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Islam I E-Book

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Beschreibung

Der Islam ist heute mit ca. 1,8 Milliarden Gläubigen eine lebendige, schnell wachsende Glaubensgemeinschaft. Der erste Band der dreiteiligen Darstellung des Islam in der Reihe "Die Religionen der Menschheit" beschreibt die Entstehung des Islam, die Wirkung des Propheten Muhammad, den Koran sowie seine komplexe Verflechtung mit der Bibel und die Ausdehnung des Islam zu einer weltweit verbreiteten Religion. In weiteren Kapiteln werden die Herausbildung und Eigenheiten verschiedener Konfessionen kenntnisreich und verständlich dargestellt. Abschließend werden die wichtigsten islamischen Dynastien vorgestellt und ihre Bedeutung für den Islam ebenso wie für ihre nicht-muslimische Umgebung erklärt.

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Die Religionen der Menschheit

Begründet vonChristel Matthias Schröder

Fortgeführt und herausgegeben vonPeter Antes, Manfred Hutter, Jörg Rüpke und Bettina Schmidt

Band 25,1

Koran-Manuskript, Kaschmir 18. Jhd., (in Privatbesitz, London) Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:QUR%27AN_2981.jpg

Georges Tamer (Hrsg.)

Islam I

Entstehung, Konfessionen, Dynastien

W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034018-3

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-034019-0

epub: ISBN 978-3-17-034020-6

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Der Islam ist heute mit ca. 1,8 Milliarden Gläubigen eine lebendige, schnell wachsende Glaubensgemeinschaft. Der erste Band der dreiteiligen Darstellung des Islam in der Reihe »Die Religionen der Menschheit« beschreibt die Entstehung des Islam, die Wirkung des Propheten Muhammad, den Koran sowie seine komplexe Verflechtung mit der Bibel und die Ausdehnung des Islam zu einer weltweit verbreiteten Religion. In weiteren Kapiteln werden die Herausbildung und Eigenheiten verschiedener Konfessionen kenntnisreich und verständlich dargestellt. Abschließend werden die wichtigsten islamischen Dynastien vorgestellt und ihre Bedeutung für den Islam ebenso wie für ihre nicht-muslimische Umgebung erklärt.

Prof. Dr. Georges Tamer bekleidet den Lehrstuhl für Orientalische Philologie und Islamwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Inhalt

Vorwort

Zeittafel

I  Anfänge und Grundlagen

Das vorislamische Arabien

Gerald Hawting (übers. von Thomas Hildebrandt)

1  Einleitung

1.1  Die Vorstellung vom vorislamischen Arabien

1.2  Das vorislamische Arabien und die

2  Das vorislamische Arabien in der muslimischen Überlieferung: die

2.1  Die Dichtung der

2.2  Monotheismus während der ?

2.3  Die : Theologisches Konstrukt oder historische Realität?

3  Das vorislamische Arabien außerhalb der muslimischen Überlieferung

3.1  Der Jemen

3.2  Ġassān und al-Ḥīra

3.3  Das Judentum im nördlichen Hedschas

4  Das vorislamische Arabien, die und die Entstehung des Islams

Literatur zum Weiterlesen

Muhammad

Georges Tamer

1  Das Problem der Quellen

2  Zum Namen Muhammad

3  Zum politischen und religiösen Kontext Muhammads

4  Geburt und Leben vor der Sendung

5  Beginn der prophetischen Sendung ()

6  In Medina

7  Muhammad im Koran

8  Überblick über die westliche Muhammad-Forschung seit den 1950er Jahren

8.1  Historisch-kritischer Umgang mit den Quellen

8.2  Die revisionistische Wende und die Frage nach Muhammads historischer Existenz

8.3  Apologetisch-belletristische Darstellungen

8.4  Forschung zur Überlieferung

8.5  Koranzentrierte Deutungen

9  Fazit

Literatur zum Weiterlesen

Der Koran

Georges Tamer

1  Terminologische Erläuterungen, Genese und Struktur

2  Der Koran und die biblische Tradition

3  Ein arabischer Koran

4  Diskursive Polyphonie

5  Dynamische Diskursivität der koranischen Verkündigung

5.1  Die frühmekkanischen Suren

5.2  Die mittelmekkanischen Suren

5.3  Die spätmekkanischen Suren

5.4  Die medinensischen Suren

6  Die Koranexegese ()

6.1  Begriffsgeschichte und Kategorisierung

6.2  Die formative Phase (bis Ende des 9. Jh.)

6.3  Die klassische Phase (ca. Ende des 9. bis Anfang des 11. Jh.)

6.4  Die post-klassische Phase (ca. 11. bis 20. Jh.)

6.5  Die moderne Phase (ab dem 20. Jh.)

Empfohlene Deutsche Übersetzungen

Literatur zum Weiterlesen

Das Hadith

Andreas Görke

1  Einführung

2  Umfang und Inhalt

3  Ursprünge und frühe Entwicklung des Hadith

4  Die Hadithliteratur

5  Die muslimische Hadithkritik

6  Hadith in der islamwissenschaftlichen Forschung

Literatur zum Weiterlesen

Islamisierung

Lutz Berger

1  Was heißt Islamisierung?

2  Die Islamisierung der Arabischen Halbinsel im 7. Jh.

3  Politische Islamisierung: Die Eroberungen

4  Bekehrung zum Islam: Dynamiken und Motive

5  Reaktionen/Folgen

Literatur zum Weiterlesen

II  Konfessionen

Sunniten

Patrick Franke

1   und als Schlüsselbegriffe eines antisektarischen Ideals

2   als Selbstbezeichnung verschiedener islamischer Strömungen

3  Die Entwicklung pluralistischer Konzepte des Sunnitentums

4  Das Fortwirken des reziproken Exklusivismus

5  Schluss

Literatur zum Weiterlesen

Schiiten (12er, 7er und Zaiditen, ʿAlawiten)

Heinz Halm

1  Einleitung

2  Die Zaiditen

3  Die Imamiten oder »Zwölfer«

3.1  Die formative Phase

3.2  Der zwölfte, »verborgene« Imam

3.3  Die Entstehung der schiitischen Literatur

3.4  Die Schule von al-Ḥilla

3.5  Die Schiitisierung Irans

3.6  Die Mollas und der Schah: Qadjaren und Pahlavī

3.7  Imame und Mollas: Die schiitische Hierarchie

3.7.1  Die »Vierzehn Unfehlbaren«

3.7.2  Die Fehlbaren: die geistliche Hierarchie

3.8  Feste und Riten

4  Die Nuṣairier oder ʿAlawiten

4.1  Name und Ursprung

4.2  Lehre

4.3  Neuere Entwicklungen

5  Die Ismailiten

5.1  Ursprünge

5.2  Die Imame der Ismailiten

5.3  Die Lehre

5.4  Die Nizariten (Hodschas)

5.5  Die Ṭayyibiten (Bohras)

Literatur zum Weiterlesen

Charidschiten und Ibaditen

Abdel-Hakim Ourghi

1  Einführung

2  Historische Genese der Charidschiten

3  ʿAbdallāh ibn Ibāḍ: eine historisch umstrittene Figur

4  Der nicht anerkannte Begründer

5  Einige theologische Grundsätze der Ibaditen

Literatur zum Weiterlesen

Anatolische Aleviten

Robert Langer

1  Einführung

2  Verbreitung und Demografie im 20. und 21. Jahrhundert

3  Neuzeitliche Sozialstruktur

4  Religiöse Praxis

5  Religions- und sozialgeschichtliche Entwicklungen bis zum frühen 16. Jahrhundert

6  Ab dem frühen 16. Jahrhundert bis zum Ende des Osmanischen Reiches

7  Alevitentum seit der Gründung der Republik Türkei

Literatur zum Weiterlesen

III  Dynastien und Reiche

Umayyaden bis Seldschuken

Anna Ayşe Akasoy

1  Einleitung: Staat und Geschichte

2  Die Umayyaden

3  Die Abbasiden

4  Bujiden

5  Umayyaden der Iberischen Halbinsel

6  Die Ṭāʾifareiche

7  Die Almoraviden

8  Die Almohaden

9  Die Spätzeit der muslimischen Herrschaft in Andalusien

10  Neuerstarkung des Sunnitentums und Aufkommen der Seldschuken

Literatur zum Weiterlesen

Ayyubiden, Kreuzzüge und Kulturtransfer mit Europa – die islamische Welt im zwölften und dreizehnten Jahrhundert

Daniel Potthast

1  Einleitung

2  Einführung in die Forschungsprobleme

3  Ausgangslage

4  Die historische Entwicklung

5  Das Bild der lateinischen Christen

6  Lateinisch-arabische Hybridkultur

7  Die Bedeutung der Kreuzfahrerzeit für die Entwicklung der islamischen Welt

Literatur zum Weiterlesen

Die Fatimiden

Verena Klemm

1  Einleitung: Ein schiitisch-ismailitisches Kalifat

2  Quellen und Forschung

3  Ereignisse und Wendepunkte: Historischer Überblick

3.1  Anfänge und Aufbau des Staates

3.2  Die Fatimiden in Ägypten

3.3  Entmachtung des Imam-Kalifats und Ende der Dynastie

4  Die fatimidische Mission ()

5  Philosophen und Theologen

6  Religionspolitik

6.1  Sunniten

6.2  »Schriftbesitzer« (): Christen und Juden

7  Al-Ḥākim

8  Religiöse Institutionen. Produktion und Vermittlung von Wissen

8.1  Debatten ()

8.2  »Sitzungen der Weisheit« ()

8.3  Die Azhar-Moschee

8.4  Das »Haus des Wissens« ()

8.5  Bibliotheken

Literatur zum Weiterlesen

Das Mamlukensultanat

Stephan Conermann

1  Die Pest

2  Die Mamluken

2.1  Die Mamluken und das Nachfolgeproblem

3  Religion

3.1  Kopten und Juden

4  Sufismus

5  Recht

6  Kultur

7  Tscherkessenzeit

8  Die Armee

8.1  Das -System

9  Wirtschaft und Handel

10  Konsequenzen von Epidemien

11  Entmamlukisierung und Verwandlung von Lehen in Stiftungen

12  Stressfaktoren

Die Safawiden

Colin P. Mitchell (übers. von Thomas Hildebrandt)

Primärquellen

Sekundärliteratur

Literatur zum Weiterlesen

Die Osmanen

Christoph Herzog

1  Zur Periodisierung der osmanischen Geschichte

2  Die osmanische Frühzeit und die Ġāzī-These

3  Eroberung und Konsolidierung: Streitkräfte und Stiftungen

4  Das Millet-System

5  Scharia, Ḳānūn und Tradition

6  Sufismus und Ṭarīḳāt

7  »Triumph des Fanatismus« oder Konfessionalisierung?

8  Das längste Jahrhundert des Osmanischen Reiches

Literatur zum Weiterlesen

Index

Personen

Stichworte

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

Mehr als vierzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes zum Islam in der Reihe »Die Religionen der Menschheit« erscheint der vorliegende Band, der erste in einer neuen Trilogie zu dieser Weltreligion. Er ist neben grundlegenden Themenfeldern des Islams seinem Entstehungskontext, seiner frühen Ausbreitung sowie seinen wichtigsten Religionsgruppen und Dynastien von Beginn an bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts hinein gewidmet.

Im Vorwort des vor über dreißig Jahren vorgelegten dritten Bandes des Werkes vergleicht Annemarie Schimmel die Vielfalt im Band mit einem »Spiegelkabinett, nicht nur des Islams, sondern auch der Islamkundler, deren jeder, auf seine oder auf ihre Weise sich dem Phänomen Islam nähernd, versucht, ein der Wirklichkeit einigermaßen entsprechendes Bild zu bieten«.1 Das neue dreibändige Werk übertrifft seinen Vorgänger in der Vielfalt der Reflektionen über die verschiedenen Facetten, historischen Entwicklungen und geistigen Räume des Islam als Religion und prägende Kraft für Politik und Kultur.

An der Stelle lohnt es sich, kurz anzuhalten, um hervorzuheben, dass die Vielfalt den Islam von Beginn an kennzeichnet. Nicht dass der Islam vielfältiger wäre als andere Weltreligionen wie beispielsweise das Christentum. Es ist aber meistens der Blick von Muslimen und Nichtmuslimen auf diese Religion und die Gemeinschaft der Muslime, die umma, der die Wahrnehmung dieser Vielfalt verhindert oder bestenfalls verzerrt, indem er den Islam als einen quasi monolithischen, einseitig zu betrachtenden Block begreift. Diese ignorante Vereinfachung – wenn auch jeweils aus einem anderen Blickwinkel betrachtet – findet sich gleichermaßen bei radikalen, fundamentalistisch ausgerichteten Muslimen wie auch bei pauschalisierenden Islamkritikern und Islamophoben. Ihnen muss entgegengehalten werden, dass die Vielfalt ein prägendes Merkmal des Islam seit seiner Entstehung ist. Der Koran, der dem Islam zugrunde liegt, ist das beste Beispiel dafür. Für Muslime ist er die geoffenbarte wörtliche Rede Gottes. Ein signifikantes Zeichen der Vielfalt im Koran besteht allerdings darin, dass die göttliche Stimme des koranischen Sprechers zahlreiche andere Stimmen von Geistern und Menschen umfasst, die in der Vergangenheit und der Gegenwart der Verkündigung wirkten sowie künftige Ereignisse als bereits vollzogen vorwegnehmen. Die Vielfalt prägt ebenfalls die arabische Sprache des Korans, wie es sich nicht zuletzt darin zeigt, dass manch ein Wort mehrere Lesarten zulässt, ein Phänomen, das zwar mit der Funktion der Diakritika im Arabischen zusammenhängt, dennoch später um die theologische Deutung erweitert wird, dass aufgrund ihrer Fülle und Unbegrenztheit die Offenbarung Gottes unterschiedlich gelesen und verstanden werden kann.

Dass die Vielfalt zum Islam als Religion und Religionsgemeinschaft wesentlich gehört, ist historisch hauptsächlich darin begründet, dass sich seine Genese und Weiterentwicklung wesentlich im Diskurs mit anderen Religionen vollzogen: mit dem Judentum, Christentum, Heidentum und Zoroastrismus und den von ihnen geprägten Gesellschaften, Zivilisationen und Kulturen. Dies lässt sich wiederum am Koran deutlich präsentieren: im dynamischen Diskurs mit früheren Schriften und mündlichen Überlieferungen wird ein neues Korpus gebildet, das zwar viele bekannte Teile umfasst, die allerdings derart hermeneutisch behandelt werden, dass sie ein neues heterogenes Gefüge werden, dessen Gleiches es vorher nicht gab. Ältere inhaltliche Elemente, überlieferte Motive und geläufige Narrativen werden zu einer Schrift zusammengefügt, die anfänglich mündlich übertragen wurde, was sicherlich ebenso zur Diversität seiner Wahrnehmung bei den ersten Rezipienten beitrug. Die inhaltliche Vielfältigkeit des Korans rührt letztendlich daraus, dass er ein Werk der Hermeneutik biblischer, postbiblischer und paganer Traditionen im spätantiken Arabien ist, das Teil eines umfangreichen, religiös und kulturell heterogenen Kontexts war, der auch das Oströmische Reich und Persien umfasste. Ebenfalls die koranexegetische Literatur ist von der Vielfalt der Interpretationen von Einzelstellen durchdrungen. Des Weiteren dürfte keine Gattung islamischer Traditionen das Korpus der Muhammad zugeschriebenen Überlieferungen (Hadith) in der Diversität übertreffen. Sowohl die Theologie wie auch das Recht sind im Islam fernerhin von der Vielfalt der Schulen, Meinungen und Richtungen geprägt. Auch die von den Muslimen gegründeten Staaten inkl. des Osmanischen Reichs waren multiethnisch, mehrsprachlich, in jeder Hinsicht von der Vielfalt gekennzeichnet.

Vor dem Hintergrund der Verschiedenheit der auf den Islam bezogenen Forschungsfelder ist es ein Gebot der wissenschaftlichen Differenzierung, die verschiedenen damit zusammenhängenden Themen aus unterschiedlichen Seiten unter Heranziehung des Fachwissens von Experten zu beleuchten. Die neuen drei Bände zum Islam sind diesem Prinzip verpflichtet. Im vollen Bewusstsein der Verantwortung der Wissenschaft, argumentativ unhaltbare Meinungen auf allen Seiten durch Wissen zu ersetzen und unablässig danach zu streben, die Wirklichkeit so gut wie möglich zu erkennen und zu begreifen, stellen sich die in diesem Werk beteiligten Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftler den Herausforderungen, die die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Islam samt seinen historischen und aktuellen, religiösen, politischen und geistigen Erscheinungsformen mit sich bringt und bemühen sich, von ihrem Gegenstand jeweils ein differenziertes Bild abzugeben.

So wird in den neuen drei Bänden zum Islam eine Vielfalt von Themen unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands behandelt. Im vorliegenden Band werden die sakralen Quellen des Islams und der arabische Kontext seiner Genese sowie seine Ausbreitung und wichtigsten Konfessionen und historischen Dynastien behandelt. Im zweiten Band werden Einzugsgebiete von Muslimen in Afrika und Asien thematisiert, Lebensformen, Alltagspraktiken und der Sufismus behandelt sowie vom Islam geprägte Kunst- und Wissensgebiete besprochen. Der dritte Band beschäftigt sich mit Fragen, die eher den Islam und das Leben der Muslime in der Moderne betreffen. Darunter fallen die Existenz von muslimischen Minderheiten in pluralen Gesellschaften, die interkulturelle Vielfalt, die Rückbesinnung auf die Figur des Propheten, moderne philosophische Themen, gegenwärtige Orte der islamischen Theologie sowie der Dschihad und der interreligiöse Dialog. Dem ersten Band ist eine umfangreiche Zeittafel vorangestellt, die die wichtigsten, in den drei Bänden erwähnten Persönlichkeiten und Ereignissen umfasst.

Zur Erleichterung der Lektüre folgen die Zeitangaben in allen drei Bänden der hierzulande verwendeten Zeitrechnung nach Christus. Orientalische Namen, Orte und Begriffe werden nach der Umschrift der DMG geschrieben, insofern sie nicht eingedeutscht sind und im Duden stehen. Wenn dies der Fall ist, werden die geläufigen Formen benutzt, ebenfalls um die Lektüre zu erleichtern. Am Ende jedes Kapitels steht eine Liste weiterführender Literatur zur Vertiefung des Untersuchungsgegenstands.

Zum Schluss möchte ich den Autorinnen und Autoren der Kapitel dieses Bandes für die gute Zusammenarbeit im Laufe der letzten Jahre und Monate danken. Führte die COVID-19-Pandemie dazu, dass sich die Fertigstellung einiger Beiträge erheblich verzögerte, so ist nun die Erleichterung um so größer, dass das Werk endlich erscheinen kann. Bei der Vorbereitung des vorliegenden Bandes haben mich Herr Ramy Abdin, MA, Frau Dr. Cleophea Ferrari, Frau Jarmila Geisler, MA, Frau Ariadne Papageorgiou, MA, sowie die studentischen Hilfskräfte Felix Gunsenheimer, Andreas Knöll, Yaaqub Kutterer und Maksim Zhabko unterstützt, wofür ich mich bei ihnen allen bedanke. Mein besonderer Dank gilt Herrn Gunsenheimer für die Unterstützung bei der Vorbereitung des Überblicks über die Koranforschung und die Forschungen zu Muhammad, ebenso wie Herrn Knöll für die Vorbereitung der Zeittafel.

Mein Dank gebührt schließlich dem Verlag Kohlhammer, besonders Herrn Dr. Sebastian Weigert und Herrn Daniel Wünsch für die stets freundliche und kompetente Betreuung des Projekts.

Erlangen im Mai 2022

Georges Tamer

Zeittafel

AnfängeBeginn der koranischen Verkündigung610Hiǧra (Emigration Muhammads nach Medina; Beginn der islamischen Zeitrechnung)622Tod Muhammads632Kalifat Abū Bakrs632–44Kalifat ʿUṯmāns644–56Kalifat ʿAlīs; Erster Bürgerkrieg (fitna)656–61Schlacht von Ṣiffīn657Tod ʿAbdallah ibn Wahbs (Anführer und Kalif der Ḫāriǧiten)658Politische und historische ­EreignisseGeistesgeschichtliche Entwick­lungen und PersönlichkeitenKalifat der Umayyaden661–750Regierung Muʿāwiya ibn Abī Ṣufyāns (Begründer des Umayyadenkalifats)661–80Gründung Kairouans durch ʿUqba ibn Nāfiʿ, Eroberung Nordafrikas663Zweiter Bürgerkrieg (fitna)680–92Tod Ḥusains (geb. 626) in der Schlacht von Kerbela (10. Muḥarram)680ʿUqba ibn Nāfiʿ erreicht das äußerste Atlantikuferca. 682Regierung des Umayyadenkalifen ʿAbd al-Malik685–705Bau des Felsendoms;Kanzleireform ʿAbd al-Maliks; Tod des »Gegenkalifen« ʿAbdallah ibn az-Zubair in der umayyadischen Eroberung Mekkas692ca. 700Tod Muḥammad ibn al-Ḥanafīyas (geb. ca. 637)um 705Tod ʿAbdallah ibn Ibāḍs (hist. umstrittene Gründerfigur der Ibaditen)Beginn der Eroberung der iberischen Halbinsel durch Ṭāriq ibn Ziyād;Entsendung einer Armee in den indischen Ozean durch Muḥammad ibn al-Qāsim,Auftakt muslimischer Herrschaft in Südasien711Tod Ǧābir ibn Zaid al-Azadīs (geb. 642; Begründer der ibaditischen Rechtschule)728Tod al-Ḥasan al-Baṣrīs (geb. 642)740Tod Zaid ibn ʿAlīs (geb. 694/95; Gründerfigur der Zaiditen)748/49Tod Wāṣil ibn ʿAṭāʾs (Begründer der Muʿtazila)Kalifat der Abbasiden750–1258755Tod Ismāʿīl ibn Ǧaʿfars (geb. ca. 719; Gründerfigur der Ismailiten)Gründung Bagdads762Aufstand von Muḥammad an-Nafs az-Zakīya762–63765Tod Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiqs (geb. ca. 702, sechster Imam und Begründer der zwölferschiitischen Rechtsschule)767Tod Abū Ḥanīfas (geb. ca. 699; Begründer der Hanafiten);Tod Muqātil ibn Sulaimāns767/68Tod Muḥammad ibn Isḥāqs (geb. ca. 704)Regierung des Abbasidenkalifen Hārūn ar-Rašīd786–809Dynastie der Idrisiden (Fes)791–985795Tod Mālik ibn Anas (Begründer der Malikiten)796–806Tod Abū ʿAmr ibn Ḥabīb al-FarāhīdīsDynastie der Aghlabiden ­(Kairouan)800–909Bruderkrieg al-Amīn vs. al-Maʾmūn810–13Regierung des Abbasidenkalifen al-Maʾmūn813–33813: Tod von Warš (geb. 728)Dynastie der Samaniden (Transoxanien, Ostiran)820–1005820: Tod Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿīs (geb. 767; Begründer der Schafiiten)822Tod Muḥammad al-Wāqidīs (geb. 747/48)Emirat von Sizilien831–1091Zeit der Inquisition (miḥna)833–ca. 851833: Tod ʿAbd al-Malik ibn Hišāms845Tod Ibn Saʿds (geb. 784)855Tod Aḥmad ibn Ḥanbals (geb. 780; Begründer der Hanbaliten)Herrschaft der Tuluniden (Ägypten)868–905870Tod Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārīs (geb. 810)ca. 870Tod Abū Yaʿqūb al-Kindīs873Tod Ḥunain ibn Isḥāqs (geb. 808)873/74Tod al-Ḥasan al-ʿAskarīs (geb. 844); Beginn der ġaiba (Verborgenheit) des 12. Imams Muḥammad al-Mahdī875Tod Muslim ibn al-Ḥaǧǧāǧs (geb. 817/21)887Tod Abū ʿAbdallah ibn Māǧas (geb. 824/25)Wirken Ḥamdān Qarmaṭs (Begründer der Qarmaṭen)Ende 9. Jh.888: Tod Abū Dāwūd as-Siǧistānīs (geb. 817)892Tod Muḥammad ibn ʿĪsā at-Tirmiḏīs (geb. 825)896Tod Ibn ar-Rūmīs (geb. 836);Tod Sahl at-Tustarīs (geb. ca. 818)Anfänge einer afro-islamischen Swahili-Kultur10. Jh.Dynastie der Hamdaniden (Irak, Syrien)905–1004Herrschaft der Fatimiden (Nordafrika, später Ägypten, Syrien)909–1171Regierung ʿAbdallah al-Mahdīs (erster Fatimidenkalif)909–34910Tod Abū l-Qāsim al-Ǧunaids (geb. ca. 830)Herrschaft des andalusischen Umayyaden ʿAbd ar-Raḥmān III (ab 929 als »Kalif«)912–61915Tod Abū ʿAbd ar-Raḥmān an-Nasāʾīs (geb. 830)916Tod Abū ʿAlī al-Ǧubbāʾīs (geb. 849)923Tod Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭabarīs (geb. 839)925/35Tod Abū Bakr ar-Rāzīs (geb. 854)Umayyadenkalifat von Cordoba929–1031931Tod Abū l-Qāsim al-Balḫīs934Tod Abū Zaid al-Balḫīs (geb. ca. 850)Herrschaft der Iḫšīdiden (Ägypten)935–69936Tod Abū l-Ḥasan al-Ašʿarīs (geb. 873/74; Begründer der Ašʿariten)940Tod Abū Ǧaʿfar al-Kulainīs;941Tod Abū Manṣūr al-Māturīdīs (Begründer der Maturiden)Herrschaft der Buyiden (Irak, Iran)945–1055Regierung des Hamdanidenemirs Saif ad-Daulas945–67Regierung des Buyidenemirs ʿAḍud ad-Dawla949–8310. Jh.Epistel der Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ950Tod Abū Naṣr al-FārābīsDynastie der Qaraḫaniden (Transoxanien, östlich Syr Darja u. Xinjiang)960–1212Fatimidische Eroberung Ägyptens und Gründung Kairos (al-Qāhira)969970Gründung al-Azhars in Kairo974Tod des Qāḍī an-Nuʿmān (geb. 903; Begründer des ismailitischen Rechts)Herrschaft der Ghaznawiden (Afghanistan und Nordwest­indien)977–1186995Tod Ibn an-Nadīms (geb. ca. 936)Regierung des Fatimidenkalifen al-Ḥākim996–1021Regierung des Ghaznawidenherrschers Maḥmūd ibn Sebüktigin998–1030Herrschaft der Ghuriden (Afghanistan bis Nordindien)1011–12151021Tod ʿAbd ar-Raḥmān as-Sulamīs (geb. 937 oder 942)1035Tod Abū Isḥāq aṯ-ṮaʿlabīsRegierung des Fatimidenkalifen al-Mustanṣir1036–941037Tod Abū ʿAlī ibn Sīnās (geb. 980)Herrschaft der Seldschuken (West- u. Zentralasien)1055–94 Großseldschuken 1181–1307 Rum-Seldschuken1055–1307Regierung Toġril Beks (erster Seldschukensultan)1055–63Herrschaft der Almoraviden (Maghreb, al-Andalus)1056–11491058Tod Abū l-Ḥasan al-Māwardīs (geb. 973/74)Tod ʿAbdallah ibn Yāsīns (Begründer der Almoraviden)1059Kreuzzug von Barbastro, Auftakt der Reconquista1064Tod Abū Muḥammad ibn Ḥazms (geb. 994)1067Tod Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭūsīs (geb. 995)Schlacht bei Manzikert (Sieg der Seldschuken über die Byzantiner)10711072/74Tod Abū l-Qāsim al-Qušairīs (geb. 986)1085Tod Abū l-Maʿālī al-Ǧuwainīs (geb. 1028)Eroberung Alamūts durch Ḥasan ibn aṣ-Ṣabbāḥ, Auftakt der Assassinen10901092Tod Niẓām al-Mulks (geb. 1018; Gründer der Niẓāmīya-Madrasa in Bagdad 1066)Tod des fatimidischen Thron­folgers Nizār (Begründer der Nizariten)1094Kreuzzüge1095–12911111Tod Abū Ḥāmid al-Ġazālīs (geb. 1058)Regierung des großseldschukischen Sultans Sanǧar1118–57Dynastie der Zengiden (Nord­syrien, Nordirak)1127–13. Jhd.1130Tod Abū ʿAbdallah ibn Tūmarts (geb. ca. 1080)1144Tod Abū l-Qāsim az-Zamaḫšarīs (geb. 1075)Herrschaft der Almohaden (Maghreb, al-Andalus)1149–12691153Tod Tāǧ ad-Dīn aš-Šahrastānīs (geb. 1076) Herrschaft der Ayyubiden (Ägypten, Syrien)1171–1250Regierung Saladins (Begründer der Ayyubiden)1171–931176Tod Ibn ʿAsākirs (geb. 1105)1182Tod Aḥmad ar-Rifāʿīs (geb. 1106; Begründer der Rifāʿīya)1185Tod Abū Bakr Muḥammad ibn Ṭufails1191Tod Šihāb ad-Dīn as-Suhrawardīs (geb. 1154)Herrschaft der Māriniden (Marokko)1196–15491198Tod Abū l-Walīd ibn Rušds (geb. 1126)Ausbildung von Sultanaten in Südostasien, zunehmende Islamisierungab 13. Jh.Sultanat von Delhi (Nordindien)1206–15261209/10Tod Faḫr ad-Dīn ar-Rāzīs (geb. 1149)Tod Quṭb ad-Dīn Aibaks (geb. 1150; Begründer des Sultanats von Delhi)12101221Tod Naǧm ad-Dīn Kubrās (geb. 1145; Begründer der Kubrawīya)Herrschaft der Hafsiden (Tunesien)1229–15741233Tod Ibn al-Aṯīrs (geb. 1149)1234Tod Abū Ḥafṣ ʿUmar as-Suhrawardīs (geb. 1145; Begründer der Suhra­wardīya);Gründung der Mustanṣirīya-MadrasaZeit des Mali-Reichesca. 1235–1670Herrschaft der Abdalwadiden (Algerien)1236–1550Bābāʾī-Aufstand in Anatolien durch Baba İsḥāḳ und Baba İlyās1239/40Herrschaft der Mamluken (Ägypten, Syrien)1250–1382 kiptschakische Zeit1382–1517 tscherkessische Zeit1250–1517Herrschaft der Ilkhane (Irak, Iran)1256–1353Mongolische Eroberung Bagdads1258Tod Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilīs (geb. 1196; Begründer der Šāḏilīya)Regierung des Mamlukensultans Baibars1260–77Schlacht bei ʿAin Ǧālūt (Sieg der Mamluken über die Mongolen)1260ca. 1270Tod des Hacı Bektaş (geb. ca. 1210; Begründer der Bektaşiye)1273Tod Ǧalāl ad-Dīn Rūmīs (geb. 1207; Begründer Mawlawīya/Mevleviye)1274Tod Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsīs (geb. 1201)Herrschaft des Ilkhan Ġāzān (1292 zum Islam konvertiert)1295–1304Regierung des Mamlukensultans an-Nāṣir Muḥammad1310–411325Tod al-ʿAllāma al-Ḥillīs (geb. 1250)1328Tod Taqī d-Dīn Aḥmad ibn Taimīyas (geb. 1263)1334Tod Ṣafī d-Dīn Ardabilīs (geb. 1252/53; Begründer des Safawidenordens/ Kızılbaş)1348Tod Šams ad-Dīn Muḥammad aḏ-Ḏahabī (geb. 1274)1350Tod Ibn Qayyim al-Ǧauzīyas (geb. 1292)1369/77Tod Abū ʿAbdallah Muḥammad ibn Baṭṭūṭas (geb. 1304)Herrschaft der Timuriden (Zentral- und Südwestasien)1370–1507Herrschaft Timurs (Gründer der Timuriden)1370–14051373Tod Abū l-Fidāʾ ibn Kaṯīrs (geb. 1300)1389Tod Bahāʾ ad-Dīn Naqšbands (geb. 1318; Begründer der Naqšbandīya)1390Tod des Ḥāfeẓ (geb. 1315/25)Eroberung Delhis durch Timur13981406Tod Walī d-Dīn ibn Ḫaldūns (geb. 1332)1442Tod Taqī d-Dīn al-Maqrīzīs (geb. 1364)Osmanische Eroberung Konstantinopels durch Meḥmed II. (reg. 1444–46; 1451–81)1453Zeit des Songhaireiches (Westafrika)1464–1591Regierung Sunni ʿAlī Beris (eigentlicher Begründer des Songhaireiches)1464–92Abschluss der Reconquista in Spanien1492Herrschaft des Songhai-Herrschers Askiyā Muḥammad I. (Begründer der Askiyā-Dynastie)1493–1528Herrschaft der Safawiden (Persien)1501–1722Regierung Ismāʿīls (Begründer der Safawidendynastie)1501–241505Tod Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭīs (geb. 1445)Sultanat von Aceh (Nordsumatra)1511–1903Scherifenherrschaft in Marokko1511–1956Osmanisches Reich1517–1922Herrschaft des osmanischen Sultans Süleymān1520–66Schlacht in Panipat: Auftakt der Mogulherrschaft in Indien1526Mogulherrschaft (Indien)1526–1857Erste osmanische Belagerung Wiens1529Tod Ẓahīr ad-Dīn Bāburs (geb. 1483; Begründer des Mogulreichs)1530Regierung des Mogulherrschers Akbar I.1556–16051573Tod Meḥmed Birgevīs (geb. 1523)Regierung des Safawidenschahs ʿAbbās1587–16291588Tod des Architekten Sinan (geb. 1490)1624Tod Aḥmad Sirhindīs (geb. 1564; Begründer der Naqšbandīya Muǧaddidīya)1631Tod Mīr Dāmāds (geb. 1561)1635Tod Ḳāḍızāde Meḥmeds (geb. 1582; Begründer der Ḳāḍīzāde-Bewegung)1635/40Tod Mullā Ṣadrās (geb. 1571/72)1658Tod Kātib Çelebīs (geb. 1609)Zweite osmanische Belagerung Wiens1683Bündnis zwischen Muḥammad ibn Saʿūd und Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb1744Herrschaft der Qadjaren (Persien)1779–19241790Tod Murtaḍā az-Zabīdīs (geb. 1726)1792Tod Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhābs (geb. 1703; Begründer der Wahhabiten)Ägyptenfeldzug Napoleons1798–1801Regierung Muḥammad ʿAlī Pāšās in Ägypten1805–481815Tod Ahmad at-Tiǧānīs (geb. 1737; Begründer der Tiǧānīya)Tod ʿUṯmān dan Fodios (geb. 1754)1817Französische Eroberung Algeriens1830Osmanische Tanzimat (Edikte 1839 und 1856; Verfassung 1876)1857Indischer Aufstand, i. d. F. direkte britische Herrschaft über Indien18571859Tod Muḥammad ibn ʿAlī s-Sanūsīs (geb. 1787; Begründer der Sanūsīya)Fertigstellung des Suez-Kanal, Suez-Krise1869Aceh-Krieg vs. Niederlande1873–19031873: Tod Rifāʿa aṭ-Ṭahtāwīs (geb. 1801)Französische Annexion Tunesiens1881Tod ʿAbd al-Qādir al-Ǧazāʾirīs (geb. 1807)1883Tod Namık Kemals (geb. 1840), bedeutendster Vertreter der Jungosmanen18881890Tod Ṣiddīq Ḥasan Ḫāns (geb. 1832; Begründer der Ahl-i Ḥadīṯ-Bewegung, zusammen mit Sayyid Nāẓir Ḥusain, gest. 1902)1897Tod Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānīs (geb. 1838)1898Tod Sayyid Aḥmad Khans (geb. 1817)1905Tod Muḥammad ʿAbduhs (geb. 1849)1908Tod Mīrzā Ġulām Aḥmads (geb. 1835, Begründer der Ahmadīya Bewegung)1935Tod Rašīd Riḍās (geb. 1865)Tod Mustafa Kemal Atatürks (geb. 1881)1938Tod Muhammad Iqbals (geb. 1877)Tod Ḥasan al-Bannās (geb. 1906, Gründer der Muslimbruderschaft)19491960Tod Said Nursis (geb. 1878)1966Tod Sayyid Quṭbs (geb. 1906) Tod Ǧamāl ʿAbd an-Nāṣirs (geb. 1918)19701977Tod Ali Schariatis (geb. 1933)1979Tod Abū l-Aʿlā l-Maudūdīs (geb. 1903)Tod Reza Schah Pahlavis (geb. 1919)1980Tod Anwar as-Sādāts (geb. 1918)1981Tod (Ayatollah) Ruhollah Khomeinis (geb. 1902)1989Tod Ḥāfiẓ al-Assads (geb. 1930)2000Tod Ṣaddām Ḥusseins (geb. 1937)20062010Tod Naṣr Ḥāmid Abū Zaids (geb. 1943)Tod Usāma bin Lādins (geb. 1957)2011

I  Anfänge und Grundlagen

Das vorislamische Arabien

Gerald Hawting (übers. von Thomas Hildebrandt)

1  Einleitung

Laut der islamischen Tradition, wie sie in den unterschiedlichen Genres der islamischen Literatur überliefert wird, kam der Islam am Anfang des 7. Jahrhunderts n. Chr. in der Region des Hedschas im Westen Zentralarabiens auf. Obwohl viele Menschen den Islam für das Resultat eines nicht innerweltlich erklärbaren, göttlichen Eingriffs in die Menschheitsgeschichte halten, bieten die Überlieferung und andere Zeugnisse recht umfangreiche Informationen über die Umwelt, in der der Prophet Muhammad gelebt hat. Je nachdem, wie man diese Informationen bewertet, lässt sich der Islam in seinen Ursprüngen durchaus als Reaktion auf die historischen Umstände in Arabien verstehen, und aus diesem Grund beginnen die meisten Arbeiten zur Geschichte des Islams mit einer Darstellung des vorislamischen Arabiens.

Diese verbreitete Herangehensweise muss jedoch ebenfalls hinterfragt werden: Zum einen könnte sie die Geschichte des vorislamischen Arabiens verfälschen, da die meisten verfügbaren historischen Zeugnisse mit der Frage nach dem Aufkommen des Islams gar nicht direkt zusammenhängen. Wegen der weltgeschichtlichen Bedeutung des Islams ab dem 7. Jahrhundert läuft man jedoch Gefahr, das frühe Arabien auf diese Perspektive engzuführen. Der Preis dafür ist eine mögliche Verzerrung der Geschichte.

Wichtiger noch ist, dass ein solcher Einstieg mit einem Kapitel über Arabien vor dem Islam uns dazu verleiten kann, traditionelle muslimische Erzählungen über die Geschichte des Islams auf Kosten anderer Perspektiven zu übernehmen. Arabien und seine Bewohner haben im Bewusstsein der meisten Muslime einen besonderen Rang: Arabisch, die Sprache des Korans, hat den Status einer heiligen Sprache erlangt, und die Beduinen Arabiens den der Hüter dieser Sprache, die sie in ihrer reinsten Form benutzten; der Hedschas wurde zum heiligen Land des Islams, und die frühe Überlieferung berichtet von der Vertreibung aller Nicht-Muslime aus Arabien.

Das, was wir heute als den Islam kennen, bildete sich jedoch erst in den Ländern des Nahen Ostens und des Mittelmeerraums in den Jahrhunderten nach der Eroberung dieser Regionen durch arabische Kämpfer heraus. Da die traditionellen muslimischen Quellen in der Form, in der sie heute vorliegen, erst relativ spät entstanden sind, lässt sich nur schwer rekonstruieren, was den Islam beim Ableben seines Propheten, meistens auf 632 n. Chr. datiert, ausgemacht hat. Man mag zwar zu Recht sagen, dass das, was später zum Islam werden sollte, in Arabien begonnen hat, aber zu behaupten, dass der Islam eine arabische Religion oder ein Produkt ausschließlich von Arabien sei, ist fragwürdiger. Es kann sein, dass die traditionelle Sichtweise, die die Rolle Arabiens in den Vordergrund rückt, das Bedürfnis des entstehenden Islams widerspiegelt, sich eine Identität zu schaffen, die sich von der seiner monotheistischen Gegner unterschied. Mit dem vorislamischen Arabien einzusteigen, birgt also das Risiko, das Selbstverständnis des Islams zu bereitwillig zu akzeptieren und mit ihm die frühislamische Sicht auf das vorislamische Arabien.

1.1  Die Vorstellung vom vorislamischen Arabien

Auch der Ausdruck »vorislamisches Arabien« an sich ist zu hinterfragen. Der Name »Arabien« wurde zu unterschiedlichen Zeiten für verschiedene Regionen verwendet. Heute meint man damit in der Regel die Arabische Halbinsel (Ǧazīrat al-ʿarab: das Gebiet, in dem die Staaten Saudi-Arabien, der Jemen und die verschiedenen Golfstaaten liegen). Geografisch gesehen schließt die Halbinsel nördlich jedoch Teile des heutigen Jordaniens, Israels, Syriens und des Irak ein. In der Vergangenheit wurde »Arabien« (oder verwandte Begriffe wie das syrisch-aramäische beth ʿarbāyē), manchmal mit einem qualifizierenden Adjektiv, auf die Gebiete östlich und südöstlich von Palästina und des Jordans, auf Regionen in Mesopotamien, bis hin zu Teilen Ägyptens sowie den fruchtbaren Gebieten des Jemen und des Hadramaut im Süden der Halbinsel bezogen, und manchmal auch nur ganz allgemein und weniger klar definiert verwendet. Der Begriff »Arabien« hatte folglich unterschiedliche Referenzpuntke.

Einige der Bewohner dieser Regionen wurden von Außenstehenden häufig mit Begriffen wie »Araber« oder ähnlich bezeichnet. Im Koran ist aʿrāb ein Plural, der sich auf die Beduinen bezieht, die außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen und in ihrem Umfeld lebten, während das Adjektiv ʿarabī (»arabisch«) verwendet wird, um auf die Sprache der Offenbarung selbst zu verweisen.1 Zugleich wurde in der Spätantike eine Vielzahl von anderen Ausdrücken für in Arabien lebende Menschen gebraucht, z. B. scenitae (Zeltbewohner), saraceni/sarakenoi (Sarazenen, ein Wort, das in Etymologie und Bedeutung ungewiss ist) sowie ṭayyāyē (ein syrisch-aramäisches Wort, das womöglich mit dem Stammesverband der Ṭayyiʾ in Verbindung steht). Manchmal wurden sie auch Ismaeliten oder Hagarener genannt, was die im 6. Jahrhundert weitverbreitete biblische Vorstellung aufnimmt, dass sie Nachkommen des biblischen Ismael (arab.: Ismāʿīl) seien, der aus der Ehe Abrahams (arab.: Ibrāhīm) mit seiner Nebenfrau Hagar hervorging.

Während viele Bewohner Arabiens Hirtennomaden waren, gab es auch andere Formen des Wirtschaftens wie Handel und Landwirtschaft. Vor dem Islam sind unter diesen Bewohnern eine Reihe von Sprachen und Schriften belegt, es gab verschiedene Formen politischer und sozialer Organisation, und die Landschaft Arabiens bestand nicht nur aus Sandwüsten: In den südwestlichen Küstenregionen des Jemen sowie in einer Reihe von Oasen herrschten für die Landwirtschaft günstige Bedingungen, während viele der kargeren Regionen zu bestimmten Jahreszeiten als Weiden geeignet waren. Da der Großteil unserer Zeugnisse für die Araber vor dem Islam von Außenstehenden stammt – von den Herrschern, Verwaltungsbeamten und Literaten der mit ihnen in Kontakt stehenden Gebiete, sowie später von urbanen, arabischen und persischen muslimischen Gelehrten – ist nicht leicht auszumachen, wie sie sich selbst bezeichnet haben und ob es unter ihnen eine Vorstellung von Zusammengehörigkeit gab.

Vielfach wurde angenommen, dass die Bewohner der nördlichen und zentralen Gebiete der Halbinsel vor dem Islam ein Gefühl für ihre gemeinsame Identität als Araber entwickelt hatten, größtenteils auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Sprache und dichterischen Kultur. Die Herausbildung dieser Identität wird manchmal als einer der Gründe dargestellt, die zum Aufkommen des Islams und zu den Anfängen der Eroberungen außerhalb Arabiens geführt haben. Diese Sichtweise wurde aber jüngst vehement in Frage gestellt, und selbst diejenigen, die annehmen, dass es eine Art arabische Identität vor dem Islam gab, würden zustimmen, dass sie sich danach erheblich gewandelt haben muss.2

Zentral für jede Erörterung dieses Themas ist die Herausbildung der arabischen Sprache, über deren Charakter und Ursprung es unterschiedliche Theorien gibt (s. u., 2.1 Die Dichtung der ǧāhilīya). Zeitgenössische Zeugnisse für das Arabische vor dem Islam sind knapp und schwer zu interpretieren. Die frühesten Beispiele in arabischer Schrift, drei Inschriften von begrenztem Umfang und Inhalt, stammen aus dem südlichen Syrien im 6. Jahrhundert n. Chr. Aus der Zeit davor haben wir eine begrenzte Anzahl von Beispielen für eine Sprache, die oft als »frühes Arabisch« bezeichnet wird, aber in anderen Schriften geschrieben wurde, darunter z. B. diejenige Form des Aramäischen, die zur Niederschrift des Nabatäischen entwickelt wurde. Im Forschungsdiskurs hierzu geht es u. a. um die Frage, wie ein bestimmtes Schriftstück überhaupt als »Arabisch« identifiziert werden kann, zumal in den verwendeten Alphabeten oft nicht sicher ist, welches arabische Phonem genau gemeint ist.3

Das wohl berühmteste dieser frühen Beispiele des Arabischen in der nabatäisch-aramäischen Schrift, dessen sprachliche Identität jedoch manchmal in Frage gestellt wurde, ist der Epitaph einer Person, deren Name oft als »Imruʾ al-Qais, Sohn von ʿAmr« wiedergegeben wird, gefunden in an-Namāra in der syrischen Wüste und mit einem Datum versehen, das man in der Regel als gleichbedeutend mit 328 n. Chr. versteht. Abgesehen von der Sprache, in der sie verfasst wurde, ist diese Inschrift bemerkenswert, weil sie den Toten als König aller al-ʿarab beschreibt. Was heißt das? Häufig wurde dies als die Feststellung verstanden, dass Imruʾ al-Qais der König der Araber war, mit der Schlussfolgerung, dass es damals schon ein Volk gab, das sich als Araber bezeichnete. Mit Blick auf die grammatikalische Form des Wortes, das auf al-ʿarab folgt und dieses näher bestimmt, wird heute jedoch allgemein angenommen, dass sich dieser Begriff auf eine Region in Mesopotamien bezieht, über die der Verstorbene die Souveränität beanspruchte.4

Eine Inschrift an der antiken Stätte von Qaryat al-Fāw, rund 700 km südwestlich des heutigen Riad, wurde als ein Beispiel des Arabischen aus der Periode vor der christlichen Zeitrechnung vorgeschlagen, aber die sprachliche Identität der Inschrift wurde inzwischen in Frage gestellt.5 Heutige nationale Befindlichkeiten können die Interpretation der Funde in dieser Frage beeinflussen.

1.2  Das vorislamische Arabien und die ǧāhilīya

Wörter oder Ausdrücke, die dem Begriff »vorislamisches Arabien« entsprechen, kommen in traditionellen islamischen Texten nicht vor. Stattdessen wird allgemein der Begriff ǧāhilīya verwendet, um die Zeit in Arabien unmittelbar vor dem Aufstieg des Islams zu bezeichnen. Wörtlich verweist dieses Wort auf einen Zustand der Unwissenheit.6 Im islamischen Kontext bezieht es sich auf das Leben der Bewohner des Hedschas und der angrenzenden Regionen wie des Nadschd (der zentralen Region Arabiens östlich vom Hedschas) in den rund zwei Jahrhunderten vor Muhammad.

Während viele Ereignisse von außerhalb Arabiens in der muslimischen Überlieferung bekannt sind und erwähnt werden, befasst sich das Material über die ǧāhilīya im Allgemeinen eher mit der Frage der Vorgeschichte des Islams als umfassend damit, was in den Bereich des »vorislamischen Arabiens« fällt. So wird ein historisch bezeugter abessinischer Herrscher des Königreichs Ḥimyar im Jemen um die Mitte des 6. Jahrhunderts n. Chr., in der muslimischen Tradition als Abraha bekannt, hauptsächlich im Zusammenhang mit einem gescheiterten Zug gegen Mekka erwähnt; Traditionell wird Sure 105 (Der Elefant) oft als Hinweis auf dieses Ereignis verstanden. Zeugnisse über Abraha außerhalb der muslimischen Überlieferung weisen jedoch nicht auf einen direkten Angriff auf Mekka hin. Eine unter dem Namen »Murayghan 3« bekannte Inschrift zeigt, dass Abraha die Herrschaft über einen Großteil Nord- und Zentralarabiens beanspruchte, darunter auch Yaṯrib, das als der Ort der Aktivitäten Muhammads nach dessen Auswanderung (hiǧra) den Namen Medina erhielt, Mekka wird hier jedoch nicht erwähnt.7

Ein weiteres wichtiges Merkmal traditioneller Berichte über die ǧāhilīya ist, dass Ereignisse nur im Verhältnis zu anderen Ereignissen datiert werden: Y geschah fünf Jahre nach X. Hier fehlt also ein System zur absoluten Datierung ähnlich der Angabe von Jahreszahlen nach der Hidschra für die spätere Epoche. Solche Beobachtungen stärken ebenfalls den Eindruck, dass sich die islamische Überlieferung weniger mit der ǧāhilīya als historischer Realität, sondern als Folie und Kontrast für die Zeit des Islams befasst. Erst mit dem Erscheinen des Islams beginnt die »wahre« Geschichte und die Datierung von Ereignissen.

Die Zeugnisse für die ǧāhilīya unterscheiden sich in ihrer Art von denen zur Untersuchung der restlichen Arabischen Halbinsel vor dem Islam. Für letztere haben wir neben Belegen aus der zeitgenössischen Literatur verschiedener Völker des Nahen Ostens eine große Menge an archäologischen Zeugnissen: erhaltene Inschriften, Reste von Tempeln und weiteren Gebäuden sowie andere Artefakte. Der Großteil davon steht im Zusammenhang mit den Staatswesen und Kulturen, die sich an den Rändern der Halbinsel entwickelt hatten, besonders im Südwesten, der Region der heutigen Republik Jemen. Diese Mächte weiteten ihren Einfluss mitunter weit in das Landesinnere hinein aus, und so finden wir z. B. Inschriften von Herrschern des Jemen und ihrer Vertreter in Zentralarabien sowie die hellenisierte Kultur, die Archäologen in Qaryat al-Fāw entdeckt haben.

Die wichtigsten mit der Geburt des Islams verbundenen Zentren Mekka und Medina (Yaṯrib) wurden dagegen noch nie auf bedeutende Weise archäologisch untersucht. Einige Stätten, in denen dies geschah, wie etwa Madāʾin Ṣāliḥ (al-Ḥiǧr) und al-ʿUlā (Dedan) im Nordwesten Arabiens, bringen uns näher an das mit dem Aufstieg des Islams verbundene Gebiet heran und generell können die archäologischen Zeugnisse hierfür zweifellos auf sachdienliche Weise verwendet werden. Was die direkten und expliziten Zeugnisse angeht, lenkt das archäologische Material unseren Blick aber eher auf die Randgebiete Arabiens, nicht auf den Hedschas.

An unmittelbarem und aussagekräftigem Material hierzu sowie zum Aufkommen des Islams in Arabien haben wir v. a. die islamische Überlieferung selbst. Die uns erhaltenen Quellen dazu sind relativ jung, denn nur wenige Texte aus der islamischen Literatur können mit Sicherheit auf die Zeit vor 800 n. Chr. datiert werden, und doch bieten sie eine große Menge an Details über die ǧāhilīya. Anders als die eher neutralen archäologischen Zeugnisse bietet die muslimische Überlieferung jedoch Informationen, mit denen bereits ein erheblicher Teil an Interpretation und Bewertung einhergeht.

Wie diese zwei Hauptsorten von Zeugnissen, die Quellen aus der Archäologie und die aus der muslimischen Literatur, zusammenhängen, ist umstritten. Die frühen muslimischen Gelehrten und Autoren lebten in einer Welt, in der die Erinnerung an vorislamische Ereignisse noch lebendig war, wobei diese aber natürlich einer ständigen Umformulierung und Neubewertung unterlagen, obgleich die Überlieferung uns hier von Personen und Ereignissen berichtet, die auch in anderen Arten von Zeugnissen belegt sind. Der Umgang mit diesen Erinnerungen durch die muslimischen Gelehrten zeigt jedoch den Einfluss ihrer eigenen Gesellschaft und Religion. So fokussiert z. B. ihre Erzählung darüber, wie das Judentum zur vorherrschenden Religion im Jemen wurde, besonders auf die beiden islamischen Zentren Mekka und Yaṯrib sowie auf die Prognosen für den späteren Werdegang Muhammads.

2  Das vorislamische Arabien in der muslimischen Überlieferung: die ǧāhilīya8

Im Zentrum der traditionellen Berichte über die ǧāhilīya stehen die Vorfahren des Propheten Muhammad, der Stamm der Quraiš, sowie die von ihnen beherrschte Stadt Mekka. Diese war eine der wenigen größeren städtischen Siedlungen in einer Gegend, die v. a. von nomadischen und halbnomadischen Beduinenstämmen bewohnt wurde. Ein solcher Ort war auch aṭ-Ṭāʾif, rund 120 Kilometer im Südosten, während die zweite Stadt, die im Leben Muhammads eine wichtige Rolle spielte, die Oase Yaṯrib, bzw. Medina, wie sie später genannt wurde, rund 450 Kilometer nördlich von Mekka liegt. Aṭ-Ṭāʾif und Yaṯrib lagen beide in fruchtbarem Gebiet, Mekka jedoch nicht. Um Mekkas Lage in einer abgelegenen und unfruchtbaren Region zu erklären, haben Wissenschaftler oft auf zwei Umstände aufmerksam gemacht:

Erstens berichtet die Überlieferung von den Aktivitäten prominenter Quraišiten als reisende Händler, was viele Forscher dazu veranlasst hat, Mekka als Drehscheibe einer Reihe von Handelsrouten zu verstehen. Mekkas Wohlstand und die Bedeutung der Stadt wurden folglich der Fähigkeit der Quraiš zugeschrieben, den Handel an einem Punkt, an dem sich mehrere Handelsrouten kreuzten, zu kontrollieren. Obwohl Mekka ein städtisches Zentrum ist, glich seine Gesellschaft in vielerlei Hinsicht der der umliegenden Beduinen. Einige Forscher haben die Ansicht vertreten, dass die ethischen Normen der Stadt durch die wirtschaftlichen Veränderungen, die der Wohlstand mit sich brachte, unter Druck gerieten, was die Entstehung des Islams teilweise erkläre.9

Zweitens lesen wir, dass Mekkas Heiligtum, die Kaaba, von den meisten arabischen Stämmen verehrt wurde und Besucher aus ganz Arabien anzog, die Jahr für Jahr an dem religiösen und sozialen Ritual des Hadsch teilnahmen. In diesem Zusammenhang hatte sich in der Umgebung von Mekka eine Reihe von Marktorten gebildet, die den Wohlstand der Stadt mehrten. Laut der Überlieferung verdankt die Stadt Mekka ihre Existenz der Tatsache, dass sie die Kaaba beheimatet.

Muhammads Stammbaum wird über seinen Vorfahren Quṣaiy, der die Quraiš einst in Mekka ansiedelte, bis auf Abraham (Ibrāhīm) und dessen Sohn Ismael (Ismāʿīl) zurückgeführt. Bei den frühen muslimischen Gelehrten finden sich verschiedene Vorstellungen zur Genealogie der Bewohner Arabiens, sie teilen jedoch gemeinhin die Ansicht vieler vorislamischer Christen und Juden, dass die Araber Ismaeliten waren, also Nachkommen Abrahams über Ismael:

Abraham habe den Ort besucht, der später Mekka werden sollte, wo er auf Gottes Befehl die Kaaba errichtete, die Rituale des Hadsch festlegte und seinen Sohn Ismael zurückließ, der dort einheimische Frauen heiratete. Für einige Zeit seien Ismaels Nachkommen noch der Religion Abrahams gefolgt, dann jedoch allmählich dem Polytheismus und dem Götzendienst verfallen. Selbst die Kaaba sei davon betroffen gewesen. Wir erfahren die Namen mehrerer Götter und Götzen sowie der Orte, die mit deren Verehrung verbunden sind. Der Prophet Muhammad sei später ausgesandt worden, um diese fehlerhafte Religion auszumerzen und die wahre Religion Abrahams wiederherzustellen.

Der Überlieferung zufolge war die Erinnerung an Abraham jedoch nie ganz verloren gegangen. Die Heiden aus Mekka erinnerten sich noch an ihn und seinen Sohn, und in ganz Arabien wurde die Kaaba als wichtiger betrachtet als die vielen anderen Kultstätten, die entstanden waren. Trotz der Götzenbilder in ihr und um sie herum wurde die Kaaba weiterhin besonders mit der Verehrung von Allah in Verbindung gebracht, einer Gottheit, der man mit größerer Hochachtung begegnete als den vielen anderen Göttern neben ihr.

Darüber hinaus kennt die Überlieferung die sogenannten Hanifen (ḥunafāʾ, Sg.: ḥanīf), die den weitverbreiteten Polytheismus abgelehnt und den einen und wahren Gott verehrt hätten. Während von einigen berichtet wird, dass sie Christen geworden seien, heißt es von anderen, dass sie sowohl das Christentum als auch das Judentum ablehnten und an der Religion Abrahams festhielten, die sich besonders in der Kaaba-Verehrung manifestiert habe.

Die Überlieferung schwankt mitunter in ihrer Darstellung des Lebens der Mehrheit der Araber während der ǧāhilīya. Obwohl der Hauptantrieb darin liegt, den Islam als Korrektur der ǧāhilīya darzustellen, findet man manchmal auch Aussagen, die die Unterschiede minimieren. Positiv werden Sprache und Dichtung bewertet und mit Stolz darauf verwiesen, dass es Araber gewesen seien, zu denen Gott Muhammad gesandt hatte. Weiterhin konnten bestimmte Aspekte der traditionellen arabischen Moral, die man oft mit dem Wort murūʾa bzw. muruwwa (Mannhaftigkeit) in Verbindung bringt, positiv dargestellt werden. Dazu gehörten nicht nur die Tapferkeit im Kampf und die Treue gegenüber dem Stamm, sondern auch die Gastfreundschaft sowie der Schutz von Fremden und Schwachen.10

So wird zu Beginn eines Berichts über Ehe und Sexualmoral vor dem Islam Muhammad al-Kalbī (gest. 146/763) mit der Aussage zitiert, dass »die Araber während ihrer ǧāhilīya Dinge als verboten erachteten, die der Koran als verboten enthüllte«.11 Das Kitāb al-Muḥabbar von Ibn Ḥabīb (gest. 245/859–860) enthält einen kurzen Abschnitt mit der Überschrift: »Jene, die in der ǧāhilīya ein Urteil (ḥukm) getroffen haben, das mit denen des Islams übereinstimmt, und jene, die in der ǧāhilīya etwas getan haben, das Gott im Islam zu einer anerkannten Praxis (sunna) gemacht hat.«12

Dennoch: Mit Blick auf die Religion ist es der Vorwurf des Götzendiensts, der aus den Überlieferungen zur ǧāhilīya am meisten hervorsticht und in dessen Zusammenhang es zu vielen Missständen gekommen sei, so etwa zur Missachtung der o. g. Pflichten von Gastfreundschaft und Großmut.13 Ein weiteres Übel war die Gewalt, jene ständigen Kriege und Fehden zwischen den Stämmen, die von der lex talionis angetrieben wurden. Denn zu den Werten der muruwwa zählte auch die Beharrlichkeit in der Verfolgung von Blutfehden.

Weil es keinen Staat gab, waren die einzigen zur Verfügung stehenden Schlichter Wahrsager (kuhhān, Sg.: kāhin) oder als Richter (ḥākim) anerkannte Stammesgrößen. Ersteren wurde Aberglauben und Magie nachgesagt. Man war der Meinung, dass sie esoterisches Wissen besaßen, das von mit ihnen vertrauten Geistern (den ǧinn) überbracht wurde, die mitunter die Beratungen unter Gottes himmlischem Hofstaat mitbekamen. Die ǧinn übermittelten das, was sie gehört hatten, an die Wahrsager, die ihre Urteile und Prognosen in Form von Reimprosa vortrugen, dem sogenannten saǧʿ, einer Kunstform, die in der Forschung zum Vergleich mit weiten Teilen des Korans herangezogen wurde. Oft nutzten die Wahrsager auch divinatorische Methoden wie das Losziehen.14

Der Götzendienst wird in der Überlieferung auch häufig mit fehlender Sexualmoral und der Misshandlung von Frauen in Verbindung gebracht. So berichtet al-Kalbī von Witwen und geschiedenen Frauen (für die eine »Brautgabe«, oder besser: ein Brautpreis bezahlt worden war) und die dann an einen Sohn oder Bruder ihres früheren Mannes »vererbt« wurden, von sexuellen Beziehungen ohne Eheschluss sowie von unklaren Vaterschaften.15 Die Ermordung neugeborener Mädchen durch lebendiges Begraben (waʾd) ist ein weiteres herausragendes Merkmal überlieferter Berichte über die ǧāhilīya, was auch der Tatsache geschuldet ist, dass der Koran seine Zuhörer häufig dazu auffordert, ihre Kinder nicht zu töten: »Wenn du etwas über die Unwissenheit (ǧahl) der Araber wissen willst, dann rezitiere […] Gottes Worte: ›Den Verlust haben jene, die ihre Kinder aus Torheit und in Unwissenheit töten‹.«16

2.1  Die Dichtung der ǧāhilīya

Das eben gezeichnete traditionelle Bild der ǧāhilīya ist mitunter ambivalent. Eines der Elemente, die den negativen Faktor des Festhaltens der Araber am Götzendienst ausgleichen, ist ihr Besitz eines enormen Schatzes: eines Korpus an Dichtung, dessen Sprache von den muslimischen Gelehrten, gemeinsam mit der Sprache des Korans, als anderen Formen des Arabischen gegenüber überlegen eingestuft wurde.

Obwohl man das Arabische des Korans bald als vorzüglich und unnachahmlich ansah, wurde doch allgemein anerkannt, dass sich Verständnisprobleme unter Rückgriff auf die Verse der ǧāhilīya-Dichter lösen ließen. So wurde die Sprache der Dichtung neben jener des Korans als Vorbild für die reinste Form des Arabischen (al-ʿarabīya al-fuṣḥā) auf einen Sockel gestellt. In der Terminologie der akademischen Forschung macht beides zusammen den Großteil des Klassischen Arabisch aus.

Dieses Textkorpus besteht aus Gedichten und Fragmenten, die Dichtern wie Imruʾ al-Qais und Labīd ibn Rabīʿa zugeschrieben werden, die in der ǧāhilīya oder während des Übergangs zum Islam gelebt haben (letztere werden als muḫaḍramūn-Dichter bezeichnet). Einige von ihnen lebten als Beduinen, andere wie ʿAdī ibn Zaid standen mit den Höfen der Ǧafniden und der Naṣriden (s. u.) in Kontakt, wieder andere wie Umayya ibn Abī ṣ-Ṣalt, ein angeblicher Rivale Muhammads, der prophetengleiche Kräfte beansprucht haben soll, waren Stadtbewohner.

Ihre Gedichte sind aus schriftlichen Quellen bekannt, die ab dem späten 8. Jahrhundert verfasst wurden, sei es aus Anthologien, sei es aus Sammlungen überlieferter Werke (Sg.: dīwān) einzelner Dichter oder aus Zitaten in anderen Textgattungen wie der Koranexegese. Die berühmteste Sammlung wird als muʿallaqāt bezeichnet, ein Begriff, der meist damit erklärt wird, dass diese Gedichte während der ǧāhilīya an den Wänden der Kaaba aufgehängt (ʿulliqat) worden seien. Man nimmt allgemein an, dass diese Gedichte ungefähr während des Jahrhunderts vor der Entstehung des Islams verfasst wurden, meist mündlich überliefert, dann später von muslimischen Spezialisten wie Ḥammād ar-Rāwiya (gest. ca. 772) gesammelt und aufgeschrieben.

Für ihre traditionellen Formen (v. a. die qaṣīda), Metren (zuerst analysiert und kodifiziert von al-Ḫalīl, gest. ca. 790), typischen Themen, ihr umfangreiches Vokabular, das sich besonders auf die natürliche Umwelt der Beduinen bezieht, und ihre häufige Metonymie und Verwendung von Gleichnissen wurden die Gedichte von den frühen islamischen Gelehrten hoch geschätzt. Heute werden sie nicht nur von Arabern und Muslimen als eine der wichtigsten Leistungen der arabischen Literatur anerkannt.

Die akademische Forschung beschäftigt sich häufig mit Fragen der Authentizität, also ob einzelne Gedichte oder sogar das gesamte Korpus tatsächlich aus dem vorislamischen Arabien stammen oder erst in frühislamischer Zeit entstanden sind. Selbst die traditionellen Quellen erkennen an, dass man einigen der Überlieferer (ruwāt), wie Ḥammād, die selbst Dichter waren, nicht restlos vertrauen kann und sie sich Vorwürfe der Fälschung gefallen lassen müssen. Durch die Versstruktur der Gedichte ließen sich einzelne Verse leicht von einem Kontext in einen anderen verschieben, und manche der Gedichtzeilen treten mit abweichenden Lesarten und Zuschreibungen mehrfach auf. Die Dichter rufen zudem oft Gott (Allāh) an und beziehen sich kaum jemals auf die Götter oder Götzenbilder, die in den frühislamischen Berichten über die Religion zur Zeit der ǧāhilīya erwähnt werden.

Ein Aspekt der Frage der Authentizität der Gedichte ist die Form und die Sprache, in der sie verfasst sind. Wie wir gesehen haben, sind solide Zeugnisse für das Arabische vor dem Islam begrenzt und schwer zu interpretieren. Traditionell wird das Arabische der Gedichte und des Korans als usus loquendi der Araber vor dem Islam verstanden. Es sei dann von den Eroberern aus Arabien herausgetragen worden und habe in der Folge die verschiedenen heute bekannten arabischen Dialekte hervorgebracht, wobei es durch die Sprechgewohnheiten der eroberten Völker, die das Arabische als ihre Alltagssprache benutzten, modifiziert worden sei. Von arabistischer Seite wurde dieses Entwicklungsmodell oft als zu einfach kritisiert, denn es finden sich Hinweise auf die Existenz einer Vielfalt von Dialekten bereits im vorislamischen Arabien. Zudem wurde argumentiert, dass die Sprache, die sich in Koran und Dichtung findet, eine reine Schriftsprache sei, die sich zusätzlich von den gesprochenen Dialekten unterschied. Diese Sprache wird oft als poetische Verkehrssprache (Koine) bezeichnet, weshalb man annimmt, dass Muhammad sie wegen ihres hohen Ansehens und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten für den Koran übernahm. Das beantwortet aber nicht die Frage, wann und wie sie entstanden ist. Die meisten Forscher nehmen weiterhin an, dass sie im vorislamischen Arabien aufkam, aber die Hypothese, dass es sich bei ihr um eine bewusste Konstruktion handelt, lässt doch die Möglichkeit offen, dass sie zuerst für den Koran entwickelt worden ist. Dieser These zufolge müssten die Gedichte zumindest erheblich überarbeitet worden sein, um einem kurz vorher festgelegten sprachlichen Standard zu entsprechen.17

Wie es um die Authentizität des Korpus der vorislamischen arabischen Dichtung insgesamt auch bestellt war, so veränderten sich die Lebensumstände der Beduinen durch die Entstehung des Islams doch nur wenig und langsam, und aufgrund der stilisierten Natur der Dichtung sowie der Erfordernisse und kulturellen Ideale des aufkommenden Islams kann es sein, dass sie in der Zeit des frühen Islams weiterhin produziert und nachgeahmt wurde. Im Einzelfall mag es von Bedeutung sein, ein bestimmtes Gedicht als vorislamisch zu identifizieren, aber im Großen und Ganzen befassen sich die Forscher heute mehr mit der literarischen Analyse.18

2.2  Monotheismus während der ǧāhilīya?

Vielfach wurde angenommen, dass die Entstehung des Islams vor dem Hintergrund der ǧāhilīya, wie sie in der Überlieferung beschrieben wird, auf den Einfluss damals bestehender monotheistischer Tendenzen und Ideen auf Muhammad und seine Zeitgenossen im Mekka des frühen 7. Jahrhunderts zurückzuführen sei. Die alte heidnische und polytheistische Religion der Araber habe sich bereits auf dem Rückzug befunden, und der Monotheismus Muhammads im religiösen Bewusstsein vieler Menschen einen Nerv getroffen. Zwei verschiedene Sichtweisen, wie dies geschehen sein könnte, können dabei unterschieden, mitunter aber auch kombiniert werden.

Eine davon legt den Fokus auf innerarabische Entwicklungen und geht häufig einher mit einer evolutionistischen Sicht, der der Monotheismus im Gegenüber zum Polytheismus als eine weiter fortentwickelte Form des religiösen Glaubens gilt – gleich einem unweigerlichen Entwicklungsschritt aus einer primitiveren Phase, einhergehend mit zunehmender Komplexität von Gesellschaften. Eine Modifikation dieser Theorie besagt, dass die Araber zunächst eine eigene Form eines primitiven Monotheismus besaßen, der mit der Zeit zwar zurückging, aber nie ganz verschwand, und der in den Generationen vor Muhammad wieder zunahm.19

Auch die jüngste Arbeit von Aziz al-Azmeh sieht den Islam auf diese Weise als das Produkt von sozialen und religiösen Prozessen in Arabien und als weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen. Al-Azmeh, der lieber von Monolatrie als von Monotheismus spricht und dafür zum Vergleich anthropologisches, religiöses und historisches Material beizieht, argumentiert, dass Allah als der einzige Gott aus einer Vielzahl von Stammes- und lokalen Gottheiten hervorgegangen sei, als die Menschen im vorislamischen Arabien die Vorstellung einer gemeinsamen ethnischen Identität entwickelten. Der Einfluss anderer Monotheismen, des Judentums und des Christentums, sei überwiegend zweitrangig gewesen und erst maßgeblich geworden, nachdem der Ur-Islam des Propheten durch die Eroberungen aus Arabien herausgetragen worden war.20

Die andere Sichtweise betont gerade diese äußeren Einflüsse auf die Entstehung des Islams in Arabien. Sie stützt sich oft auf die als stark wahrgenommenen Ähnlichkeiten zwischen Vorstellungen, Erzählungen und Praktiken im Koran und dem frühen Islam und denen, die für bestimmte jüdische bzw. christliche Gruppen außerhalb Arabiens bezeugt sind. Man nimmt daher Kontakte Muhammads mit Vertretern der jeweiligen Gruppen an. So enthalten z. B. koranische Erzählungen über biblische Figuren wie Abraham und Moses häufig Details, die sich auch in den jüdischen oder christlichen Versionen dieser Geschichten finden.21 Es stellt sich in der Folge die Frage, wo, wann und wie solche Kontakte stattgefunden haben könnten.

Am klarsten berichtet die muslimische Überlieferung selbst von einer größeren jüdischen Gruppe, die zusammen mit noch heidnischen Arabern in der Stadt Yaṯrib gelebt habe und bietet noch weitere Informationen über Juden in anderen Siedlungen im Norden des Hedschas, sowie über die Verbreitung des Judentums unter einigen der Stämme, die später Muslime wurden. Die Herkunft und die ethnische Zusammensetzung der Juden von Yaṯrib sind ebenso unklar wie die Art ihres Judentums. Die muslimische Überlieferung ist unsere einzige Informationsquelle über sie. Epigraphische Zeugnisse gibt es allenfalls für die Anwesenheit von Juden zu einem früheren Zeitpunkt in weiter nördlich gelegenen Teilen des Hedschas (s. u.).22

Da sich Muhammad nach der Hidschra im Jahre 622 in Yaṯrib niederließ, betrachten mehrere Forscher die dortige jüdische Gemeinde der Stadt als einen wesentlichen Einflussfaktor auf die Entwicklung seiner religiösen Vorstellungen. Sie hätten ihm zunächst Vorbilder für seine Überzeugungen und rituelle Praktiken geliefert und dann, als sich seine Beziehung zu ihnen trübte, ihn dazu veranlasst, eine stärker arabische Form des Monotheismus zu entwickeln.23 Während für viele die betreffende Form des Judentums allgemein als rabbinisch identifiziert werden konnte, haben manche Forscher für einen aus rabbinischer Sicht eher heterodoxeren Typus wie Samaritaner oder eine Form von Judenchristentum plädiert. Weil uns die Überlieferung keinen Anlass gibt, die Existenz einer jüdischen Gemeinde auch in Mekka anzunehmen, bleibt die Annahme vom Einfluss des Judentums auf die Entstehung des Islams generell auf die Zeit nach der Hidschra beschränkt.24

Was das Christentum angeht, so sagen die traditionellen muslimischen Quellen nichts über eine Gemeinde in Mekka oder Yaṯrib, sie bestätigen jedoch, zusammen mit anderen Hinweisen, die Verbreitung des Christentums in Nord- und Südarabien (s. u.). Unter Verweis auf bestimmte Details in der Überlieferung haben manche Forscher dafür plädiert, dass das Christentum in Muhammads Umwelt wohl verbreiteter gewesen sein muss, als dies aus dem allgemeinen Tenor der Tradition hervorgeht. So gibt es z. B. Berichte über Treffen, die der junge Muhammad mit christlichen Mönchen, Predigern oder Einsiedlern hatte, während er auf Handelsreisen nach Syrien unterwegs war. Weiter wird berichtet, dass ein Vetter seiner Frau, Waraqa ibn Naufal, der als erster zur Überzeugung gelangte, dass Muhammad zum Propheten berufen worden sei, dem Christentum anhing. Interessanterweise gibt es sogar Hinweise auf ein Bild von Maria mit Jesus in der Kaaba. Manche haben solche Details dazu benutzt, um ihr Argument zu stützen, dass Muhammads Ideen vom Christentum beeinflusst wurden bzw. von diesem entlehnt waren.25 Günter Lüling vertrat sogar die These, dass in Mekka vor dem Islam eine christliche Gemeinde existierte und die Kaaba eine Kirche gewesen sei.26

Die Überlieferung erwähnt bisweilen auch andere Personen in Arabien neben Muhammad, die beanspruchten, Propheten zu sein, oder von anderen für solche gehalten wurden und vor bzw. um die Zeit Muhammads herum lebten. Natürlich werden die meisten von ihnen in der Überlieferung als falsche Propheten abgelehnt, obwohl ein bis zwei darunter als »echt« angesehen werden. Die Begriffe, die diese Berichte für das Wort »Prophet« verwenden, nabī und manchmal rasūl, sind dieselben, die im Islam auch für Muhammad selbst genutzt werden. Einige haben dies als einen Hinweis darauf gesehen, dass es in Arabien vor dem Islam prophetische Bewegungen gab, und daraus geschlussfolgert, dass Muhammad der erfolgreichste einer Reihe mehrerer arabischer Propheten gewesen sei. Dies würde sein Selbstverständnis als Prophet in der biblischen Tradition der Prophetie historisch verständlicher machen, und da man die Existenz dieses Typus von Prophetie nur in einer Gesellschaft erwarten kann, die mit der biblischen Tradition ausreichend vertraut ist, würde es auch dafür sprechen, dass es im vorislamischen Hedschas durchaus Kenntnisse der biblischen Religionen gab.27

Diese Versuche, den Aufstieg des Islams vor dem Hintergrund der ǧāhilīya verständlicher zu machen, indem man den Fokus entweder auf das Einwirken bereits bestehender Formen von Monotheismus auf Muhammad als Folge äußerer, nämlich jüdisch-christlicher Einflüsse legt, oder auf davon unabhängige monotheistische Züge und Tendenzen im vorislamischen Arabien, werfen gleichermaßen eine Reihe von Fragen auf. Die Frage nach der historischen Verwertbarkeit des überlieferten muslimischen Materials wird im nächsten Abschnitt (2.3) behandelt. Für die Einschätzung, dass äußere Einflüsse den traditionellen arabischen Polytheismus zerstört hätten, stellt sich das Problem der offensichtlichen Isolation des Hedschas. Reichen die Hinweise aus jenen anderen Teilen Arabiens, in denen Judentum und Christentum nachweislich etabliert waren, für den Schluss aus, dass auch der Hedschas nicht in der Weise vom kulturellen Austausch abgeschnitten war, wie es die muslimische Überlieferung besagt, besonders mit Blick auf die Stadt Mekka zur Zeit des Propheten? Auch dieses Thema wird weiter unten (3) erörtert.

Aus religionsgeschichtlicher Perspektive ist es sinnvoll, die Entstehung des Islams als eine Entwicklung aus früheren Überzeugungen und Ideen zu verstehen – als eine Entwicklung, die sich unter den Arabern selbst oder von außen, oder vielleicht auch aus beidem, ergab. Angesichts der Vertrautheit des Korans mit jüdischen und und christlichen Traditionen könnte man aber auch noch weiter gehen und sich den Islam als aus früheren Monotheismen entsprungen vorstellen, ähnlich der Entwicklung des rabbinischen Judentums und des Christentums aus dem Frühjudentum.28 Fraglich allerdings ist, ob unsere Zeugnisse für den Hedschas im vorislamischen Arabien ausreichen, um zu rekonstruieren, wie dies dort geschah.

2.3  Die ǧāhilīya: Theologisches Konstrukt oder historische Realität?

Die Erzählung über das vorislamische Arabien, die wir in muslimischen Berichten über die ǧāhilīya finden, bezieht sich durchaus auf historische Ereignisse und Figuren. Andere Züge darin – der Terminus selbst, die fehlende Chronologie und die Tatsache, dass die Intention unverkennbar ist, eine Bühne für die Ankunft des Islams zu bereiten – sprechen eher für ein aus kulturellen und religiösen Motiven entwickeltes Konstrukt. Die Ambivalenz des Bildes der ǧāhilīya, sein generell negativer Charakter bei gleichzeitiger Hochschätzung von Elementen, die einem muslimisch-arabischen Stolz in die Karten spielen, rühren vermutlich aus den vielen unterschiedlichen Impulsen, die allmählich zu der Entstehung dieses ambivalenten Bildes geführt haben.

Wenn dies der Fall ist, wie weit können wir dann die im überlieferten muslimischen Material berichteten Details und Erzählungen für die historische Rekonstruktion verwenden? In der Forschung wurden zu dieser Frage verschiedene Positionen bezogen. So hat sich Aziz al-Azmeh für den positiven Wert traditioneller Quellen ausgesprochen, solange diese kritisch interpretiert werden. Andere, einschließlich des Verfassers, haben eine minimalistischere Position bezogen und betont, dass dieses Erzählmaterial in seinen Ursprüngen oftmals eher verschiedenste Bedürfnisse des entstehenden Islams reflektiert: Auch wenn die jeweiligen Intentionen nicht immer sofort ins Auge springen, scheint doch deutlich, dass viele der Erzählungen und narrativen Details entstanden sind, um z. B. die Interpretation von Koranversen zu untermauern, um zu belegen, dass Muhammad in früheren Schriften bereits vorausgesagt worden sei, oder um umstrittene Rechtsurteile zu rechtfertigen u. v. m.29

Was den religiösen Aspekt betrifft, so dominiert die Kritik an Götzendienst und Polytheismus der heidnischen Araber das Bild der ǧāhilīya und steht somit in einem scharfen Kontrast zum unbedingten Monotheismus des Islams. Doch auch hierbei könnte es sich um eine Konstruktion in der Überlieferung handeln. Wenn die Araber während der ǧāhilīya tatsächlich im Wortsinne Polytheisten des »rohen« Typs waren, der in der Tradition beschrieben wird, müsste dies deutlichere Spuren hinterlassen haben, nicht zuletzt, weil der Koran, von dem traditionell angenommen wird, dass er zum Großteil in Mekka offenbart wurde, ein zutiefst monotheistisches Milieu zu reflektieren scheint. Jene, gegen die er polemisiert, bezeichnet er – mit Ausnahme der Juden und Christen – als mušrikūn, was zwar oft als »Götzendiener« verstanden wird, aber wörtlich in etwa »Beigeseller« meint, also jemanden, der Gott in seiner Verehrung ein anderes Wesen an die Seite stellt. Da Monotheisten anderen Monotheisten, die sie der Heterodoxie bezichtigten, häufig »Götzendienst« vorgeworfen haben, könnte man auch annehmen, dass der Koran, wenn er seine Gegner des širk bezichtigt, also der Beigesellung anderer Götter neben Gott, ein weiteres Beispiel für diese Art von Polemik unter widerstreitenden Monotheismen darstellt.30

Die Verbreitung und der Einfluss von Formen des Monotheismus im Nahen Osten und im Mittelmeerraum, wie sie sich in Zeugnissen außerhalb der muslimischen Überlieferung zeigen, stellen den angeblichen Polytheismus und den Götzendienst der koranischen Umwelt ebenfalls in Frage. Die religiöse Welt der Spätantike ist durch die Verbreitung von monotheistischen Denkweisen und Praktiken, sowie den zumindest öffentlichen Rückzug des in der klassischen Antike vorherrschenden Polytheismus gekennzeichnet. Im 4. Jahrhundert nahm das Oströmische Reich das Christentum als offizielle Religion an. In dieser Zeit formierte sich auch das rabbinische Judentum allmählich als Orthodoxie. Es gab bedeutende christliche und jüdische Gemeinden im Osten, im damalilgen Sassanidenreich auf dem Gebiet des heutigen Iran, wo der Zoroastrismus die Religion der Herrscher und der Elite bildete. Im heutigen Irak, wo sich in der Nähe des modernen Bagdad Seleukia-Ktesiphon, die Hauptstadt der Sassaniden befand, entwickelten sich die Akademien von Sura und Pumbedita als die Kraftzentren des rabbinischen Judentums. Angesichts dieser Verbreitung monotheistischer Religionen bezeichnete Aziz al-Azmeh das Arabien der ǧāhilīya als ein »heidnisches Reservat«.31 Aber war es das wirklich?

In den letzten Jahrzehnten hat das Studium archäologischer und epigraphischer Funde aus dem vorislamischen Arabien beträchtliche Fortschritte gemacht und ein Bild nahegelegt, das sich von dem der muslimischen Überlieferung deutlich unterscheidet. Daher können wir uns mit Christian Robin fragen, ob wir unsere Vorstellung von der ǧāhilīya nicht überdenken müssen.32

3  Das vorislamische Arabien außerhalb der muslimischen Überlieferung

Der Kontrast zwischen der ǧāhilīya der Überlieferung