13,99 €
Vielen Eltern fühlen sich hilflos und unsicher im Umgang mit Esstörungen. Dieses Buch hilft im Umgang mit Magersucht, Bulimie und Übergewicht.
Jedes fünfte Mädchen hat ein gestörtes Verhältnis zum Essen. Dabei sind Essstörungen von jungen Frauen nicht nur ein individuelles Problem, sondern können Ausdruck einer familiären und partnerschaftlichen Dynamik sein. Wie Angehörige helfen können, zeigt das Buch von Bärbel Wardetzki.
Themen, die u.a. im Buch behandelt werden:
- Ursachen für Esstörungen
- Konflikte, Wut, Schuldgefühle und Scham: wie man mit der Esstörung umgeht
- Veränderung der Familiendynamik: Konfliktvermeidung, Verantwortung und falsch verstandene Hilfe
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 324
Für meine Mutter
In der Therapie mit eßgestörten Mädchen und Frauen fällt immer wieder auf, welch große Bedeutung die Angehörigen sowohl für die Dynamik der Eßerkrankung als auch für die Genesung besitzen. Aus der Familientherapie wissen wir, wie wichtig es ist, die Familie einzubeziehen; dies gilt insbesondere für Suchterkrankungen. Auch bei den Eßstörungen ist es sinnvoll, nicht nur die Bulimikerin oder die Anorektikerin zu betrachten, sondern das Beziehungsgeflecht der gesamten Familie anzuschauen.
Im Kontakt mit den Angehörigen stellt sich häufig das Problem, daß sie sich aus unterschiedlichen Gründen heftig dagegen wehren, etwas mit der Erkrankung der geliebten Tochter oder Partnerin direkt zu tun zu haben. Auf der anderen Seite tun sie alles für die Betroffene, um sie von der Eßstörung wegzubringen.
Solche oder ähnliche Reaktionsweisen begegnen uns häufig in der Psychotherapie: Die Angehörigen fühlen sich zwar verantwortlich für die eßgestörte Tochter oder Partnerin, aber sie wehren sich gegen die Erkenntnis, Teil der Erkrankung zu sein, weil diese Sicht das eigene Selbstwertgefühl – vermeintlich – gefährden könnte. Dabei hat man nicht selten den Eindruck, daß die Familienmitglieder unbewußt ahnen, wie verstrickt die Familie in die Dynamik der Erkrankung ist.
Nun haben Angehörige oft eine große Furcht davor, beschuldigt zu werden: »Wenn ich dieses Therapeutengeschwätz schon höre – immer sind die Eltern an allem schuld!«, sagte neulich ein Vater zu mir. Hinter diesen – nach außen sehr »stark« wirkenden – Äußerungen verbirgt sich oft eine explosive Mischung aus Angst, Schuldgefühlen, großer Scham und vor allem tiefer Hilflosigkeit. Wenn es gelingt, mit den Angehörigen über diese Gefühle zu sprechen, erlebt man häufig, daß diese Menschen sich buchstäblich »in aussichtsloser Lage gefangen« fühlen. Dabei spielen fast immer auch verinnerlichte, unbewußte Normen eine große Rolle, die es den Betroffenen nicht erlauben, sich die Hilflosigkeit einzugestehen und sich die benötigte Unterstützung zu holen.
Das vorliegende Buch wendet sich an die Angehörigen von jungen Frauen mit gestörtem Eßverhalten. Es legt in einer gut verständlichen Sprache und mit vielen Beispielen aus der Praxis dar, wie die familiäre Verstrickung bei diesen Erkrankungen aussieht.
Es freut mich sehr, daß ein solches Buch einer mit dem Thema sehr gut vertrauten Kollegin jetzt vorliegt und den betroffenen Eltern und Partnern die grundlegenden Informationen vermittelt. Dabei ist mir bewußt, daß die Lektüre eines Buches nicht den Prozeß der individuellen Auseinandersetzung mit dem je eigenen Schicksal, zum Beispiel in einem therapeutischen Prozeß, ersetzen kann. Ich weiß allerdings auch, wie entscheidend und entlastend es für viele Betroffene und deren Angehörige ist, wenn sie erst einmal über die Krankheit informiert werden. Das ist die Voraussetzung dafür, daß die seelische Energie der Genesung zur Verfügung gestellt werden kann und nicht für den Kampf gegen die Schuld- und Schamgefühle verbraucht werden muß, die fast immer mit der Erkrankung eines Familienmitglieds einhergehen.
Entgegen dem erwähnten Gefühl der Aussichtslosigkeit bei den Angehörigen, gibt es nach meiner Erfahrung sehr wohl Wege zur Genesung der Bulimie und Anorexie – und es gibt auch Wege zur familiären Versöhnung. Die dazu notwendigen Prozesse brauchen allerdings Zeit – und vor allem die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im familiären System.
In einer Zeit nach wie vor zunehmender Eßstörungen bei beiden Geschlechtern wünsche ich den betroffenen Familienangehörigen, daß sie diesem Buch begegnen und es dazu beiträgt, sie zu entlasten und zu unterstützen.
Pulsnitz, im Juli 1995
Dr.med. Bernd SprengerLeitender Arzt der Psychosomatischen KlinikSchwedenstein – Pulsnitz, Sachsen
Wer um die Tatsache weiß, wie wichtig all die Menschen sind, die bei der Entstehung eines Buches direkt oder indirekt mitwirken, kann den Wunsch, ihnen zu danken, verstehen.
Zuerst möchte ich mich für die Mitarbeit und das Engagement der Eltern herzlich bedanken, die an den Gruppentreffen teilnahmen und mir ihre Geschichten erzählten. Es freute mich ganz besonders, daß einige Väter den Weg dorthin fanden, auch wenn in den letzten Stunden die Runde ein reines Frauentreffen wurde. Mein Dank schließt auch die Töchter ein, mit denen ich über ihre Sicht der Krankheit sprechen konnte. Wie immer, wenn mehrere dasselbe erleben, gibt es entsprechend viele Berichte. Jede Seite macht ihre individuellen Erfahrungen, die sich subjektiv oft von denen der anderen unterscheiden. Wir werden sehen, wie sich das bei den hier zitierten Eltern und Töchtern darstellt.
Dankbar bin ich allen, die bereit waren, die doch ziemlich aufwendigen Tests auszufüllen. Für die eßgestörten Mädchen und Frauen schien diese Aufgabe leichter zu sein als für manche Eltern, die durch die Fragen unfreiwillig mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert wurden. Um so mehr habe ich mich über die hohe Rücklaufquote gefreut.
Danken möchte ich auch allen Patienten und Patientinnen, durch die so ein Buch überhaupt erst entstehen kann. Durch sie und ihre Partner habe ich viel erfahren und verstanden, das ich nun an andere weitergeben kann.
Meine Hoffnung ist, daß die Eltern, Partner und die betroffenen Mädchen und Frauen durch unsere gemeinsame Arbeit Anstöße und Hilfe bekommen haben. Ich wünsche allen, daß sie ihren Weg finden und mit der Tochter beziehungsweise der Partnerin zusammen oder allein die Probleme, die aus der Eßstörung entstanden sind, überwinden und ein neues, positives Lebensziel für sich entwickeln können.
Die Idee zu diesem Buch entstand im Laufe meiner ambulanten therapeutischen Arbeit. Immer häufiger meldeten sich verzweifelte Eltern in meiner Praxis, deren Töchter an Bulimie oder Magersucht erkrankt waren. Es waren immer die Mütter, die mit mir Kontakt aufnahmen, obwohl die Väter ebenso ratlos waren.
Die andere Gruppe von Hilfesuchenden waren die Partner von zumeist bulimischen Frauen, die der Eßerkrankung hilflos gegenüberstanden und nicht wußten, wie sie mit ihrer Partnerin umgehen sollten.
Mir wurde erst allmählich das Ausmaß des Leidens der Angehörigen deutlich, da ich bislang, wie viele andere Therapeuten und Autoren auch, bei dem Thema Eßstörungen den Blick hauptsächlich auf die Betroffenen gerichtet hatte.
Daher gibt es ausreichend Literatur über Bulimie und Magersucht sowohl aus theoretisch-psychotherapeutischer Sicht als auch in Form von Erfahrungsberichten Betroffener. Bücher oder Ratgeber für die Angehörigen – im speziellen Fall die Eltern und Partner – gibt es nur sehr wenige. Eine Ausnahme machen familientherapeutische Abhandlungen, die die Charakteristika der Familienstrukturen beschreiben. Diese Bücher sind zum Großteil jedoch so theoretisch, daß sie den Eltern in ihrer speziellen Lage nur wenig Unterstützung bieten können.
Mein Anliegen in dem vorliegenden Buch ist es, Eltern und Partner in ihrem Leid und ihrer Hilflosigkeit anzusprechen und ihnen eine Identifikationsmöglichkeit mit den Geschichten anderer Betroffener anzubieten. Das Gefühl, nicht allein mit dem Problem zu sein und wahrzunehmen, wie es anderen Eltern und Partnern geht und was sie tun, um ihre Situation zu verändern, kann eine Unterstützung sein, aber auch ein Impuls, sich fachliche Hilfe zu holen.
Viele Beispiele und Zitate stammen aus meiner Beratungsarbeit mit Eltern, Töchtern und Partnern oder aus Interviews, die ich mit Betroffenen geführt habe. Persönliche Daten wurden entweder so verändert, daß keine Rückschlüsse auf die Personen möglich sind oder wurden von vornherein weggelassen, wenn sie zum Verständnis nicht nötig waren.
Ich spreche in der Mehrzahl der Fälle von eßgestörten Töchtern, obwohl ich natürlich weiß, daß auch immer mehr Jungen und Männer von Bulimie oder Magersucht betroffen sind. Leider gibt es dazu kaum Untersuchungen oder Veröffentlichungen. Es scheint jedoch so zu sein, daß die Probleme innerhalb der Familie sehr ähnlich gelagert sind und vieles von dem, was ich hier schreibe, auch für Eltern mit eßgestörten Söhnen zutrifft.
Dieses Buch wendet sich in erster Linie an die Eltern, obwohl zu den Angehörigen natürlich auch andere Familienmitglieder gehören, beispielsweise die Geschwister, denen ich daher auch ein eigenes Kapitel widme.
Auch wenn der inhaltliche Schwerpunkt auf der Eltern-Tochter-Beziehung und den familiären Hintergründen der Eßstörung liegt, ist vieles doch auch auf eine Partnerbeziehung übertragbar. Im besonderen trifft das für die Kommunikationsmuster und das Thema Co-Abhängigkeit zu.
Kollegen und Freunde haben meine Idee, ein Buch für betroffene Eltern zu schreiben, entweder erfreut aufgenommen oder mit Skepsis beantwortet. Die einen fanden es gut, da es Zeit sei, so ein Buch zu veröffentlichen. Die anderen warnten mich, da sie befürchteten, daß die Eltern das Buch als neuerliche Schuldzuweisung auslegen könnten und es deshalb ablehnen würden. Mein Anliegen ist es keineswegs, Schuldzuweisungen vorzunehmen, vielmehr möchte ich die Situation der Eltern, Töchter und Partner verdeutlichen und jedem die ihm gebührende Verantwortung übertragen. Wie Angehörige konstruktiv mit Schuld umgehen und sich von überflüssigen Schuldgefühlen befreien können, ist ebenso Thema in diesem Buch wie falsch verstandene Hilfe. Mein Ziel ist es, die Situation aller Beteiligten zu erleichtern und nicht, sie zusätzlich zu erschweren.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beinhaltet eine ausführliche Darstellung der Problematik, wie sie hauptsächlich von den Angehörigen erlebt wird. Ich beschreibe jene Themen, unter denen die Familien und Partnerschaften in der Mehrzahl der Fälle leiden und weswegen die Angehörigen Hilfe suchen. Dazu zählt unter anderem die Verleugnung der Krankheit durch die Betroffenen selbst sowie durch die Eltern und Partner. Die Hilflosigkeit gegenüber der Eßerkrankung führt in vielen Fällen dazu, ›die Augen zu verschließen‹ und zu hoffen, daß ›alles wieder gut wird‹. Wenn das nichts nützt, beginnen die Angehörigen damit, Schuldige zu suchen, die für die Eßerkrankung die Verantwortung haben. In der Regel befürchten sie, daß sie etwas falsch gemacht haben, das sich jetzt in der Krankheit der Tochter ausdrückt. Doch führt die Suche nach den Fehlern meist dazu, die Situation zu verschärfen statt sie zu bewältigen, denn sie endet in Schuld- und Schamgefühlen. Die Eltern glauben, schlechte Eltern zu sein, weil sonst ihr Kind nicht krank wäre. Aus diesem Grund versuchen sie alles zu tun, um zu helfen. Sie ordnen ihr Leben der Eßerkrankung unter, tun alles für die Tochter, versuchen Fehler zu vermeiden und das alles in der Hoffnung, die Tochter zu einem normalen Essen zu bewegen. Nicht selten führt dieses Verhalten zu gegenseitiger Kontrolle, Machtkämpfen und häuslichem ›Terror‹. Denn Suchtkrankheiten, zu denen ich Magersucht und Bulimie zähle, sind weder durch gutes Zureden noch durch aufopfernde Hilfe zum Stillstand zu bringen, sondern erfordern konsequentes und grenzensetzendes Verhalten der Umwelt, das jedoch in den meisten Familien fehlt.
Auch die Ärzte haben eine wichtige Rolle bei der Verleugnung oder Aufdeckung der Eßerkrankungen, weil sie meist die erste Anlaufstelle sind und Mädchen und Frauen daher helfen können, sich frühzeitig ihrer Eßstörung bewußtzuwerden. Das erreichen sie beispielsweise dadurch, daß sie die Betroffenen über die körperlichen Folgen, die ihr magersüchtiges oder bulimisches Eßverhalten hat, aufklären und sie damit konfrontieren. Die Voraussetzung ist jedoch, daß Ärzte Eßstörungen als Ausdruck seelischer Probleme anerkennen.
Im zweiten Teil beschreibe ich die in den meisten eßgestörten Familien anzutreffende Dynamik, die die Erkrankung mit aufrechterhält. Hierbei geht es nicht nur um spezielle Beziehungsmuster zwischen den Familienmitgliedern, sondern auch um Gesetze, wie Familien ›funktionieren‹. Familien werden als Systeme bezeichnet, die sich nach bestimmten Regeln verhalten, die meist unbewußt wirken und das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder bestimmen. Eßgestörte Familien unterscheiden sich von Familien, in denen keine Suchtkrankheit auftritt, durch eine Reihe dysfunktionaler Regeln. Dysfunktionalität im familiären System bedeutet soviel wie Mißfunktion oder schlechte, hemmende Funktion. Dysfunktional sind beispielsweise zu starre Regeln, die nicht geändert werden dürfen oder die Regel, daß man keine Konflikte ansprechen darf. Funktional ist die gute, hilfreiche, entwicklungsfördernde Regel.
Ein wesentliches Merkmal eßgestörter Familien und Partnerschaften ist die Vermeidung und das Nichtlösen von Konflikten, was jedoch zu immer größeren Spannungen und Problemen in der Familie führt. Daraus entstehen dann harmonie- oder streitorientierte Familien, die in der Regel nicht fähig sind, sich konstruktiv über Meinungsverschiedenheiten auseinanderzusetzen. Das Eßsymptom der Tochter dient häufig dazu, Familien zusammenzuhalten, die von Trennung bedroht sind. Eltern werden durch die gemeinsame Sorge um die Tochter ›zusammengeschweißt‹ und in ihrer Elternfunktion festgeschrieben. Die bestehende Paarproblematik bleibt dadurch unberührt.
Viele der dysfunktionalen Regeln finden sich auch in Partnerschaften mit einer eßgestörten Frau wieder, ebenso wie das Thema Co-Abhängigkeit, die Sucht der Angehörigen. Sie umschreibt spezifische Verhaltensmuster im Umgang mit der Süchtigen und ihrer Eßerkrankung, die diese aufrechterhalten, auch wenn sie als Hilfe gedacht sind. In Partnerschaften mit einer eßgestörten Frau finden sich spezielle Nähe-Distanz-Probleme, die sowohl eine intime Beziehung erschweren als auch eng mit dem Eßsymptom verbunden sind.
Der Zeitpunkt der Pubertät ist bei meiner Betrachtung ganz wesentlich, weil es die Zeit ist, in der die meisten Eßstörungen ausbrechen. Wie Eltern in dieser Zeit helfen können und was sie bestmöglich vermeiden sollten, ist ebenso Thema, wie die Situation der Tochter in dieser kritischen Entwicklungsphase. Ich beleuchte in diesem Zusammenhang auch den Einfluß von körperlichem, sexuellem und emotionalem Mißbrauch, der bei vielen Eßstörungen eine wesentliche Rolle spielt. Schließlich gehe ich auch auf die Rolle der Geschwister ein, obwohl dieses Thema nach wie vor ein Stiefkind der Wissenschaft ist.
Natürlich leben wir und verhalten uns nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Gesellschaft, die ihrerseits süchtig ist und Leistung, Anerkennung und Schönheit fordert, Ziele, die, wenn sie übertrieben werden, zu einem solchen Druck führen können, daß dieser sich in süchtigem Verhalten niederschlagen kann. Unsere Gesellschaft toleriert in hohem Maße Süchte, obwohl deren medizinische und psychotherapeutische Behandlung Milliarden kostet. Sie verdient jedoch auch Milliarden an Alkohol- und Nikotinsteuern, dem Konsum von Nahrungs- und Genußmitteln und dem unermüdlichen Arbeitseinsatz von ›workaholics‹, sogenannten Arbeitssüchtigen. Um in unserer von Leistung und Jugendlichkeit geprägten Gesellschaft ›mithalten‹ zu können, unterwerfen wir uns ihren Gesetzen, oft ohne wahrzunehmen, wie sie uns schaden. Frauen fangen an zu hungern, um schön zu sein, erreichen jedoch nie das Ideal, das sie sich stecken und das ihnen durch einen unerfüllbaren Schönheitsmythos vorgegeben wird. Sie versuchen, perfekt zu sein und besonders viel zu leisten, um ihre innere Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle auszugleichen. Doch wirklich ›satt‹ werden sie so nicht, der emotionale Hunger bleibt. Die Bewußtmachung dieser gesellschaftlichen Prozesse, die im einzelnen weiterwirken, kann im individuellen Fall zu einem Umdenken und einer positiven Entwicklung führen.
Der dritte Teil befaßt sich hauptsächlich mit Hinweisen, worauf die Angehörigen achten sollten, was sie tun können und was sie bestmöglich unterlassen. Eine effektive Hilfe von Eltern, Geschwistern und Partnern besteht nicht in Aufopferung oder Verurteilung, sondern in Unterstützung und Verständnis, verbunden mit der Wahrung persönlicher Grenzen und eigener Interessen. Statt die Eßstörung zum Lebensmittelpunkt zu erklären, sollten mehr die Menschen in den Vordergrund rücken. Denn weder ist der Tochter damit geholfen, daß die Eltern oder die Partner ihr Leben für sie aufgeben, noch ist die Tochter auf ihre Eßerkrankung zu reduzieren. Sie ist mehr als ihr Symptom und die Angehörigen sind mehr als die Gegner der Eßstörung. So wie die bulimische oder magersüchtige junge Frau lernen muß, eine autonome und selbstbewußte Persönlichkeit zu entwickeln, so müssen auch die Angehörigen lernen, sich von der Tochter zu lösen und ein eigenständiges Leben aufzubauen, unabhängig davon, ob sie krank oder gesund ist. Wie schwer das ist, wissen alle, die mit Eßsüchtigen zusammenleben. Doch nur, weil dieser Schritt schwer ist, ist er nicht unmöglich, sondern er ist die Grundbedingung, daß Eltern und Partner wieder zu einem lebenswerten Leben zurückfinden und die Tochter bzw. Partnerin eine Chance hat, ihre Eßstörung zu überwinden.
Ich habe eine Tochter, die seit zwei Jahren Bulimie hat. Es ist jetzt schon so schlimm, daß sie gar nicht mehr mit uns essen will, sondern nur für sich allein ißt und dann immer häufiger nachts, wenn wir schon im Bett sind. Sie räumt manchmal den halben Kühlschrank leer, fängt mitten in der Nacht das Kochen an und geht dann anschließend aufs Klo, um alles wieder zu erbrechen. Wir machen uns natürlich schreckliche Sorgen um das Kind, weil das ja nicht gesund sein kann, dieses viele Überessen und Erbrechen. Und dann hat sie auch schon abgenommen, weil sie ja immer schlank sein will.
Ja, und wir wissen jetzt gar nicht mehr, was wir tun sollen. Das Verhalten unserer Tochter ist aber fast noch schlimmer als das Essen, weil man mit ihr nicht mehr reden kann. Sie ist so aggressiv geworden, hat an allem etwas auszusetzen, und manchmal schreit sie auch und schlägt die Türen zu. Also wir, ich und mein Mann, wissen gar nicht mehr, was wir tun und wie wir reagieren sollen. Wir überlegen uns schon jedes Wort, das wir zu ihr sagen, um sie ja nicht noch mehr gegen uns aufzubringen. Aber das ist doch kein Leben, wenn ich jedes Wort auf die Goldwaage legen muß. Was sollen wir nur tun?
So oder ähnlich lauten die Klagen von betroffenen Eltern, deren Tochter unter Eß-Brechsucht oder Magersucht leidet. Vor allem wenn die Tochter noch zu Hause wohnt, sind die Eltern in hohem Maße mit in die Erkrankung verstrickt. Die Tochter ist es zwar, die mit dem Essen nicht normal umgehen kann, aber die Krankheit hat Auswirkungen auf die gesamte Familie, das Zusammenleben und die Stimmung daheim.
Wohnt die Tochter schon außer Haus, dann können die Eltern sich besser distanzieren, sie sehen nicht jeden Tag den Kampf gegen das Essen mit an und fühlen sich deshalb auch weniger verantwortlich für die Tochter. Dennoch leiden auch diese Eltern unter der Tatsache, daß die Tochter immer mehr abnimmt, nicht normal ißt, vielleicht auch Alkoholprobleme bekommt oder beginnt, rauschhaft einzukaufen oder zu stehlen, was häufig im Zusammenhang mit Eßstörungen auftritt.
Wir haben jetzt erfahren, daß unsere Tochter bereits 30.000 Mark Schulden hat, weil sie ständig einkauft. Manchmal zieht sie ein Kleid nur einmal an, dann wirft sie es weg. Sie war schon als Kind immer raffgierig und aß von jedem Teller so viel, wie sie bekommen konnte. Und das viele Essen, was sie verschlingt, kostet auch viel Geld. Aber das Einkaufen geht ja heute ganz leicht mit den Schecks und Kreditkarten. Und Alkoholprobleme hat sie auch schon. Sollen wir sie nun auf ihre Probleme hin ansprechen, oder verschließt sie sich dann vielleicht noch mehr? So ist es nämlich unserer anderen Tochter ergangen, die hat sie auf ihre Eßstörung hin angesprochen, und nun redet sie kein Wort mehr mit ihr. Das wollen wir ja vermeiden.
Sie zieht sich sowieso schon sehr zurück und erzählt uns kaum noch etwas. Auch nicht, als sie das letzte Mal ins Krankenhaus mußte, das haben wir erst viel später von ihr erfahren. Ich habe Angst, den Kontakt zu ihr ganz zu verlieren, auch weil sie weiter weg wohnt.
Der Umgang mit einer Eßstörung stellt Eltern, Geschwister und Partner vor viele neue Fragen. Sie sind konfrontiert mit einer Krankheit, von der sie bisher nichts wußten oder wenn, dann nur durch die Medien oder Berichte von anderen betroffenen Eltern. Aber nun sollen sie selbst betroffen sein! Unsere Tochter bulimisch oder anorektisch, undenkbar! Die Eltern fallen »aus allen Wolken«, denn bisher war doch alles in Ordnung in ihrer Familie. Die Tochter entwickelte sich normal, machte wenig oder keine Schwierigkeiten und sie fühlten sich als intakte Familie. Natürlich gab es immer wieder Schwierigkeiten, aber wo gibt es die nicht?
Nach diesem ersten Schreck und Entsetzen versuchen die Eltern meist, das Eßproblem der Tochter schnell in den Griff zu bekommen, mit dem Ziel, daß sie wieder normal ißt und vor allem an Gewicht zunimmt. Doch im Laufe der Zeit wird deutlich, daß alle Versuche scheitern und die Kluft zwischen den Eltern und der Tochter immer größer wird. Die Eltern versuchen es mit Strenge, mit gut Zureden oder Ignorieren, die Tochter wird immer unzugänglicher, dünner und weniger erreichbar.
Wenn sie mit ihrem ›Latein‹ am Ende sind, sich keinen Rat mehr wissen, wie sie ihrer Tochter helfen können und sie immer mehr unter der Krankheit der Tochter leiden, ist das häufig der Zeitpunkt, an dem sie fachlichen Rat suchen.
Auf die Frage, wie lange die Tochter schon hungert oder sich überißt und erbricht, können die Eltern selten konkrete Aussagen machen, denn in der Regel ist die Tochter schon einige Jahre erkrankt, bis sie ihren Eltern ihre Eßstörung eröffnet oder sie entdeckt wird. Ebenso kommt es in Partnerschaften vor, daß die Frau ihre Eßstörungen oft jahrelang dem Partner verheimlicht und dieser keine Ahnung hat, worunter sie leidet. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Wie kann eine Eßstörung, bei der das Mädchen oder die Frau kontinuierlich abnimmt oder unregelmäßig ißt und alles wieder erbricht, im familiären oder partnerschaftlichen Zusammenleben über Jahre hinweg unaufgedeckt bleiben?
Ein Grund ist sicherlich das Unwissen der Eltern und Partner von Betroffenen über Eßerkrankungen, weswegen sie gar nicht auf die Idee kommen, daß ihre Tochter/Partnerin eine Bulimie oder Anorexie entwickeln könnte.
»Daß es sowas gibt, hab ich nicht gewußt, bis ich es von meiner Tochter gehört habe«, sagt ein Vater überzeugend. Eltern und Partner sind also auf die Offenlegung durch die Betroffene angewiesen oder auf Hinweise, die ein gestörtes Eßverhalten oder deren Beginn anzeigen. Doch diese Indizien werden lange Zeit von der Tochter und der Partnerin versteckt und zum Teil auch von den Angehörigen verleugnet.
Vor ungefähr zwei Jahren, als wir mal Erbrochenes gerochen haben, da hat mein Mann gefragt, was das wohl sei. Aber es verging wieder und alles war normal. Aber jetzt wissen wir, daß unsere Tochter seit zwei Jahren Bulimie hat. Also das hat sie uns zumindest so gesagt. Es kann natürlich auch schon länger sein.
Nicht-genau-Hinschauen, Beschönigen, Erklären, Leugnen und Umdefinieren sind Mechanismen, die ein Erkennen der Eßerkrankung verhindern oder zumindest zeitlich verzögern. Sie wirken zuerst entlastend auf alle Betroffenen: Die Tochter und Partnerin braucht sich mit ihren Problemen nicht auseinanderzusetzen und kann so weitermachen wie bisher, und die Angehörigen müssen sich nicht sorgen.
Zudem sind Suchterkrankungen, zu denen ich Bulimie und Anorexie zähle – siehe dazu ausführlich die nächsten Kapitel – durch Heimlichkeit und Verleugnung gekennzeichnet. So wie die Süchtigen lange Zeit ihre Krankheit vor sich und den anderen verleugnen, tun es auch die Angehörigen, wenn sie einen Verdacht hegen. Oft ist es Angst und Hilflosigkeit der Suchterkrankung gegenüber und der Wunsch nach einer heilen Familie und Partnerschaft, die sie wegschauen lassen. Doch diese Haltung verstärkt die Eßstörung nur noch mehr.
Es gehört sicherlich etwas Mut dazu, die Tochter oder die Partnerin auf ihre Magersucht oder Bulimie hin anzusprechen, besonders dann, wenn die Angehörigen nur eine Vermutung haben. Und dennoch ist es meines Erachtens nach hilfreich, es so früh wie möglich zu tun.
Unsere Tochter kotzte meist ins Waschbecken, weil das schneller ging. Ich wunderte mich immer über das laufende Wasser und darüber, daß das Waschbecken ständig verstopft war. Unser Problem ist, daß wir noch nicht offen darüber mit ihr geredet haben. Es hieß immer, ich soll nichts sagen, mich zurückhalten. Dabei vermutet sie, daß ich etwas weiß, weil ich sie immer beobachte, das ist ganz klar. Und sie weicht immer mehr zurück. Vielleicht war es ein Fehler, unseren Verdacht nicht klar auszusprechen.
Wenn die Tochter beginnt, sich häufig über ihre Figur zu beklagen, sich einredet, sie wäre zu dick und müßte abnehmen und sie deshalb Diäten macht, kann das der Einstieg in eine Eßstörung sein. Oft ist es auch nur ein vorübergehendes Phänomen, das mit der beginnenden Pubertät verbunden ist und nach kurzer Zeit wieder vergeht. Aber auch in diesem Fall ist es ratsam, Ihrer Tochter zuzuhören und sie in ihren Sorgen ernst zu nehmen, statt diese als Kinderkram abzutun oder gar zu belächeln.
Deutliche Zeichen für eine beginnende Eßstörung sind, wenn die Tochter sich immer mehr zurückzieht, nicht mehr über sich erzählen will, dem gemeinsamen Essen fernbleibt, auffällig zu essen beginnt, immer mehr abmagert und häufig nach dem Essen aufs Klo geht. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an ein ernstes Eßproblem zu denken.
Auch in Zweierbeziehungen tauchen ähnliche Symptome auf: Die Frau entzieht sich mehr und mehr dem Partner, entwickelt sexuelle Unlust oder Abwehr, isoliert sich, verbringt immer mehr Zeit in der Küche oder beim Einkaufen, vernachlässigt Freunde und Hobbys beziehungsweise macht nur noch ›vordergründig mit‹. Nach außen hin hält sie weiterhin die positive Fassade aufrecht und tut so, als sei alles in Ordnung. Aber diese Haltung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie trotzdem – oder gerade deshalb – ein ernstes Eßproblem hat. Bevor ich weiter über die Problematik von Magersucht und Bulimie im familiären und partnerschaftlichen Zusammenleben schreibe, möchte ich einige Fakten zu diesen Eßerkrankungen darlegen. Falls Sie darüber schon ausreichend informiert sind, können Sie die nächsten zwei Kapitel überspringen.
Der gemeinsame Grundgedanke für die spätere Magersucht und Bulimie ist der Wunsch abzunehmen. Sei es, daß die Mädchen und Frauen real zu dick sind oder sich zu dick fühlen, auf jeden Fall wollen sie schlanker werden.
Das erreichen sie entweder über Diäten oder durch das Einschränken der normalen Nahrung, wobei sie hauptsächlich auf Fett und Kohlehydrate verzichten. Die Mahlzeiten bestehen dann bevorzugt aus Salat, Gemüse, Joghurt, Knäckebrot und allem, was nachweislich nicht dick macht. Das ist zwar in den seltensten Fällen das, was sie gerne essen würden, aber das einzige, das sie sich erlauben, zu sich zu nehmen. Bleiben sie bei ihrer herkömmlichen Nahrung und wollen oder können sie sie nicht reduzieren, so bleibt als Ausweg das Erbrechen.
Für mich ist die Bulimie die beste Methode, um weiterhin alles essen zu können und trotzdem abzunehmen. Wenn ich weiß, daß ich hinterher alles wieder erbreche, dann gestehe ich mir auch das Essen zu.
Die einen verwehren sich Nahrhaftes, die anderen erlauben sich Essen nur, wenn sie es nicht verwerten und wieder von sich geben. Wie auch immer, der natürliche Rhythmus von Hunger, Essen und Sattsein ist bei einer Eßerkrankung gestört. Magersucht und Bulimie gehören zu den weitverbreitetsten Eßstörungen, die wir kennen. Nach dem DSM III R (diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) zeichnet sich die Magersucht durch einen extremen Gewichtsverlust aus, der mindestens 25 Prozent des ursprünglichen Körpergewichts beträgt und der nicht durch eine körperliche Krankheit, sondern durch willentliche Nahrungsverweigerung verursacht wird. Eine Frau, die beispielsweise 50 kg wog, hungert sich allmählich auf ein Gewicht von 37 kg oder noch weniger herunter.
Bei der Bulimie, der sogenannten Eß-Brechsucht, magern die Betroffenen nicht in demselben Maße ab, sondern pendeln zwischen Freßanfällen und selbst herbeigeführtem Erbrechen hin und her. Oft ist es schwer zu sagen, wo eine Magersucht aufhört und eine Bulimie anfängt, da die verschiedenen Formen der Eßstörungen nicht eindeutig voneinander abgrenzbar sind, denn auch Magersüchtige haben – meist heimlich – Freßanfälle oder erbrechen ihr Essen und auch Bulimikerinnen können untergewichtig sein. Auch finden wir häufig einen Übergang von einer Form der Eßerkrankung zur anderen. Ungefähr 60 Prozent der Magersüchtigen entwickeln nach einiger Zeit eine Bulimie. Sie beginnen mit rapider Gewichtsabnahme durch Hungern und stark kontrolliertes Eßverhalten und enden in einem Teufelskreis aus Heißhungerattacken und Erbrechen. Oft geschieht der Übergang von der Magersucht zur Bulimie unter dem Druck der Umwelt, die Tochter oder Partnerin solle endlich essen. Die gutgemeinte Sorge führt dazu, daß die Magersüchtige bei Tisch ißt, um ihre Ruhe vor den Ermahnungen der anderen zu haben, dann aber heimlich aufs Klo geht und alles wieder erbricht, um nicht zuzunehmen. Die Bulimie kann aber auch als Folge der jahrelangen Zügelung des Essens auftreten, die dann endgültig in Gier und Freßattacken endet.
Der Emährungsbericht 1992 beinhaltet neueste Untersuchungen zum Eßverhalten in der Bevölkerung. Für die Bulimie wurde eine Auftretenshäufigkeit bei Männern und Frauen in der Bevölkerung der BRD von 2,4 Prozent ermittelt. Definiert wurde Bulimie dabei als: regelmäßige Eßanfälle mit extremer Gewichtskontrolle über Erbrechen, Einnahme von Abführ- und Entwässerungstabletten, Appetitzügler und Sport. Auffällig ist, daß eine Differenzierung des Eßverhaltens nach Alter und Geschlecht keine bedeutsamen Unterschiede ergab.
»Dieses Ergebnis widerspricht bisherigen Annahmen, wonach für Männer eine deutlich geringere Prävalenzrate (Häufigkeitsrate) als für Frauen angegeben wurde.« (Ernährungsbericht, S. 212) Davon gehen auch noch die bisher gültigen Zahlenangaben aus. Danach sind schätzungsweise 500.000 Frauen in der BRD an Bulimie erkrankt, das sind 3,5 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 35 Jahren (Fichter 1985). Feiereis spricht von 3 Prozent aller Mädchen/Frauen zwischen zwölf und 20 Jahren. Etwa 1,7 Prozent aller unter Bulimie Leidender sind Männer. Goff spricht von 5 Prozent. Bei all diesen Angaben müssen wir berücksichtigen, daß sie zum einen schon relativ alt sind und daß zum anderen mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden muß. Insgesamt müssen wir mit einer größeren Anzahl von Betroffenen rechnen, da ein ständiger Anstieg der Erkrankungen zu verzeichnen ist.
Laut Ernährungsbericht stellt in Kliniken die Behandlung von normalgewichtigen Bulimikerinnen mit 1174 Fällen den Schwerpunkt aller Eßgestörten dar. Magersüchtige, die nicht erbrechen, machen 805 Fälle aus, Magersüchtige mit Erbrechen 683. In 71 befragten Kliniken wurden 1991 insgesamt 3520 PatientInnen mit Eßstörungen behandelt, einschließlich Eßsüchtiger mit Übergewicht und Eßanfällen.
Die Anzahl der Magersüchtigen ist im Verlauf dieses Jahrhunderts immer mehr gestiegen, sie hat sich sogar in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Diese Aussage beruht jedoch hauptsächlich auf Schätzungen, da auch hier – wie bei der Bulimie – seit 1985 keine neuen epidemiologischen Untersuchungen (Untersuchungen über die Verteilungsrate von Eßstörungen) in Deutschland durchgeführt wurden. Auch der Ernährungsbericht macht leider keine Angaben über die Häufigkeitsrate für Magersucht.
Stützen wir uns wieder auf die Daten von Fichter von 1985, so können wir davon ausgehen, daß über 60.000 Frauen ab einem Alter von 12 Jahren in der BRD unter Magersucht leiden, das heißt jede 100. Frau beziehungsweise Mädchen zwischen zwölf und 20 Jahren. Weltweit sind es schätzungsweise 200 000 bis 400 000, von denen vier Prozent eine leichtere Symptomatik aufweisen. Die Auftretenshäufigkeit bei Jungen und Männern gegenüber magersüchtigen Mädchen und Frauen wird heute auf ein Verhältnis von ungefähr 1:9 geschätzt. Das bedeutet, daß auf neun eßgestörte Mädchen und Frauen ein Junge beziehungsweise Mann kommt. Fichter hatte 1985 noch von einem Verhältnis von 1:12 gesprochen. Die Häufigkeitsrate für männliche Magersüchtige beträgt 0,08 Prozent. Von zehntausend Jungen und Männern im Alter von zehn bis 25 Jahren erkranken also acht an Magersucht (zit. nach Stahr et al. 1995, S. 48). Auch hier kommt eine hohe Dunkelziffer hinzu, da viele Erkrankte heimlich hungern und daher nicht in den epidemiologischen Werten erfaßt sind.
Ich teile mit vielen KollegInnen die Meinung, daß mehr Männer an Eßstörungen leiden, als ihre geringe Anzahl in Kliniken oder ambulanten Praxen Glauben macht. Auch ist die Anzahl der Männer, die sich therapeutische Hilfe holen, steigend.
An den veralteten und ungenauen oder zum Teil sogar widersprüchlichen Zahlenangaben zur Auftretenshäufigkeit von Magersucht und Bulimie drückt sich das Faktum aus, daß die Forschung über Eßstörungen in der BRD relativ gering ist. Diese Tatsache habe ich mit großem Erstaunen und Verwunderung zur Kenntnis genommen, vor allem, wenn wir uns vorstellen, welche Ausmaße Eßstörungen heute schon unter Kindern und Jugendlichen annehmen. Dennoch scheint dieses Problem keinen großen gesellschaftlichen Stellenwert zu besitzen, um erforscht zu werden.
In einem persönlichen Gespräch mit Frau Merfert-Diete wurden mehrere Gründe deutlich, die dafür eine Rolle spielen könnten. Ein Hauptproblem epidemiologischer Untersuchungen (wie häufig EßSTÖRUNGEN unter welchen Bedingungen auftreten) ist zum einen das Geld, das, wenn es zur Verfügung steht, hauptsächlich für die Drogenforschung ausgegegben wird. Obwohl auch die anderen Süchte, allen voran Alkoholismus und Eßstörungen, immense Kosten für das Gesundheitswesen darstellen, werden in sie viel weniger Mittel investiert. Gerade die Prävention, die in Kindergärten und Schulen beginnen müßte, wäre im Fall der Eßstörungen von großer Bedeutung. Dazu allerdings wären Untersuchungen über die Verbreitung der Eßstörungen in bestimmten Altersgruppen nützlich oder sogar unverzichtbar. Nur die Erwähnung im Ernährungsbericht, es gäbe keine Alters- und Geschlechtsdifferenzen, ist meiner Meinung nach zu unspezifisch.
Eine weitere Schwierigkeit epidemiologischer Untersuchungen besteht in der Uneinigkeit der Definition von bulimischem und magersüchtigem Verhalten. Je nach theoretischer Ausrichtung ändern sich die Auffassungen der Untersucher, wer als bulimisch und wer als magersüchtig einzustufen ist und ob Eßstörungen mehr den psychosomatischen Krankheiten oder der Sucht zuzuordnen seien. (Psychosomatisch bedeutet, daß sich psychische Probleme in körperlichen Symptomen niederschlagen.) Dieser Streit betrifft vorwiegend die unterschiedlichen Kostenträger der Behandlung, die im Fall der Sucht andere sind als im Fall einer psychosomatischen Erkrankung. Eine Übereinstimmung der Definitionen wäre im Interesse der Betroffenen begrüßenswert.
Obwohl sich auch die Frage aufdrängt, ob und was sich ändern würde, wenn wir wüßten, wie viele Frauen und Männer unter Magersucht und Bulimie leiden, und wer überhaupt ein Interesse an der Forschung hat. Die Pharmaindustrie wohl kaum, weil EßSTÖRUNGEN nach wie vor nur in seltenen Fällen mit Medikamenten behandelt werden. Meines Erachtens müßten aber die Kostenträger ein Interesse haben, weil die Notwendigkeit für eine ambulante oder stationäre Therapie immer mehr steigt.
Störungsformen, Personengruppen und Altersstufen, die kein großes Aufsehen erregen, keine ausreichende Lobby besitzen oder an denen der Staat sogar noch verdient, scheinen in unserer Gesellschaft leicht ›vergessen‹ zu werden. Mit Alkohol- und Nikotinsteuern läßt sich das Staatssäckel aufbessern und an den Unmengen Essen, die für Freßanfälle gebraucht werden, verdient der Lebensmittelhandel. Eßstörungen sind die sogenannte ›Droge der Braven‹ (Daub, Lehnig, Merfert-Diete 1985), sie verlaufen unspektakulär, leise und im Schutz der Versorgung der Familie. Die ›Droge‹ selbst ist legitim und ihr Besitz stellt keine Straftat dar. Es drängt sich der Verdacht auf, daß Frauen, Kinder und Jugendliche, die vorwiegend betroffen sind, in einer patriarchal strukturierten medizinischen Versorgung zu wenig Interesse provozieren.
Obwohl Essen, Erbrechen und Hungern keine Suchtstoffe sind, können sie als Droge eingesetzt werden. Und in diesem Sinne spreche ich von Magersucht und Bulimie als Suchterkrankungen, obwohl diese Sichtweise umstritten ist. Das Hauptargument gegen diese Auffassung ist, daß der Bulimie und Magersucht ungelöste Konflikte zugrunde liegen, die sich im Eßsymptom ausdrücken. Daher seien sie keine Sucht, sondern psychosomatische Krankheiten. Ich bin ebenso der Überzeugung, daß Eßstörungen nicht nur eine schlechte Angewohnheit sind, die es abzutrainieren gilt, sondern daß sie in verschlüsselter Weise auf Probleme der Mädchen und Frauen hinweisen, die ansonsten keine direkten Ausdrucksmöglichkeiten finden. Das trifft jedoch für alle Arten von Suchterkrankungen zu, weshalb man sie zu den psychosomatischen Erkrankungen zählt.
Die Auffassung, Eßerkrankungen zu den Süchten zu zählen, schließt also die psychodynamische Sicht des Problems nicht aus, sondern ergänzt sie um das Faktum der Suchtdynamik, die einen großen Teil des Erlebens Eßgestörter ausmacht. Psychodynamisch bedeutet im weitesten Sinne, daß unverarbeitete seelische Konflikte und Probleme hinter einem Symptom verborgen sind beziehungsweise sich in ihm niederschlagen. Die Therapie muß daher die individuellen Schwierigkeiten aufdecken und durcharbeiten, damit das Eßsymptom überflüssig wird.
Zugleich besitzen Eßerkrankungen wie gesagt eine Suchtdynamik, die es parallel dazu zu behandeln gilt. Diese Suchtdynamik bezieht sich auf das Gefühl, das Essen und die Gier nicht kontrollieren zu können, die Angst, ohne das Suchtmittel nicht zu überleben und die immer wieder erfolglosen Versuche, die Sucht zu stoppen.
Insofern finden wir sowohl bei der Bulimie als auch bei der Anorexie viele Parallelen zu anderen Suchterkrankungen wie Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit, die bei vielen Eßstörungen zusätzlich auftreten. Was die Medikamente betrifft, geht es vor allem um die Einnahme von Abführmitteln, Entwässerungstabletten und, im Zusammenhang mit der Bulimie, Appetitzüglern. Langjährige Erfahrungen mit Patientinnen haben mir gezeigt, daß bei den Eßerkrankungen viele Suchtmerkmale zutreffen, die auch andere Süchte auszeichnen. Ein wesentliches Merkmal der Sucht ist der Kontrollverlust. Er besteht bei der Magersucht aus der Unfähigkeit, mit dem Hungern aufzuhören, bei der Bulimie aus dem Unvermögen, das zwanghafte Überessen und Entleeren (Erbrechen, Abführmittel, Fasten) einzustellen. Die Betroffenen können ihre Sucht nicht mehr stoppen, sie ›müssen‹ sich überessen, erbrechen oder hungern, wie unter einem Zwang. Die Droge ist dabei das Essen, Erbrechen oder Hungern.
»Freiwilliges exzessives Hungern ist nach Angaben von Patienten in der Wirkung dem Alkoholrausch sehr ähnlich. Eine Patientin, die Erfahrung mit übermäßigem Essen, mit exzessivem Hungern, Alkohol- und Medikamentenkonsum hatte, gab auf die Frage an, welches Suchtmittel die stärkste Wirkung auf sie ausübe: das Hungern. Hiervon käme sie am wenigsten wieder los.« (Bachmann, Röhr 1983)
Eine willentliche Kontrolle des Suchtmittels ist nicht mehr möglich, alle Versuche wie Versprechungen und Essenspläne scheitern. Der Entschluß: »Morgen esse ich normal, da fresse und erbreche ich nicht«, stellt sich lediglich als guter Vorsatz dar, ohne Konsequenzen für das Verhalten. Es liegt hier der verzweifelte Kampf gegen das Essen vor, der täglich immer wieder verloren wird und der an den Kampf des Alkoholikers gegen die Flasche erinnert.