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Kiri Johansson

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Beschreibung

Sommerwohnung gesucht. Liebe gefunden?

Als Merit von ihrem Freund verlassen wird, muss die chaotische Lebenskünstlerin sich ein neues Zuhause suchen. Da kommt ihr das Angebot, den Sommer über ein Haus samt Kater zu hüten, gerade recht. Die Sache hat nur einen Haken: Das Haus steht in Reykjavík. Kurz entschlossen verlässt sie Berlin, um in Islands quirlige Hauptstadt zu reisen. Von der Liebe will die talentierte Künstlerin vorerst nichts mehr wissen. Kristján will das auch nicht, denn er hat mit einer anhänglichen Ex und den Dämonen seiner Vergangenheit genug zu tun. Doch nun wirbelt die neue Nachbarin aus Deutschland das ruhige Leben des ordnungsliebenden Piloten mit ihren eigenwilligen Ideen ziemlich durcheinander ...

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Das Buch

Als Merit von ihrem Freund verlassen wird, muss die chaotische Lebenskünstlerin sich ein neues Zuhause suchen. Da kommt ihr das Angebot, den Sommer über ein Haus samt Kater zu hüten, gerade recht. Die Sache hat nur einen Haken: Das Haus steht in Reykjavík. Kurz entschlossen verlässt sie Berlin, um in Islands quirlige Hauptstadt zu reisen. Von der Liebe will die talentierte Künstlerin vorerst nichts mehr wissen. Kristján will das auch nicht, denn er hat mit einer anhänglichen Ex und den Dämonen seiner Vergangenheit genug zu tun. Doch nun wirbelt die neue Nachbarin aus Deutschland das ruhige Leben des ordnungsliebenden Piloten mit ihren eigenwilligen Ideen ziemlich durcheinander …

Die Autorin

Kiri Johansson ist schon seit ihrer Kindheit fasziniert von guten Geschichten, von Island und seinen Pferden. Sie hält sich für eine talentierte Handwerkerin, hat in London »Fashion History« studiert und liebt die Farben des Nordens. In ihrer Freizeit geht sie gern ins Museum, liest oder tanzt bei Sonnenaufgang in ihrem Garten.

Kiri Johansson

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Copyright © 2019 by Kiri Johansson

Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design München unter Verwendung von shutterstock (Bahadir Yeniceri, Andrew Mayowskyy, Africa Studio, Wila_Image, jirobkk)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24538-2V002

www.heyne.de

Láttu hjartað ráða – Folge deinem Herzen.

Merit

Wenn ich die Augen schließe und an meine Kindheit denke, ist mein Herz erfüllt von opalsanften Himmelsfarben. Ich schmecke blaue Seeluft, atme das zarte Grün von Birken und Strandhafer und sehne mich nach der grenzenlosen Freiheit sommerheller Nordnächte. Normalerweise. Doch jetzt ist nichts mehr normal, seit einer Woche ist alles anders. Seit Tagen läuft ein Film in Dauerschleife in meinem Kopf ab, und der beginnt mit den Worten: »Ich habe mich verliebt.«

Ein schöner Satz, aber nicht, wenn ihn der Mann sagt, mit dem du seit Jahren zusammenlebst, und schon gar nicht, wenn er dich dabei ansieht wie ein schuldbewusster Labrador, der ein ganzes Stück Butter vom Frühstückstisch geklaut hat.

Er hat sich verliebt. Ohne mich und in eine andere Frau. Deshalb bin ich hier.

1.

Die Sonne lauerte bereits an der Wasseroberfläche und zauberte Pastelltöne in die feuchte Meeresluft.

Es war ihr dritter Morgen auf See, und weil sie es nicht länger aushielt, auf ihrer schmalen Pritsche unter Deck in der Neunerkabine dem Atmen fremder Menschen zu lauschen, hatte sie sich auch heute nach ein paar unruhigen Stunden Schlaf aus der Kajüte geschlichen. Ihr Gesicht fühlte sich von der Kälte steif an. Doch hier im Windschatten war es mit der schweren Wolldecke und eingemummelt in eine Steppjacke, die selbst am Nordpol noch gewärmt hätte, auszuhalten.

Mit klammen Fingern machte sie Fotos. Die unglaublichen Farben schwebten direkt durch ihre Seele, und sie hätte viel dafür gegeben, diese Stimmung sofort auf Leinwand zu bannen.

Island. Ich muss verrückt geworden sein. Dieser Gedanke war ihr seit dem Telefonat mit Ísrún Bryndísardóttir mehr als einmal durch den Kopf gegangen.

Doch so kurz vor dem Ziel fühlte sie nun auch eine erwartungsvolle Freude, ein Kribbeln, als wüsste etwas in ihrem Unterbewusstsein mehr als sie selbst und hoffte auf ein grandioses Abenteuer.

Die Mitreisenden schwärmten von Island, als wäre diese karge Insel aus Feuer und Stein eins der letzten Paradiese, ein Ort, an dem Unmögliches noch möglich wurde. Das konnte sie gebrauchen.

Merits Mut, so spontan aufzubrechen, wurde bewundert und gewiss auch belächelt. Doch die Leute waren im Urlaub und bester Laune, deshalb behielten sie ihre Kritik vermutlich für sich und gaben stattdessen gut gemeinte Ratschläge, bis ihr Kopf voll von Geysiren, Pferde- und Elfen­geschichten war.

Über Reykjavík erfuhr sie nicht viel. Die meisten der Touristen waren nicht zum ersten Mal in Island und planten eine Campingreise mit dem eigenen Wagen, keinen Stadtaufenthalt. Ein DJ aus Hamburg, der jeden Monat in einem der Clubs auflegte und dieses Mal anschließend das Land erkunden wollte, hatte mit nasaler Stimme gesagt: »Für eine Kleinstadt ist Reykjavík eigentlich ganz in Ordnung«, um dann, nach kurzer Pause, hinzuzufügen: ­»Feiern können die Isis jedenfalls.«

Merit steckte ihr Smartphone ein und stand auf, um zur Reling zu gehen, als der Mann wieder auftauchte. Er schien die frühen Morgenstunden auf See zu mögen. Seit der Abfahrt im dänischen Hirtshals war sie ihm mehrmals begegnet. Dabei hatten sie sich zugenickt oder auch mal einen Gruß gemurmelt, wie es hier an Bord üblich war, und jedes Mal hatte sie sich merkwürdig verlegen gefühlt. Unter ihren Freundinnen gehörte Merit zu den weniger kühnen. Sie beobachtete lieber, als im Mittelpunkt zu stehen. Aber schüchtern war sie nicht, und wenn ihr jemand gefiel, sprach sie ihn an, sofern sich eine Gelegenheit dazu ergab. Doch bei ihm hätte sie sogar gezögert, würde sie gerade nicht so sehr von ihren eigenen Problemen in Anspruch genommen. Er wirkte in sich gekehrt, beinahe abweisend.

Für Merit war es offensichtlich, dass ihn irgendetwas beschäftigte. Vielleicht ging dem Mann so viel durch den Kopf, dass er sich selbst genug war. Seine Reaktion auf die Annäherungsversuche einer attraktiven Blondine, die sich vorgestern Abend an der Bar neben ihn gesetzt hatte, ließ dies jedenfalls vermuten. Er hatte nur knapp geantwortet, sein Glas in einem Zug geleert und war gegangen.

Heute Morgen aber stellte er sich eine Armeslänge von ihr entfernt an die Reling, obwohl sie beide zu so früher Stunde die Einzigen hier draußen waren. Allerdings machte er keine Anstalten, sie anzusprechen, sondern blickte genau wie sie gebannt auf den Horizont, wo sich ein Naturspektakel ankündigte.

Dennoch war sich Merit seiner Präsenz bewusst. Nach einer Weile wurde sie kribbelig und wagte einen raschen Seitenblick: Eine Wollmütze betonte sein Adlerprofil. Der Dreitagebart und die dunkle Kleidung verliehen ihm etwas Verwegenes. Ein echter Wikinger.

Bevor er bemerkte, dass sie ihn anstarrte, blickte sie schnell zurück aufs Wasser.

Neben ihr raschelte seine Outdoorjacke, als wollte er sich abwenden, und Merit bereute es auf einmal doch, nichts gesagt zu haben. Jetzt war es zu spät, hinterherrufen würde sie ihm ganz sicher nicht. Sie straffte die Schultern. Um zu flirten war sie nun wirklich nicht nach Island gekommen.

»Damit siehst du besser.«

»Wie?« Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und als kühles Metall ihre Haut berührte, schrak sie zurück.

»Vorsicht, schwer!« Mit diesen Worten legte er seine Hand auf ihre, gerade rechtzeitig, bevor Merit das Fernglas entgleiten konnte.

Die Berührung ließ sie erstarren. Seine Finger, die danach aussahen, als könnten sie zupacken, umfassten ihre warm und gerade fest genug, um das Fernglas zu halten, und für die Dauer eines Wimpernschlags entstand eine unerklärliche Vertrautheit. Sie sah ihm an, dass er es ebenfalls fühlte.

»Entschuldigung …«, sagten beide wie aus einem Mund.

»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er zog sich ein Stück zurück, um ihr Raum zu geben. »Du scheinst mir nur so ein ausgeprägtes Interesse an Sonnenaufgängen zu haben, dass ich dachte, du würdest gern mal hindurchsehen.«

Mit einem Lächeln, das seine Annahme bestätigen sollte, hob Merit das schwere Fernglas an die Augen. Zuerst war das Bild verwackelt, aber als sie die Ellbogen auf die Reling stützte und sich in Fahrtrichtung drehte, entdeckte sie einen Küstenstreifen am Horizont. »Was für ­Inseln sind das denn?«, fragte sie überrascht.

»Wenn der Kapitän sich nicht verfahren hat, siehst du die isländische Küste. Wir sind recht früh dran«, fügte er hinzu.

»Das klingt, als würdest du dich auskennen. Bist du die Strecke schon gefahren?« Merit reichte ihm das Fernglas zurück. Er war bestimmt ein Isländer auf dem Weg nach Hause. Der skandinavisch klingende Akzent, mit dem er Englisch sprach, legte die Vermutung nahe.

Seine Antwort bestätigte es. »Gelegentlich.«

Merit warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Die Augenfarbe gab ihr Rätsel auf. Im Augenblick glich sie dem morgengrauen Meer, obwohl Merit sich genau zu erinnern glaubte, dass die Augen blau gewesen waren, als er sie bei ihrer ersten Begegnung so amüsiert gemustert hatte. Für Farben besaß sie ein besonderes Gedächtnis.

In diesem Augenblick erschien am Horizont ein glühender Fleck, der schnell größer wurde.

Aurora hebt ihre Schleier und überlässt dem Sonnengott die Bühne, dass er sich strahlend aus dem Meer erhebe, zitierte Merit in Gedanken und vergaß darüber, was sie sonst noch hatte fragen wollen.

Versunken in die Schönheit der Natur, betrachtete sie die ins hellblaue Firmament getupften rosa Wolken und die Choreografie der Farben, die am Horizont zu einem grandiosen Feuerrot rund um die aufsteigende Sonne verschmolzen, die nun auch das Meer entzündet zu haben schien. Fortwährend veränderten sich Licht und Atmosphäre, der Himmel wurde blauer, das Rot allmählich blasser. Farben wie diese berührten sie tief in ihrer Seele. Vor Aufregung ein wenig außer Atem, sah Merit zur Seite – und direkt in nun hell leuchtende Augen. Ein goldener Schimmer lag über seinem Gesicht.

»Dann werde ich mal meine Sachen zusammenpacken«, sagte er und blinzelte, als würde die Sonne ihn blenden. »Ich wünsche dir einen schönen Urlaub auf Island.«

Im Fortgehen murmelte er etwas, das wie Bless klang, war aber außer Hörweite, ehe sie nachfragen konnte.

Einige wenige Sekunden lang spürte sie ein unbestimmtes Bedauern ihre Stimmung verdunkeln. Seine Nähe war Merit angenehm gewesen. Nicht auf eine Weise, die zum Flirt reizte, den Jagdinstinkt aktivierte. Und doch: Männer mochten im Augenblick zwar ziemlich weit unten auf ihrer Prioritätenliste stehen, aber ein gewisses Prickeln konnte sich jederzeit einstellen. So war es mit Ferdinand auch geschehen. Sie hatte sich aus heiterem Himmel in einer ­langen Kinonacht während der Berlinale in ihn verliebt, obwohl sie schon ewig beste Freunde gewesen waren und das Thema Liebe längst geklärt schien.

Der Gedanke an ihren ehrlosen Ex holte Merit sofort in die Realität zurück, und sie verließ ihren Posten an der Reling, um weiter vor zum Bug des Schiffes zu gehen, wo sich inzwischen Fotofreunde versammelt hatten, um die Einfahrt in den Fjord mit ihren Kameras festzuhalten. Weil ihr Fotoapparat tief vergraben unter Klamotten im Auto lag, knipste Merit die noch ferne Küste mit dem Handy.

»Mädle, so wird das nichts.« Den Blick fest auf die Küstenlinie gerichtet, tastete der Mann neben ihr die Taschen seiner Weste ab. »Ich bin jedes Jahr in Island. Falls Sie schöne Fotos haben wollen, schicken Sie mir doch nach dem Urlaub eine Mail. Ich verkaufe auch Kalender.« Er reichte ihr eine bunte Visitenkarte. »Frank«, wechselte er zum Du. »Frank Bäuerle aus Aalen, und wer bist du?«

»Merit aus Berlin.«

»Ein Großstadtpflänzle. Na ja. Dann wirst du aber erstaunt sein, wie einsam es in Island sein kann.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte sie und zwang sich, das überwältigende Gefühl von Menschenscheu zurückzudrängen, das sie wie so oft aus dem Nichts überfiel. Am liebsten hätte sie sich in eine dunkle Ecke des Schiffes zurückgezogen. Um dem Drang nicht nachzugeben, zeigte sie auf seine Kamera. »Ist die gut?«

Augenblicklich kam sie in den Genuss einer detaillierten Analyse geeigneter Objektive, in die sich auch andere einmischten, bis die Diskussion zu einem Streit zu eskalieren drohte, der durch den kollektiven Ausruf Wir fahren ein! abrupt beendet wurde.

Wie ein Bote des Lichts durchfurchte der strahlend weiße Bug der Norrøna das klare Wasser im Seyðis-Fjord. Am Ufer wuchsen zu beiden Seiten Berge empor, deren Höhe schwer zu schätzen war. Die See, der Himmel und das Schiff waren drei Tage lang die Eckpunkte von Merits Welt gewesen. Nach dem Gefühl der Freiheit eines unendlichen Horizonts kam diese unvermittelt auftauchende Einengung einem Schock gleich. War es das, was sie auf der spärlich besiedelten Insel erwarten würde? Enge nicht im räumlichen Sinne, aber womöglich in Form einer festgefügten traditionellen Gesellschaft. In einem Augenblick der Panik überlegte Merit, ob sie einfach an Bord bleiben und zurückfahren sollte. Doch das kam nicht infrage; sie hatte sich für diese Unternehmung entschieden und wollte auf keinen Fall davor davonlaufen. Außerdem besaß sie überhaupt nicht genug Geld, um es für eine Kreuzfahrt ausgerechnet auf dem Nordatlantik auszugeben.

Die Leute mochten zwar glauben, dass sie jemand war, der in den Tag hineinlebte, aber in Wahrheit fürchtete sie sich vor den Herausforderungen des Lebens, machte an ihre Sehnsucht nach Geborgenheit eine Menge Konzessionen und passte sich an: an die Wünsche ihrer älteren Schwestern, die sich um sie kümmerten wie um ein zurückgebliebenes Lämmchen, und an Ferdinands Bedürfnisse, der ihre erste große Liebe und stets ein Anker für Merit gewesen war.

Nein, kein Anker, eine Fußfessel, dachte sie grimmig. In den ruhigen Stunden, die sie während der Überfahrt an Deck verbracht hatte, hatte Merit lange nachgedacht und sich schließlich vorgenommen, jeden Tag als Geschenk zu betrachten und ihre Entscheidungen so spontan zu treffen wie jene, für einen Sommer nach Island überzusiedeln. Jetzt umzukehren, bevor ihr neuer Weg überhaupt richtig begonnen hatte, wäre feige, und das wollte sie nie mehr über sich denken müssen. Es gab ohnehin keine Garantien. Nicht für Lebenspläne und schon gar nicht für mehr als ein flüchtiges Glück. Wer wüsste das besser als sie selbst?

Der Mann neben ihr stupste sie an. »Sehen Sie, da vorn liegt Seyðisfjörður.«

Seyðisfjörður hieß so viel wie »Fjord der Feuerstelle«, hatte ihr eine Mitreisende erklärt. Das klang nicht gerade spektakulär, passte aber recht gut. Mehr als ein paar hübsch aufgereihte bunte Häuser und ein hellblaues Kirchlein, das mit seinen weiß gestrichenen Fenstern wie ein Puppenhaus vor der kargen Berglandschaft wirkte, waren nun tatsächlich nicht zu sehen. Je weiter sie sich näherten, desto größer schien ihr Schiff zu werden, und als es den Anleger erreicht hatte, überragte es den Ort auf eine geradezu groteske Weise.

»Niedlich«, sagte sie zu niemand Bestimmtem.

»Wenn Sie wegen des urbanen Flairs nach Island gekommen sind, steht Ihnen eine große Enttäuschung bevor.« Die Frau, die inzwischen den Platz des Fotografen neben ihr eingenommen hatte, sah Merit an, als fühlte sie sich von ihrer Bemerkung stellvertretend für Island beleidigt. »Sie machen diese Reise wohl das erste Mal?«, fragte sie spitz. Als Merit nickte, fuhr sie fort: »Dann gehen Sie jetzt lieber zu Ihrem Mann, wir legen gleich an.«

Merit fehlten die Worte, um höflich zu formulieren, wie irritierend sie diesen Rat fand. Wirkte sie auf andere wie jemand, der sich nicht traute, allein eine Reise wie diese zu unternehmen? Sie war verletzt und fühlte sich auf einmal sehr einsam. Bevor ihr eine scharfe Entgegnung entschlüpfen konnte, verließ sie ihren Platz an der Reling, um sich auf den Weg zum Parkdeck zu machen, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Ganz ohne Ehegatten.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Manche Menschen waren augenscheinlich noch nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen oder schon wieder auf dem Weg zurück ins neunzehnte. Dass es davon eine ganz Menge gab, darüber wollte sie im Augenblick nicht nachdenken.

Es dauerte eine Weile, bis sie im Gedränge ihre Reisetasche aus dem Schließfach geholt hatte, und wenig später erklang über die Lautsprecheranlage der Fähre die Aufforderung, die Fahrzeuge aufzusuchen und den Anweisungen des Personals zu folgen.

Nachdem sie das Schiff verlassen und eine Einfuhrplakette für ihr Auto bekommen hatte, musste sich Merit den Fragen einer kräftig wirkenden Zollbeamtin stellen, die ihre Papiere kontrollierte.

»Guten Tag«, begrüßte sie Merit auf Deutsch. »Grund der Reise?«

Damit hatte sie nicht gerechnet. Merit sagte stockend: »Eine Bekannte hat mich gebeten … Ich soll ihren Kater versorgen.«

Die Miene der Frau verlor an Freundlichkeit.

Nicht die richtige Antwort. Wahrscheinlich dachte sie, Merit würde sie auf den Arm nehmen wollen. Um ein Lächeln bemüht, versuchte sie zu erklären, dass die Katzenbesitzerin den ganzen Sommer fort sein würde und sie das Tier unmöglich so lange allein lassen konnte.

»Name?«

»Merit Fournier.«

»Nicht Ihrer. Wie heißt Ihre Bekannte?«

»Ísrún Bryndísardóttir. Warten Sie«, Merit kramte einen Zettel hervor, »ich bin mir nicht sicher, ob ich den Namen richtig ausspreche.«

»Ach, Ísrún mit ihrem verrückten Köter.«

Hatte sie etwas falsch verstanden und die Vermieterin hatte sie als Dogsitterin angeheuert?

»Ein Hund?«

Das Gesicht der Zöllnerin verzog sich, und ein Laut war zu hören, der Ähnlichkeit mit dem Liebesruf eines Seehunds hatte. Ihr Doppelkinn zitterte, und als sie sich mit der Hand über die Augen wischte, dachte Merit im ersten Augenblick, die Frau weinte. Doch da hoben sich ihre Mundwinkel, und um die Augen herum bildete sich ein Kranz aus Fältchen. Sie lachte.

»Sie kennen sich?«, fragte Merit verunsichert.

»Ísrún Bryndísardóttir schreibt eine bekannte Kolumne, und der Köttur hat eine ziemliche Reputation. Kein Hund. Obwohl er groß genug sein soll, um einen Ihrer Deutschen Schäferhunde in die Flucht zu schlagen.« Das sagte sie auf Englisch. Wahrscheinlich beherrschte sie einige für ihren Job wichtige Redewendungen in verschiedenen Sprachen, was Merit ungewöhnlich, aber sehr gastfreundlich fand. Island, das hatte sie unterwegs erfahren, war nach einer dramatischen Bankenkrise nur mithilfe des Tourismus so schnell wieder auf die Beine gekommen.

Das Seehundlachen riss sie aus ihren Überlegungen, doch dann blickte die Zöllnerin unvermittelt wieder ernst. »Führen Sie Reit- oder Angelzeug mit sich?«

»Um Himmels willen, nein.«

»Dann ist ja gut. Sonst müsste ich prüfen, ob alles ordnungsgemäß desinfiziert ist.« Die Frau tippte sich an die Uniform-Kappe. »Welcome to Iceland!«

Damit war Merit entlassen. Sie fädelte sich in die Schlange der Fahrzeuge ein, die den Ort im Schritttempo in Richtung der Ringstraße verließen. Vor ihr lagen mindestens acht Stunden Fahrt bis Reykjavík, und sie hatte sich nach einem Tipp ihrer reiseerfahrenen Schiffsbekanntschaften für die südliche Route entschieden. Im Norden, so hieß es, wären nach dem Schneesturm der letzten Woche noch einige Straßen gesperrt. Nichts Ungewöhn­liches für Mitte Mai. Dem Rat, unterwegs zu übernachten, konnte sie nicht folgen. Ísrún erwartete sie am heutigen Abend, denn morgen schon würde ihre Vermieterin nach Kanada abreisen.

Keine Stunde später bedauerte Merit den Zeitdruck. Durch eine Landschaft wie diese durfte man nicht rasen. Es gab so viel zu sehen. Die Straße wand sich an Felsbrocken und Bachläufen entlang in die Berge. Vom Pass Fjarðarheiði hatte sie einen großartigen Blick auf Seyðisfjörður und musste die Heizung höher stellen, weil hier oben noch Schnee lag.

Die Landschaft, die sie auf ihrer Fahrt durchquerte, zeigte sich ihr in einer fantastischen Wildheit. Wie musste es erst im Inneren des Landes zwischen Geysiren und grollenden Vulkanen sein? Unterwegs passierte sie mächtige Wasserfälle und Wiesen in zartem Frühlingsgrün. In malerischen Fjorden funkelte die See in der Sonne unter blauem Himmel, der zwischen dramatischen Wolkenbildern hervorblitzte. Unvermittelt steckte sie in einer Talsenke in dichtestem Regen. Ein paar Kilometer weiter glitten Schafe und Pferde rechts und links der Straße scheinbar ohne Bodenhaftung durch Nebelbänke. Island hatte sich offenbar entschlossen, ihr alles zu zeigen, was es an Witterung im Wonnemonat Mai aufbieten konnte. Dass dabei auf ihrer Route gefährliches Schneetreiben ausgelassen wurde, empfand die Reisende als eine freundschaft­liche Willkommensgeste.

Als Merit endlich durch die Außenbezirke von Reykjavík fuhr, waren aus den veranschlagten acht Stunden Fahrtzeit mehr als vierzehn geworden.

Das Navi half ihr zwar, sich in den Straßen zu orientieren, dennoch erreichte sie ihr Ziel erst gegen Mitternacht, und da gab es selbst hier im Norden Europas im Mai noch eine kurze Phase der Dunkelheit. Sie schaltete den Motor aus, lehnte die Stirn gegen das Lenkrad und dankte trotz ihrer Kopfschmerzen den isländischen Elfen dafür, die lange Fahrt unbeschadet überstanden zu haben.

Ein solches Stoßgebet schien angebracht, schließlich musste man sich als Gast an die Landessitten halten, und jeder Tourist wusste, dass sich die Isländer sogar beim Straßenbau nach den Wünschen der Ureinwohner richteten. Hier glaubte man noch an die Existenz von Trollen und Elfen. Zumindest stand das so in jeder Broschüre, die sie während der Überfahrt gelesen hatte. Von einer Elfenbeauftragten war die Rede, die für magische Angelegenheiten zuständig sein sollte. Wenn das ein Marketingtrick war, dann ein ziemlich guter.

Das Haus gefiel ihr auf den ersten Blick. Rot gestrichen, mit weiß lackierten Fensterrahmen und einem tief heruntergezogenen grünen Dach wirkte es im Licht der Straßenlaternen zusammen mit den ebenso bunten Nachbarhäusern im Stadtteil 101 wie Perlen in einer farbenfrohen Kette. Merit gähnte, stieg aus, griff nach ihrer Tasche und überquerte die Straße, um an der Tür zu läuten.

Bevor sie den Finger auf die Klingel legte, schwante ihr bereits, dass niemand öffnen würde. Ob dieser Gedanke ihrem schlechten Gewissen, zu spät gekommen zu sein, entsprungen war, oder ob die Müdigkeit sie pessimistisch gemacht hatte, konnte sie nicht sagen. Was auch immer die Ahnung ausgelöst hatte, sie bewahrheitete sich: Ísrún ­Bryndísardóttir war nicht zu Hause.

Merit zog den Reißverschluss ihrer Steppjacke bis zum Kragen hoch und ließ sich auf die regennassen Stufen der Haustreppe sinken. Vielleicht schlief ihre Vermieterin schon und ein Anruf würde sie wecken. Peinlich, aber das musste sie riskieren, wenn sie sich nicht mitten in der Nacht auf die Suche nach einer preiswerten Unterkunft machen wollte, und schließlich waren sie verabredet.

Das Handy ließ ein paar jämmerliche Töne hören, dann verdunkelte sich das Display. Leer. Offenbar hatte sie das Ladekabel nicht richtig eingesteckt. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Ratlos starrte sie auf ihre rechte Schuhspitze, an der ein Zettel klebte. Sie zog ihn ab und las:

Dear Merit, ich musste früher los. Den Schlüssel bekommst du im Nebenhaus. Herzlichst, Ísrún

Darunter war ein Pfeil gemalt, über dem Islandtür stand.

Merit drehte sich um und wusste sofort, was gemeint war. Einen Augenblick später stand sie vor einer blau, rot und weiß glänzenden Tür, die mit isländischen Fähnchen dekoriert war. Unnötig zu erwähnen, dass die Besitzer auch den Rest des Hauses in den Landesfarben gestrichen hatten. Sogar die gestreiften Gardinen, hinter denen noch Licht brannte, passten ins Bild.

Nachdem sie sich eine höfliche Entschuldigung zurechtgelegt hatte, betätigte sie den dunkelblauen Türklopfer in Form eines Pferdekopfes, ein wenig bang, wer wohl in einem derart nationalbewussten Haus lebte.

»Gott kvöld. Guten Abend, bist du für Ísrún?« Die Tür hatte sich geöffnet, und eine Frau im Sari sah durch den schmalen Spalt zu ihr auf.

»Es tut mir leid …«, begann Merit ihre Entschuldigungsrede.

Doch die merkwürdige Nachbarin unterbrach sie in einem seltsamen Gemisch aus Englisch und etwas, das Merit für Isländisch hielt. »Ísrún fly Canada. Velkominn til ­Íslands. Köttur always hungry.« Mit diesen Worten reichte die Frau den Schlüssel heraus und schloss die Tür, bevor Merit sich bedanken konnte.

»O verflixt!« Der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Sie versuchte es andersherum – vergebens. Merit stellte die Tasche ab. Es gab noch eine Möglichkeit, aber dafür brauchte man beide Hände. Gegen die Tür gelehnt, betätigte sie die Klinke, schloss in die entgegengesetzte Richtung auf und fiel beinahe in den Flur.

Keine Minute später ließ sie ihre schwere Reisetasche auf die Holzdielen von Ísrúns Zuhause sinken. Morgen würde sie den Rest aus dem Auto holen, aber jetzt war sie zu müde dafür.

Sie sah sich nach ihrem Zimmer um. Links, direkt am Eingang, führte eine geschwungene Treppe ins Obergeschoss, neben der ein übervolles Schuhregal stand, davor ein flauschiger Teppich, darüber ein handgeschriebenes Schild: Schuhe ausziehen – bitte. Rechts klebte ein Papier am Türrahmen, auf dem sie ihren Namen las. Ihre Vermieterin hegte offenkundig eine Vorliebe für Hinweiszettelchen. Die obere Etage würde sie später erkunden, den nächsten Raum betrat sie eilig, er war dankenswerterweise mit Badezimmer gekennzeichnet. Gegenüber lag die weit geöffnete Küche.

Eine halbe Stunde später war der Kater mit frischem Wasser und genügend Futter versorgt, hatte sich aber nicht ­blicken lassen. Auf dem Tisch lag ein Brief, den sie jedoch nur kurz überflogen hatte, ohne viel zu verstehen. Merit zog die Bettdecke bis zum Kinn und schloss die Augen. Morgen würde sie versuchen, die eigenwillige Handschrift zu entziffern.

2.

Warum hatte er das merkwürdige Mädchen vom Schiff in letzter Minute angesprochen?

Von einem unerklärlichen Verlangen getrieben, hatte Kristján heute Morgen auf Deck unbedingt noch einmal ihre Stimme hören wollen. Eitelkeit hatte ebenfalls eine Rolle gespielt, der Wunsch, von ihr wahrgenommen zu werden. Das vorhersehbare Ergebnis: Während der gesamten Autofahrt war sie ihm nicht aus dem Kopf gegangen, dabei kannte er nicht einmal ihren Namen.

Gesehen hatte er sie schon am ersten Tag auf See. Sein Deutsch war zwar ziemlich eingerostet, doch als sie sich in der Lounge am Tisch hinter ihm mit Landsleuten unterhielt, verstand er genug, um zu wissen, dass sie das erste Mal nach Island reiste. Viel spannender als den Krimi, den sich Kristján vor der dreitägigen Überfahrt gekauft hatte, fand er den warmen Alt ihrer Stimme. Er regte seine Fantasie an, und er machte sich einen Spaß daraus, über das Aussehen der Sprecherin zu spekulieren.

Als sie schließlich aufstand, um das Restaurant zu verlassen, musste er vor Überraschung lachen. Die Frau hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit der kurvigen Brünetten, zu der er sie in seiner Fantasie gemacht hatte. Sie war groß genug, um mit ihrer schlanken Figur als ein junger Mann durchzugehen. Locker sitzende Jeans, klobige Stiefel und ein lässiges Hemd unterstrichen das Bild einer unkomplizierten Person ohne große Eitelkeiten. Ausgerechnet der strubbelige Kurzhaarschnitt gab ihr eine weibliche Note, dachte er, als sie sich mit gerunzelter Stirn zu ihm umdrehte. Offenbar hatte sie seine Reaktion richtigerweise auf sich bezogen.

Kristján klappte das Buch zu und erwiderte ihren Blick. Wenn sie gewollt hätte, wäre das die ideale Gelegenheit gewesen, ein Gespräch zu beginnen. Stattdessen musterte sie ihn nur kurz, reckte ihre schmale, von Sommersprossen bedeckte Nase in die Höhe, drehte sich um und ging weiter.

Die Enttäuschung bohrte sich ihm quälerisch langsam wie ein Rosendorn unter die Haut. Doch eigentlich musste er ihr dankbar sein. Keineswegs immun gegen die Ausstrahlung interessanter Frauen, hatte er sich vor einiger Zeit in eine Situation manövriert, die ihm reichlich Kopfzerbrechen bereitete, und er hatte sich vorgenommen, diesen Sommer einen deutlichen Abstand zwischen sich und allem Weiblichen zu wahren.

Das nächste Mal sah er sie am folgenden Vormittag in der Bar. Sie war der einzige Gast, und offensichtlich hatte der Barkeeper nichts dagegen einzuwenden, dass sie sich an den Flügel setzte und ein wenig herumklimperte. Kris­tján war kein großer Musikkenner, aber die Melodien gefielen ihm. Er ließ sich einen Kaffee servieren und sah ihr zu, wie sie selbstverloren und scheinbar tief in Gedanken versunken spielte. Dabei umgab sie eine Traurigkeit, die ihn seltsam berührte. Vielleicht lag es an den Dämonen, mit denen er selbst zu kämpfen hatte, dass er die Schatten zu sehen glaubte, die ihre Seele betrübten.

Während er also eine Fremde beobachtete, dachte er darüber nach, wenigstens einen dieser Dämonen endgül­tig loszuwerden. Das war natürlich ungerecht, denn Sundance war alles andere als ein Ungeheuer. Sie war eine schöne, sinnliche Frau, in deren Armen man sich verlieren konnte. Sunny, wie sie sich gern nennen ließ, stammte aus Arkansas und war verheiratet. Die Ehe lag, wie sie es formulierte, vorübergehend auf Eis, der Gatte sei meistens beruflich unterwegs.

»Ich will nur ein bisschen Spaß und guten Sex«, hatte sie Kristján nach der ersten Nacht erklärt.

Mit den Moralvorstellungen jenseits des Atlantiks kannte er sich nicht aus, aber diese Einstellung passte ihm gut. Ohne diese klare Ansage wäre es bei der einen Nacht geblieben. Er war niemand, der anderen die Frau ausspannte, und ganz sicher war er nicht auf der Suche nach einer Partnerin fürs Leben.

Doch wie es aussah, konnte ein Mann niemals vorsichtig genug sein. Menschen wie Sundance waren einfach nicht in der Lage, Vereinbarungen einzuhalten.

Anfangs war er nach jeder noch so anregenden Nacht in die eigene Wohnung zurückgekehrt. Später hatte Sunny immer öfter Gründe gefunden, damit er bis zum Frühstück blieb. Mal war es der Nachbar, vor dem sie sich fürchtete, mal eine Unpässlichkeit. Es kümmerte sie nicht, dass er in diesen Nächten nicht schlief, und selbst wenn sie nach den Gründen gefragt hätte, wäre es sein Geheimnis geblieben.

Sunny liebte Luxus und Partys. Anfangs hatte er sie gelegentlich begleitet, doch das gab er schnell auf. Als Pilot konnte er es sich nicht erlauben, nächtelang zu feiern. Ihre Freunde fand er überdies vulgär, das ahnte sie wohl auch. Im Bett lief es bestens, und das schien ihr zunächst genug zu sein. Seit einiger Zeit redete sie jedoch über Zukunftspläne, in denen er eine wichtige Rolle spielen sollte. Und kurz vor seiner Abreise nach Dänemark hatte sie ihm eröffnet, sich scheiden lassen zu wollen. »Um für dich frei zu sein, Kristján.«

Eine Geliebte mit einem Ehemann, der weit weg lebte und ihr den teuren Schmuck kaufte, den sie so sehr begehrte, war genau die Freiheit, die Kristján schätzte. Er wollte nichts ändern, fühlte sich überrumpelt, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Eine verbindliche Beziehung, wie sie es sich vorstellte, kam für ihn nicht infrage, und falls Kristján überhaupt jemals an Heirat denken würde, dann sicher nicht mit einer Frau wie Sundance. Dass sie ein paar Jahre älter war, störte ihn nicht. Aber dass sie wie eine Elster nach allem schielte, was glitzerte und ihr einen gewissen Status verlieh, hatte er von Anfang an nicht gemocht. Warum sie sich aus heiterem Himmel nicht mehr an die Abmachungen halten wollte, war ihm ein Rätsel. Zu Beginn hatte er es für eine vorübergehende Laune gehalten. Doch inzwischen hatte er verstanden, dass sie es ernst meinte.

Am Abend vor seiner Abreise war es – nicht zum ­ersten Mal – zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen. Sie hatte geweint, etwas, das er schwer ertragen konnte. Schließlich war er regelrecht geflohen. Eine Entschuldigung war also angebracht und ein klärendes Gespräch ebenfalls. Unterwegs hatte er sich überlegt, dies in ihrem Lieblingsrestaurant zu führen, wo sie einen klaren Kopf behalten und akzeptieren würde, dass sie in Zukunft getrennte Wege gehen mussten. Doch nun konnte es ihm gar nicht schnell genug damit gehen, und er fuhr direkt nach Laugarás, wo Sundance in dem Neubaukomplex, der zum weitverzweigten Imperium ihres Mannes gehörte, ein großzügiges Apartment bewohnte.

Während Kristján seinen neuen Wagen in die Tiefgarage fuhr, sagte er leise zu sich selbst: »Ich hätte dem Elfen­mädchen meine Karte geben sollen.« Niemand ließ sich die Chance auf einen kostenlosen Rundflug mit dem Heli entgehen.

Als er begriff, was er da redete, schlug er mit der Faust aufs Lenkrad. Was war nur mit ihm los?

3.

An ihrem ersten Morgen in Reykjavík sah sich Merit die Wohnung genauer an. Die klaren Linien des zeitgenössischen skandinavischen Designs gefielen ihr. Helle Farben verliehen den Räumen etwas Lichtes und eine heitere Atmo­sphäre, bei der sie sofort Lust bekam zu zeichnen oder zu malen. Hier fühlte sie sich wohl.

Die einzige Tür, die am Tag zuvor ungeöffnet geblieben war, führte in ein Wohn- und Arbeitszimmer. Der antike Schreibtisch mit Blick in den Garten fiel sofort ins Auge. Bücher stapelten sich darauf, und der Stuhl stand da, als hätte ihn seine Besitzerin gerade erst verlassen und dabei wäre unbemerkt der hellgrüne Pulli von der Lehne gerutscht. Daneben reichte ein Kratzbaum bis unter die Decke und bot jedem Katzentier einen wunderbaren Blick nach draußen. Doch sein erstklassiger Zustand ließ vermuten, dass Ísrúns Kater diesen Platz verschmähte und das ­karierte Plaid bevorzugte, das neben Grünpflanzen auf dem Fensterbrett lag, oder die helle Couch. Dem rothaarigen Flaum nach zu urteilen, der eines der Kissen bedeckte, machte er einen heftigen Fellwechsel durch. Merit sah sich schon mit Kamm und Bürste oder mit dem Staubsauger hinter dem Tier herlaufen und musste lachen. So einfach, wie sie geglaubt hatte, würde das Catsitting nicht werden.

Zwischen zwei überquellenden Bücherregalen führte eine Tür ins Schlafzimmer. Merit hob den Pullover zu ihren Füßen auf und ging hinüber. Das lackierte Eisenbett erinnerte sie an ihre Kindheit, in der ein fast baugleiches mit vielen Kissen ihr Lieblingsplatz und Rückzugsort gewesen war. Hell geblümte Baumwollvorhänge und ein weißer Teppich, der dazu einlud, die nackten Zehen hineinzugraben, gaben dem Raum etwas Intimes.

Merit widerstand der Versuchung, sich den Schmuck und andere Preziosen näher anzusehen, die über einem Schminktischchen verstreut lagen. Es wäre ihr wie ein unerlaubtes Eindringen in Ísrúns Privatleben vorgekommen.

Also schloss sie die Schlafzimmertür hinter sich und ging zur Treppe. Was mochte wohl dort oben sein? Doch die Antwort darauf lag vor ihr verborgen hinter einer verschlossenen Tür.

Damit beschränkte sich ihr Bewegungsradius im Haus auf das Bad, Ísrúns kombinierten Wohn- und Arbeitsraum und ihr eigenes Zimmer, in das außer dem französischen Bett nur eine Kleiderstange und eine Kommode passten. Für Merit war das dennoch Luxus, denn in Ferdinands Wohnung hatte sie keinen Rückzugsort gehabt, wohingegen er sich ein Büro gegönnt hatte, das er kaum nutzte.

Und dann war da noch die Küche mit Balkon zum tiefer gelegenen Garten. Gestern Abend hatte sie nicht darauf geachtet, aber bei Tageslicht war der seegrün lackierte Dielenboden ein Hingucker, in den sie sich sofort verliebte. Diese Wohnküche bildete das Herzstück des Hauses und hätte einer fünfköpfigen Familie ausreichend Platz geboten. Die mehrfach weiß gestrichenen Holzmöbel zeigten deutliche Gebrauchsspuren: Der Abdruck eines zu heißen Topfes auf der Tischplatte zeugte vom Leben und Arbeiten in diesem Raum, die gedrechselten Stuhlbeine hätten einen frischen Anstrich gut gebrauchen können, doch all diese kleinen Macken trugen zum unverwechselbaren Charme ebenso bei wie die hauchdünnen, viel zu langen Gardinen, die sich beim Öffnen der Balkontür wie Segel im Wind blähten. Das war Ferienhaus-Atmosphäre pur. Obendrein bot der Balkon ausreichend Platz, um die Sonne zu genießen, sobald es etwas wärmer wurde. Merit trat hinaus und blickte hinunter in den Garten. Die Häuser standen an einem Hang, der sich zum Hafen leicht hinabsenkte. Aus den Erkerfenstern über ihr würde man vielleicht sogar das Meer und die Berge sehen können, hier unten versperrten leider Nachbarhäuser die Sicht.

An der Hauswand lehnten zusammengeklappte Holzstühle. Daneben standen Farbtöpfe und eine verbeulte Blechdose, in der Pinsel steckten. Womöglich ein dezenter Hinweis der Vermieterin, den Möbeln das abgeblätterte Blau zurückzugeben, falls Merit sie im Sommer benutzen wollte. Sie hatte keine Ahnung, wie warm es in Island werden konnte, aber sie freute sich darauf, bei lauem Wetter hier draußen zu frühstücken. Die vertrockneten Pflanzen in den auf der Balustrade aufgereihten Töpfen würde sie ersetzen, sobald sie irgendwo in Reykjavík eine Gärtnerei entdeckt hatte.

Erfreut, eine erste Aufgabe gefunden zu haben, die sich ohne Schwierigkeiten lösen ließ, ging sie zurück in die Küche, um den Brief ihrer Vermieterin zu lesen, den sie gestern Abend nur kurz überflogen hatte. Oder das, was davon übrig war, denn in der Nacht hatte jemand die Blumen auf dem Tisch umgeworfen. Die bauchige Glasvase lag ganz nahe an der Tischkante und Merit stellte sie vorsorglich erst einmal in die Spüle. Das Papier war nass geworden und die Tinte stellenweise verlaufen. Obwohl sie ihn vorsichtig mit einem Küchenhandtuch trocken tupfte, war der Brief nicht mehr vollständig zu entziffern.

Soweit zu lesen war, entschuldigte sich Ísrún darin für ihren übereilten Aufbruch, sie hatte kurzfristig eine günstigere Flugverbindung bekommen und die Gelegenheit genutzt, Geld zu sparen. Ein weiterer eng beschriebener Briefbogen folgte mit einer Gebrauchsanweisung für die Wohnung. Von zwei Streunern war die Rede, die nach Gutdünken ein und aus gingen und um die sich Merit kümmern sollte. Hier verschwamm der Text ins Unleserliche.

Bisher hatte sie geglaubt, Ísrún besäße nur einen Kater, nämlich diesen Köttur. Aber gut, dann versorgte sie eben beide Tiere. Sie gab noch eine Handvoll Trockenfutter in den Napf, tauschte das Wasser aus und stellte die Schalen in die Nähe der Katzenklappe, bevor sie sich setzte, um die Listen mit Adressen von Cafés, Clubs und Supermärkten zu studieren, die Ísrún in einer Broschüre angestrichen oder notiert hatte.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Hinter ihr schnarrte es merkwürdig. Schnell fuhr sie herum, sah, was los war, und lachte. Die Küchenuhr bot einen heimatlichen Anblick, aber knapp unterhalb des Polarkreises hätte Merit nicht mit einem geschnitzten Schwarzwälder Modell gerechnet. Der Vogel krächzte mehrmals, bevor er sich zurückzog. Sein Ruf klang beleidigt. Bestimmt, weil das Türchen, hinter dem er mit einem ächzenden Laut verschwunden war, vernehmlich zuknallte, dachte sie ­belustigt.

Sonnenstrahlen tauchten die Küche unerwartet in ein warmes Licht. Die Wolkendecke war aufgerissen und zeigte einen kräftig blauen Himmel.

Merit verschob den geplanten Lebensmitteleinkauf kurzerhand auf später. Statt zwischen ­neonbeleuchteten Super­marktregalen herumzuirren und zu versuchen, ohne brauchbare Sprachkenntnisse isländische Lebensmittel zu identifizieren, machte sie einen Mai-Spaziergang. Als sie unter­wegs an einer Bankfiliale vorbeikam, ging sie spontan hinein, um nach den Bedingungen für eine Kontoeröffnung zu fragen. Das würde sie brauchen, sobald sie einen Job gefunden hatte. Außerdem hatte sie in der Eile vor ihrer Abreise nicht daran gedacht, eine eigene Kreditkarte zu beantragen oder sich nach irgendwelchen Kosten zu erkundigen, die erheblich sein konnten, wenn sie wie die Einheimischen überwiegend damit bezahlen wollte.

»Haben Sie eine Kennitala?«

»Ich glaube nicht, was ist das?«

Die Bankmitarbeiterin erklärte ihr kurz angebunden, dass sie diese Nummer benötige und von ihrem Arbeitgeber bekäme, sobald sie einen Job gefunden hätte. Man sah ihr an, was sie von Leuten hielt, die einfach in ein fremdes Land zogen, ohne sich vorher zu informieren.

Merit bedankte sich höflich und ging. Die Frau hatte ja recht.

Wieder draußen, googelte sie das seltsam klingende Wort und stellte fest, dass ein Leben in Island ohne Kennitala, eine Art lebenslange Registrierungsnummer, praktisch unmöglich war. Sie war mit einem Passbild versehen und vergleichbar mit dem deutschen Personalausweis. Man brauchte sie beispielsweise, um sich in einem Fitness-Club anzumelden und sogar, um Bonuspunkte im Supermarkt zu sammeln.

Geld verdienen musste Merit ohnehin, denn besonders viel lag nicht auf ihrem Konto, obendrein hatte sie die Überfahrt eine Menge gekostet. Wollte sie wie verabredet vier Monate bleiben, musste sie arbeiten oder eine gewisse Summe nachweisen, die ihren Aufenthalt finanziell absicherte. Die Schwestern wollte sie gewiss nicht um Hilfe bitten, und außerdem lernte man die Leute in einem fremden Land und ihren Alltag am besten kennen, wenn man gemeinsam mit ihnen arbeitete.

»Für einen anständig bezahlten Job«, sagte ihr der Mann in der privaten Arbeitsvermittlung gleich gegenüber der Bank, »sollten Sie Isländisch können. Hier spricht zwar fast jeder Englisch, das stimmt schon, aber Grundkenntnisse in unserer Sprache, bitte verzeihen Sie, wenn ich das sage, sind Voraussetzung dafür, dass ich Sie in unsere Vermittlungskartei aufnehme.« Mit sympathischem Akzent fuhr er fort: »Sie sind ja gerade erst angekommen. Sehen Sie sich im Internet nach Informationen um. Hier gibt es eine große Expatriate Community auch mit vielen Deutschen. Dort wird man Ihnen alles genauer erklären können.«

Merit bedankte sich und ging. Sie würde sich informieren und danach einen neuen Versuch starten. Das Wetter war im Augenblick viel zu schön, um sich Sorgen um die Zukunft zu machen.

Beim Anblick des glitzernden Meeres vor der schneebedeckten Bergkette, die zum Greifen nahe wirkte, glitt die Anspannung der letzten Tage langsam an ihr hinab wie ein Kleid, das man auszog, um es in die Wäsche zu werfen.

Anders als in Berlin, wo sie schon im April im Strandcafé am Wannsee unter einem dichten Blätterdach gesessen hatte, erwachte die Natur in Island erst langsam. Ein zartes Grün schmückte die Bäume in ihrer Straße. Die Ránargata war überwiegend von ein- oder zweigeschossigen Häusern in kräftigen Bonbonfarben gesäumt, die auch an trüben Tagen ein bisschen Fröhlichkeit in die Stadt bringen mochten. Sogar die Dächer leuchteten bunt. Was sie zuerst für Holzverschalungen gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als farbenfrohes Aluminium. Das, so vermutete sie, war dem rauen Klima geschuldet, das hier in der dunklen Jahreszeit zweifellos herrschte.

Reykjavík wurde im Reiseführer als eine junge Metropole bezeichnet, und dies galt offenbar auch für die Architektur. Die neueren Häuser ein paar Straßen weiter wirkten vergleichsweise kühl. Den weißen Turm der modernen Hallgrímskirkja sah Merit in der Ferne hoch aufragen und nahm sich vor, ihn bald zu besteigen. Von dort oben hatte man sicher einen großartigen Blick über die Stadt. Im Augenblick aber betrachtete sie staunend einen kristallenen Meteoriten, der direkt am Ufer eingeschlagen war. Unregelmäßig geformte Waben aus Glas und Stahl glitzerten wie die Schuppenhaut von Meeresbewohnern und zauberten ein sich ständig veränderndes Bild von Himmel und Wolken, die sich darin gemeinsam mit der Sonne spiegelten – ein faszinierender Fremdkörper zwischen dem Wohnviertel hinter ihr und dem bescheiden anmutenden alten Hafen. Nun verstand sie die Bemerkung eines ihrer Mitreisenden, der gesagt hatte: »Die Isländer spinnen, eine derartig große Konzerthalle zu bauen. Das wäre so, als würde Berlin ein Stadion für gut zweihunderfünfzigtausend Besucher planen«, hatte er ihr vorgerechnet und erzählt, dass mit etwa hundertzwanzigtausend Bewohnern mehr als ein Drittel aller Isländer in Reykjavík lebten. »Nicht, dass in Berlin so etwas jemals fertig werden würde.« Über den Kommentar hatten alle gelacht, nur Merit fand ihn ein bisschen ungerecht. Sie mochte ihre Hauptstadt, obwohl sie ihr nicht gutgetan hatte.

Doch nun lag das ja erst mal hinter ihr. Merit sog ihre Lungen voll mit dem prickelnden Aroma von Meer, Freiheit und … Curry? Sie hustete und sah sich dann überrascht nach der Quelle des köstlichen Dufts um. Ein indisches Restaurant hätte sie hier im hohen Norden zuallerletzt erwartet.

In diesem Augenblick spürte sie es so sicher wie den Wind, der ihr vom Meer entgegenblies: Berlin den Rücken zu kehren, um in Reykjavík zur Ruhe zu kommen, war die richtige Entscheidung gewesen. Der Schock über die unerwartete Trennung war noch zu frisch, wie auch der Schmerz und all die anderen unguten Gefühle, die in ihr tobten, sobald sie an Ferdinand dachte. Rasch wischte sie sich eine Träne von der Wange. »Heulen ist keine Option«, murmelte Merit in den Wind hinein.

Sie würde ihr Leben neu organisieren müssen, und dafür brauchte sie einen Plan. Aber zuerst brauchte sie Kaffee und ein gutes Frühstück. Alles Weitere würde sich finden.

4.

Das nächstgelegene Café sah nett aus, doch es war kaum besucht, nur am Fenster saß eine Gruppe Amerikaner. Sie unterhielten sich über ihre Erlebnisse im Norden der Insel, kritisch beäugt von einem Paar in Wanderstiefeln und mit dicken Outdoorjacken, die sich auf der Bank zwischen ihnen aufblähten wie Ballons.

Eine junge Frau kam an den Tisch und hielt ihr eine mehrsprachige Karte entgegen. »Hallo, womit kann ich dir helfen?«, fragte sie auf Englisch, als wüsste sie, dass Isländer hier niemals einkehren würden.

Dem Tonfall nach zu urteilen hatte sie keine Lust auf ihren Job, und Merit überlegte kurz, ob sie wieder gehen sollte. Aber ihr Magen verlangte mit einem leisen Grummeln danach, versorgt zu werden. Also bestellte sie das französische Frühstück – auch auf Englisch –, las im deutschsprachigen Reiseführer, den ihr jemand auf der Fähre geschenkt hatte, und stellte später beim Bezahlen fest, dass ihr wenig von den in Seyðisfjörður eingetauschten isländischen Kronen geblieben war. Fürs gestrige Mittagessen hatte sie unterwegs so viel hingelegt wie für ein gutes Drei-Gänge-Menü in Berlin. Die neue Sonnenbrille hatte ein weiteres Loch in ihre Barschaft gerissen.

Die Rechnung mit der Kreditkarte zu bezahlen mochte Merit ausgerechnet hier lieber nicht ausprobieren. Die Kellnerin war auch ohne die Mehrarbeit missmutig genug. Sogar ihr Trinkgeld nahm sie kommentarlos entgegen. Wenn sie überhaupt eine Reaktion zeigte, dann wirkte es wie Verachtung.

Normalerweise war Merit nicht auf den Mund gefallen. Zu Hause hätte sie dem übellaunigen Mädchen ganz sicher die Meinung gesagt, doch hier war sie fremd und kannte sich mit Sitten und Gebräuchen nicht aus. Also lächelte sie sparsam und ging hinaus. Dieser Laden würde sie kein zweites Mal sehen.

Aus der Ferne sah es einigermaßen einfach aus, in einem anderen Land zurechtzukommen, wenn man offen für Neues war und sich ein bisschen am Verhalten der Einheimischen orientierte. In Wirklichkeit gab es allerdings häufig Schwierigkeiten, mit denen man nie gerechnet hätte, ganz gleich, wie gut man sich vorbereitete.

Merit mochte Herausforderungen wie diese im Grunde gern, aber sie war ja gerade erst angekommen und würde Zeit brauchen, um sich auf den Rhythmus der fremden Stadt einzuschwingen. Das war bei all ihren Reisen und ganz besonders bei den Umzügen nicht anders gewesen, die sie mit ihrer Familie erlebt hatte.

Um nicht komplett unvorbereitet zu sein, hatte sie – den Erfindern der App sei Dank – auf der Fahrt von Berlin nach Reykjavík einen schnellen Sprachkurs für Reisende absolviert und konnte nun zumindest Guten Tag sagen oder nach der nächsten Tankstelle fragen. Für eine Touristin war das super, sie aber wollte mehr sein. Touristen, das waren in ihren Augen Leute, die durch eine Stadt liefen, ausgerüstet, als erwarteten sie jeden Augenblick, durch ein Flussbett ­waten zu müssen. Touristen trugen Schuhe, mit denen sie den Amazonas durchqueren konnten, und Jacken, mit denen sie sich selbst im Hochsommer gegen einen unerwarteten Schneesturm wappneten. Sie zelteten in Blumenrabatten, hinterließen ihren Müll in der Landschaft oder besuchten Kirchen in Badeschlappen und kurzen Hosen, was vielen Gläubigen verständlicherweise nicht gefiel.

Das war natürlich pauschal und ziemlich ungerecht, aber Merit wollte eben keine Besucherin sein, sondern mittendrin. Hier leben, wie sie in Berlin, Madrid und an all den anderen Orten allein oder früher mit der Familie gelebt hatte. Selbst wenn sie nicht lange bliebe, wäre es dem Gastgeberland gegenüber höflicher, ein paar Sätze in der Landessprache zu beherrschen. Außerdem wusste sie, dass der Arbeitsvermittler recht hatte: Ohne Sprachkenntnisse würde es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich werden, einen einträglichen Job zu finden, zumal »bildende Künstlerin« nicht gerade zu den stark nachgefragten Berufen gehörte.

Also nahm Merit die Broschüre der Sprachschule, die sie von ihm bekommen hatte, und hielt sie dem nächsten Passanten unter die Nase, um zu erfahren, wie sie dorthin kam. Der bärtige Hipster mit britischem Akzent erklärte den Weg und sagte, es wäre nicht weit. Nichts sei weit in dieser Stadt. Vermutlich kam er aus London.

Ihren Versuch, sich mit Takk fyrir zu bedanken, quittierte er mit einem Augenzwinkern und verschwand in einem Modeladen, dessen Auslagen sofort ihr Interesse weckten. Sie war gerade dabei, ein Kleid näher zu betrachten, da bemerkte sie den Mann im Gespräch mit einer Verkäuferin, beide sahen in ihre Richtung. Hitze stieg ihr in die Wangen, und sie wandte sich eilig ab. Womöglich dachte der Typ, ihre Frage wäre nur ein Vorwand gewesen, um ihn anzusprechen.

Die Sprachschule befand sich tatsächlich nur einen kurzen Fußweg entfernt. Hinter der Glasfassade des modernen Gebäudes saßen Gruppen von vier bis etwa zehn Schülern. Der Eingangsbereich wirkte lichterfüllt mit glänzenden Dielen aus Kiefernholz. An der Empfangstheke stand ein junger Mann und sah ihr entgegen. Er fragte etwas auf ­Isländisch und wechselte unkompliziert ins Englische, als sie ihn ratlos ansah. »Hallo. Ich bin Gunnar. Was kann ich für dich tun?«

»Ich brauche einen Job …« Merit stoppte verlegen. »Ich möchte Isländisch lernen«, korrigierte sie sich, »und es eilt ein bisschen, weil … einen Job suche ich auch.«

»Du hast Glück, in Guðrúns Schnellkurs ist ein Platz frei. Warte mal …« Er tippte etwas auf seiner Tastatur. »Du kannst gleich hierbleiben, wenn du willst. Der Unterricht beginnt in einer halben Stunde.«

Merit wollte – nachdem er ihr einen annehmbaren Preis genannt hatte.

»Hast du eine Kennitala?«

»Noch nicht, kann ich mich ohne die Nummer nicht anmelden?«

»Doch, natürlich. Es geht auch so. Ich dachte nur, du würdest vielleicht länger hierbleiben wollen«, sagte er und reichte ihr einen Anmeldebogen. »Würdest du das bitte ausfüllen?«

Als sie ihm die Unterlagen über den Empfangstresen zurückschob, ertönte ein Gong, und gleich darauf öffneten sich die Türen der Unterrichtsräume. Junge Leute strömten heraus, lachten und schwatzten in den unterschiedlichsten Sprachen.

Gunnar wechselte einige Worte mit einem Mann im gemusterten Islandpullover, sah dabei zur Tür und winkte schließlich jemanden heran. »Da kommt Guðrún, deine Lehrerin. Sie spricht übrigens gut Deutsch«, sagte er.

Der Kobold, der fröhlich zurückwinkte, sah überhaupt nicht so aus, wie Merit sich eine Frau mit diesem altbackenen Namen vorgestellt hatte. Sie war etwa im gleichen Alter wie sie selbst, mindestens einen Kopf kleiner, und ihre gesamte Erscheinung ließ sich am besten mit bunt umschreiben. Das dunkle Haar hatte sie in zahlreiche ­Büschel aufgeteilt, die von unterschiedlich farbigen Zopfbändern gehalten wurden und wie Pinsel vom Kopf abstanden. Ihre Kleidung sah nach Island-Ethno für Elfen aus. Das ­flächige Gesicht mit den hohen Wangenknochen, wie man es bei den Bewohnern des eisigen Randes der Nordhalbkugel häufiger fand, bot einen reizvollen Kontrast zu den mandelförmigen Augen. Guðrún nickte, als Gunnar sie einander vorstellte. Ihr Händedruck war energisch, aber nicht zu fest. Merit mochte sie sofort.

Der Unterricht erwies sich als anspruchsvoll. Ihre drei Mitschülerinnen, zwei amerikanische Studentinnen und eine Holländerin, arbeiteten konzentriert. Anfangs verstand sie kaum etwas, doch Guðrún ermunterte sie, die schwierige Aussprache einiger Wörter so lange zu üben, bis sie schließlich zufrieden nickte. »Gut gemacht! Du lernst schnell.«

Nach der Stunde bat sie Merit zu sich. »Gunnar sagt, du suchst einen Job. Was hast du dir denn vorgestellt?«

»Och, so ziemlich alles. Ich habe freie Kunst und Malerei studiert, da muss man sehen, wie man ein bisschen Geld zusammenkratzt. Ein Bühnenbild kann ich dir auch malen, aber wer braucht das schon?«

»Das weiß man nie so genau.« Guðrún schmunzelte. »Ich habe eine Idee! Mein Cousin Áki ist eigentlich Musiker. Zusammen mit einer Freundin wollte er ein Café eröffnen, um sich etwas dazuzuverdienen. Sein ganzes Geld hat er investiert, und dann ist sie einfach abgehauen! Jetzt sucht er jemanden, der sie ersetzt.«

»Das klingt interessant«, sagte Merit höflich. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie die Richtige für solch einen Job war. »Aber ich weiß nicht … sollte man nicht Isländisch können, um zu kellnern?«

Sie hatte zwar tatsächlich häufiger in Cafés oder Szene-Bars ausgeholfen, um über die Runden zu kommen, aber ein besonderes Talent besaß sie nicht darin, andere Leute zu bedienen. Dafür war sie viel zu unorganisiert, außerdem sah sie es auch nicht ein, sich von den Gästen grundlos schlecht behandeln zu lassen, wie es nicht selten in diesem Job vorkam. Ihre Schwester Katrine, die in einem Hotel arbeitete, hatte einmal gesagt, sie würde Merit niemals im Service einstellen. Sie selbst fand, dass es ihr an der für diesen Beruf erforderlichen Leidensfähigkeit mangelte.

Guðrún winkte ab. »Nicht zum Bedienen. Du sprichst doch Englisch?« Als Merit nickte, sagte sie: »Prima! Du kommst aus Deutschland, und Áki will seinen Laden im Berliner Stil einrichten.«

Merit fragte sich, was ein Berliner Stil sein mochte, aber vielleicht konnte sie Áki wirklich ein paar Tipps geben. »Ich kann gern mit ihm reden«, schlug sie vor. »Wo ist das Café denn?«

»Du gehst höchsten zwanzig Minuten zu Fuß.« Guðrún hielt schon ihr Smartphone in der Hand. Hæ! »Hallo Áki …«