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»Gott war bisher keine Option ...«
»Ich bin die verwaiste Schwester meines tödlich verunglückten einzigen Bruders und die Freundin eines ebenfalls tödlich verunglückten Lebenspartners. Wie finde ich als Atheistin Trost in einer traumatischen Lebenssituation? Wo finden gläubige Menschen Halt in schwierigen Lebenskrisen?«
Bärbel Schäfer erzählt in ihrem Buch von ihrer Suche nach Sinn. Sie gibt tiefe Einblicke in ihr Seelenleben, in ihre Wut, ihren Schmerz und ihre Verzweiflung. Offen beschreibt sie ihre Skepsis und ihr Hadern im Umgang mit Gott und den Religionen der Welt. Wird der Glaube für sie eine Option sein?
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2016
BÄRBEL SCHÄFER
Ist da oben jemand ?
Weil das Leben kein
Spaziergang ist
GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © privat
ISBN 978-3-641-18825-2V001
www.gtvh.de
Inhalt
Vorwort
1. Nieselregentod
2. Angst im Dunkeln
3. Woran glaubst du?
4. Reise der Trauer
5. Lametta
6. Bruderland
7. Fatmas Regeln
8. Trostpflaster mit Pirat
9. Warum beten?
10. Irgendwie metallisch
11. Aus der Zeit gefallen
12. Turritopsis dohrnii
13. Halbe Gesichter
14. Moosgrün
15. In Jesus verliebt
16. Laubhüttenfest
17. Was wäre, wenn ...
18. Fremdes Land
19. Warten auf Gandhi
20. Ist da oben jemand?
21. Rabbis Rat zum Glück
22. Loslassen
Dank
Für
Kay
Martin
und
Papa
In Liebe, wo immer ihr seid
Vorwort
Ich bin die verwaiste Schwester meines bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten einzigen Bruders.
Ich war die Freundin eines tödlich verunglückten Lebenspartners. Auch ein Autounfall.
Ich habe vor zertrümmerten Wagenresten an der Autobahnleitplanke gestanden.
Ich habe auf einer kleinen ländlichen Polizeistation die restlichen blutverschmierten Habseligkeiten meines Bruders eingesammelt.
Ich weiß, wie es ist, wenn dich nachts die Polizei aus dem Tiefschlaf klingelt und drei Minuten später mit einem Seelsorger vor deiner Wohnungstür steht.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn dir der Boden unter den Füßen weggerissen wird und du keine Leitplanke im Leben mehr hast, an der du dich festkrallen kannst.
Krisen werfen uns aus der Lebensbahn, und doch muss es mit Alltag, Kindern, Ehemann, Job und Freunden weitergehen. Ausnahmezustand.
Erinnerungen kann man nicht umarmen. Trauerschmerzen sind wie Aliens, die immer wieder auftauchen und dich quälen. Die Wunden bluten über Jahre. Du denkst, sie verkrusten, aber sie aktivieren sich durch eine Erinnerung, durch das eigene Aufkratzen.
Wer kann mich trösten?
Was kommt nach der Krise?
Wie werde ich sein? Stärker? Schwächer?
Was kann mich durchs Leben tragen?
Gott war bisher keine Option. An Gott zu glauben ist irgendwie nicht cool. Ich bin kein gläubiger Mensch. Ich schaffe das alleine. Wie immer. Wie alles.
Doch was spüren Gläubige, was ich nicht fühle?
Sieht, fühlt, empfindet Gott meinen ganz persönlichen Schmerz? Oder ist der schon abgestumpft durch das Weltgeschehen und hat die innere Kündigung eingereicht?
Wie funktioniert das, die Verantwortung für das eigene Leben nach oben abzugeben?
Ist das erstrebenswert?
Für mich?
Ich bin eine Verwundete, eine Suchende, und ich brauche Trost. Mit dem Tod meines Bruders komme ich an meine Grenzen, weiß nicht, ob ich nicht doch eine ausgestreckte Hand greifen muss.
Ist da oben jemand?
Mission Religion reloaded kann beginnen …
1.
Nieselregentod
Wortlos drücke ich die Hand meine Mutter. Die Wasserspritzer der vorbeirasenden Autos klatschen an unsere Waden. Wir stehen schweigend in einer Rechtskurve an der Autobahnausfahrt Pegnitz auf der A9. Deutschland, 17.10.2013. Mittagszeit.
Vor 48 Stunden war mein Bruder Martin hier die Ursache für einen kilometerlangen Stau und eine Verkehrsmeldung im Radio. Genau hier, in der Berliner Kurve der A9, überschlug sich sein Porsche mehrfach. Meine Eltern haben vor zwei Tagen ihren Sohn und ich meinen Bruder verloren. Er war der Jüngere von uns beiden, auf dem Weg von Zürich nach Berlin und sofort tot.
Krankenwagen, Leichenwagen, Abschleppwagen.
Jahrelang habe ich mich gefragt, wer stellt Holzkreuze mit verblassenden Plastikblumen am Straßenrand auf? Wer errichtet an den endlosen Bundesstraßen und Autobahnen, die unser Land durchfasern, Miniaturgedenkstätten für verstorbene Angehörige? Wer findet darin Trost? Nie war mir klar, wem das Innehalten an einem Ort, an dem alles in Bewegung ist, nützt. Woran glauben wir Menschen, wenn wir an Grabstätten Blumen und Kränze niederlegen?
Jetzt überlegen auch wir, so etwas zu tun. Über sechs Stunden lag der Blumenstrauß auf meinem Rücksitz, ich muss mir nur einen Ruck geben und über die Absperrung klettern. Es ist eine stille, bescheidene Geste, sich niederzubeugen und Blumen zu hinterlegen. Lächerlich. Reine Verzweiflung. Mir fliegt gerade das Leben um die Ohren, und ich lege Blumen auf einem Autobahnstreifen nieder, wo sonst nur Hasen kacken oder der Bauer gelegentlich den Feldrand düngt.
Plötzlich macht man diese Dinge, will ein Zeichen der Nähe, der Liebe setzen. Wir sind eine Familie, die von einer Sekunde auf die andere den Tod in ihrem Alltag hat. Davon gibt es Hunderttausende in unserem Land. Unbedingt mussten es für Martin die Blumen aus Rachels Laden sein, denn er ist die Brücke zur heilen Welt. Es ist der hilflose Versuch, das Zuhause an den Ort der Zerstörung zu transportieren. Die sinnlosesten Handlungen, nicht komplett den Verstand zu verlieren.
Ich klettere über die Leitplanke, ein LKW hupt und rauscht weiter. Schwer atmend laufe ich, die bunten Blumen in der Hand und mit einem Kloß im Hals, den Abhang hinunter. Die Absätze meiner Boots drücken in die Wiese, auf der sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Hier, wo ihm der Kopf vom Leib gefetzt wurde, suche ich nach Lebenszeichen, finde aber nur Flecken ausgelaufenen Motoröls, das in den winzigen Regenpfützen der Wiese glitzert.
Der Schmerz ist wieder da. Er pocht sich direkt ins Herz, breitet sich im gesamten Körper aus. Er scheint im Inneren meines Brustkorbes an Bändern zu zerren, bis mir die Luft wegbleibt. Ich öffne mein Jackett, atme durch, doch der Schmerz will mehr, er hat die Oberhand und lässt nicht los. Er drückt mir von innen das Wasser aus den Augen. Ich spüre ihn kommen, den Schmerz. Aber er schenkt mir auch etwas ganz Seltenes: Durch ihn sehe ich schärfer in die Welt. Aus den Ritzen und Narben kriecht das, was Leben ausmacht. Verlust, Tod, Liebe, Angst und Einsamkeit. Die Wundenmaschinerie läuft.
Zärtlich berühre ich die abgebrochenen Zweige am Waldrand, dessen Bäume den heranfliegenden Wagen gestoppt haben. Ich wische mir die Tränenspuren mit den herabhängenden Eichenblättern vom Gesicht, vielleicht haben sie seinen Airbag, seinen Leichnam vor zwei Tagen noch sanft berührt. Ich will das auch, ihn berühren, ihn streicheln. Meinen kleinen Bruder wieder und wieder in den Arm nehmen. Ich will, dass das hier ein Alptraum ist, aus dem ich gleich in meinem warmen Bett erwache.
Wo bist du, Martin? Nie in Berlin angekommen, und jetzt, wo finde ich dich? Unser Gesprächsfaden kann nicht durchschnitten sein, die Liebe wie mit der Rasierklinke abgetrennt. Das ist unfair. Und wenn unsere Dialoge ab sofort zu meinen Monologen werden, tut das weh. Wie soll ich diese Tatsache in mein trauriges Schwesterhirn reinhämmern? Komm zurück! Fuck.
Du warst mein Lebenszeuge, Kindheitsfreund, beruflicher Partner, Mitbewohner, Urlaubskumpel über so viele Jahre. Du fehlst mir.
Mein Herz brennt.
Ich bin nur noch halb.
Ich heule, bis meine Brillengläser von innen beschlagen und ich meine Mutter nur noch verschwommen neben der Leitplanke sehe. Langsam lasse ich meinen Blick schweifen und suche den perfekten Platz für den Blumenstrauß. Ich winke ihr zu, sie nickt. Zu zerstört, zu schwach, um ihren Arm zu heben.
Meine Mutter wollte diesen Ort sehen, an dem ihr Sohn starb. Sie wollte sich an dem Platz einfinden, an dem der Mensch, dem sie das Leben schenkte, zum letzten Mal ins Leben blickte. Ich begleite sie bei diesem Wunsch, froh, dass wir gemeinsam versuchen, den Schmerz zu teilen, obwohl jeder in seinem gefangen ist.
Kein Abschiedswort, kein Abschiedskuss. Stattdessen eine letzte SMS aus dem fahrenden Wagen Moin. Bärbel, ab Tempo 100 flattert das Dach. Call you aus Berlin.
Kann sie jemals wieder aus meinem Leben verschwinden, diese tiefe, schwere, lähmende Traurigkeit? Ich bin müde.
Wer kann mich auffangen? Hier im Dauerregen fühle ich keinen Boden mehr unter den Füßen, ich falle und falle in die dunkle Schwermut.
Unsere Blumen stecken jetzt am Waldrand. Ein leuchtender Fleck in alldem Grün und Braun. In wenigen Stunden sind sie verblüht. Abgeschnitten, aufgestellt, verblüht. Geboren, gelebt, gestorben. Irgendwo im Nirgendwo hat hier ein Herz aufgehört zu schlagen. Ein Leben mit Mitte 40 von einer Minute auf die andere ausgelöscht. Martin ist kein Lebensgefährte seiner Freundin, Geschäftsführer, Bruder, Sohn, Onkel, Freund oder Geliebter mehr, alles vorbei. Mausetot. Seine Anrufe, unsere Treffen, sein Alltag. Aus und vorbei. Ich bin so wütend auf ihn. Seine eigene Lebenslampe hat er mit dem Tritt auf das Pedal sinnlos ausgeknipst.
Nieselregentod.
Ich geb Gas, ich will Spaß, ich bin tot.
Plötzlich ist seiner der Name in der Todesanzeige.
Meine Jacke ist durchnässt, ich versuche, mir mit den Pulli-Ärmeln wieder klare Sicht zu verschaffen. Meine Mutter wirkt so verloren. Dünn und gebeugt steht sie an der Leitplanke, hinter ihr jagt ein Wagen nach dem anderen seinem Ziel entgegen. Ich habe Angst, zu ihr zu gehen. Wie wird sie es schaffen, weiterzuleben? Unser Familienleben steht gerade still. Mucksmäuschenstill. Nur die anderen rasen weiter. Jetzt sind es nicht mehr die anderen, jetzt sind wir es auch. Gezeichnete.
2.
Angst im Dunkeln
Der Tod klingelt Sturm.
Es ist der 15. Oktober, mitten in der Nacht. Das Dauerklingeln an der Haustür trifft mich im Tiefschlaf. Das schrille Drängen nimmt kein Ende, zwängt sich in meinen Gehörgang. Ich drücke mir das Kissen aufs Ohr und verfluche den neuen Club in der Seitenstraße gegenüber. Wahrscheinlich ein nächtlicher Klingelstreich. Ich werde schlagartig zum Schlafspießer. Mit müdem Gang schleppe ich mich zur Haustür, um komasaufenden Teenagern durch die Sprechanlage die Leviten zu lesen.
Zwei Polizisten blicken ins Kameraauge. Dienstmarken werden hochgehalten, mit der Bitte um Einlass. Ich bleibe skeptisch und verlange die Telefonnummer ihres Reviers und den Namen ihres Vorgesetzten. Gegencheck positiv. Die Beamten sind echt, unser Türdrücker summt. Polizei in the house, um zwei Uhr früh, bedeutet selten etwas Gutes. Früher haben sie uns um diese Zeit den Ghettoblaster rausgetragen, da haben wir ihr Klingeln provoziert. Aber die harten Beats pennen im Zuge der Jahresringe um die Augenfalten.
Die Beamten steigen die Stufen hoch. Schritt, für Schritt, für Schritt. Sie werden ihre Pflicht tun, aber was hat das mit mir zu tun? Als sie auf Höhe des ersten Stockwerkes sind, trage ich bereits die Jeans und das abgelegte Hemd meines Mannes sowie Panik im Nacken. Ich rieche an seinem parfümierten Hemdkragen, spüre, wie seine Hand in meine gleitet, atme tief ein.
Bei Etage zwei rast mein Fehlverhalten der vergangenen Tage als Roadmovie durch meinen verschlafenen Kopf. Diverse U-Turns über durchgehende Fahrbahnmarkierungen, die dunkelgelbe Ampel am Opernplatz, Parken in der zweiten Reihe samstags beim Gemüsehändler Badan gleich um die Ecke. Bis sie im Treppenhaus um die letzte Kurve biegen, bin ich mir einiger Schuld bewusst. Bereit, alles zu gestehen. Aber deshalb um diese Zeit eine Autofahrerin, mit zwei Punkten in Flensburg, aus dem Bett zu klingeln, wäre etwas zu dienstbeflissen, oder nicht?
Stockwerk um Stockwerk, mit festem Gang, kommt das Unglück näher. Ich fühle mich klein und hilflos.
Dritter Stock. Ich kann ihre Köpfe erkennen. Trete einen Schritt in den Flur und beuge mich über das Geländer. Kurz vor der letzten Kurve in den vierten Stock sind aus den zweien plötzlich die Schritte von drei Beamten geworden. Der dritte trägt keine Uniform. Eher eine Art beige Anglerweste, Nickelbrille, freundliches Gesicht, spärlich sprießender Bart. Typ Pettersson aus den »Pettersson und Findus«-Kinderbüchern, die bei meinem kleinen Sohn auf dem Nachttisch liegen. Ich spüre eine zittrige Angst und wundere mich, warum die den Fahrstuhl nicht benutzt haben, sondern sich mit den schweren Stiefeln nach oben kämpfen. In Krimis erscheint die Polizei doch nur persönlich an der Haustür, wenn ein Angehöriger tot ist, oder?
Diese Minuten sind meine Hölle im Hirn. Ich atme flacher, schneller. Die Nachricht kann nur schrecklich sein. Wie wird sich in wenigen Sekunden mein Leben verändern?
In der vierten Etage sind alle drei außer Atem.
Mein Herz rast. Ich friere. Ich umklammere fest die glühend heiße Hand meines Mannes, der zum Glück an meiner Seite steht. Niemand sonst gibt mir so viel Halt. Niemand sonst begleitet mich seit Jahren so intensiv durchs Leben. Er ist mein Leben, wir haben wirklich schon einige Krisen gemeinsam gemeistert, werden wir auch diese schaffen? Wird unsere Liebe stark genug sein für das, was wir jetzt erfahren?
»Guten Abend. Entschuldigen Sie die Störung.«
Wir stehen alle auf dem Flur. Ich bin wie schockgefroren. Unfähig zu handeln, bitte ich auch niemanden herein, als wollte ich unsere privaten vier Wände vor dem Unglück schützen.
»Sind Sie Bärbel Friedman, geborene Schäfer am 16.12. in Bremen?«
»Ja.«
»Es ist etwas passiert.« Der ältere, erfahrene Beamte holt tief Luft, atmet die Treppentour schwer aus. Blickt zum jüngeren Kollegen rüber und dann wieder zu mir.
Ich nicke, klar. Es ist etwas passiert, bin ja nicht behindert. Ich nehme meinen Mut zusammen und beginne mich der Wahrheit zu stellen. Check in Nanosekunden, wer lebt, wen habe ich wann, zuletzt und wo gesehen oder gesprochen? Mein Hirn gibt Gas, schaltet einen Gang höher, bevor er weitersprechen kann. In den Kinderzimmern befinden sich jedenfalls die zwei kleinen Menschen, die wir lieben und deren Leben mein Mann und ich intensiv begleiten, im sicheren Tiefschlaf. Ich atme tief ein und habe dabei das Gefühl, mich direkt in den Flur übergeben zu müssen.
»Mein Vater?« Frage ich kurzatmig. Er liegt zu diesem Zeitpunkt mit schlechten Werten in einer Herzklinik. Seit Wochen ringt ein Spezialteam um die Besserung seines Zustandes. Jede Woche versuche ich, hoch in den Norden zu fliegen. Sitze an seinem Krankenbett, baue ihn auf, führe Gespräche mit den Ärzten, lese ihm vor, erzähle Alltagsgeschichten oder halte nur still seine Hand. Das Team der Station hat meine Handynummer und ist angewiesen, mich, seine Lebensgefährtin oder Schwester direkt zu informieren, falls sich sein Zustand in der Nacht verschlechtern sollte. Ist das heute Nacht der Fall? Kämen dann Polizisten direkt an die Haustür?
»Nein, nicht ihr Vater.« Der Polizist schüttelt den Kopf, fährt sich mit dem Handrücken über die schweißglänzende Stirn. Er tut mir leid, es ist mitten in der Nacht. Vielleicht wäre er jetzt auch lieber bei seiner Familie.
»Meine Mutter?« Mein Mann drückt seine Hand fest in meine rechte Schulter. Seine Schwiegermutter ist erst gestern mit dem Wagen aus Norddeutschland zurück nach Frankfurt gefahren. Wir haben immer Sorge, wenn sie mit ihren 75 Jahren die vier Stunden auf der Autobahn unterwegs ist.
»Nein, es handelt sich um keine Frau.«
»Wer dann?«, presse ich heraus. Dieses Personenquiz ist mies. »Warum wecken sie uns, wenn es allen gut geht?« Mein Hirn ist leer vor Angst.
»Ihr Bruder, Martin Sc...«, beginnt der ältere Beamte.
»NEIN! Mein Bruder? Nicht mein einziger Bruder! NICHT MARTIN?« Ich werde laut. »Das ist ein Missverständnis, der ist in Berlin, wir haben heute früh noch miteinander telefoniert. Also der ist in Berlin.« Ich wiederhole mich.
Stille.
Der Polizist nickt wie in Slow Motion und blickt mir in die Augen. Ich sehe Tränen aufsteigen. Er klimpert mit den Lidern, kämpft seine Tränen runter. Jetzt klammere ich mich an den Türrahmen, während er weiterspricht.
»Ihr Bruder, Martin Schäfer, ist heute Mittag auf einer bayerischen Autobahn mit seinem Wagen tödlich verunglückt. Sein Wohnsitz ist, wie sie wissen, in der Schweiz, dadurch dauerten die Ermittlung und die Koordination der schweizerisch-deutschen Polizeireviere untereinander etwas länger.«
Zeitlupenstille.
Die Informationen rauschen an mir vorbei. Ich verstehe nicht alles. Nur dass mein Bruder seit einem halben Tag tot ist und wir es erst jetzt erfahren, durch die Polizei. Mitten in der Nacht? Weder seine Freundin noch deren Familie hat uns persönlich angerufen, obwohl sie es seit mehr als zwölf Stunden wussten. Das geht doch gar nicht, denke ich wie im Hirnhamsterrad. Das geht doch nicht. Martin ist tot. Error. Martin ist tot. Error. Martin ist tot. Error. Das kann nicht sein. Martin ist tot. Ist das Einzige, was ich wieder und wieder denken kann. Error. Gefangen im Hirnhamsterrad. Ausstieg mit der Frage:
»Sind noch andere Menschen bei diesem Unfall verletzt worden?«
»Nein.«
Mittags, A9, regennasse Fahrbahn, Überschlag des Autos. Überhöhte Geschwindigkeit, nichts mehr zu machen, Details zum Unfall, die Telefonnummer der bayerischen Autobahnpolizei, wo ich ab morgen seine persönlichen Dinge abholen kann. Dem jüngeren Beamten stehen jetzt auch Tränen in den Augen, vielleicht hat er auch einen Bruder. Das Licht im Flur geht immer wieder aus, alle zwei Minuten drücke ich auf den Schalter.
Ich stehe wie gelähmt neben meinem Mann und halte den Zettel mit der Kontaktnummer der bayerischen Landespolizei fest in der Hand. Ich falte ihn langsam zusammen, stecke ihn in die rechte Hosentasche und schaue auf meine Hände. Ich fühle mich nackt, ungeschminkt.
Den Beamten mag ich nicht in die Augen blicken, ich weiß nicht, was sie von mir erwarten. Klack, Licht wieder aus. Unsere fünf Konturen stehen im Mondschein, der durch das milchige Flurfenster ins Treppenhaus fällt. Klack, Licht an. Unsere Zeigefinger treffen sich auf dem Lichtschalter. Zucke zurück und warte auf meine Tränen. Ich reibe meine Hände, ärgere mich über meine dreckigen Fingernägel. Ich muss jetzt irgendetwas sagen, aber ich kann nicht. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Komisch, immer schleicht sich bei mir der Dreck unter die lackierten Nägel. Morgens reinige ich sie gründlich, und am Abend sind sie schon wieder schmutzig. Wo bleiben nur meine Tränen?
Ausgelöscht. Ein Leben. Vorbei.
»Soll ich bei ihnen bleiben, ich kann ihnen heute Nacht gerne helfen?« Der dritte Kollege, der Polizeipsychologe, geschult auf das Überbringen erschütternder Nachrichten, spricht mich jetzt direkt an. Ich hebe den Kopf, er nimmt meine Hände in seine. Bislang stand er etwas im Hintergrund, seine warme Stimme dringt zu mir durch. Ein Krisenprofi, der auffängt, tröstet und sicherlich viele Stunden mit Menschen verbringt, die so einen Schock alleine verarbeiten müssen. Flugzeugabstürze, Schulmassaker, Suizide, Autobahnkarambolagen, wenn die Angehörigen in die für sie bereitgestellten weißen Zelte geführt werden, weg von den Augen der Gaffer, ist er bestimmt da. Bis jetzt hat er auch mich nicht aus den Augen gelassen. Er wirkt nett, richtig nett. Das gehört bestimmt zum Jobprofil. Das andere Gesicht der Polizei. Er fragt noch mal, ob er nicht lieber bleiben soll. Klack, Licht aus. Diesmal drücke ich auf den Lichtschalter. Er schaut mich lange an, wie ein Tier unter dem Mikroskop fühle ich mich. Welche Reaktion wird von mir erwartet? Schreien, weinen, zusammenbrechen. Stark sein. Keine Hilfe annehmen, es alleine schaffen, so kenne ich mich, so habe ich bisher das Leben gemeistert, und es überrascht mich nicht, als ich mich sagen höre: »Ich wäre jetzt gerne alleine mit meinem Mann, aber danke.«