lebt wie wir, ist man für jede Gesellschaft dankbar, nicht wahr, Gernot?« Sie schickte ein schüchternes, fast entschuldigendes Lächeln in Richtung ihres Gatten, als hätte sie mit ihren Worten zuviel gesagt und entschwand dann wie ein Geist.

»Gehen wir also nach oben«, seufzte Dina. Sie hatte das Samtbarett abgenommen und lockerte mit den ge­spreizten Fingern ihr weißblond schim­merndes Lockenhaar, das wie ein Heiligenschein ihr zartes, engelhaftes Gesicht umschmeichelte. »Ich bin nach dieser langen Reise ziemlich erledigt.«

»Das glaube ich dir gern!« Graf Gernot blickte sie mit schmerzlichem Lächeln an. »Aberjetzt hast du ja Zeit, dich zu erholen. Mit Nora wirst du dich bestimmt gut verstehen. Sie ist eine herzensgute Seele.«

»Das ist sie sicher«, sagte Dina höflich. »Komm, Nath!«

Die jungen Damen waren gerade aus der Tür heraus, als der Graf seine Tochter zurückrief.

Sekundenlang umarmte er sie stumm und preßte sie fest an sich.

»Ich bin froh, daß du wieder bei mir bist«, flüsterte er dann erstickt. »Das wollte ich dir nur noch sagen.«

»Ich bin auch froh, sehr froh sogar!« Dina drückte ihr Gesicht gegen sein Jackett und schluchzte auf. »Aber ich habe mir meine Heimkehr anders vorgestellt, ganz anders. Warum mußtest du diese fremde Frau heiraten? Sie ist so ganz anders als Mama war.«

»Eine Frau wie deine Mutter findet man kein zweites Mal«, sagte der Graf, aber seine Stimme klang spröde, als dächte er an ganz etwas anderes. »Für einen Mann meines Alters ist es schwer, allein zu sein«, fuhr er etwas sicherer fort. »Vielleicht habe ich mit Absicht eine Frau gewählt, die so ganz anders ist als deine Mutter.«

Dina hob ihr schönes, tränennasses Gesicht zu ihm auf. »Aber so, wie du Mama geliebt hast, kannst du Nora doch nicht lieben?« fragte sie leidenschaftlich.

»So nicht, ganz sicher nicht.« Graf Trontheim lächelte traurig und abwesend. »Die Liebe, mein Kind, hat viele Gesichter. Später, wenn du älter bist, wirst du mich verstehen.« Er blickte durch die offenstehende Tür und stellte fest, daß Dinas Freundin diskret weitergegangen war. »Dieses Fräulein Mereau…«, fragte er halblaut mit leiser Unruhe in der Stimme, »kennst du es schon länger?«

»Nur einige Monate. Nathalie war bei uns im Internat, sie unterrichtete Französisch. Später werde ich dir ausführlich erzählen. Du hast doch nichts dagegen, daß ich Nathalie mitgebracht habe?«

»Nein«, kam es zögernd und wenig überzeugend von seinen Lippen. Er löste die Hände von ihren Schultern. »Wir sehen uns dann gleich beim Dinner.«

Dina fand die Freundin in der Halle, wo sie in die Betrachtung eines Porträts versunken war. Das Bild zeigte eine wunderschöne blonde Frau im tiefdekolletierten champagnerfarbenen Abendkleid. Die Art, wie sie mit schwellenden Lippen lächelte, hatte etwas Leichtfertiges. Doch von ihrer strahlenden Anmut ging so viel ­Charme aus, daß der Betrachter gefesselt war.

»Meine Mutter«, sagte Dina.

»Du siehst ihr sehr ähnlich.«

»Findest du?« Dina seufzte mit drolliger Miene. »So hübsch wie Mama werde ich bestimmt niemals.«

Nathalie atmete schwer. Noch immer hing ihr Blick an dem Bild, als könnte sie sich nicht davon lösen. »Es ist ganz anders als die übrigen Bilder hier«, sagte sie gepreßt. »Sehr alt kann es noch nicht sein. Weißt du, wer das Bild gemalt hat?«

»Ach, irgend so ein junger, umherziehender Maler«, antwortete Dina gleichgültig. »Aber du hast recht. Sehr alt ist das Bild noch nicht. Der Maler hat es kurz vor Mamas Tod vollendet.«

Kurz vor ihrem Tod? Nathalie erschauerte. Ein Eishauch hatte ihr Herz berührt. Tausend Fragen bedrängten sie, doch sie mußte vorsichtig sein. Wenn sie zuviel fragte, würde man mißtrauisch werden. Sie mußte ganz allein das Geheimnis ergründen.

Eines Tages, dachte Nathalie mit wundem Herzen und stiller Verzweiflung, eines Tages werde ich die Wahrheit wissen, alles werde ich wissen und dafür sorgen, daß der Schuldige seine gerechte Strafe bekommt.

Sie folgte Geraldine die teppichbelegten Stufen hinauf, die auf eine Galerie mündeten, die die Halle hufeisenförmig umschloß.

Dina blieb einen Moment stehen und neigte sich über das Mahago­nigeländer. Ihr süßes Gesicht leuchtete.

»Hier habe ich immer als Kind gehockt, wenn in der Halle ein Fest war«, meinte sie träumerisch. »Alles konnte ich von hier oben sehen, die Musiker in ihren Fräcken, die schönen Damen in ihrem Schmuck, den herrlichen Prachtgewändern. Mama kam mir immer wie die Schönste vor. Und wie sie tanzen konnte, leicht, graziös, einfach himmlisch!«

Dina lächelte traumverloren. »Jetzt bin ich selber alt genug, Feste zu feiern. Sicher wird Papa einen Ball für mich geben, zu meiner Rückkehr.«

Sie nahm Nathalies Arm und ging weiter. »Unsere Zimmer sind im rechten Flügel«, erklärte sie. »Wir sind da ganz unter uns. Niemand wird uns stören. Mein Vater wohnt im linken Flügel. Eine Menge Räume stehen im Moment leer.

Doch wenn wir Gäste haben, wird es manchmal sogar noch recht

»Das müßten dann aber sehr viele Gäste sein«, meinte Nathalie spottend.

»Was glaubst du wohl«, lächelte Dina, »fünfzig bis hundert sind es manchmal. Ach, ich liebe Feste. Ich habe dann immer das Gefühl, unser Schloß würde erst richtig zu leben beginnen. So, zuerst zeige ich dir meine Räume.«

Dina blieb stehen und öffnete die Mahagonitür. Ein bezaubernd eingerichtetes Damenzimmer nahm sie auf, die zierlichen Möbel in Rosenholz, die Teppiche in weichen hellen Farben. Die Spitzengardinen verzauberten die Fenster, die Sesselchen waren im Biedermeierstil.

»Mein Schlafgemach.« Mit drolligem Lächeln öffnete Dina eine Glas­tür und ließ Nathalie in ein elegantes Boudoir mit Rokokomöbeln sehen und einem riesigen Himmelbett mit blauem Baldachin.

Jeder Raum war mit einem Kamin ausgestattet, in dem ein behagliches Feuer brannte. An den Wänden mit den goldenen Seidentapeten waren künstlerisch geformte Petroleumlampen angebracht. Die vielen Kerzenleuchter waren mit frischen Kerzen versehen.

»Phantastisch«, sagte Nathalie tief beeindruckt. »Ich bin zum erstenmal in einem Schloß, aber ich muß sagen, so läßt es sich leben.«

»Deine Räume sind auch nicht schlechter«, lächelte Dina. »Du sollst dich ja wohl bei uns fühlen. Verstehst du jetzt, warum ich so froh bin, daß du mit zu uns gekommen bist? Allein ist man hier doch ziemlich verloren.«

Zusammen gingen sie ins Nebenzimmer, das einen ebenso gemütlichen Salon hatte, doch die Möbel waren aus heller ungebeizter Eiche und die Sessel rustikal bezogen. Das Feuer in dem Kachelkamin war noch jung und hatte den Raum noch nicht erwärmt. Auch das Schlafzimmer war in schlichten schönen Farben gehalten, was Nathalies Geschmack viel mehr entsprach als der überladene Luxus in den Räumen der Komteß.

»Hier werde ich mich bestimmt sehr wohl fühlen«, sagte Nathalie freundlich. Sie blickte sich suchend um. »Ich möchte mich gern zum Dinner umkleiden. Hast du eine Ahnung, wo meine Reisetaschen geblieben sind?«

»Sie müßten doch längst hier oben sein«, verwunderte sich Dina. »Ich werde Matt sofort Bescheid sagen, daß er dir deine Sachen bringt.«

»Es eilt ja nicht!«

Allein geblieben wanderte Nathalie durch die Räume und versuchte, sich einzugewöhnen. Sie öffnete den Eichenschrank und fand eine vollständig eingerichtete Bar mit Rot- und Weißwein und französischem Likör. Da sie nach der langen Fahrt sehr durstig war, goß sie sich ein Glas Rotwein ein. Der Wein war herb und erfrischte sie.

Mit dem Glas in der Hand wanderte sie ins Schlafzimmer und warf einen sehr sehnsüchtigen, verzichtenden Blick auf das gemütlich aussehende Himmelbett.

Sich jetzt ausstrecken können, die Augen schließen und für einige Minuten vergessen können, was einen bedrückte!

Mit der freien Hand berührte sie die honigfarbene Seide des Himmels, strich über die beigefarbenen Seidenkissen, die einen sanften Lavendelduft ausströmten.

Als sie in den Wohnraum zurückging, fand sie ihre Reisetaschen, wie mit Zauberhand hingestellt. Mit einem tiefen Seufzer öffnete Nathalie ihr enges Jäckchen, das ihr den Atem nahm, und verwünschte für einen Moment die Mode, die es den Frauen vorschrieb, Wespentaille zu tragen, öffnete die Reisetasche mit ihren Kleidern und fischte ein bequemes lindgrünes Hauskleid aus Wolle hervor.

Soweit sie sich erinnerte, hatte es obenauf in ihrer Tasche gelegen. Daß sie es jetzt ganz zuunterst fand, erstaunte sie, doch sie dachte weiter nicht darüber nach. In der Eile des Packens vergaß man oft, wohin man die Sachen gab.

In der anderen Tasche waren ihre Schriften, die geliebten Bücher, die Briefe Pierres, die so selten kamen und dann doch so ausführlich waren, daß sie halben Romanen glichen.

Als Nathalie diese Reisetasche mit ihren ganz persönlichen Sachen öffnete, erschrak sie heftig. Sie waren völlig durcheinander geraten, ein vollkommenes Chaos. War es möglich, daß das Rütteln der Kutsche daran schuld war?

Nein, dachte Nathalie. Nein, das ist doch nicht möglich. Selbst das heftigste Rütteln konnte die Schriften, Bücher und Briefe nicht so durcheinander bringen.

Alles sah aus, als hätte eine ungeduldige Hand darin gewühlt, um etwas zu suchen, aber was?

Sekundenlang stockte ihr der Atem.

War es möglich, daß man ihre Sachen durchstöbert hatte?

Eisiges Entsetzen überlief sie. Sie wußte plötzlich, daß sie in Gefahr war. Man mißtraute ihr. Wenn man ihre Sachen durchsuchte, so bedeutete das, man ahnte, warum sie hier war.

Pierres Briefe! fiel es ihr heiß auf die Seele. Wenn sie die Briefe gefunden hatten, wußten sie alles.

Nervös begann sie nach den Briefen zu kramen. Sie hatte sie mit einem roten Band zusammengebunden. Da war das schmale Päckchen! Das rote Band, es war nicht anders geknotet als sonst? Aber jedenfalls waren die Briefe da, alle vier Briefe. Sie waren drei Jahre alt. Seitdem hatte sie nichts mehr von Pierre gehört.

Langsam beruhigten sich ihre Nerven.

Ich bin einfach übermüdet, sagte sich Nathalie. Vielleicht war wirklich das Rütteln der Kutsche an der Unordnung schuld.

Sie ging in das Boudoir und versteckte die Briefe unter der Matratze, zog das Bettuch wieder glatt und atmete tief auf. Sie schlüpfte dann in das bequeme Hauskleid und setzte sich im Schlafzimmer vor den Spiegeltisch, um ihr Haar zu bürsten. An der Tür klopfte es.

»Ja, bitte«, rief Nathalie.

Geraldine tänzelte herein. Auch sie hatte es sich bequem gemacht. Das weiche himmelblaue Wollkleid ließ sie wie ein Kind erscheinen, die ungebärdigen blonden Locken hatte sie in zwei brave Köpfe geflochten.

»Deine Sachen wird Nanni nachher einräumen«, sagte Dina munter, nahm ihr die Bürste aus der Hand. »Laß mich das machen. Du hast so herrliches Haar! Überhaupt bist du sehr hübsch mit diesen schwarzen Haaren und den grünen Augen, die hübscheste Frau, die ich kenne.«

»Außer dir natürlich«, meinte Na­thalie mit leisem Spott.