Isaac und das Ei - Bobby Palmer - E-Book

Isaac und das Ei E-Book

Bobby Palmer

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Beschreibung

Jeden Tag wacht Isaac auf und stellt fest, dass seine Frau nicht mehr da ist. Ihre Abwesenheit lähmt ihn, er lässt sich völlig gehen: Er duscht nicht mehr, isst nicht mehr, ignoriert Anrufe von Freunden und Familie. Bis der Schmerz darüber, verlassen worden zu sein, so groß wird, dass Isaac es nicht mehr aushält und von der Brücke springen will. Gerade als er über die Brüstung geklettert ist, entdeckt er etwas zwischen den Bäumen. Weiß wie ein riesiges, frisch gelegtes Hühnerei leuchtet es aus dem Unterholz hervor, und Isaac wird neugierig. Er klettert wieder zurück. Vorerst, wie er sich sagt. Er möchte nur mal sehen, was das für ein Ding ist, springen kann er später immer noch. Als er sich dem Ei nähert, sieht er, dass dessen Oberfläche nicht glatt, sondern von einem flauschigen Flaum überzogen ist. Und dass das Ei Arme und Beine hat! Kurzerhand nimmt Isaac das Wesen mit nach Hause. Es ist nicht nur der Beginn einer außergewöhnlichen Wohngemeinschaft, sondern für Isaac auch der erste Schritt zurück ins Leben ...

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Seitenzahl: 363

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Das Buch

Jeden Tag wacht Isaac auf und stellt fest, dass seine Frau nicht mehr da ist. Ihre Abwesenheit lähmt ihn, er lässt sich völlig gehen: Er duscht nicht mehr, isst nicht mehr, ignoriert Anrufe von Freunden und Familie. Bis sein Schmerz so groß wird, dass Isaac es nicht mehr aushält und von der Brücke springen will. Gerade als er über die Brüstung geklettert ist, entdeckt er etwas zwischen den Bäumen. Weiß wie ein riesiges, frisch gelegtes Hühnerei leuchtet es aus dem Unterholz hervor, und Isaac wird neugierig. Er klettert wieder zurück. Vorerst, wie er sich sagt. Er möchte nur mal sehen, was das für ein Ding ist, springen kann er später immer noch. Als er sich dem Ei nähert, sieht er, dass dessen Oberfläche nicht glatt, sondern von einem flauschigen Flaum überzogen ist. Und dass das Ei Arme und Beine hat! Kurzerhand nimmt Isaac das Wesen mit nach Hause. Es ist nicht nur der Beginn einer außergewöhnlichen Wohngemeinschaft, sondern für Isaac auch der erste Schritt zurück ins Leben …

»Wunderbar verschroben und absolut echt!«

Grazia

»Ein lustiger, trauriger und origineller Roman über den Verlust eines geliebten Menschen, Trauer und zweite Chancen im Leben.«

Daily Mail

»Unglaublich bewegend – Isaac und das Ei bricht einem das Herz, während es einen gleichzeitig zum Lachen bringt.«

Hello!

Der Autor

Bobby Palmer ist freiberuflicher Journalist und schreibt für Publikationen wie GQ, Men’s Health, Time Out und Cosmopolitan. Er lebt mit seiner Frau Nina und einem unbezähmbaren Hund namens Gromit in einem verschlafenen Dorf in Sussex.

Isaac und das Ei ist sein erster Roman und war ein großer Erfolg in England.

BOBBY PALMER

Isaacunddas Ei

Roman

Aus dem Englischenübersetztvon Felix Mayer

Titel der englischen Originalausgabe

ISAAC AND THE EGG

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 06/2023

Redaktion: Michelle Stöger

Copyright © 2022 by Bobby Palmer

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung des Motivs von Andrew Smith

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-30278-8V001

www.heyne.de

Für Nina

»Das habe ich schon erledigt«, sagte die Kröte.

Und sie strich durch:

Aufwachen

ARNOLD LOBEL

ERSTER TEIL

EINS

Isaac Addy steht auf einer Brücke und weiß nicht, ob er springen soll. Er klammert sich an die eiskalte steinerne Brüstung. Sein Atem nimmt ihm die Sicht. Die frühmorgendliche Eisschicht auf dem Pflaster knackt, als er von einem Fuß auf den anderen tritt. Er hat versucht, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, seine durchgefrorenen Beine über die Brüstung zu heben und in die Leere baumeln zu lassen, die sich unter ihm öffnet, aber ohne Erfolg. Er beugt sich vornüber und blickt hinab auf das tosende Wasser des Flusses, das weiß schäumend über das Wehr strömt. Er kneift kurz die Augen zusammen. Er weint nicht, obwohl er in den letzten Wochen einen Strom von Tränen vergossen hat. Vielleicht hat der Wind seine Tränen versiegen lassen. Vielleicht sind sie zu Eis erstarrt, bevor sie über seine Wangen rinnen konnten. Es ist nicht so, dass Isaac nicht in der Lage wäre, etwas zu empfinden. Nur jetzt gerade, angesichts des Wassers und des senkrechten Abgrundes, der sich unter ihm auftut, empfindet er nichts. Seine Gedanken sind bei anderen Dingen. Seine Seele ist in völlig anderen Regionen. Der Fluss brüllt zu ihm herauf, aber Isaac Addy ist zu weit weg, als dass er antworten könnte.

Er holt Luft, ruckartig und mit einem ratschenden Geräusch, als wäre er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Eisige Luft füllt seine Lunge. Er sieht die Brücke entlang, erst in eine Richtung, dann in die andere. Die Kälte hat seinen Körper taub gemacht, aber er ist so taub für diese Taubheit, dass er kaum zittert, während er versucht zu rekonstruieren, wie er hierhergelangt ist. Er zwinkert. Er kennt diesen Ort, und er weiß, dass er nicht zu Fuß hierhergekommen ist. Ausgeschlossen. Er steht mitten im Nichts. Er hat getrunken, und das ist beunruhigend, denn offenkundig ist er Auto gefahren. Dass er getrunken hat, weiß er, weil ein mehrere Stunden alter Geschmack von Alkohol auf seiner Zunge liegt, und dass er gefahren ist, weiß er, weil am Ende der Brücke sein Auto steht, mit brennenden Scheinwerfern und offener Fahrertür. Es steht am Straßenrand, wie ein überfahrenes Tier, der Himmel über ihm bedrohlich lila. Durch das Rauschen des Flusses ist schwach das ding ding ding des Warnsignals zu hören. Isaac kann sich nicht daran erinnern, die Tür offen gelassen zu haben. Auch an die Fahrt kann er sich nicht erinnern, ebenso wenig daran, dass es hell wurde, während er von dem Auto dort drüben hierher auf die Brücke gegangen ist. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er hierhergekommen ist oder woher er gekommen ist. Er kann sich an kaum noch etwas erinnern.

Isaac blickt wieder hinab auf das Wasser, das ihm einen Windstoß entgegenschickt. Jetzt spürt er die Kälte. Sie schlingt sich um seinen Hals, kriecht unter den Kragen seines schmutzigen Hemdes und schnürt ihm die Rippen zusammen. Sie drückt ihm den Atem aus der Lunge, bis er am ganzen Leib zittert und die Brüstung noch fester umklammert. Obwohl kein Schnee liegt, fühlt Isaac sich wie in den Fängen eines Blizzards. Er stellt sich vor, wie seine Nase und seine Ohren blau anlaufen. Er weiß nicht, wo sein Mantel ist, und der Anzug, den er trägt, bietet so gut wie keinen Schutz vor dem kräftigen Wind, der vom Wasser heraufweht. Seine Hände bleiben reglos, auch wenn er noch so sehr versucht, sie zu heben und sich die fröstelnden Arme zu reiben. Er starrt wie gelähmt auf den Fluss, der über glänzende Steine und abgebrochene Äste strömt, und fragt sich, ob er auch über tote Hunde strömt.

DIEBRÜCKEDERLEBENSMÜDENHUNDE

Er sieht die Schlagzeile in der Lokalzeitung wieder vor sich. Oder bildet er sie sich nur ein? Er kann sich zwar an kaum noch etwas erinnern, aber das weiß er noch: eine Geschichte, die durch die Medien ging, eine moderne Legende, zusammengeschustert aus ein paar verstreuten Anekdoten. Offenkundig entwickelten Hunde beim Überqueren der Brücke die seltsame Neigung, ins Wasser zu springen. Manche Leute behaupteten, auf der Brücke spuke der Geist einer bösartigen Dogge herum. Andere, die sich etwas besser auskannten, sahen die Ursache in dem Geruch nach Wildtieren im nahe gelegenen Unterholz. Baummarder, so vermuteten sie. Die Hunde erkennen ihren schwerwiegenden Fehler erst, wenn es zu spät ist. Sie springen in den Tod, obwohl sie eigentlich Jagd auf Beute machen. Isaac wünschte, er besäße diese Art von Entschlossenheit.

Unsinn. Er hatte nie vor zu springen. Selbst der Dämon der Perversität, diese leise Stimme in seinem Kopf, die ihn doch dazu ermuntern sollte, sich hinabzustürzen, warnt ihn davor. Spring nicht!, sagt sie in leicht spöttischem Ton. Du hast so viel, wofür es sich zu leben lohnt! Isaac weiß, dass der Dämon das ironisch meint, aber er weiß auch, dass er seinem Rat folgen wird. Er schließt die Augen, stellt sich auf die Absätze, wiegt sich vor und zurück und beugt den Oberkörper über die Brüstung, als wolle er einen unbeabsichtigten Sturz provozieren. Wenn er jetzt die Hände wegnähme, würde die Schwerkraft den Rest erledigen. Er öffnet die Augen wieder, und im selben Moment öffnet sich vor ihm der Abgrund in seiner ganzen Weite und Tiefe. Isaacs Magen verkrampft sich. Vielleicht der Selbsterhaltungstrieb. Wahrscheinlich aber der Alkohol. Er hustet, spuckt und übergibt sich in die Kluft. Der Inhalt seines Magens befindet sich jetzt im freien Fall und wird vom Wind ins Halbdunkel zerstreut. Mit einem Zwinkern wischt Isaac sich ein paar Tränen aus den Augen, und eine andere Art von Galle steigt ihm die Kehle hoch. Das Wasser unter ihm scheint zu kochen, es ist schwarz wie Teer, und sein leerer Magen kocht im Einklang mit ihm. Eine Ader auf Isaacs Stirn droht zu platzen. Er umklammert die Brüstung so fest, dass der Stein in seine Finger schneidet. Dann endlich schreit er.

Es ist ein schmerzerfüllter Schrei, der die Vögel in der Nähe in die Flucht schlagen würde, wenn da Vögel wären, die ihn hören könnten. Er hallt von den Steinen der Brücke wider, von den Bäumen des Waldes, der den Fluss zu beiden Ufern säumt, von der Oberfläche des Wassers. Selbst das Wehr hört auf zu gurgeln, als hielte es inne, um zu lauschen. Der Wald hält den Atem an. Die Zeit scheint stillzustehen. Dann, wie aus dem Nichts, schreit etwas zurück.

Isaac hängt da also über der Brüstung einer alten Steinbrücke, sein Speichel verfliegt im Wind, er legt den Kopf schief wie ein neugieriger Hund und starrt auf die Bäume am Ufer des Flusses, auf die Stelle, wo er sein Auto zurückgelassen hat. Um ihn herum undurchdringlicher Wald, die schlammige Böschung des Flusses ist mit Wurzeln übersät, die wie Aale ins Wasser gleiten. Dazu ein Geräusch, weder das ding ding ding des abgestellten Autos noch das Brüllen des Wassers, sondern ein Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, einen Schauer über die Haut jagt und den Magen umdreht und der Isaacs Angst packt und aus dem Wasser schleudert. Es ist kein menschlicher Schrei. Es klingt auch nicht nach einem Baummarder, was auch immer ein Baummarder ist. So schreit kein Tier auf der Welt. Es ist weder der Schrei eines Menschen noch der eines Tieres, und auch nichts irgendwo dazwischen. Ein Schrei, bei dem sich ein ganz anderer Fluss von düsteren Möglichkeiten auftut. Jeder, der seine Sinne beieinanderhat, würde sich aufrichten, zurück zum Auto gehen und so schnell wie möglich in der Morgendämmerung verschwinden. Aber Isaac ist weit davon entfernt, seine Sinne beieinanderzuhaben; außerdem hat er in dem Schrei etwas gespürt. Hoffnungslosigkeit lag darin. Hilflosigkeit. Noch bevor er sich den Mund abgewischt hat, weiß er, dass er dem Schrei nachgehen wird.

Er wischt sich den Mund ab. Er richtet sich auf. Dann taumelt er einen Schritt zurück und entfernt sich wankend vom Rand der Brücke. Er geht in Richtung seines Autos, das noch immer reglos sein ding ding ding von sich gibt, und schlurft dabei mit den Schuhen über den vereisten Asphalt. Am Ende der Brücke biegt er ab, weg von seinem Auto und in den Wald hinein. Unter seinen Füßen knistern vertrocknete Blumen und weggeworfene Plastikhüllen. Am ersten Baum, den er erreicht, hält er sich kurz fest, schöpft Atem und späht dann in die Dunkelheit, die dahinter liegt. Alle guten Kindergeschichten beginnen damit, dass jemand in den Wald geht, aber Isaacs Geschichte ist keine Geschichte für Kinder. Er ist zu alt, um von Wölfen großgezogen zu werden, zu groß, um einen Kaninchenbau hinabzukullern, zu abgestumpft, um sich in ein Lebkuchenhaus locken zu lassen. Sein Happy End ist ein für alle Mal dahin. Er zögert und blickt zurück zu seinem Auto. Als wäre das ein Signal, setzt das Schreien erneut ein. Schmerz spricht aus ihm, und dieser Schmerz ist Isaac schmerzlich vertraut. Ohne weiter nachzudenken, schlägt er sich ins Unterholz.

Moos rutscht ihm von den Schultern seines Sakkos, während er die Böschung der Straße hinabsteigt. Er krabbelt durch feuchtes Laub und drückt tief hängende Äste zur Seite. Dornen und dünne Zweige piken ihn in Unterarme und Hände. Knorrige Wurzeln bemühen sich nach Kräften, ihn ins Stolpern zu bringen. Das gelingt ihnen etliche Male, oft genug, dass die Beine seiner schwarzen Anzughose schon bald triefen und seine einst so eleganten Schuhe schmatzen wie nasse Küchenschwämme. Isaac verschwendet keinen Gedanken an Unterkühlung oder Frostbeulen, er hat nur den Schrei im Kopf, diesen Schrei, der sich so unwirklich anhört in diesem Wald, in dem eine Wand aus Bäumen selbst das Tosen des nahen Flusses dämpft. Wieder zögert er. Vielleicht hält ihn der Wald zum Narren. Isaac dreht sich um, als lugten zwischen den Ästen tausend Augen hervor und beobachteten ihn. Während er sich weiter hin und her dreht, wird er allmählich wieder nüchtern, er späht zurück in Richtung seines Autos, dann nach vorn in Richtung von etwas anderem. Er hat die Orientierung verloren. Er weiß nicht einmal mehr, von wo er gekommen ist. Er überlegt, ebenfalls zu schreien, nach Hilfe zu rufen. Dann greift, wie eine göttliche Macht, die stärker werdende Dämmerung ein. Im Handumdrehen hebt sich die Dunkelheit des Waldes, einem Vorhang gleich, das märchenhafte Licht der Morgensonne dringt durch eine Lücke im Geäst und erhellt den gesamten Waldboden. Und da sieht Isaac es.

Es ist ein Ei. Hell leuchtend steht es in der Mitte einer Lichtung, in ein himmlisches Schimmern getaucht, das der Finsternis der Nacht, die ihm vorausging, die Stirn zu bieten scheint. Doch das Bild, das sich Isaac präsentiert, widerspricht jeder Vernunft. Die Lichtung wirkt künstlich, sie ist kreisrund und makellos, ebenso wie die Öffnung im Astwerk der Bäume, durch die das Licht strahlt, das sie erhellt. Das Ei steht genau in der Mitte, unter einem Baldachin aus Blättern und Zweigen, von denen Wasser tropft, an einer Stelle, an der das Dickicht niedergedrückt ist, das dadurch wie ein riesiges Nest wirkt. Das Ei ist weiß. Es wirkt unheimlich, wie die Perle in der Schale der größten Auster der Welt. Nein, eigentlich noch viel weißer. Es ist so weiß wie sonst nichts. Ein Oval aus purem Weiß, das eine Kinderschere aus einem unberührten Blatt Papier geschnitten hat, oder ein Oval, das aus solch unberührtem Papier ausgeschnitten und mit Bastelkleber auf die Lichtung geklebt wurde. Nur wegen der Tautropfen, die zitternd auf der weißen Oberfläche des Eis sitzen, kann Isaac sicher sein, dass es wirklich ist und dass es wirklich ein dreidimensionales Objekt ist. Er reibt sich die Augen. Das Ei ist noch immer da. Es ist noch immer dreidimensional. Und es ist noch immer atemberaubend, und das umso mehr, weil es inmitten von stumpfem Schlammbraun und mattem Grün steht und die Tropfen des kondensierten Wassers auf seiner weißen Oberfläche wie Diamanten funkeln. Im Licht, das durch die Öffnung in den Baumkronen fällt, glänzt es wie ein Fabergé-Ei unter dem Punktstrahler einer Vitrine. Nur ist es größer. Viel größer. Dieses Ei muss über einen halben Meter groß sein.

Zum ersten Mal seit Wochen empfindet Isaac etwas anderes als Verzweiflung. Er zwinkert ein paarmal und reibt sich die geröteten Augen. Sieh an, die Neugier kehrt zurück. Mit halb offenem Mund späht er durch das Geäst auf allen Seiten der Lichtung und sucht nach irgendeinem Hinweis darauf, wie das Ei dorthin gekommen ist. Er sieht hinab auf den Boden und sucht nach übergroßen Fußabdrücken. Er sieht hinauf zum Himmel und hält Ausschau nach der Silhouette eines noch viel größeren Tieres. Er denkt an die Szene in Jurassic Park, in der das Kräuseln des Wassers in einem Glas das Herannahen eines Tyrannosaurus Rex anzeigt. Aber auf der Lichtung herrscht Totenstille, kein Grashalm regt sich. Isaacs Blick wandert wieder zurück zu dem Ei. Er kann sich seiner Faszination nicht entziehen. Es hat etwas Magnetisches an sich, etwas Allumfassendes, als sauge sein bizarres, reines Weiß alle Farben aus den Pflanzen in seiner Nähe. Kein Fleckchen Schmutz ist auf ihm zu sehen. Und dann die Größe! So ein Ei kann man nicht mit dem Löffel aufklopfen, denkt Isaac. Dazu bräuchte man eine Schaufel oder einen Vorschlaghammer. Isaac schluckt. Ein säuerlicher Geschmack breitet sich in seiner Kehle aus. Unter all den Fragen, die die Gegenwart des Eis aufwirft, hat er noch immer keine Antwort auf die drängendste: Woher kam der Schrei?

Isaac blickt noch einmal über die Lichtung. Nervös tritt er von einem Bein aufs andere, wodurch unter seinen Füßen ein paar Zweige knacken. Das Geräusch erschreckt ihn dermaßen, dass er in die Hocke geht und sich zusammenkauert. Er presst die Augen zusammen und umfasst seine Knie. Doch nichts greift ihn an. Er öffnet erst ein Auge, dann das andere und kriecht dann hinter den nächsten Baum, um sich zu verstecken. Von dort aus sucht er weiter das Halbdunkel nach einer massigen, bedrohlich aufragenden Gestalt ab, nach einem Muttertier, das so gewaltig ist, dass es ein solches Ei legen kann. Doch immer wieder zieht das Ei seinen Blick auf sich. Auf einem Bauernmarkt in der Stadt hat Isaac einmal ein Straußenei gesehen – aber dieses hier ist bestimmt viermal, vielleicht sechsmal oder sogar achtmal so groß. Es ist so groß wie das Ei eines Dinosauriers. Auch ein Dinosaurierei hat er schon einmal gesehen, im Naturgeschichtlichen Museum. Aber das war beige mit teefarbenen Flecken, und nicht Tipp-Ex-weiß. Isaac fragt sich, was im Inneren des Eis wohl versteckt ist und darauf wartet, dass es Zeit zu schlüpfen ist. Der Schrei fällt ihm wieder ein, von dem er noch immer nicht weiß, woher er kam. In seiner Erinnerung klingt er mittlerweile aggressiv und nicht mehr schmerzgeplagt. In einem anderen Leben hätte Isaac sich schon längst in sein Auto geflüchtet. In diesem Leben jedoch erscheint ihm der rasche Tod durch einen Pterodactylus geradezu als Erlösung.

Jeder, der in Isaacs durchnässter Haut stecken würde, würde es genauso empfinden. Was soll er jetzt tun? Das Ei zurücklassen, sodass Füchse und Eulen mit ihren Krallen und Schnäbeln Löcher hineinschlagen und es aufpicken? Als langsam verderbendes Futter für tote Hunde und Baummarder? Isaac hat nicht bemerkt, dass er sich bewegt hat, aber offenkundig haben ihn seine Beine – die ihn vorhin nur widerwillig getragen haben – hinter dem Baum hervorgeschleppt und ihn in der Mitte der Lichtung abgesetzt. Jetzt steht er über das Ei gebeugt, unsicher schwankend, späht blinzelnd in das Dickicht der Bäume und hält Ausschau nach Spuren der Fänge eines Muttervogels, der ihn zur Rechenschaft ziehen will. Er räuspert sich. Nimm das Ei an dich, drängt ihn sein Unterbewusstsein. Also wirft er einen letzten Blick zurück über die Schulter, beugt sich nach unten und hebt das Ei auf. Es ist leichter, als er erwartet hat. Und auch weicher. Sein Äußeres ist nicht hart und kühl wie die Schale eines normalen Eis. Es ist weich und feucht, wie eine Kugel aus Teig, der gerade gegangen ist. Wie ein gekochtes Ei. Ja, so fühlt es sich an, wie ein geschältes Ei. Zwar verströmt das Ei den muffigen Geruch nach nassem Hund, doch dieser Hund riecht alles andere als tot. Trotz seines taufeuchten Äußeren strahlt es eine innere Wärme aus, wie sie nur von einem Lebewesen stammen kann. Diese Wärme entzündet etwas in Isaac, eine Erinnerung, die tief in seinem Körper schlummert. Das Ei fühlt sich in seinen Händen weniger wie ein auf dem Waldboden aufgelesenes Ei an, sondern eher wie eine Wärmflasche mit einem flauschigen Überzug. Wie kommt er darauf? Isaac ist jetzt neunundzwanzig Jahre alt und hat seit mindestens zwanzig dieser Jahre keine flauschige Wärmflasche mehr gebraucht. Warum schleicht sich jetzt plötzlich dieser Gedanke ein? Wegen ihr, natürlich. Es ist immer wegen ihr. Wenn ihm warm wird, wird ihr – wurde ihr – kalt. Sie hatte eine Wärmflasche, mit einem flauschigen Überzug. Sie lag zwischen ihnen im Bett.

Ein entsetzliches Gefühl beschleicht Isaac, und er erkennt es sofort wieder. Es fühlt sich an, als gäbe der Waldboden unter seinen Füßen nach, als wären sämtliche Bäume um ihn herum aus der Erde gerissen worden, als wäre die ganze Welt dem Erdboden gleichgemacht, außer ihm, Isaac, und als wäre da nur noch ein grenzenloses Nichts, das mit der Kraft von tausend Winterstürmen, die sich aus tausend eisigen Flüssen erheben, durch sein Inneres bricht. All diese Gewalt, gesammelt in einem einzigen Körper. Es beginnt mit einem Zittern in den Eingeweiden, als hätte sein Magen den höchsten Punkt der obersten Schicht der Atmosphäre erreicht und kenne nur noch eine Richtung: nach unten. Dann saust er mit einem Ruck hinab. Zusammen mit ihm rauscht auch Isaacs Herz in die Tiefe. Alles in ihm stürzt, sein Innerstes fällt in sich zusammen, und er bekommt kaum noch Luft. Die Schwerkraft hat sich gegen ihn verschworen. Er steht in der Mitte der Lichtung, und der Baum, an dem er sich vorhin festgehalten hat, ist zu weit weg. Er ringt nach Atem wie ein Ertrinkender, würgt, als wäre sämtliche Luft aus der Lichtung abgesaugt worden. Er sackt auf die Knie. Das Ei lässt er dabei nicht fallen. Vielmehr hält er es noch fester umschlossen als zuvor.

Was mache ich hier?, fragt sich Isaac. Sein Atem verfängt sich in seinem Hals, das Blut in seinen Adern verklumpt. Er kniet in einem zerrissenen Anzug auf einer nassen Lichtung in einem seltsamen Wald, hält ein riesiges weißes Ei im Arm, das er auf dem Boden gefunden hat, und kämpft damit, wieder zu Atem zu kommen. Was soll ich jetzt machen?

Für einen kurzen Augenblick war Isaac verloren. Er hat kaum Luft bekommen, hat kaum noch etwas gesehen, hat kaum noch den Weg zurück durchs Unterholz gefunden. Dann haben ihn das in der Ferne tönende ding ding ding und die Morgensonne, die durch die Bäume fiel, zurück zur Straße gezogen, zu seinem Auto, in sein wirkliches Leben.

Passanten würde sich ein absurder Anblick bieten: ein offenkundig völlig erschöpfter Mann, der bei Tagesanbruch aus dem Wald gehumpelt kommt und unter Mühen ein Ei im Arm hält, das sonderbar leicht wirkt und doch überraschend unhandlich. Er hält es eingeklemmt zwischen Ellbogen und Nackenbeuge, so wie man eine Einkaufstüte hält, während man in der Hosentasche unbeholfen nach dem Hausschlüssel kramt. Gleichzeitig tastet er mit fahrigen Bewegungen nach dem Griff der Beifahrertür. Es sind keine Passanten in der Nähe, die die Szene beurteilen könnten. Isaac öffnet die Tür, legt die alte Walkers-Shortbread-Blechdose behutsam auf die Rückbank und stellt das Ei auf den Beifahrersitz. Dann setzt er sich auf den Fahrersitz, umfasst das Lenkrad mit beiden Händen und betrachtet sich im Rückspiegel. Seine Haut wird seit einiger Zeit immer grauer. Auch seine Haare werden grau. Nur in seinen müden Augen hat sich noch eine Farbe gehalten, und diese Farbe ist Rot. Sein Hemd ist mit Flecken von Schlamm und Moos gesprenkelt, und sein bester Anzug ist ruiniert. Auch seine Krawatte hat er verloren, wie so vieles andere zuvor. Eines hat er jedoch hinzugewonnen: ein riesiges Ei, gut einen halben Meter groß, mit glatter, weißer Schale und einem stark modrigen Geruch. Er schnallt das Ei an. Er weiß nicht, was es enthält, und er hat keine Lust, den Vormittag damit zu verbringen, literweise Eigelb aus dem Fußraum seines Ford Fiesta zu wischen. Er betrachtet das Ei, betrachtet im Rückspiegel seine blutunterlaufenen Augen, betrachtet den endlosen weißen Himmel, der sich über dem glatten Asphalt erstreckt. Er dreht die Heizung auf, weil er sich vage daran erinnert, wie sie in der Schule Hühnereier unter Wärmelampen gelegt haben. Auch das Eierlaufen fällt ihm wieder ein, der Adrenalinrausch beim Versuch, ein Ei unbeschadet über die Ziellinie zu bringen. Isaac schüttelt den Kopf, legt den ersten Gang ein und fährt los.

Die Brücke liegt außerhalb der Stadt, etwa fünfzehn Minuten von Isaacs Haus entfernt. Schmale Landstraßen führen zu ihr, die zum Glück allesamt kaum befahren sind. Weil außer ihm niemand unterwegs ist, hat Isaac ausreichend Zeit, sich selbst, dem Ei und der Keksdose auf der Rückbank all die Fragen zu stellen, die in seinem rasch wieder nüchtern werdenden Geist umherjagen.

Isaacs Gedanken sind so verworren, dass er keine Antworten findet. Auch die Blechdose hat keine. Und ebenso wenig das Ei, das ja ein Ei ist und daher nicht sprechen kann. Dennoch feuert Isaac eine Frage nach der anderen ab, wobei er nicht weiß, ob er sie auch laut ausspricht. Er klopft mit den Handflächen nervös auf das Lenkrad und überprüft dabei immer wieder mit angsterfüllten Blicken den Rückspiegel und die Seitenspiegel, ob sich ein Blaulicht nähert oder das Heulen eines Martinshorns zu hören ist. Möglicherweise enthält das Ei Schmuggelware – Drogen, Waffen oder Schlimmeres. Tatü-tata, tatü-tata. Er würde leise fluchen. Der Polizist würde vielleicht ans Fenster klopfen, und Isaac würde es herunterkurbeln müssen. Der Polizist würde möglicherweise sagen: »So früh schon unterwegs, Sir?« Isaac würde ins Schwitzen geraten, und der Polizist würde vielleicht die Stirn runzeln, mit seinem Stift auf den Beifahrersitz deuten und sagen: »Gibt’s heute Omelett zum Frühstück?« Und Isaac würde ein bisschen zu laut lachen und dadurch verraten, dass er etwas schmuggelt. Er hat noch immer mehr im Blut, als erlaubt ist. Er würde pusten müssen, dann käme es raus, und was dann? Isaac sieht zu dem Ei auf dem Beifahrersitz hinüber. Er will noch eine weitere Frage stellen. Er will wissen, ob er gerade verrückt wird. Aber bevor er die Frage formulieren kann, bemerkt er, dass er zu Hause angekommen ist.

Isaac steigt aus. Das Auto hat er auf dem Gehsteig geparkt. Egal. Die bleiche Wintersonne geht rasch auf, und mit ihr werden bald auch die Vorhänge hinter den Fenstern der Nachbarn zur Seite geschoben. Dass er so nachlässig geparkt hat und noch weitaus vernachlässigter aussieht, werden sie auf all das, was in letzter Zeit passiert ist, zurückführen. Aber das Ei? Sie werden ihm Fragen zu dem Ei stellen, und Isaac hat schon festgestellt, dass er keine Antworten hat. Das Ei ist etwas, das er für sich behalten will. Nehmt mir das nicht auch noch weg, denkt er. Nachdem er sich vergewissert hat, dass sämtliche Vorhänge, die die Straße säumen, noch geschlossen sind, löst er den Gurt, der seinen unkommunikativen Beifahrer sichert, trägt diesen zur Haustür und versucht dabei, ihn zumindest halbwegs unter seinem feuchten Sakko zu verbergen. Wenigstens muss er sich diesmal nicht mit einem Schlüssel herumärgern, ganz einfach, weil er die Tür noch nie abgeschlossen hat. Als er sie aufdrückt, spürt er den Widerstand eines riesigen Haufens aus ungeöffneten Briefen, Rechnungen und Werbeprospekten. Man könnte meinen, das Haus wäre unbewohnt. In gewisser Weise hat Isaac es vor etlichen Wochen verlassen. Er hat hier nicht mehr gelebt, sondern nur noch existiert. Aber das Haus besitzt ein Eigenleben, wie die Post zu Isaacs Füßen beweist, die abgestorbenen Blumen mit den hängenden Köpfen auf der Ablage im Flur und der ekelerregende Geruch nach verdorbenem Essen, der durch die angelehnte Küchentür zieht. Irgendwo tropft ein Wasserhahn. Irgendwo anders summt eine Fliege. Einen Augenblick lang steht Isaac, noch immer leicht betrunken, schwankend und schweigend da, hält das Ei im Arm und lauscht. Als warte er darauf, dass jemand ihn willkommen heißt. Niemand ist zu hören. Seine Kehle schnürt sich zu. Seine Augen werden feucht. Im Flur stehen schlichte, edle Holzmöbel, und Isaac läuft es kalt den Rücken hinab. Das Ei in seinen Armen scheint das zu spüren, die Wärme in seinem Inneren sinkt rapide. Wieder denkt Isaac an die Wärmflasche mit der flauschigen Hülle. Sie hatte sie sich immer vorne in die Schlafanzughose gesteckt, damit ihr warm wurde. Das sah nicht besonders toll aus. Er hatte ein Foto davon auf seinem Handy. Zeig das bloß nicht rum. Sie hatten Tränen gelacht. Kalte Füße, kalte Hände, die im Bett über seine Haut strichen, wie Eiswürfel, die unter die Bettdecke geschmuggelt worden waren. Sie klemmte ihre nackten Füße zwischen seine nackten Beine, um sie zu wärmen, oder ihre nackte Hand unter seinen nackten Rücken. Dann fluchte er und entwand sich ihr.

»Warum ist dir immer so kalt?«, hatte er sie oft gefragt.

Das ist relativ. Warum ist dir immer so warm?

Isaacs Haus ist so kalt wie der Fluss, von dem er sich jetzt wünscht, er hätte sich hineingestürzt. Die Post liegt wie eine Schneewehe über seinen Füßen, sein Atem bildet Wölkchen in der Luft des Flurs. Er schnieft und blickt auf das Ei hinab. Er reißt die Augen auf. Er flucht. Er lässt das Ei fallen, das auf einem Polster aus Kreditkartenrechnungen und Speisekarten von Lieferdiensten landet. Im selben Moment ist er wieder draußen und rennt zu seinem Auto, an dem noch beide Türen offen stehen. Er schnappt sich die Blechdose von der Rückbank, drückt sich das kalte Metall gegen die Stirn und schließt die Augen. Dann macht er die Autotüren zu und geht zurück ins Haus. Als er wieder in der Schneewehe steht, überlegt er, was er jetzt tun kann. Er sieht hinab auf das Ei, das in dem Haufen aus Briefen zu seinen Füßen sitzt, wie in einem Nest. Das Weiß seiner Schale ist abgeklungen, wie ein Licht, das verlöscht ist. Was soll er jetzt machen? Sie hätte es gewusst. Sie hatte immer eine Antwort. Er geht in Gedanken das Archiv ihrer Gespräche durch und sucht nach etwas, das ihm helfen könnte. Einmal hatte sie ihm eine Geschichte von einem verwaisten Lamm erzählt, das sie auf dem Bauernhof gehabt hatten, auf dem sie aufgewachsen war. Wenn ein Lamm keine Mutter mehr hatte, war es ihre Aufgabe gewesen, es mit der Flasche zu füttern. Aber dieses eine fror einfach andauernd. Sie hatten es in Decken gewickelt, in Handtücher, in die Daunendecke aus ihrem Bett. Nichts hatte geholfen. Dann hatte jemand den genialen Einfall mit dem Ofen. Auf das Risiko hin, zum Mittagessen Lammbraten zu haben, steckten sie das zitternde kleine Ding in den alten gusseisernen Ofen, um es zu wärmen. Es funktionierte. Das Lamm war gerettet. Isaac, der schon fast zwanzig war, als er zum ersten Mal einen echten Bauernhof zu Gesicht bekommen hat, hatte gelacht, den Kopf geschüttelt und zu ihr gesagt, sie sei in einer Geschichte von Beatrix Potter aufgewachsen. Kein Mensch hatte noch einen gusseisernen Ofen. Kein Mensch fütterte Lämmer mit der Flasche. Sie hatte mit den Achseln gezuckt und erwidert, er bräuchte nur hinauszugehen und die Augen aufzumachen; dann würde sich ihm eine ganze Welt auftun, die ihm jetzt noch verschlossen sei.

Isaac verriegelt die Haustür. Er geht ins Wohnzimmer und stellt die Keksdose behutsam auf den Kaminsims. Dann holt er das Ei von seinem Ruheplatz auf dem Posthaufen. Das Haus ist klein und beengt, und in der Küche steht kein alter gusseiserner Ofen, aber in so einem hätte das Ei auch gar keinen Platz. Doch die Feuerstelle unter dem Kaminsims ist halbwegs brauchbar, also bringt Isaac das Ei dorthin. Die Sonne dringt erst allmählich durch die Lamellen der Jalousien, aber Isaac hält den Blick gesenkt und schaltet das Licht nicht ein. Mit langsamen, angestrengten Bewegungen macht er sich am Kamin zu schaffen. Aus einer alten Zeitung, ein paar Holzscheiten und Resten von Kienspänen schichtet er ein schlichtes Feuer auf. Er zündet es an und bläst das Streichholz rasch wieder aus, um nicht irgendetwas im Raum zu erhellen, das er nicht sehen will. Aus allen Ecken des Raumes rafft er Kissen und Decken zusammen und baut daraus auf dem Boden vor dem Kamin ein improvisiertes Nest. Er setzt das Ei hinein und facht das Feuer an, das dahinter brennt. Die Flammen lodern auf. Isaac kniet sich hin und betrachtet das Ei. Wie es da so vor dem Feuer auf dem Wohnzimmerboden steht, strahlt seine weiße Schale so hell wie noch nie. Aber da ist noch etwas anderes. Jetzt, wo es nicht mehr auf der kalten, feuchten Lichtung steht, sondern vor einem knisternden Feuer, fängt sein Äußeres endlich an zu trocknen. Und während es trocknet, erblüht es. Einige Stellen, die zuvor flach waren, richten sich jetzt auf und strecken sich in alle Richtungen. Isaac steht der Mund offen. Sein Atem wird langsamer, die Haare auf seinen Armen stellen sich auf, und er erkennt, dass die Schale des Eis überhaupt keine Schale ist. Sondern ein Pelz. Gerade eben noch vom Morgentau geglättet, plustert er sich jetzt auf, wie die Wolle des verwaisten Lamms im wärmenden Ofen. Isaac traut seinen Augen nicht. Das Ei ist von einem zotteligen weißen Fell umhüllt.

»Was bist du?«, flüstert er.

Aber das Ei ist noch immer zu sehr Ei, um zu antworten. Wie gebannt starrt Isaac es an und verliert dabei jedes Zeitgefühl. Das Feuer brennt, das Ei schweigt, und Isaac starrt. Als ihm irgendwann die Knie wehtun und das Feuer nachlässt, werden ihm die Augen schwer. Vielleicht wegen der Wärme des Feuers. Vielleicht weil er seit gestern Morgen nicht geschlafen hat. Gähnend geht er zu dem Sofa am anderen Ende des Raumes. Von dort aus betrachtet er das Ei noch ein paar Minuten lang und breitet sich dann eine der Reservedecken über den Schoß. Er hat nie verstanden, warum man so viele Decken braucht – ihm war warm, ihr war kalt –, aber jetzt ist er dankbar dafür, dass so viele da sind. Schon bald kann er die Augen nicht mehr offen halten, dann streckt er sich aus und fängt an zu schnarchen und gleitet zum ersten Mal seit Anfang Januar in einen ordentlichen Schlaf. Während er wegdämmert, bekommt er nur entfernt mit, wie die Kinder am Haus vorbei zur Schule gehen, wie das Licht der Morgensonne durch die Jalousien hereinfällt, wie sich im Feuer etwas rührt und knackt. Er ist in tiefem Schlaf versunken, als das Ei anfängt, sich zu bewegen.

Es beginnt mit einer Drehung; ein Teil des zotteligen Pelzes löst sich und gleitet zur Seite, wie ein Element eines vertrackten Schlosses. Dann löst sich ein weiterer Teil und gleitet in die andere Richtung. Schließlich ist das gesamte Äußere des Eis in Bewegung, die Ringe seiner haarigen Hülle drehen sich im Kreis, wie ein Tornado in einem Comic, der über eine sandige Ebene jagt. Kaum hat diese sonderbare Vorführung begonnen, ist sie auch schon wieder vorbei. Überall auf dem Ei ballen sich weiße Kringel. Was sich hinter ihnen verbirgt, hat zwar noch immer die Form eines Eis, ist aber alles andere als ein Ei.

Im Kamin bricht knackend und zischend ein Scheit entzwei. Wie zur Antwort öffnet das Ei die Augen.

ZWEI

Sitzt du?«

Und damit war, einfach so, alles in die Brüche gegangen. Auf diese Frage folgt immer eine schlechte Nachricht. Und wenn es die eigene Schwiegermutter ist, die einem am Telefon diese Frage stellt, hat man vielleicht schon eine Ahnung, was das für eine schlechte Nachricht sein könnte. Ihre Tochter hatte ohnehin schon vor Jahren alles verraten, beim Morgenkaffee im Bett. Sie hatten einander von den Schrullen ihrer Eltern erzählt. Isaacs Vater schrieb Textnachrichten ausnahmslos in Großbuchstaben. Seine Mutter hatte eine ausgeprägte Angst vor Hunden, hatte aber jeder Katze in der Siedlung einen Namen gegeben. Sein Schwiegervater konnte nichts erledigen – ob kleinen Handgriff oder großes Projekt –, ohne dabei vor sich hin zu summen, auch wenn die Melodien, die er summte, genau genommen keine Lieder waren, sondern ein Missklang aus nicht zusammenpassenden Tönen. Und seine Schwiegermutter? Sie konnte schlechte Nachrichten niemals unumwunden übermitteln, wie schwerwiegend die Angelegenheit auch war. Ob der Hund der Familie eine Ohrenentzündung hatte oder ob ein ehemaliger Klassenkamerad, den man seit siebzehn Jahren nicht gesehen hatte, sich scheiden ließ, immer musste sie zuerst fragen, ob ihr Gesprächspartner saß.

»Sitzt du?«

Alles, was nach diesem Anruf geschah, ist in Issacs Erinnerung wie erstarrt, aber die Augenblicke davor sieht er noch kristallklar vor sich. Er hatte den Lautsprecher voll aufgedreht und eine Playlist mit dem Titel »Italo-Kochsongs« laufen, mit der er sich gerne anfeuerte, wenn er in der Küche herumexperimentierte. Er hatte an der Küchentheke gestanden und versucht, in einer Fantasiesprache mitzusingen, während er Lammhackfleisch, Zwiebeln und Koriander zu Bällchen formte und auf Holzspieße steckte. Es sollten Köfte-Spieße werden. Draußen war es dunkel, es hatte Minusgrade, und die Soße, die auf dem Ofen vor sich hin köchelte, ließ die Fensterscheiben anlaufen. Isaac hatte sich vorgenommen, die Jalousien herabzulassen, sobald er sich das rohe Fleisch von den Fingern gewaschen hatte. Doch dazu kam es nicht. Er war gerade mit dem dritten Fleischbällchen fertig, als die Musik aussetzte und an ihrer Stelle ein Klingelton ertönte, dieselbe Melodie, mit der er sich morgens wecken ließ. Vielleicht war er deshalb schon genervt, bevor er überhaupt ranging. Vielleicht auch wegen seiner schmutzigen Finger, an denen noch Zwiebelwürfel und rohes Lammfleisch klebten und die er sich unter dem heißen Wasser aus dem Hahn fast verbrühte, während das Telefon weiterläutete. Als er sie mit einem Geschirrtuch getrocknet hatte und zum Tisch gehastet war, hatte das Läuten aufgehört. Isaac entspannte sich ein wenig. Doch kaum war das Läuten verklungen, setzte es wieder ein. Isaac sah auf das Display.

Esther Moray

Der Name löste in ihm die erste Welle von Panik aus. Warum rief Esther ihn an? Warum nicht ihre Tochter?

»Hi, Esther. Alles in Ordnung?«

»Sitzt du?«

Kein »Hallo, Isaac«. Kein »Wie geht’s dir, Isaac?«. Kein »Wie war dein Wochenende?«. Nur diese zwei Worte.

Isaac saß nicht. Er machte Köfte. Er hätte sich setzen können. Vielleicht wäre das besser gewesen. Ab diesem Zeitpunkt verschwimmen die Dinge, als wäre der Anruf eine List gewesen, wie man sie aus alten Spionagefilmen kennt, und als hätte Isaac, indem er ihn annahm, ein betäubendes Gas freigesetzt. Sobald Esther zu reden anfing, drangen die unsichtbaren Schwaden durch die Fensterschlitze, unter den Türen hindurch, aus dem Ofen und aus dem Kühlschrank. Isaac weiß noch, dass er mit unsicherem Griff einen Stuhl heranzog und sich mit wackligen Beinen setzte. Er hielt sich am Tisch fest, als schwanke der Raum und als drohe er selbst vom Stuhl zu kippen. Sein Mund war trocken. In seiner Brust, seinem Hals und seinem Kopf dröhnte das Wummern seines Herzschlags.

»Ja, ich sitze.«

Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Auch Esthers Stimme erkannte er nicht wieder.

»Etwas Entsetzliches ist passiert«, sagte sie. Was genau, brauchte sie ihm gar nicht mehr zu sagen. Isaac wusste im selben Moment, dass Mary tot war.

Isaac Addy liegt auf dem Sofa, halb schlafend, halb wach, und weiß nicht, ob seine Frau tot ist oder nicht. Aus einem beruhigenden Traum aufzuwachen und sich in einer albtraumartigen Wirklichkeit wiederzufinden, ist ein Zustand, der seine eigenen Gesetze hat. Isaac hält die Augen geschlossen, solange es geht. Er hofft, dass die Wirklichkeit der böse Traum ist und er sich ein anderes Leben herbeiimaginieren kann. In der Welt, die er hinter seinen Augenlidern erschafft, sagt ihm der Dämon, den er schon auf der Brücke gehört hat, dass Mary oben ist, im ersten Stock. Ihr habt euch nur gestritten, sagt der Dämon. Mach Kaffee und entschuldige dich bei ihr, und dann ist alles wieder wie vorher. Isaac wünschte, er wäre wegen eines Streits auf dem Sofa gelandet. Er wünschte, sie hätten sich so schlimm gestritten wie noch nie. Manchmal haben sie einander angeschrien. Er wünschte, sie könnten einander auch jetzt anschreien. Werd endlich erwachsen. Das hat sie oft gesagt. Warum kannst du dich nicht ausnahmsweise mal wie ein Erwachsener benehmen? Er denkt daran zurück, dass ihm nichts zu blöd war, um sie zum Lachen zu bringen. Wie er sie dazu brachte, ein berufliches Telefonat zu unterbrechen, damit er ihr »die Aale im Bad« zeigen konnte, und wie sie genervt die Augen verdrehte, als sie die »Ahle« dann sah. Er denkt zurück an die Streitereien darüber, dass er niemals bügelte oder den Herd putzte und nicht lernen wollte, den intelligenten Stromzähler zu bedienen, und daran, wie er, wenn er sich mit solcher Kritik konfrontiert sah, nur lachte, die Zunge herausstreckte oder die Kritik mit einem »Sehr wohl, Mum« beiseite wischte. Dinge ernst zu nehmen, war nie Isaacs Stärke gewesen. Wie sehr sich das geändert hatte. Noch schlaftrunken, kehrt er allmählich in die Wirklichkeit zurück. Er erinnert sich wieder daran, was passiert ist. Währenddessen rutscht er langsam über den Rand des Sofas. Mit einem Fump! schickt ihn seine Erinnerung zu Boden.

Isaac liegt da, mit geschlossenen Augen, das Gesicht auf dem Boden, noch immer im Anzug und in eine Decke gewickelt, und spürt, wie ihm etwas die Brust zusammenschnürt. Er drückt die Stirn in den Teppichboden, und es schaudert ihn, als ihm klar wird, warum er nicht oben geschlafen hat, in ihrem gemeinsamen Bett, mit ihr. Allein schon der Gedanke lässt ihn aufschluchzen. Er ist auf dem Sofa eingeschlafen, und Mary ist tot. Jetzt liegt er auf dem Boden, und Mary ist tot. Sein Kopf tut weh, und Mary ist tot. Nachdem ihm die eine große schlimme Sache wieder eingefallen ist, kommen ihm auch die kleineren, aber ebenfalls schlimmen Sachen wieder in den Sinn. Wie zum Beispiel sein Kater. Jedes Mal, wenn er eine Träne verdrückt und schluckt, fängt sein Kopf zu hämmern an, und seine Haut fühlt sich gespannt an und seine Kehle ganz hölzern vor Trockenheit. Der Geschmack in seinem Mund erinnert an das Innere eines Staubsaugerbeutels, und seine sandige Zunge drückt gegen Zähne, die so trocken sind wie der Teppich, auf dem er liegt. Wenn seine Erinnerung ihn nicht trügt – was sie jedoch ziemlich oft tut –, dann hat man ihm in den letzten Wochen immer wieder nahegelegt, mit dem Trinken aufzuhören. Er schade sich selbst damit. Er schade anderen damit. Sein Körper ist zerschunden, sein Ego weniger lädiert als vielmehr in tausend Stücke zersprungen. Aber niemand leidet so sehr wie er, und nichts tut so weh wie der Umstand, dass sie nicht da ist. Auch wenn er nicht mit dem Gesicht hier auf dem Teppich läge, sondern auf dem Linoleumboden eines Krankenhausflurs oder auf dem Betonboden der Zelle auf einer Polizeiwache – der Schmerz wäre immer derselbe.

Die Polizei. Isaac kann sich vage daran erinnern, dass er sich vorhin irgendwelche Sorgen wegen der Polizei gemacht hat. Er weiß auch noch, dass er Feuer gemacht hat. Obwohl es schon längst erloschen ist, kann er noch immer das Knistern der Glut hören. Und obwohl es in dem Zimmer wieder so kalt ist wie zuvor, fühlt Isaac sich, eingehüllt in Anzug, Teppichboden und Decke, als würde er am Spieß gebraten. Warum hat er Feuer gemacht? Unwillkürlich kommt ihm der große Ofen in den Sinn, das Krematorium. Da ist sie wieder. Mary ist tot, wie kann er da an etwas anderes denken? Er windet sich, zieht eine Hand unter der Decke hervor und beißt sich in einen schmutzverkrusteten Knöchel. Wie er so auf dem Boden seines Wohnzimmers liegt, weinend, bibbernd und in der Erwartung, dass ihn jemand aus seinem Elend herausholt, sieht er wahrscheinlich aus wie ein Wildtier, das in eine Falle gegangen ist. Jedenfalls hört er sich so an. Er hat die Augen geschlossen, schabt mit dem Gesicht über den Teppich und macht dabei das Geräusch, das er jetzt immer macht, wenn er aufwacht. Jedenfalls soweit er sich erinnern kann. Es ist ein entsetzliches, ersticktes Geräusch, so ähnlich wie das, das er auf der Brücke von sich gegeben hat. Es beginnt ebenfalls mit einem Schluchzen, klein und bemitleidenswert, und schwillt dann zu einem lautstarken Klagelaut an, grauenhaft, grässlich und Gänsehaut auslösend. Der Schrei eines Mannes, der alles verloren hat, der vollkommen allein ist. Deshalb ist es umso überraschender, dass jetzt etwas zurückschreit.