Islam in der Krise - Dr. Michael Blume - E-Book

Islam in der Krise E-Book

Dr. Michael Blume

0,0

Beschreibung

Der Islam scheint selbstbewusst zu expandieren. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Religionswissenschaftler Michael Blume erklärt das Szenario als Symptom einer weltweiten tiefen Krise des Islams. Er zeigt: Es ist nicht einmal mehr klar, wie viele Muslime es tatsächlich noch gibt. Blume verweist auf massive Säkularisierungsprozesse in der islamischen Welt. Er benennt, was die einstige Hochkultur in Krisen und Kriege stürzen ließ. Die bis heute reichende Bildungskrise der islamischen Zivilisation wurde im 15. Jahrhundert eingeleitet. Faktisch werden viele arabisch-islamische Staaten nur am Leben erhalten durch den Ölverkauf, der demokratische Entwicklungen erstickt. Mangels einer schlüssigen Erklärung für den Niedergang übernehmen zahlreiche Muslime Verschwörungsmythen aus dem Westen und befördern damit weitere Akte terroristischer Gewalt. Das Buch bietet eine Chance, die Krise des Islams und die Konflikte zwischen den Kulturen besser zu verstehen und gemeinsam zu neuen Lösungswegen zu kommen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 232

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Blume

Islam in der Krise

Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug

Patmos Verlag

Inhalt

Stirbt der Islam?Einführung

1. Wie viele Muslime gibt es eigentlich noch?Das Phänomen des stillen Rückzugs

1.1 Mitgliedschaft und Religionsfreiheit in der islamischen Welt

1.2 Von Muslimen zu Ex-Muslimen – der stille Rückzug

1.3 Die Lähmung islamischer Institutionen durch den Mangel an Religionsfreiheit

2. Das falsche Verbot von 1485Wie der Islam erstarrte

2.1 Entstehung und Bildungsaufstieg des Islams

2.2 Das Schicksalsjahr 1485

2.3 In Europa: Buchdruck und Reformation

2.4 Der Niedergang der islamischen Bildung

2.5 Moscheegemeinden und Imame in der Lese- und ­Bildungskrise

2.6 Durchlebt der Islam gerade seine »digitale Reformation«?

3. Der Fluch des ÖlsWarum in der islamischen Welt so selten ­Demokratien gelingen

3.1 Saudi-Arabien und der Wahhabismus

3.2 Der Einfluss des schwarzen Giftes

3.3 Die Karbonblase der Hoffnung?

4. VerschwörungsglaubenDie dunkle Seite der Religiosität

4.1 Der Verschwörungsglaube als Krise des Monotheismus

4.2 Ist die islamische Religion erkrankt?

5. Geburtendschihad oder GeburtenknickReligiöse Demografie und die Traditionalismus- falle

5.1 Die demografische Traditionalismusfalle

5.2 Die demografische Krise der islamischen Welt

5.3 Vom Harem zur Hochschule – der Bildungsaufstieg ­islamischer Frauen

6. Was Muslime und Nichtmuslime tun können, um die Krise des Islams zu überwinden

Glossar

Der Autor

Anmerkungen

Textnachweis

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Stirbt der Islam?Einführung

»Schützt den Islam vor den Fanatikern, sonst müsst ihr die Welt vor dem Islam schützen.«Türkisches Sprichwort, das Mevlana Rumi (1207–1273) zugeschrieben wird

Im Februar 2015 trug eine Gruppe junger Menschen, Muslime und Nichtmuslime, einen in schwarzes Tuch gehüllten Sarg zum Düsseldorfer Rathaus. Auf dem Sarg stand geschrieben: »Der Islam wurde ermordet.« In einem symbolischen Gerichtsverfahren klagte sie »die Politik« an, die etwa durch »Waffenlieferungen an Saudi-Arabien« zu Unrecht und Gewalt im Namen des Islams beitrage. Angeklagt waren auch »die Medien«, deren Berichterstattung bevorzugt Extremisten und Terroristen behandle und diese dadurch bestärke. Als dritter Angeklagter diente »der Salafismus«, der im Namen des Islams Intoleranz und Mord stifte.1 Das durchaus verstörende Video ihrer künstlerischen Demonstration stellten die Aktivisten unter dem Titel »der islam ist tot« (in Großbuchstaben) auf YouTube.2

In einem islamisch geprägten Staat hätte eine solche Provokation den Aktionskünstlern sicher Ärger, vielleicht sogar harte Strafen eingetragen. Doch die Freiheiten unserer demokratischen Rechtsordnung erlaubten es auch ihnen, nicht nur das Islamverständnis von Mit-Muslimen herauszufordern, sondern auch das Islambild der Öffentlichkeit. Denn tatsächlich glauben ja viele Europäer, auch Menschen aus muslimischen Familien, der Islam sei eine bedrohlich starke und aggressiv wachsende Religion, Deutschland drohe eine »Islamisierung« und Europa werde zu »Eurabien«.3

Doch die gelebte Realität liegt tatsächlich näher bei der drastischen Darstellung der Künstler, wie dieses Buch zeigen wird:

Immer mehr Musliminnen und Muslime auf der ganzen Welt reduzieren in einem »stillen Rückzug« ihr religiöses Engagement, so dass nicht einmal mehr klar ist, wie viele Muslime es tatsächlich überhaupt noch gibt (Kapitel 1). Die islamische Welt, die so lange blühte und auch militärisch expandierte, hat ihre einstige Führungsrolle durch eine verhängnisvolle Fehlentscheidung verloren: Das Verbot des Buchdrucks von 1485 leitete die Erstarrung und die bis heute reichende Bildungskrise der islamischen Zivilisation ein (Kapitel 2). Faktisch werden zahlreiche gerade auch arabisch-islamische Staaten nur noch am Leben erhalten durch den Ölverkauf, der zu unguten Allianzen und Einmischungen seitens westlicher Mächte führt und zugleich gesellschaftliche und demokratische Entwicklungen in der Region erstickt (Kapitel 3). Mangels einer schlüssigen Erklärung für den Niedergang übernehmen zahlreiche Muslime Verschwörungsmythen aus dem Westen; sie befördern damit weitere Akte sinnloser, kriegerischer und terroristischer Gewalt (Kapitel 4). Und während gerade auch jüngere Muslime in großer Zahl in christlich geprägte Demokratien fliehen, brechen aufgrund erstarrter Sexual- und Familienregeln ­zugleich die Geburtenraten in den meisten islamisch geprägten Gesellschaften rapide ein (Kapitel 5). Nein, der Islam ist noch nicht tot, doch er gleicht einem Schwerkranken, der vor Verzweiflung und Schmerz um sich schlägt. Und erst, wenn wir – Nichtmuslime und Muslime gleichermaßen – dies realistisch wahrnehmen und verstehen, besteht die Chance auf eine bessere, gemeinsame Zukunft (Kapitel 6).

Ich fürchte also, sehr viele Leserinnen und Leser werden dieses Buch auch als Zumutung empfinden, da es bequeme Wahrheiten und etablierte Vorurteile auf allen Seiten zu hinterfragen wagt. Andererseits bietet es Erklärungen für viele bislang verstreut diskutierte Phänomene und eröffnet Wege, etwas für die gemeinsame Zukunft zu tun.

Dieses Buch schreibe ich als Religionswissenschaftler – was eine grundlegend andere Disziplin ist als die Theologie. Religionswissenschaftler dürfen persönlich religiös sein, müssen dies aber nicht; viele von uns – darunter mein Doktorvater Günter Kehrer – sind sogar erklärte Religionskritiker. Wir erforschen die Religion wie andere die Sprache oder die Musik, also vergleichend und empirisch auf Basis wissenschaftlicher Beobachtungen der verschiedensten Disziplinen. Wir unterliegen keiner Bindung durch religiöse Institutionen.

In der Doktorarbeit und in meiner Forschungslaufbahn habe ich mich auf die Hirn- und dann Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen konzentriert: Wie entwickelten sich die menschlichen Fähigkeiten zum Glauben an höhere Wesen und wie wirkten und wirken sie sich auf das Leben der Menschen aus? Entsprechend den schnell wachsenden Befunden dieser blühenden Forschungsrichtung gehe ich davon aus, dass Religion für das Höchste und das Niederste im Menschen gebraucht werden kann – wie andere menschliche Fähigkeiten auch. Wir können beispielsweise mithilfe der Sprache(n) Botschaften der Liebe verfassen und Wissen so formulieren und weitergeben, dass es uns schließlich auf den Mond brachte. Mithilfe der gleichen Sprache(n) können wir aber auch Hass und Hetze säen und einander in weltweite Kriege mit Millionen von Toten führen. Mit Mathematik können wir Brücken und Computer konstruieren, aber auch ABC-Waffen, die uns auslöschen können. Mittels Musik können wir uns erheben und ver­einen, aber auch zu willigen Kunden oder zu gewalttätigem Mob manipulieren lassen. Und mithilfe der Religion(en) vermögen wir lebensförderliche Institutionen zur Unterstützung von Familien oder auch Bildungseinrichtungen aller Art zu errichten, aber ebenso Gruppenhass, Intoleranz und mörderische Gewalt hervorzurufen.

Ob Sie also ein frommer Muslim sind, der die Krise seiner Religion schonungslos nachvollziehen und nach Auswegen suchen will; eine Zweifelnde, die mit ihren Fragen zum Zustand des Islams nicht länger alleinbleiben mag; eine demokratische Politikerin, die sich um den Zusammenhalt vielfältiger Gesellschaften sorgt; ein Journalist, der nicht nur die üblichen Klischees bedienen will; eine aktive Christin, die im Dialog mit Muslimen steht; eine interdisziplinär interessierte Wissenschaftlerin oder auch einfach ein Leser, der einmal hinter die gängigen Schlagzeilen, Titelbilder und Klischees rund um den Islam sehen will – dieses Buch ist für Sie.

Ich kann sagen, dass ich die »Krise des Islams« nicht nur in Tausenden Begegnungen und Gesprächen in Europa, sondern auch im Nahen, Mittleren und Fernen Osten, besonders in den umkämpften Kurdengebieten der Türkei und des Irak, aber auch in Israel und in den Palästinensergebieten beobachtet und erlebt habe. Dieses Buch ist auch, aber eben nicht nur an Akademien, Datentabellen und Schreibtischen entstanden, sondern es trägt auch die Beobachtungen verschiedenster Muslime und Ex-Muslime, das Fauchen tödlicher Kampfflugzeuge, die Schwere voll beladener Öltransporter und den Geruch zerbombter Städte mit sich. Für Millionen von Menschen – Muslime wie auch Nichtmuslime – ist die Krise des Islams keine abstrakte wissenschaftliche Theorie, ­sondern bittere und manchmal tödliche Realität.

Und wenn dafür vernünftige Erklärungen fehlen, liegen verzweifelter Rückzug oder die Zuflucht zu einem Verschwörungsglauben nahe. Dagegen braucht es sehr viel Mut und Kraft, den verborgenen Gründen ins Auge zu sehen. Doch ich wage es zu hoffen, dass ausreichend viele Menschen diese Kraft suchen und finden werden, damit unsere gemeinsame Zukunft besser werden kann.

Stellvertretend für viele Menschen, mit denen ich mich über Themen dieses Buches austauschen konnte, danke ich Saman Sorani, Cemile Giousof, Hubert Wicker, Klaus-Peter Murawski, Gökay ­Sofuoĝlu, Hakan Turan, Bischkusch Tahir, Heiko Feurer, Ruhan Karakul, Karin Scheiffele, Honey Deihimi, Faruk Ceran, Mario ­Kaifel, Hes und Hiser Sedik, Arik Platzek, Lisa Stengel, ­Düzen ­Tekkal, Merve Gül, Taner Aktaş, Irene Mundel, Emina Čorbo Mešić, Erdal Toprakyaran, Mouhanad Khorchide, Milad Karimi, Aaron Kunze, Adoula Dado, Shneur Trebnik, Abdelmalek ­Hibaoui, Barbara Traub, Jan-Ilhan Kizilhan, Mirza Dinnayi, Yavuz Kazanç, Hussein Hamdan, Erdinc Altuntaş, Simone Helmschrott, Nadia Murad, Amal Clooney, Ayse Özbabacan, Detlef ­Fetchenhauer, Seda und Inan Ince, Karl-Hermann Blickle, Barbara Thoma und Alexander Schmidt. Von ihnen und anderen habe ich viel gelernt; die Schlussfolgerungen gehen natürlich ­allein auf meine Kappe.

Ein besonderer Dank gilt meiner Frau Zehra und unserer gesamten deutsch-türkischen Familie, die nicht nur Verständnis für meine Forschungs- und Schreibzeiten hatte, sondern sich auch immer wieder aktiv erkundigte und eigene Vorschläge und Beobachtungen beitrug. Mit meinem Schwiegervater Osman Tayanç habe ich oft diskutiert; ihm danke ich auch für das türkische, Mevlana Rumi zugeschriebe Eingangszitat. Meine sehr geliebte Großmutter Elisabeth Horn hat kurz vor der Fertigstellung des Buch­manu­skriptes im Kreise ihrer Kinder, Enkel und Urenkel diese Welt verlassen – ihr möchte ich daher dieses Buch in dankbarer Erinne­rung widmen.

Schließlich danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Patmos-Verlag. Vielen herzlichen Dank für Ihr Interesse, Ihre Ermutigung und Unterstützung!

Die Krise des Islams ist real und schmerzhaft, sie ist tief – aber wenn wir sie verstehen, ist sie nicht unüberwindbar. Ich bin davon überzeugt: Wir können etwas tun, jeder und jede von uns. Lassen Sie uns mithilfe von Wissenschaft herausfinden, was es ist.

Filderstadt, im Juni 2017 Dr. Michael Blume

1. Wie viele Muslime gibt es eigentlich noch?Das Phänomen des stillen Rückzugs

Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) führte im Dezember 2016 auf ihrer Homepage einen interessanten kleinen Tanz auf: In einer ersten Darstellung hatte fowid den Anteil der Muslime an der deutschen Bevölkerung in 2015 auf nur 2,8 Prozent geschätzt. Doch nach vielen Nachfragen und einer »offiziellen« Hochrechnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die von 5,4 bis 5,7 Prozent ausging, korrigierte fowid seine Angaben auf nun 4,4 Prozent.4

Zur Ehrenrettung von fowid ist jedoch zu sagen, dass die humanistisch-nichtreligiös orientierten Forscherinnen und Forscher zu erklären versuchten, warum es so schwierig war, die Anzahl »der Muslime« auch nur einigermaßen korrekt anzugeben. Sie schrieben:

»Besonders schwierig zu berechnen ist der Anteil der Muslime in der Bevölkerung, da hierzu keine anerkannten statistischen Daten vorliegen. Das zentrale Problem in diesem Zusammenhang besteht darin, dass gläubige Muslime zu einem sehr geringeren Grad, nämlich nur zu etwa 20 Prozent, religiös organisiert sind. Würde man (wie im Falle der Bestimmung der Katholiken und Protestanten) die Mitgliedschaft in einer religiösen Vereinigung zum Bestimmungsmerkmal des Muslimseins machen, so würde man zu dem Ergebnis gelangen, dass nur 20 Prozent der Menschen, die sich als ›Muslime‹ begreifen, in der Religionsstatistik als Muslime zu bezeichnen sind. Dies jedoch wäre eine höchst problematische Schlussfolgerung, da die Mitgliedschaft in einer religiösen Vereinigung für Muslime nicht den gleichen Stellenwert hat wie für Christen. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Person im religiösen Sinne Muslim ist oder nicht, gelten völlig andere Kriterien, etwa das Praktizieren des täglichen Pflichtgebets, das zu den ›fünf Säulen des Islam‹ gehört.«5

Was sich da so technisch liest, verweist tatsächlich auf einen großen Unterschied zwischen den christlich geprägten europäischen Religions- und Rechtskulturen und denen außerhalb Europas und gerade auch im Islam. Und erst wenn man diesen Unterschied versteht, wird klarer, was eigentlich gerade in und zwischen den Religionen dieser Welt vor sich geht!

So bildete das Christentum eine Entscheidungsreligion heraus: Zur Christin oder zum Christen wird man nicht durch Geburt, sondern durch die Taufe und die Mitgliedschaft in einer Kirche. Entsprechend werden in den Statistiken als »Christen« meist die Mitglieder in christlichen Religionsgemeinschaften gezählt; also Menschen, die aufgrund elterlichen oder eigenen Entschlusses getauft wurden und weiterhin beitragszahlende Mitglieder ihrer Kirchen sind. Und das bedeutet auch: Jeder religionsmündige Mensch (in Deutschland ab 14 Jahren) kann auch jederzeit aus seiner oder ihrer Kirche austreten und damit aufhören, christlich im Sinne der Statistiken zu sein.

In den meisten anderen Weltreligionen wie eben dem Islam, aber auch zum Beispiel dem Judentum und Hinduismus, wird die Mitgliedschaft aber einfach durch Geburt (oder Übertritt) erworben: Als Muslim, Jüdin oder Hindu wird man geboren – es gibt keine Verpflichtung, irgendeiner Art von religiöser Gemeinschaft ausdrücklich beizutreten. Einige religiöse Traditionen wie das Yezidentum untersagen (bisher) sogar den Übertritt – als Yezidin oder Yezide kann man nur geboren werden.

Umgekehrt gibt es aber für Muslime, Juden, Hindus und Yeziden keine Möglichkeit, einen »Austritt« aus ihrer Religion zu erklären. Sie könnten dazu allenfalls zu einer anderen Religion übertreten – das tun aber auch die wenigsten Ex-Christen, die ihre Kirchen verlassen.

Und so kommt es, dass in den meisten deutschsprachigen und internationalen Statistiken noch immer Äpfel mit Birnen verglichen werden: Auf der einen Seite stehen diejenigen Christen, die getauft wurden und weiterhin beitragszahlend einer Kirche angehören – und auf der anderen Seite alle diejenigen, deren Eltern ­einer bestimmten Religion angehören.6

Stellen wir uns vor: Würden wir alle diejenigen als »Christen« zählen, die von christlichen Vorfahren abstammen und wenigstens hin und wieder auch etwas praktizieren, so würden auf einen Schlag zum Beispiel über 90 Prozent der Sachsen zu »Christen« – denn sie stammen aus christlichen Familien und feiern meistens auch noch irgendwie Weihnachten. Tatsächlich werden aber nur rund 20 Prozent der Sachsen als evangelisch und nur rund drei Prozent als katholisch »gezählt« – weil eben nur noch so wenige von ihnen weiterhin diesen Kirchen angehören.7

Würde man beim Islam in Deutschland das gleiche, strenge Kriterium anlegen wie beim Christentum, wären nur noch die etwa 20 Prozent der »Muslime« zu zählen, die tatsächlich einer Religionsgemeinschaft angehören und dafür Beiträge entrichten. Die Zahl der »Muslime« würde auf etwa eine Million Menschen und nicht einmal zwei Prozent der deutschen Bevölkerung zusammenschrumpfen!

Diese »strenge« Zählung wäre dem freiheitlichen Staat eigentlich geboten, denn diesen geht es nichts an, ob und woran Menschen und ihre Vorfahren in ihrem Privatleben glauben – seien dies Gottheiten, Engel, UFOs oder Einhörner.8 Erst wenn sich Menschen freiwillig Verbänden und Religionsgemeinschaften anschließen, um beispielsweise gemeinsam Gebetsstätten zu errichten, Ver­anstal­tungen auszurichten und Religionsunterricht anzubieten, werden ihre Glaubensüberzeugungen für den Staat relevant.

Und umgekehrt: Auch religiöse und weltanschauliche Verbände haben eigentlich kein Recht, für Menschen zu sprechen, die bei ihnen keine Mitglieder sind. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland kann nicht für »die Muslime« sprechen, sondern nur für jene paar Tausend, die sich den bei ihm versammelten Moscheeverbänden angeschlossen haben. Ebenso vertreten die humanistischen Verbände auch nicht »die« Konfessionslosen in Deutschland, sondern nur das eine Promille, das sich ihnen angeschlossen hat (etwa 30.000 von 30 Millionen).9

Weil aber der Islam keine Entscheidungsreligion wie das Christentum war und ist, hat sich das Verständnis von Mitgliedschaft, Staat und Religion grundlegend anders entwickelt. Dies hat Auswirkungen auf alle islamisch geprägten Nationen – sogar auf vorgeblich laizistische Republiken wie die Türkei.

So erinnert der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel daran, dass 1980 das erste in Deutschland im Namen des Islams begangene Attentat von einem türkischen Mitglied der Milli-Görüş-­Bewegung verübt wurde und sich gegen den ebenfalls türkischen Kommunisten Celalettin Kesim (1943–1980) richtete. Damals sei in der deutschen Öffentlichkeit immerhin noch zwischen rechten und linken, religiösen und säkularen Türken unterschieden worden. Doch die Nachwirkungen des 11. September 2001 hätten auch dies verändert. »In der öffentlichen Wahrnehmung werden nun Ausländer zu Andersgläubigen und Türken zu Muslimen. Das zeigt sich schon in den gängigen Statistiken, in denen von der ethnischen Herkunft auf die Religion geschlossen wird, weshalb von weltweit 1,6 Milliarden und deutschlandweit von 4,25 Millionen Muslimen die Rede ist. Für die Kesims von heute, die Sozialisten, Liberale, Nationalisten, Anarchisten oder von allem ein bisschen oder etwas ganz anderes sind, aber keine Muslime, auch keine ›säku­laren Muslime‹, ist in dieser Wahrnehmung kein Platz« (Deniz Yücel).10

Dementsprechend klagte der Imam der arabischsprachigen Risala-Moschee in Berlin in seiner Predigt vom 16. August 2016: »Ich habe hier in dieser Moschee einen Scheich eingestellt und ihm ­jeden Monat tausend Euro gezahlt, damit er die Kinder der Muslime unterrichtet. Ich schwöre bei Gott, dass zwei Jahre lang nicht mehr als zehn Personen bei ihm waren. […] Wir haben eine Koranschule, in der sieben Frauen lehren, die den Koran auswendig beherrschen, und ich betreue sie selbst. Es gibt nur 25 Schüler. Wo sind die Kinder der Muslime? Wo sind die Kinder der Muslime? Im Schwimmbad findest du jeden Tag 900 muslimische Kinder. Bitte entschuldigt, dass ich meiner Pein so offen Ausdruck verleihe.«11

Dazu passt, dass die letzten Auswertungen des »Religionsmonitors« ergaben, dass sich Menschen muslimischer Herkunft deutlich überdurchschnittlich für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten engagierten – aber sehr viel häufiger als Christen taten sie dies außerhalb ihrer eigenen Religionsgemeinschaften.12 Viele »Kinder der Muslime« ziehen längst nicht nur die Schwimmbäder dem Koranunterricht, sondern auch das Engagement in nicht­islamischen Institutionen den Moscheegemeinden vor. Wer gibt uns eigentlich das Recht, diese tausendfachen Abstimmungen mit den Füßen zu ignorieren?

1.1 Mitgliedschaft und Religionsfreiheit in der islamischen Welt

Als der Prophet Muhammad (571–632) die heutige Weltreligion Islam gründete, verstand sich diese als Wiederherstellung einer ursprünglichen, göttlichen Offenbarung. Während der ersten Entfaltungszeit als diskriminierte und oft verfolgte Minderheit in Mekka lag dabei durchaus die Möglichkeit einer Entscheidungsreligion analog zum Christentum nahe: Muhammad selbst war als freiwilliger Hanif – als nach dem Gott Abrahams Suchender – aufgebrochen und auch seine ersten Mitglaubenden entschieden sich jeweils freiwillig und oft gegen ihre Familien für den islamischen Glauben. Doch in Medina wurde die Gemeinschaft der Muslime, die Umma, auch zur Grundlage eines Staatswesens, in dem jeder nichtmuslimische Schutzbefohlene (dhimmi) mindere Rechte hatte. Nach dem Tod des Propheten wurde die Abkehr vom Islam nicht mehr als religiöse Entscheidung, sondern als politischer Verrat (ridda) bewertet. Entsprechend Abgefallene wurden – und werden! – als Murtad bezeichnet und, sofern man ihrer habhaft wurde, mit dem Tode bestraft. Wirkliche Religionsfreiheit konnte damit nur noch für Nichtmuslime bestehen; wer einmal in den Islam hineingeboren oder eingetreten war, riskierte durch einen Glaubensverlust oder -wechsel sein Leben.

Spätere islamische Theologen ergänzten diese Lehre durch die Annahme, dass eigentlich jedes Kind mit dem Keim des wahren Glaubens (fitra) zur Welt komme. Dem Propheten Muhammad wurde dabei die Aussage zugeschrieben: »Jeder wird im Zustand der Fitra geboren. Alsdann machen seine Eltern aus ihm einen ­Juden, Christen oder Zoroastrier.«13

Entsprechend gab – und gibt! – es immer wieder Bestrebungen, auch die Kinder von Nichtmuslimen ihren Familien zu entreißen und zu »wahren« Muslimen zu erziehen. Im Osmanischen Reich wurden in der sogenannten »Knabenlese« (devsirme) gezielt Jungen aus nichtmuslimischen, vor allem christlichen Familien zwangsrekrutiert, zum Islam zwangsbekehrt und zu Janitscharen, Elitesoldaten, ausgebildet, auch gegen den verzweifelten Widerstand der Eltern, die manchmal sogar getötet wurden.14 Und im Irak hatte ich nicht nur mit Kindern aus yezidischen Familien zu tun, die vom selbsternannten »Islamischen Staat« zwangsbekehrt und zu Kindersoldaten, sogar zu Selbstmordattentätern ausgebildet worden waren. Darüber hinaus versuchten Politiker und ­Ulema des kurdischen Regionalstaates – den die Bundesrepublik als Verbündete u. a. mit Waffenlieferungen unterstützte –, yezidische Waisenkinder an muslimische Familien zu vermitteln und sie damit zu »wahren Muslimen« zu machen.

Freilich ist hier vor christlichem Hochmut zu warnen: Lange Zeit war die eingeschränkte Religionsfreiheit in der islamischen Welt jener in Europa weit überlegen. Immer wieder suchten und fanden Juden und Christen unter islamischer Herrschaft den Schutz, den ihnen die europäischen Staaten noch nicht gewähren wollten. So werden auch in den von Martin Luther entworfenen und von führenden evangelischen Gelehrten gezeichneten »Schmalkaldischen Artikeln« von 1536 die »Türken« und »Tataren« bei aller Feindschaft auch gelobt, denn »sie lassen (jeden), der es will, an Christus glauben und verlangen (bloß) leiblichen Zins und Gehorsam von den Christen«. In Europa gewährte zunächst nur Polen auch Juden, Muslimen und christlichen Minderheiten eine dementsprechende Religionsfreiheit, die erstmals in der »Warschauer Konföderation« von 1573 festgeschrieben wurde – und prompt dazu beitrug, dem Land die Verheerungen der europäischen Konfessionskriege zu ersparen.15

Zwar entwickelte sich von der Reformation aus dann zunehmend ein breiteres Verständnis von Religionsfreiheit – vor allem in Großbritannien, den Niederlanden und den Überseekolonien –, doch gab es immer wieder Rückschritte. So errichteten Kirchen vor allem zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert koloniale Missionsschulen, die in erster Linie Kinder von Sklaven und Ureinwohnern ihren Familien entfremdeten oder sogar gewaltsam entrissen, um auch durch den Einsatz von Gewalt »gute Christen« aus ihnen zu machen. Der Grat zwischen Bildungsförderung einerseits und einer gezielten Zerstörung gewachsener Kulturen und Völker andererseits war manchmal schmal und wurde nicht selten überschritten. So behauptete Papst Benedikt XVI. noch während einer Südamerikareise 2007 ganz im Stil islamischer Fitra-Argumentation, das Christentum sei den dortigen Ureinwohnern »nicht aufgezwungen« worden, diese hätten es vielmehr »still herbeigesehnt«. Damit löste er breite Entrüstung auch unter Christinnen und Christen aus, die diese verharmlosende Umdeutung der Eroberungs- und Kolonialgeschichte nicht akzeptieren wollten.16

Über die Frage der »richtigen« Missionsform hinaus entwickelte sich auf Basis der Entscheidungs- und Geburtszugehörigkeit schließlich auch das Verständnis von religiöser »Bekehrung« und von »Fortschritt« in den beiden größten Weltreligionen auseinander: Im Christentum galt es als freiwillige Verwandlung, »Konversion«, zu einem neuen und dem Kommenden zugewandten Menschen, der im rituellen Vaterunser-Gebet erhoffte: »Dein Reich komme«. Entsprechend wurde selbst dort, wo sich die Kindertaufe durchsetzte, zunehmend auf einem eigenen Entscheid im Sinne einer Firmung, Konfirmation oder später sogar »geistigen Wiedergeburt« bestanden. Im Islam setzte sich dagegen die Vorstellung einer Rückwendung, »Reversion«, zum in früheren Zeiten verwirklichten, »wahren Glauben« durch.17 Bis heute fragen Christen daher häufiger: »Was würde Jesus heute tun? Wie wird sein Reich aussehen?« Für Muslime dagegen gilt öfter: »Was hat Muhammad früher getan? Wie sah sein Reich aus?« Während sich islamische Salafisten um eine möglichst überlieferungsgetreue Nachahmung des Prophetenlebens bemühen, üben sich selbst traditionell-fundamentalistische Christen wie die Old Order Amish oder die Hutterer zwar in der Erhaltung ihrer ursprünglichen Lebenswelten aus dem 15.–17. Jahrhundert, aber nicht im Sinne einer Kopie des israelitischen Lebens im 1. Jahrhundert.18 Auch christliche Gelehrte und Prediger versuchen im Gegensatz zu vielen ihrer islamischen Ulama-Kollegen nicht, Jesus etwa in Kleidung, Sprache und Auftreten zu imitieren. »Neuerung« (bid’a) gilt in großen Teilen der islamischen Theologie als sündige Übertretung, während Christen »Fortschritt« leichter auf Gottes Reich hin begrüßen konnten.

Wie tief diese religiös-kulturell unterschiedlichen Traditionen auch ins Alltagsverständnis von Religionen und Religionsfreiheit eindrangen, lässt sich gut am Beispiel der Republik Türkei studieren, die sich von ihrem Begründer Kemal Atatürk (1881–1938) her eigentlich als laizistisch verstand. Doch die Existenz religiöser Minderheiten wie der Aleviten und der Yeziden wurde und wird in der Türkei schlicht geleugnet, den Menschen als »angeborene« Religionszugehörigkeit dagegen im Personalausweis der Islam zugewiesen. Während türkisch-staatliche Institutionen wie das Religionsamt Diyanet verbeamtete und aus Steuergeldern bezahlte Prediger in die Moscheen im In- und Ausland entsenden, wurden – und werden – die Aktivitäten anderer Moscheeverbände und nicht­islamischer Religionsgemeinschaften behindert oder gleich ganz verboten. Der in den 1980er-Jahren nach einem Militärputsch eingeführte sunnitische Religionsunterricht ist auch für nichtsunnitische Kinder verpflichtend, wogegen andere Religionen keinen schulischen Religionsunterricht durchführen dürfen. Staat und Religion sind auch in der türkischen Republik nicht wirklich getrennt; der Staat hat sich die Religion unterworfen.

Als sich 2014 in der Türkei ein erster atheistischer Verband bildete, wurden die Gründer sofort mit Hunderten Todesdrohungen überzogen und die türkische Republik sperrte ihre Website sowie mehrere Twitter-Accounts mit Berufung auf Antiterrorgesetze.19 Dennoch wagte der Verband noch 2015 die Einreichung einer Petition, damit wenigstens die eigenen Kinder nicht länger von Geburt an als Muslime registriert würden – ohne Möglichkeit, sich davon abzumelden.20

Auch in postsowjetischen Staaten wie Usbekistan hat sich bei Beobachtern eine Unterscheidung zwischen praktizierenden »religiösen Muslimen« einerseits und »kulturellen Muslimen« andererseits etabliert, wobei bei Letzteren nicht weiter gefragt wird, ob und wie sie (noch) an Gott glauben, beten oder fasten. Statistisch gelten sie gleichermaßen als Muslime.

Selbst noch in freiheitlichen Demokratien wie Deutschland haben es Menschen muslimischer Herkunft schwer, eine anerkannte Abkehr von der Religion ihrer Geburt zu vollziehen. Entsprechend gründete sich in der Bundesrepublik zum Beispiel das Kuriosum eines Zentralrates der Ex-Muslime, dessen aus dem Iran geflohene Gründerin Mina Ahadi mit Morddrohungen überzogen wurde und wird.21 Mit einigem Recht kritisierte sie die Übernahme der Muslim-ab-Geburt-Definition nicht nur durch deutsche Rassisten, sondern auch durch Behörden und Statistiker, die selbst Nichtglaubende letztlich dem Einflussbereich islamischer Gruppen zuordnen: »Da viele von uns gezwungen waren, den islamischen Machthabern in unseren Herkunftsländern zu entfliehen, können und wollen wir es nicht hinnehmen, dass nun in Deutschland ausgerechnet muslimische Funktionäre in unserem Namen sprechen sollen.«22

Erschwerend kommt hinzu, dass sich in islamischen Traditionen die Praktik des Takfir herausbildete – die Beschuldigung anderer Muslime, vom Islam abgefallen zu sein. Damit aber wurden sie der Todesstrafe überantwortet.

Schon der Neffe und Schwiegersohn des Propheten, Ali ibn Ali Talib (600–661), wurde während seiner Amtszeit als dritter Kalif der Umma von einem der extremen Charidschiten ermordet, die ihm vorwarfen, unzulässige Kompromisse auf Kosten des Islams geschlossen zu haben. Während der Blütezeiten der islamischen Zivilisation wurde der Bereich des Islams dann jedoch weiter gefasst und die Ulema einigten sich (überwiegend) darauf, niemanden zum Ungläubigen zu erklären, der einer etablierten Rechtsschule, Konfession oder Tradition im Islam – beispielsweise einem angesehenen Sufi-Orden – angehörte. Doch mit der einsetzenden Krise der islamischen Zivilisation ab dem 18. Jahrhundert formierten sich auch immer extremere Stimmen, die aufgrund ihrer Neigung, andere Muslime zu Ungläubigen zu erklären, auch spöttisch Takfiris genannt werden.

Heute macht unter anderem die Terrormiliz des »Islamischen Staates« vom Takfir massiven Gebrauch, mit dem sie praktisch all jene Muslime als Abtrünnige (murtaddun) bezeichnet, die sich ihm nicht anschließen wollen. Entsprechend wurde seitens des IS nicht nur die Ermordung sunnitisch-muslimischer Kriegsgefangener, etwa aus Jordanien und der Türkei, sondern auch deren öffentliche und per Video verbreitete Verbrennung gerechtfertigt: Das seien keine Muslime mehr, sondern Ungläubige (kuffar), die sich dem Dienst an weltlichen Regierungen als Ausdruck des Bösen (taghut) verschrieben hätten. Der Kampf gehe also weiter bis zur »Tötung all dieser tyrannischen Regierungen und der Abschlachtung all dieser Abtrünnigen« – was auch den größten Teil der Muslime dieser Erde umfassen würde!23

In weiteren Schriften formulierten IS-Theologen die »Klarstellung der Regel: Wer jemanden, der ungläubig ist, nicht für ungläubig erklärt, ist ein Ungläubiger« und verdammten selbst das wahhabitisch-sunnitische Saudi-Arabien als »Haus des Unglaubens« (dar al-kufr).24

Dabei wäre auch nach dem Islam ein weiteres Verständnis von Religionsfreiheit möglich, wie es sich in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948 findet. Befürworter einer solchen Deutung des Islams berufen sich beispielsweise auf den Koran nach Sure 2:256: »Es gibt keinen Zwang im Glauben.« Sie haben zudem das schon in der islamischen Blütezeit geäußerte Argument auf ihrer Seite, dass man Menschen zu einem wirklichen, inneren Glauben gar nicht zwingen »könne«. Allerdings stehen ihnen noch die Mehrheitsmeinung der heutigen Ulema, die historischen Auslegungstraditionen und die Rechtspraxis in nahezu allen islamisch geprägten Staaten gegenüber.25

Und so sorgten Ergebnisse der weltweiten »Pew-Studie« 2013 international für Verwirrung.26 Das Pew-Institut hatte 38.000 erwachsene Musliminnen und Muslime in 39 Ländern befragt. Kommentatoren jubelten, dass weltweit über 90 Prozent der Befragten angaben, dass »Religionsfreiheit« eine »gute Sache« sei. Doch bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass damit eben häufig »nur« das islamisch-traditionelle Verständnis von Religionsfreiheit gemeint war: So fanden 86 Prozent der Befragten in Ägypten und 79 Prozent in Afghanistan, dass der »Abfall vom Islam« mit dem Tode bestraft werden solle. Auch in den Palästinensergebieten (66 Prozent) und Malaysia (62 Prozent) hatte diese Auffassung noch deutliche Mehrheiten hinter sich. In Bangladesch waren es 44 Prozent, im Irak 42 Prozent und in Tunesien 27 Prozent. In Indonesien forderten noch 18 Prozent die Todesstrafe, in der Türkei 17 Prozent und in Albanien gar nur noch 8 Prozent.27

Auch kleine Minderheiten können freilich zu einer realen Bedrohung werden, wenn sie für sich das Recht beanspruchen, »Abgefallene« auch über das staatliche Gewaltmonopol hinaus zu verfolgen. So wandte sich der einstige Diyanet-Imam und Mufti (ein autorisierter Gelehrter islamischen Rechts) Turan Dursun (1934–1990) nach intensivem Religionsstudium schließlich vom Glauben an Gott ab und wurde ein bekannter und vielgelesener Religionskritiker. Doch am 4. September 1990 wurde er vor seinem Haus in Istanbul ermordet. Die türkische Justiz verhaftete mehrere Mitglieder einer Gruppe namens »Islami Hareket« (Islamische Bewegung) und verurteilte schließlich einen Mann.

»Religionsfreiheit« ist also nicht einfach »Religionsfreiheit«. Den meisten Menschen in islamisch geprägten Gesellschaften ist daher völlig klar: Wenn sie sich »laut« vom Islam abwenden, so ist dies mit Gefahren für das Ansehen oder sogar das Leben verbunden. Oft droht direkt der Staat, häufiger aber drohen radikale Minderheiten mit Strafen für den vermeintlichen Verrat, die bis zur Ermordung reichen können. Die meisten islamkritischen »Muslime« belassen es daher traditionell dabei, ihre Glaubenszweifel oder auch ihren inneren Agnostizismus oder Atheismus für sich zu behalten und allenfalls mit Vertrauten darüber zu sprechen.