Italienisches Blut - Carolin Oelschlegel - E-Book

Italienisches Blut E-Book

Carolin Oelschlegel

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Beschreibung

Die 14-jährige Sienna lebt mit ihrem Vater, dem Bildhauer Emanuel Herzog, seit 10 Jahren allein, seit ihre Mutter fluchtartig Leipzig verlassen hat. Sienna hat keine Ahnung, warum sie fortgegangen ist, denn ihr Vater spricht nie darüber. Trägt Sienna die Schuld daran? Zu allem Übel macht ihr auch noch die Verlobte ihres Vaters das Leben schwer. In der Schule wird Sienna gemobbt, einzig ihr Freund Mo steht zu ihr. Ihr Mut und Zusammenhalt werden auf die Probe gestellt, als beide von einer kriminellen Bande entführt und für ihre Machenschaften eingespannt werden. Siennas Vater glaubt seiner Tochter die Entführung zunächst nicht. Aber schließlich wird er hellhörig und stellt Nachforschungen an. Was er herausfindet, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren. Auch Sienna stellt Nachforschungen an, und zwar zum Verbleib ihrer Mutter. Auf dem Dachboden findet sie eine Truhe und darin nicht nur Bilder und persönliche Dinge, sondern auch einen an die Mutter adressierten Brief. Es gelingt ihr, die Absenderin ausfindig zu machen - und endlich erfährt Sienna, wo ihre Mutter lebt. Mit etwas Hilfe gelangt sie nach Florenz und begegnet der Familie ihrer Mutter. Als sie erfährt, dass sie nach Rom gezogen ist, findet die Reise in der 'Ewigen Stadt' ein Ende - und damit ein lang gehütetes Familiengeheimnis ...

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ÜBER DIE AUTORIN

Carolin Oelschlegel ist Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Das Studium führte sie nach Leipzig, das in ihren Büchern auch des Öfteren als Schauplatz auftaucht.

Geboren wurde sie 1998 in Thüringen und hofft, sich ihre Begeisterungsfähigkeit für die kleinen Dinge im Leben sowie eine lebendige Einbildungskraft bewahren zu könne.

Ihr Notizbuch ist ihr ständiger Begleiter, ganz gleich ob auf Wandertouren quer durch Europa, in Zügen, in Cafés oder am Strand. Bislang hat es drei Kontinente kennengelernt. Jedes scheinbar banale oder auch skurrile Erlebnis und jede Begegnung bieten potenziell Stoff für neue Erzählungen.

Seit sie alle Buchstaben kennt, schreibt Carolin Oelschlegel Geschichten. Den Anfang bildete noch in der Grundschulzeit eine Ski fahrende Schwalbe mit Flugangst.

Inzwischen fühlt sich die Autorin neben dem Schreiben von Jugendbüchern auch in den Genres New adult diction, Fantasy und Romance heimisch.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Prolog

Kopfschüttelnd klappte Emanuel Herzog den Reisebericht zu. Hin und wieder ließ er sich gern in fremde Kulturen, ferne Länder und andere Weltsichten entführen. Jetzt jedoch verspürte er dieses Fernweh nicht. Mittlerweile hatte er denselben Abschnitt zum fünften Mal gelesen, ohne es überhaupt zu bemerken.

Unruhig sah der Bildhauer auf seine Armbanduhr. Es kam ihm wie Stunden vor. In Wahrheit waren aber erst siebenundfünfzig Minuten vergangen, seit er sich ins Wartezimmer gesetzt und das erstbeste Buch geschnappt hatte. Ein früherer Besucher hatte es wohl dort vergessen. ›Vielleicht war er genauso nervös wie ich‹, überlegte er. Seinem Ziel, sich abzulenken und seine Nervosität in den Griff zu bekommen, war Emanuel allerdings keinen Schritt nähergekommen. Er konnte selbst nicht fassen, dass ihn diese Sache so aus der Bahn warf.

›Emilia und ich sind doch bestens vorbereitet. Wir haben bereits jetzt Kleidung in vier verschiedenen Größen und ein ganzes Zimmer voller Windeln.‹ Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet ihm: Eine verdammte Minute war vergangen. ›Werde ich ab jetzt immer so nervös sein?‹, fragte er sich verwundert. Und würde diese beklemmende Besorgnis jemals verschwinden?

»Herr Herzog?«, erkundigte sich eine Stimme. Erschrocken fuhr Emanuel auf und richtete seinen Blick auf die eben in den Wartebereich getretene Krankenschwester.

»Ja, das bin ich«, brachte er mühsam hervor. Sein Mund war staubtrocken.

»Es ist so weit. Sie können jetzt zu ihnen gehen.«

Einen Moment lang war er wie gelähmt, bevor er mit wild klopfendem Herzen aufsprang und der Schwester folgte. Ein Wort wiederholte sich dabei in Endlosschleife in seinem Kopf: ›Endlich.‹

Das Erste, was Emanuel nach Betreten des Zimmers ins Auge fiel, war seine zufrieden lächelnde Ehefrau, die ein winziges Bündel in den Armen hielt. ›Es geht ihnen gut‹, dachte er erleichtert und konnte zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder befreit atmen.

Bei seinem Anblick wurde Emilias Lächeln noch breiter. »Komm und lerne deine Tochter Sienna kennen.«

Kapitel 1

»Wie schade«, seufzte Sienna Herzog betrübt, während sie die letzte Kiste in die Werkstatt ihres Vaters trug. Seine Skulpturenausstellung mitzuverfolgen, hatte ihr großen Spaß gemacht. ›Dass mir Paps erlaubt hat, die Einladungen und Werbeflyer zu gestalten, war super. Gut, dass ich nicht aufgegeben hab, bis er zugestimmt hat.‹ Nachdem sie ihm einen ersten Entwurf gezeigt hatte, war Emanuel Feuer und Flamme gewesen. ›Das mache ich nächstes Mal gleich so. Wenn er was vor sich sieht, stimmt er schneller zu.‹ Daran, dass es eine weitere Ausstellung geben würde, zweifelte Sienna keine Sekunde. ›Paps ist zu gut in dem, was er tut. Das müssen auch die Kunstkritiker einsehen. Ich bin gespannt, was sie schreiben werden.‹ Einer der Besucher hatte Emanuels Fragezeichen-Skulptur gekauft und direkt mitgenommen – auch wenn sie zwei Meter hoch war. ›Schon lustig. Vielleicht ist er ja ein genauso großer Die Drei???-Fan wie ich‹, dachte die Vierzehnjährige. ›Eigentlich sollte mir Paps danken, denn nur meinetwegen hat er die Skulptur entworfen und bekommt jetzt einen ganzen Batzen Geld. Als Belohnung könnte er mir doch eine neue Staffelei kaufen. Oh ja, das werde ich ihm sagen.‹

Vorfreude erfüllte Sienna bei diesem Gedanken. Schon vor einiger Zeit hatte sie in ihrem Lieblingsbastelladen eine Staffelei erspäht, die perfekt wäre. Bis auf den Preis, der sprengte ihr Taschengeld noch immer. ›Dabei hab ich schon so viel dafür gespart‹, dachte sie genervt. Woran Sienna gerade lieber nicht denken wollte, war der Grund, weswegen der Kauf der Staffelei verschoben werden musste, obwohl sie das Geld schon mal beisammengehabt hatte. Zwei ihrer Klassenkameraden, die Zwillinge Björn und Ben Birke, hatten es sich ab dem Moment ihres Kennenlernens vor über drei Jahren zur Aufgabe gemacht, Siennas Leben zu ruinieren. Wodurch sie ihren Zorn auf sich gezogen hatte, wusste die Vierzehnjährige bis heute nicht.

»Die sind einfach böse«, meinte Mourice Naumann, Siennas bester Freund. »Und voll eifersüchtig auf dich, weil du so kreativ bist. Was können die schon, außer auf anderen rumhacken und sie in Schwierigkeiten bringen?«

Mit Letzterem hatte Mo den Nagel auf den Kopf getroffen. Und daraus entstand das aktuelle Dilemma: Sienna musste die Reparatur eines der Fenster ihrer Schule bezahlen. Getan hatte sie nichts weiter, als im falschen Moment daran vorbeizulaufen. Die kaputte Scheibe hatten Ben und Björn zu verantworten, doch glaubte das dem Mädchen niemand. Zumindest niemand außer Mo. Nur hatte der keinen Einfluss auf die Untersuchung des Geschehens. Die Zwillinge galten als vertrauenswürdiger.

›Die sind einfach die größten Schleimer der Welt. Ein Wunder, dass die auf ihrer eigenen Schleimspur nicht ausrutschen‹, dachte Sienna schnaubend. ›Ich wünschte, die Birkenzwillinge wären nicht in meiner Klasse. Am besten gar nicht an meiner Schule. Dann hätte ich bestimmt mehr Freunde.‹

Es schmerzte Sienna selbst nach drei Jahren noch, dass Björn und Ben ihr quasi vom ersten Moment an jede Chance verbaut hatten, sozialen Anschluss zu finden. Und das nur, weil sie eine Lüge über Sienna in die Welt gesetzt hatten. ›Ich hatte nie Läuse. Und selbst wenn, wären die doch auch irgendwann wieder weg.‹ Aber die ersten Wochen, in denen sich ihre Mitschüler von ihr fernhielten, waren entscheidend gewesen. Die Birkenzwillinge hatten die Zeit effektiv genutzt, die Klasse gegen Sienna einzuschwören. Dagegen kam sie einfach nicht an. Und sie hatte sich wirklich darum bemüht, Freundschaften aufzubauen. Aber entweder ignorierten die anderen Sienna oder beschimpften sie. Viele der gemeinen Worte hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt, wohl auch, weil sie diese über die Jahre immer wieder gehört hatte. Ihre Haut war dadurch nicht dicker geworden, eher im Gegenteil. Vor dem Eintritt in die weiterführende Schule hatte sie sich mit sich selbst wohl gefühlt. Mittlerweile gab es aber häufig Tage, an denen Sienna ihr Bett am liebsten gar nicht verlassen hätte. Spaß am Unterricht hatte sie längst keinen mehr. Ein weiterer deutlicher Unterschied zur Grundschulzeit. ›Warum kann ich mich nicht unsichtbar machen?‹, dachte Sienna traurig. ›Das würde so vieles vereinfachen. Und wenn ich die Zeit manipulieren könnte, würde ich verändern, dass die Zwillinge im selben Jahr wie ich eingeschult werden. Außerdem würde ich die Sommerferien eher anfangen und länger dauern lassen. Die sind noch so ewig hin.‹

Der einzige Lichtblick am Schulbesuch war Mourice, der die Pausen mit Sienna verbrachte. Auf diese Weise hatte sie zumindest kurze friedliche Momente. Das fühlte sich immer wie eine Auszeit vom Schulalltag an. ›Doof, dass Mo ein Jahr älter ist. Sonst könnten wir Banknachbarn sein. Das wäre lustig. Und dann würden mich die anderen bestimmt auch eher in Ruhe lassen‹, dachte Sienna manchmal wehmütig. Seine bloße Anwesenheit hielt die Mobber von ihr ab. Breite Schultern und ein schlechter Ruf waren manchmal echt von Vorteil. Ohne Mourice hätte Sienna wohl längst das Handtuch geworfen.

Angefreundet hatten sich die beiden aber nicht erst am Gymnasium, sondern schon vor der Schuleinführung beim Kinderfußball. Die Liebe zum Sport verband Sienna und Mo. Es gab keine Sportart, auf die Mourice nicht neugierig gewesen wäre. Nur seine Fechterfahrungen würde er gern aus dem Gedächtnis löschen. Auch Sienna war das Gegenteil eines Sportmuffels. Manchmal war allerdings mehr nötig, um sie von ihrem neuesten Zeichenprojekt oder einem spannenden Buch wegzuholen. Ein Blaubeermuffin beispielsweise. Wie gut, dass Mo immer vorbereitet vorbeikam. In der fünften Klasse entdeckte er das Joggen für sich. »Das musst du auch ausprobieren, ist super«, versicherte er seiner besten Freundin. Die sträubte sich zunächst dagegen – bis er den mitgebrachten Blaubeermuffin herausrückte. Mittlerweile machte es ihr aber großen Spaß. Zudem war ihr bewusst geworden, welch guten Ausgleich Joggen zu stundenlangem Sitzen in der Schule bildete. Zugegebenermaßen hatte Mourice ihr einen Gefallen getan, was Sienna ihm aber natürlich nicht sagte. Sein Selbstbewusstsein war auch so schon groß genug.

»Rrrr«, »Rrrr« und ein drittes Mal »Rrrr«, dann setzte lautstark At the library von Green Day ein, wodurch Sienna unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Verwirrt setzte sie sich auf und tastete nach ihrem Handy.

»Ja?«

Vom anderen Ende der Leitung kam entnervtes Aufstöhnen. Dann rief Mourice: »Du hast verschlafen!«

»Hä? Das kann nicht sein. Es ist doch erst … Oh Shit, du hast recht«, erwiderte Sienna, jetzt hellwach.

»Was du nicht sagst«, entgegnete er sarkastisch. Statt zu antworten, legte Sienna auf, sprang aus dem Bett und zog die Klamotten an, die ihr aus dem Kleiderschrank entgegengeflogen kamen. »Shit, ich will nicht schon wieder nachsitzen«, fluchte sie.

Im Vorbeigehen ihren Rucksack ergreifend, verließ Sienna überstürzt die Wohnung. Dank ihrer guten Kondition holte sie zumindest ein wenig verlorene Zeit wieder auf. Am vereinbarten Treffpunkt wartete ihr bester Freund schon ungeduldig auf sie.

»Nett, dass du auch mal vorbeischaust«, lautete seine Begrüßung, direkt wie immer. Ihm zufolge sollte man sich nicht mit unnötigem Geplänkel aufhalten. Die so gewonnene Zeit konnte man dann wichtigeren Themen und Aktivitäten widmen – wie beispielsweise seiner absoluten Lieblingsbeschäftigung: Skateboarden.

»Versuchst du einen neuen Look?«, fragte Mo mit schief gelegtem Kopf.

Verwirrt erwiderte Sienna: »Nein, wieso?« Ein Blick an sich herunter zeigte ihr dann, was ihn stutzig machte. Weil ihr die Zeit gefehlt hatte, sich zusammenpassende Kleidung zu suchen, geschweige denn ihr Aussehen noch einmal im Spiegel zu überprüfen, war ihr entgangen, dass sie eine blaue Leggins mit weißen Punkten, dazu ein gelbes Top und unterschiedliche Turnschuhe trug. Diese Kombination an sich ging schon mal gar nicht. Was jedoch seine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, war ihr BH, den Sienna über ihrem Top trug. Jetzt endlich verstand sie die merkwürdigen Blicke der Passanten, an denen sie zuvor vorbeigerannt war. ›Heute ist echt nicht mein Tag‹, dachte sie und wäre am liebsten direkt wieder zurück ins Bett gekrochen. Dann erinnerte sich Sienna aber an den Motivationsspruch ihres besten Freundes, mit dem er sie ständig konfrontierte: »Scheiß drauf, was die anderen von dir denken. Deren Meinung kannst du eh nicht beeinflussen. Mach dein Ding.« Entschlossen straffte sie die Schultern und knurrte mit brennenden Wangen: »Halt jetzt bloß die Klappe.«

›Damit wird er mich ab jetzt ständig aufziehen‹, fügte sie in Gedanken hinzu.

›Sie lässt sich nicht unterkriegen‹, dachte Mo und war stolz auf seine beste Freundin. ›Natürlich werde ich sie das nicht vergessen lassen. Ist doch echt lustig. Aber Sienna soll sich auch daran erinnern, dass sie nicht beschämt nach Hause gegangen ist.‹

Für den Moment befolgte er ihren Rat und bot ihr freundlicherweise seine Jacke an. Ein belustigtes Grinsen konnte sich Mo dennoch nicht verkneifen.

Kapitel 2

Schlecht gelaunt kam Sienna am Nachmittag desselben Tages nach Hause. Ihr »modischer Fehltritt« war nicht unbemerkt geblieben. Wobei sie diesen natürlich zu korrigieren versucht hatte. Zumindest ihren BH hatte niemand mehr zu Gesicht bekommen. Doch es gab noch einen weiteren Grund für ihre negative Stimmung: Sie war zum Nachsitzen verdonnert worden. ›Und ich kann noch nicht mal was dafür. Das ist alles so unfair!‹ Ben und Björn hatten sich einen Spaß daraus gemacht, Sienna mit kleinen Papierkügelchen zu beschießen. Seltsamerweise hatte Frau Zanger nichts davon mitbekommen. Als Sienna jedoch eine der kleinen Kugeln aus ihren Haaren fischte, war die Geografielehrerin sofort zur Stelle gewesen und hatte das Mädchen aufgefordert, ihr die Kugel auszuhändigen. Nichtsahnend tat Sienna wie geheißen. Ein großer Fehler. Auf dem Zettel befand sich nämlich eine scheußliche Zeichnung ihrer Lehrerin mit einem gemeinen Spruch. Beides empfand Frau Zanger als persönlichen Angriff. Es war kein Geheimnis, dass Sienna leidenschaftlich gern zeichnete. Deswegen bestand für die Geolehrerin kein Zweifel an der Schuld des Mädchens. Sie kassierte den Papierfetzen ein und machte Sienna klar, dass sie sich deren Frechheiten nicht länger gefallen lassen würde.

»Aber das war ich nicht! Ich hab nichts gemacht!«, verteidigte sich Sienna.

»Natürlich nicht, du bist es doch nie«, erwiderte Frau Zanger mit vor Ironie triefender Stimme.

»Warum sehen Sie nicht, was hier gespielt wird? Ben und Björn versuchen mich mal wieder in Schwierigkeiten zu bringen!«, schrie Sienna wütend.

Die Lehrerin riss erstaunt die Augen auf. »Diesen Tonfall verbitte ich mir. Dafür wirst du nachsitzen. Und morgen früh gehst du direkt zum Schulleiter.«

»Aber«, setzte Sienna ein weiteres Mal an.

»Genug«, donnerte Frau Zanger so laut, dass die Tafelkreide erzitterte. Wie geschlagen wich Sienna zurück. Ihr Blick huschte zu Björn und Ben, die sie triumphierend angrinsten. Wie üblich schwieg der Rest der Klasse zu diesem Vorfall. Kameradschaft war für sie ein Fremdwort, hier zählte nur das Überleben des Stärkeren. Leider stand Sienna in der Nahrungskette ganz unten.

Verletzt wandte sich Sienna ab und rannte aus dem Zimmer. Frau Zangers Ruf ignorierte sie. ›So eine Bitch! Hat mir keine Chance gegeben. Nächstes Mal esse ich den dummen Zettel. Wie kann man nur so blind sein? Die ganze Schule hat sich gegen mich verschworen. Was hab ich ihnen denn getan? Ich hab nie jemanden beleidigt, mich mit keinem geprügelt, nichts geklaut oder kaputt gemacht. Und trotzdem hassen mich alle. Keiner glaubt oder hilft mir. Feige, alle miteinander. Und ich bin die Allerfeigste, denn ich hab´s mir viel zu lange gefallen lassen. Aber ich wollte immer noch Freunde finden. Warum gelingt das jedem anderen, nur mir nicht? Bin ich denn wirklich so eine schreckliche Person? Muss wohl so sein, sonst hätte mich Mum nicht verlassen.‹

Beim Gedanken an ihre Mutter Emilia brach auch noch das letzte bisschen Selbstkontrolle, das Sienna aufgebracht hatte. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht und laute Schluchzer entrannen ihrer Kehle. ›Warum bist du gegangen? Ich hätte dich gebraucht. Und das tue ich noch immer. Nicht mal deine Handynummer oder E-Mail hab ich. Ich will doch nur mit dir reden. Du fehlst mir so.‹ Trauer und Tränen überwältigten sie.

Irgendwann nahm Sienna ihre Umgebung dann aber doch wieder wahr und fand sich erstaunlicherweise in Mos fester Umarmung wieder. Gemeinsam saßen sie auf dem Sofa im Kreativraum. Das war Siennas Lieblingsplatz in der Schule und der einzige Ort, an dem sie sich halbwegs sicher fühlte.

Mourice kannte seine beste Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie nach dem Debakel im Geo-Unterricht hierherkommen würde. Erfahren hatte er davon, als Ben und Björn im Waschraum über ihren neuesten gelungenen Streich quatschten. Die beiden freuten sich diebisch darüber, Sienna angeschwärzt zu haben. Mourice hingegen war fuchsteufelswild. ›Diese Arschgeigen! Am liebsten würde ich ihnen den Hals rumdrehen. Wenn sie auch nur die Hälfte von dem aushalten müssten, was Sienna täglich mitmachen muss, wären sie längst zusammengebrochen.‹ Er bewunderte seine beste Freundin für ihr Durchhaltevermögen. Im Gegensatz zu gefühlt allen anderen an der Schule begriff Mo, dass Sienna seit Jahren gemobbt wurde. Sie mochte sich nach wie vor einreden, dass es vorbeigehen würde, aber er sah das anders. Leute wie die Birkenzwillinge hörten nicht einfach auf, dafür hatten sie viel zu viel Spaß an der Sache. ›Man muss sie dazu zwingen, aufzuhören!‹ Längst hatte Mourice den Überblick verloren, wie oft er schon auf dem Weg zu den Lehrern oder zum Direktor gewesen war, um sich offiziell zu beschweren. Aber jedes Mal hatte ihn Sienna gestoppt. Sie vertraute nicht auf die Hilfe der Erwachsenen. Das wunderte ihn wenig, da jeder Einzelne von denen sie bislang grandios im Stich gelassen, ihre Situation sogar verschlimmert hatte. ›Die sind doch alle blind für die Wahrheit‹, dachte er bitter. Er wusste, dass Sienna nichts mehr hasste, als im Mittelpunkt zu stehen. Dass sie sich deswegen aber herumschubsen ließ, gefiel ihm kein bisschen. ›Wenn ich ihr schon nicht helfen kann, indem ich es anderen erzähle, kann ich ihr wenigstens beibringen, für sich selbst einzutreten!‹ Das hatte sich Mo schon vor Jahren zur Aufgabe gemacht und daran arbeitete er seitdem kontinuierlich.

Zu gern hätte er den Zwillingen eine Abreibung verpasst. Aber sein Bedürfnis, nach Sienna zu sehen, war stärker. Zum Glück brauchte er nicht lange nach ihr zu suchen. ›Hier fühlt sie sich geborgen‹, dachte Mourice, als er seine beste Freundin zusammengerollt auf der Couch des Kreativraums entdeckte. Sie schien ihn zunächst gar nicht zu bemerken. Als er ihre Tränen sah und die herzzerreißenden Schluchzer hörte, wäre Mo am liebsten umgedreht und hätte Ben und Björn ordentlich verprügelt. ›Die wissen gar nicht, was sie mit ihrem Scheiß in Sienna auslösen. Und falls sie es doch wissen, gehören sie eingesperrt. Weit weg, damit die niemanden mehr verletzen können.‹ Wichtiger war jetzt allerdings, für Sienna da zu sein und sie aus ihren negativen Gedanken zurückzuholen. Niemand wusste besser als Mourice, wie sehr solche Episoden die Vierzehnjährige emotional aufwühlten und welche Zweifel sie in ihr auslösten. In solchen Momenten wünschte er sich Tanja zurück – sie war Siennas beste Freundin, lebte allerdings weit entfernt. Vom täglichen Wahnsinn bekam sie nichts direkt mit und Mo bezweifelte, dass Sienna ihr alles erzählte. Er murmelte beruhigende Worte in Siennas Ohr, während er sie an sich drückte und ihr über den Rücken strich. Binnen kürzester Zeit war die Vorderseite seines Shirts durchweicht.

Endlich beruhigte sich Sienna etwas. »Na, wieder zurück?«, versuchte er die Stimmung aufzulockern. Sienna nickte nur und schluchzte trocken. Mourice erkannte ihr Problem und reichte ihr rasch seine Wasserflasche aus dem mitgebrachten Rucksack. Dankbar nahm sie einige Schlucke.

»Bist du nicht eigentlich schon fertig für heute?«, erkundigte sie sich anschließend verwundert.

»Bin ich. Aber ich hab gehört, was passiert ist, und wollte nach dir sehen.«

›Shit, er ist meinetwegen noch hier‹, begriff Sienna und spürte schon das schlechte Gewissen.

»Lass das!«, rief Mo sogleich. Sie brauchte gar nicht nachzufragen, was er meinte. Er wusste immer, was in ihr vorging. So ging es ihr allerdings auch mit ihm. Das brachte ihre Begeisterung fürs Zeichnen und für Details mit sich: Sie war eine gute Beobachterin. Bei Mourice lagen die Dinge etwas anders: Er war einfach nur gut darin, Sienna zu lesen. »Jahrelange Erfahrung«, behauptete er immer.

»Ich versuch´s«, murmelte sie, als er nicht aufhörte, sie erwartungsvoll anzusehen.

»Gut. Und weißt du, was du noch versuchen wirst?« Fragend schaute sie ihm ins Gesicht. »Du wirst morgen Herrn Scott genau erzählen, was passiert ist. Nicht nur heute, sondern auch schon in den letzten Jahren. Er muss endlich alles erfahren und etwas dagegen unternehmen.« Entschlossenheit sprach aus seiner Stimme.

›Diesmal wird er mich nicht damit durchkommen lassen. Wenn ich es dem Direktor nicht sage, wird Mo es tun‹, erkannte Sienna und spürte, wie sich ein Klumpen in ihrem Hals formte.

Sanfter fuhr ihr bester Freund fort: »Ich möchte doch nur, dass es dir besser geht. Die Zwillinge müssen endlich checken, dass du nicht ihr punching bag1 bist!«

»Ich weiß. Wenn ich mich nicht endlich wehre, werden sie immer so weiter machen«, erwiderte Sienna und schockte Mourice damit in die Sprachlosigkeit. Es war das erste Mal, dass sie ihm zustimmte. »Das kommt jetzt überraschend, ich sehe es dir an. Aber ich kann nicht mehr schweigen. Du hättest mich vorhin mit Frau Zanger hören müssen. Ich hab sie angeschrien.«

Mo kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. »Das hätte ich zu gern gesehen«, murmelte er.

»Nein, hättest du nicht. Es war nicht schön«, entgegnete Sienna kopfschüttelnd.

»Vielleicht nicht. Aber dafür wichtig. Du bist für dich selbst eingetreten und das ist niemals falsch. Ich bin stolz auf dich.«

Sienna blinzelte hektisch, um die wieder aufsteigenden Tränen zurückzudrängen.

»Komm, ich bring dich zum Nachsitzen«, sagte Mo. Sie durchschaute sein Manöver, war ihm aber dankbar dafür.

»Sorry, dass ich dein Shirt durchnässt hab. Mal wieder«, meinte sie entschuldigend.

Er winkte ab. »So kann ich mir wenigstens die Dusche sparen. Und außerdem bist du nicht geschminkt, das ist definitiv ein Pluspunkt.«

Seine Worte entlockten ihr ein belustigtes Schnauben, was ihm zehnmal lieber war als ihre Tränen.

Am Nachsitzerzimmer angekommen, erwartete der eingeteilte Lehrer Sienna bereits ungeduldig. »Da bist du ja endlich!«

Sie straffte die Schultern und entgegnete mit Blick auf die Schuluhr an der Wand: »Ich habe noch zwei Minuten.« Das ließ ihn irritiert dorthin blicken, bevor er nickte und sie dann zu einem der freien Plätze winkte.

Mo drückte Siennas Schulter und grinste sie anerkennend an. Mit den Lippen formte er ein »Bis später« und verschwand.

Seufzend setzte sich Sienna, während sie zugleich darüber nachgrübelte, dass sie sich gerade verteidigt hatte und nichts Schlimmes passiert war. Der Lehrer hatte sie nicht bestraft, sondern lediglich hingenommen, dass sie im Recht war. ›Das fühlt sich gut an‹, gestand sich Sienna ein und verspürte denselben Stolz auf sich selbst, den sie sonst nur vom erfolgreichen Abschluss einer Zeichnung kannte. Dies würde sich lohnen, weiter zu erforschen.

Das Nachsitzen dauerte endlos. ›Im Leben war ich nicht nur eine Stunde da. Die Uhr hat gelogen‹, dachte Sienna überzeugt. Die zusätzlichen Aufgaben waren nach kurzer Zeit erledigt, auch wenn Frau Zanger behauptet hatte, es seien extra schwere. Nach Hause gehen durfte Sienna trotzdem nicht. Ihrer Stimmung entsprechend zeichnete sie einen verregneten Spätherbsttag. Als die Zeit endlich doch abgelaufen war, entschied sie sich spontan, nach Hause zu joggen, Dampf abzulassen. Tatsächlich ebbte ihre Wut dadurch ein wenig ab. Der Eindruck, ungerecht behandelt zu werden, hielt jedoch weiter an, was Sienna in ihrem Entschluss bestärkte, eben dies dem Direktor am darauffolgenden Morgen zu sagen. ›Bringt ja nichts, es weiter in mich reinzufressen. Die hören nie auf, wenn ich sie nicht dazu bringe!‹

Um in ihr Zimmer zu gelangen, musste Sienna das Wohnzimmer durchqueren. Normalerweise störte sie das nicht, doch heute war kein normaler und ganz bestimmt kein guter Tag. Das hatte sie schon beim Aufstehen zu spüren bekommen und erhielt nun eine weitere Bestätigung dafür durch ihren Vater. Auf der schwarzen Ledercouch sitzend, erwartete er sie. Mit den übereinandergeschlagenen Beinen und dem ernsten Gesichtsausdruck wirkte er angespannt. Das überraschte Sienna. ›Er war so gut drauf in den letzten Tagen. Die Ausstellung lief zu glatt für schlechte Laune.‹ Dennoch versuchte es Sienna mit einem halbherzigen: »Hallo Paps«. Er überging allerdings ihre Begrüßung und kam gleich zur Sache: »Warum kommst du so spät?« Bevor sie reagieren konnte, fügte er ungehalten hinzu: »Wir waren zum Mittagessen verabredet.«

Mist, das hatte sie total vergessen. Ausweichend antwortete sie: »Na ja, ich musste noch was erledigen.«

»Und was war so wichtig, dass du nicht einmal anrufen und Bescheid sagen konntest?«, wollte ihr Vater wissen und musterte sie aufmerksam. Zu aufmerksam. ›Er weiß schon, warum‹, begriff Sienna. ›Paps testet, ob ich ehrlich zu ihm bin.‹ Dass er sich dessen überhaupt versichern musste, versetzte ihr einen Stich. ›Er weiß doch, dass ich nicht lüge. Oder zumindest wusste er das früher. Bevor alles schiefging zwischen uns.‹ Schnell schob sie den Gedanken an früher beiseite. Das brachte doch nichts außer Traurigkeit und Bedauern mit sich. Schicksalsergeben erwiderte sie: »Ich war noch in der Schule, weil ich nachsitzen musste.«

»Warum denn jetzt schon wieder?«, fragte ihr Vater, wobei seine Enttäuschung nicht zu überhören war.

»Ich konnte nichts dafür! Echt. Die Birkenzwillinge sind schuld. Die haben mir das eingebrockt«, antwortete Sienna, wobei sie einen rechtfertigenden Unterton nicht verhindern konnte.

»Du kannst die Schuld nicht immer auf andere schieben. Wenn du schon einen Fehler machst, solltest du wenigstens dazu stehen!«, konterte ihr Vater unwirsch.

»Aber ich habe nichts getan«, protestierte Sienna und war stolz darauf, sich nicht einschüchtern zu lassen. Dieses Hochgefühl hielt jedoch nicht lange an. Ihr Vater schüttelte nämlich resigniert den Kopf und erwiderte: »Ich habe heute für die zweite Fragezeichenskulptur einen tollen Preis gemacht. Herr Rheinhardt, der Sammler, der letzte Woche hier war und die andere gekauft hat, wollte diese jetzt auch noch. Außerdem habe ich einen größeren Auftrag bekommen. Mein Tag verlief also ziemlich gut und das wollte ich mit dir beim Essen feiern. Aber als ich nach Hause kam, rief deine Schule an. Die sagten, du müsstest nachsitzen und dich morgen beim Direktor melden. Das ist echt ein Scheißgefühl!«

›Oha‹, dachte Sienna alarmiert. ›Wenn Paps Schimpfwörter benutzt, ist er wirklich wütend.‹

»Ich habe nicht …«, setzte sie an, wurde aber sogleich anklagend unterbrochen. »Du hast versprochen, dich besser zu benehmen!«

»Und das habe ich! Was über mich erzählt wird, sind Lügen. Du kennst mich und weißt, dass ich so nicht bin! Paps, bitte«, flehte Sienna, den Tränen nahe.

Unbeeindruckt fuhr er fort mit seiner Tirade, ging gar nicht auf ihre Worte ein: »Wieso zeichnest du überhaupt so was? Wolltest du beweisen, wie vielfältig deine Kunst ist? Das hast du doch gar nicht nötig. So solltest du dein Talent jedenfalls nicht verwenden.«

Es dauerte einige Sekunden, bis Sienna ihre Stimme wiedergefunden hatte. Diese war jetzt wuterfüllt und damit ganz und gar untypisch für sie: »Warum glaubst du mir nicht? Ich hab dich noch nie angelogen! Ich wurde gelinkt. Das ist die Wahrheit.«

Erneut schüttelte Emanuel den Kopf. ›Sie gibt es immer noch nicht zu. Unfassbar dreist! Was ist nur aus meinem lieben kleinen Mädchen geworden? Diese blöde Pubertät. Hoffentlich geht die bald vorbei!‹ Das hoffte er jetzt schon eine ganze Weile. Eigentlich schon, seit Sienna an die neue Schule gekommen war. Dort fingen ihre Probleme nämlich an. Eine Zeit lang hatte er noch geglaubt, ihre Klassenkameraden hätten einen schlechten Einfluss auf Sienna. Als sie sich dann allerdings auch gegenüber seiner neuen Freundin Natalie daneben benahm, konnte er nicht mehr umhin, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Auch wenn es eine unangenehme war: Sienna mochte darauf beharren, aufrichtig zu sein, doch sie hatte eine boshafte Ader, die es ihm deutlich erschwerte, ihr noch irgendetwas zu glauben.

Mit angestrengt ruhiger Stimme sagte er: »Es hat keinen Sinn, mich länger mit dir herumzustreiten, solange du nicht bereit bist, ehrlich zu sein. Warten wir das Gespräch mit Herrn Scott ab und sehen dann weiter. Bis dahin solltest du darüber nachdenken, ob du dir deine Zukunft wirklich durch kindische Streiche verbauen willst.«

»Darüber muss ich nicht nachdenken, denn ich hab nichts getan«, fauchte sie unnachgiebig zurück.

Kopfschüttelnd wandte sich Emanuel ab. Als er das Wohnzimmer verlassen hatte, hörte er hinter sich einen Schrei, der ihn zusammenzucken ließ. Daraus sprach gleißende Wut, vermengt mit einem Schmerz, den er nie zuvor von seiner Tochter gehört hatte.

›Tue ich ihr unrecht?‹, fragte sich Emanuel unwillkürlich. Dann erinnerte er sich jedoch an Natalies Worte: »Sie will nur Aufmerksamkeit. Lass dich nicht von ihr manipulieren.«

Der Gedanke an seine Verlobte gab ihm Kraft. Er atmete tief durch und machte sich dann auf den Weg zu seinem Refugium.

1 Boxsack (Jugendsprache)

Kapitel 3

Um einem weiteren unangenehmen Zusammentreffen mit ihrem Vater zu entgehen, verließ Sienna am nächsten Morgen schon vor dem Frühstück die Wohnung. Der andere Grund für ihr frühes Aufstehen war der Wunsch, noch ein wenig frische Luft zu schnappen und gewissermaßen die letzten Momente der Freiheit, die ihr blieben, zu genießen. Daran, dass ihr ein Vortrag des Schuldirektors über Moral- und Wertvorstellungen bevorstand, zweifelte sie nicht. Wie das Gespräch ausgehen würde, konnte sie hingegen nicht sagen. Allzu viele Hoffnungen auf ein glimpfliches Ende machte sie sich jedoch nicht. Die Wahrscheinlichkeit, weitere Strafarbeiten und zusätzliches Nachsitzen aufgebrummt zu bekommen, war einfach zu hoch. ›Wenn mir nicht mal Paps glaubt, wieso sollte es dann Herr Scott tun? Er kennt mich nicht halb so gut.‹ Rasch rief sie sich alle deutschen Barockmaler ins Gedächtnis, um nicht mehr über ihren Vater und den Verrat, den sie jedes Mal fühlte, wenn er ihr nicht glaubte, nachzudenken.

Eine Dreiviertelstunde vor Unterrichtsbeginn erreichte Sienna die Schule und wurde von einem erstaunten Herrn Knauer eingelassen. Der Hausmeister des Gymnasiums freute sich, die Vierzehnjährige zu sehen. Sie war ihm gegenüber immer freundlich. Kurz unterhielt er sich mit ihr und erfuhr von ihrem derzeitigen Dilemma. Dass an den Anschuldigungen irgendetwas dran war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. ›Bestimmt wird sie missverstanden und bekommt keine Gelegenheit, sich zu erklären. Wie bei der Sache mit dem Fenster. Das hat sie auch nicht eingeworfen. Warum auch – damit würde sie mir nur Scherereien machen und dafür mag sie mich zu gern.‹ Unglücklicherweise achtete hier niemand auf seine Meinung. Nachdem Herr Knauer Sienna Glück gewünscht hatte, machte er sich wieder an die Arbeit und ließ sie, vor dem Direktorat sitzend, zurück.

Mit einem mulmigen Gefühl betrat Walther Scott an diesem Morgen das Schulgebäude. Der momentane Gemütszustand des Schulleiters rührte daher, dass ihn die Geografielehrerin der achten Klasse, Frau Zanger, am vergangenen Nachmittag über Sienna Herzogs erneutes Fehlverhalten informiert hatte. Respektlosigkeit und mutwilliges Stören des Unterrichts waren die entscheidenden Vorwürfe. Tatsächlich schien Sienna Probleme damit zu haben, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Dies äußerte sich in ihren Noten, die in einigen Fächern zu wünschen übrig ließen. Ausnahmen bildeten hierbei aber der Sport-, Sprachen- und Kunstunterricht. Insbesondere für Italienisch schien sie eine natürliche Begabung zu haben und wurde von ihrer Lehrerin in den höchsten Tönen gelobt. Auch ihr Kunstlehrer wusste nur Positives über Sienna zu berichten und hatte ihre Bilder bereits mehrfach für Ausstellungen ausgewählt. Die einzig mögliche Erklärung für ihr unterschiedliches Verhalten sah er in Siennas Wunsch nach Aufmerksamkeit. Er kannte die Familienverhältnisse der Herzogs nicht genau, wusste jedoch, dass Siennas Eltern geschieden waren und sie bei ihrem Vater aufgewachsen war. Offenbar bestand kein Kontakt zur Mutter. Der Vater war freischaffender Künstler. Gewiss musste er viel arbeiten, um beiden ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Da fehlte ihm bestimmt Zeit für seine Tochter. Vielleicht langweilte sich Sienna deswegen oft und kam dann auf dumme Ideen, wie die Verwendung ihres künstlerischen Talents für unangebrachte Zeichnungen. Zumindest schien das gestern der Fall gewesen zu sein.

›Einen großen Freundeskreis hat sie auch nicht‹, fuhr Herr Scott in seinen Überlegungen fort. Von seinem Arbeitszimmer aus hatte er eine gute Sicht auf den Schulhof. Deshalb wusste er, dass Sienna nie bei ihren Klassenkameraden, sondern immer bei Mourice Naumann stand. Womöglich hatte der ihr die Flausen in den Kopf gesetzt. Obwohl seine Eltern beide als Ärzte in eigener Praxis arbeiteten und er durchaus eine gute Erziehung genossen hatte, war Mourice ein Unruhestifter. Er trug nie etwas anderes als Sportkleidung. Wohl um der Welt zu zeigen, wie wenig ihm die Anerkennung anderer bedeutete und wie egal ihm die gesellschaftliche Stellung und das Vermögen seiner Eltern waren. Auch seine schulischen Leistungen waren nicht gerade das Gelbe vom Ei, ignorierte man Sport, wo er ohne große Anstrengung Spitzenergebnisse erzielte. Mourice schien immer zu viel Energie zu haben, sodass er den überschüssigen Teil irgendwie loswerden musste. Zu diesem Zweck war er einmal auf das Flachdach des Speisesaals geklettert und hatte sich mit einem Salto wieder zur Erde befördert. Ihm war zwar nichts passiert, doch er hatte dennoch eine Verwarnung für sein unmögliches Benehmen erhalten. Und dann das eine Mal, als er sich mit Ben und Björn Birke geprügelt hatte. Angeblich hatten sie Sienna geärgert. Aber das war ja noch lange kein Grund, gewalttätig zu werden. Außerdem waren die beiden noch nie negativ aufgefallen und hatten auch alles abgestritten. Andere Zeugen gab es damals nicht. Einzig Sienna bestätigte Mourice´ Geschichte, aber das war ja nicht weiter verwunderlich.

Im Endeffekt entschied er, die Jungen nur zu verwarnen. Damit gab sich Mo jedoch nicht zufrieden und machte deutlich, dass er kein Lügner war und sich ungerecht behandelt fühlte. Den Direktor nannte er einen »Allmachtsdackel« und »Honk«. Zwar kannte dieser keine der Bezeichnungen, begriff aber auch so, dass es sich hierbei nicht gerade um Komplimente handelte. Als Dankeschön dafür erhielten Mos Eltern einen Brief von der Schule und der Junge seinen ersten Verweis. Seit diesem Ereignis warf Mourice dem Schulleiter jedes Mal, wenn sie sich begegneten, finstere Blicke zu.

Beim Einbiegen in den Korridor zu seinem Büro überlegte Herr Scott, ob er Siennas Akte vor ihrem Gespräch noch einmal durchlesen sollte. Aber zu seinem großen Erstaunen wartete das Mädchen bereits auf ihn. ›Ein guter Anfang‹, dachte er, wohl wissend, dass Pünktlichkeit nicht unbedingt zu Siennas Stärken gehörte. Dass sie diese Angewohnheit heute abgelegt hatte, ließ ihn hoffen, durch ein Gespräch vielleicht doch etwas erreichen zu können.

Gemeinsam gingen sie in sein Büro und setzten sich, nachdem Sienna sein Angebot, etwas zu trinken, abgelehnt hatte. Ihm fiel auf, wie angespannt und müde die Vierzehnjährige aussah und er fühlte sich etwas schuldig deswegen. Um das Gespräch einigermaßen zwanglos zu beginnen, erkundigte er sich nach ihrem Vater. Offenbar der falsche Einstieg, wie ihm anhand ihres verkniffenen Gesichtsausdrucks sofort klar wurde. Knapp antwortete sie: »Gut.« Da sich das Unumgängliche nicht länger hinauszögern ließ, sprach er die Ereignisse des vergangenen Tages an.

Sienna schilderte ihm ihre Sicht der Dinge und sagte überraschend direkt, was sie von der ihr entgegengebrachten Behandlung hielt. Es kostete sie Einiges an Überwindung, doch Mos gestriger pep talk2 saß ihr noch im Ohr. ›Das klingt ganz anders als das, was mir Frau Zanger erzählt hat‹, dachte Herr Scott verwundert.

Sienna nahm all ihren Mut zusammen und erzählte, dass sie bereits seit über drei Jahren gemobbt wurde, vordergründig von den Zwillingen.

»Aber Björn und Ben sind nicht die Einzigen. Die anderen aus meiner Klasse machen mit. Sie folgen den beiden.«

Der Direktor erstarrte. Davon hörte er zum ersten Mal. Seine erste innere Reaktion war Verleugnung: Unmöglich, das hätte doch jemand bemerkt. Ehrlicherweise war sein Gymnasium jedoch eines der größten in Leipzig. Folglich konnte er sich nicht detailliert um jeden Schüler kümmern. ›Und wenn es stimmt, dass Sienna sich bisher niemandem anvertraut hat, weil sie dachte, es dadurch nur zu verschlimmern …‹ Den Gedanken führte er lieber nicht zu Ende, denn das hieße, er und sein gesamtes Kollegium hätten in ihrer Fürsorgepflicht versagt. Und zwar jahrelang.

Herr Scott konnte nicht umhin, festzustellen, dass sie ihm aufrichtig erschien. Im Laufe seiner über dreißigjährigen Arbeit im Schuldienst hatte er sich unzählige Ausreden und Entschuldigungen von Schülern angehört und wusste mittlerweile ziemlich genau, wann er jemanden vor sich hatte, der die Wahrheit sagte und wann nicht. Lügner hatten zumeist nervöse Ticks wie Nägelkauen, Herumspielen an den Haaren und Zupfen an der eigenen Kleidung. Oder die Stimme: Lügner sprachen oft betont langsam und deutlich, um sich Bedenkzeit zu verschaffen und ihre Nervosität zu kontrollieren. Zu viele Details oder wortwörtliches Wiederholen, als hätte man das Gesagte einstudiert, waren ebenfalls verdächtige Anzeichen. Sienna zeigte jedoch keine dieser verräterischen Verhaltensweisen. Deswegen beschloss der Schulleiter, seine Entscheidung aufzuschieben und stattdessen mit den beiden Jungen zu sprechen, die Sienna als eigentliche Übeltäter benannt hatte. ›Sie versucht nicht, es mir auszureden. Hätte ein Lügner nicht alles darangesetzt, das Auffliegen seiner Unaufrichtigkeit zu verhindern?‹, wunderte er sich.

Während der Mittagspause wurde Sienna zum zweiten Mal an diesem Tag ins Direktorat beordert. ›Hoffentlich wird das jetzt nicht zur Gewohnheit‹, dachte sie brummig. ›Wenn ich das Zimmer nie wieder von innen sehen muss, kann ich beruhigt sterben.‹ Ja, so gut gelaunt war sie momentan. Beide schwiegen sich über den Direktorentisch hinweg an. Herr Scott nutzte die Stille zum Nachdenken über das, was er inzwischen durch Gespräche mit den Birkenzwillingen und Siennas Geografielehrerin herausgefunden hatte. Diese räumte ein, nicht genau zu wissen, ob der berüchtigte Zettel tatsächlich von dem Mädchen stammte. Deswegen nahm sich Herr Scott das Beweismittel vor.

Schnell fand er heraus, dass Sienna eine völlig andere Handschrift hatte. Ein einfacher Vergleich mit der Strafarbeit vom vergangenen Nachmittag beförderte diese Erkenntnis. Um ganz sicherzugehen, ließ er die Jungen ihre Aussagen unterschreiben. Dabei wurde deutlich, dass die Schrift auf dem Zettel identisch mit Bens war. Somit waren die wirklichen Täter überführt und Sienna entlastet. ›Wenn sie diesbezüglich die Wahrheit gesagt hat, bei was dann womöglich noch?‹

Zugegebenermaßen hatte ihn die Erkenntnis mehr verunsichert als alles andere.

›Haben wir tatsächlich mehrere Jahre übersehen, dass eine unserer Schülerinnen vor unseren Augen leidet? Ich werde dem Ganzen auf den Grund gehen‹, entschied Herr Scott. Die nicht minder erschütterte Frau Zanger versprach, sich bei Sienna zu entschuldigen und, sollte es eine derartige Situation erneut geben, genauer aufzupassen.

Björn und Ben hingegen kamen nicht so einfach davon. Ihre Strafe würde aus Nachsitzen und Hausmeisterarbeiten bestehen. Zufällig wusste der Direktor, dass Herr Knauer Sienna wohlgesonnen war und den Jungs gewiss etwas Passendes zuteilen würde. Außerdem wollte Frau Zanger die beiden einen Aufsatz über Pflasterritzenvegetation schreiben sowie einen Vortrag zu dem Thema Südamerikanischer Brandrodungswanderfeldbau halten lassen. Dadurch konnten die Brüder ihre ungenutzten Energieressourcen umwandeln und ihre Sprachkenntnisse auf sinnvolle Art einsetzen.

Herr Scott war ziemlich zufrieden mit sich und konnte es kaum erwarten, Siennas Gesichtsausdruck zu sehen, wenn sie die gute Neuigkeit erfuhr. Zugegebenermaßen war der sich ihm bietende Anblick überaus sehenswert. Erstaunen, Freude und Erleichterung lieferten sich eine wahre Gefühlsschlacht auf ihrem Gesicht. Sie schien nicht begreifen zu können, dass ihr soeben ein Lehrer geholfen hatte und einen Fehler zugab. Das machte ihm nur noch mehr bewusst, wie groß ihr Misstrauen gegenüber Lehrern war, und hatte einen unangenehmen Beigeschmack.

»Versprich mir bitte, dass wir uns nicht allzu bald zu einem solchen Gespräch wiedertreffen«, bat der Schulleiter abschließend.

Sienna überlegte kurz und erwiderte dann: »Ich verspreche nichts. Besonders nicht, nachdem ich bereits dieses Mal unschuldig hier gelandet bin. Aber mutwillig dazu beitragen werde ich bestimmt nicht.«

Verblüffte Stille folgte, dann lachte Herr Scott laut auf und meinte: »Gute Antwort. Sehr diplomatisch.«

Verschmitzt lächelte die Vierzehnjährige.

»Jetzt solltest du aber nach Hause gehen und deine Freizeit genießen«, fügte er noch hinzu.

»Danke«, sagte Sienna aufrichtig und verließ erleichtert das Büro.

2 Zuspruch, Motivationsgespräch

Kapitel 4

›Niemand da. Ein Glück‹, dachte Sienna erleichtert nach Betreten der Wohnung. Obwohl das Gespräch mit dem Schulleiter überraschend gut verlaufen war, wollte sie ihrem Paps nicht jetzt davon erzählen. ›Er sagt bestimmt nur, dass ich diesmal Glück hatte, es aber nicht immer so laufen wird. Pah, das ist alles so ungerecht! Wenn er doch nur meine Gedanken und Erinnerungen lesen könnte, wüsste er gleich, dass ich nichts falsch gemacht hab.‹

Um sich abzulenken, setzte sie sich an ihre Hausaufgaben. Die Gedichtinterpretation in Deutsch war rasch geschrieben. Bei der Physikhausaufgabe versagte ihre Konzentration hingegen. ›Warum sollte es wichtiger sein, das Induktionsgesetz zu kennen, wenn ich stattdessen über die echten Gesetze und meine Rechte Bescheid wissen könnte?‹, fragte sie sich verständnislos. ›Vielleicht sollte ich das mal in der Schule vorschlagen. Ich wüsste so gern, wie ich Paps rechtlich dazu bringen könnte, mir Infos über Mum zu geben.‹ Das war ein Gedanke, der Sienna nie ganz losließ. Dafür war der Wunsch, ihre entfremdete Mutter kennenzulernen, zu stark.

Nachdem Sienna den Kampf aufgegeben hatte, machte sie sich in der Küche ein Sandwich mit Gürkchen und extra viel Käse. Letzteres war unangefochten ihr Hauptnahrungsmittel. Gerade schmeckte sie davon allerdings nichts. Denn während sie darauf herumkaute, dachte Sienna über die Worte ihres Vaters und das Gespräch mit Herrn Scott nach. Bei der Erinnerung an Emanuels enttäuschten Gesichtsausdruck wurde sie traurig. Dieses Bild ging ihr einfach nicht aus dem Kopf und hatte sie während der vergangenen Nacht vom Schlafen abgehalten. Einzig Herr Scott ließ sich nicht blenden. ›Und das, obwohl er mich nicht annähernd so gut kennt wie Paps. Das sollte ich Paps sagen, damit er mal merkt, wie komisch er sich benimmt und dass es auch ganz anders geht. Wie dumm ist es auch, dass die Erwachsenen uns schon als Kind eintrichtern, immer ehrlich zu sein. Aber wenn man es dann ist, sind sie verärgert und bestrafen einen. Versteh ich nicht.‹

»Wie auch, das ist doch bekloppt!« Den letzten Gedanken sprach sie laut aus und warf dabei aufgebracht die Hände in die Luft. Ihr Vater meinte, man müsse das Gleichgewicht zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit finden. Häufig sei es besser, den Menschen zu sagen, was sie hören wollten, und die eigene Meinung für sich zu behalten. Er nannte dieses Vorgehen »Abwägen der Situation«, doch Sienna hielt es für Heucheln. James M. Barries Geschichte Peter Pan