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Joseph Mallord William Turner (1775-1851) ließ nach seinem Tod 19 000 Kunstwerke zurück und schon die Bildauswahl für dieses Buch war eine wahre Mammutaufgabe. Turner hatte als Romantiker und Landschaftsmaler ein unvergleichliches Gespür für das Meer und war als Pionier neuer Techniken, mit denen er innovative Farbtöne und -Nuancen schuf, stark beeinflusst von Goethes Farbenlehre. Turner war außerdem ein erfolgreicher Gallerist, Professor an der Royal Academy und ein unermüdlich Reisender, der stets mit einer Vielzahl unglaublicher Kunstwerke, vor allem aus Venedig, zurück nach England kam. Mit seinem Blick für das Dramatische dokumentierte er auf seiner Leinwand auch die Schlacht von Waterloo, das Feuer, das das englische Parlament zerstörte, und andere historische Ereignisse seiner Zeit. Heute sind seine Werke Teil der Sammlungen großer Museen in London, Los Angeles, New York und Washington DC.
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Seitenzahl: 201
Eric Shanes
Text: Eric Shanes
Übersetzung: Dr. Martin Goch
Layout:
Baseline Co Ltd
Vietnam
© Confidential Concepts, worldwide, USA
© Parkstone Press International, New York, USA
Image-Barwww.image-bar.com
Weltweit alle Rechte vorbehalten
Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.
ISBN: 978-1-64461-842-4
Inhalt
Das Leben
Die Meisterwerke
Das Kriegsschiff “Téméraire” wird zu seinem letzten Ankerplatz geschleppt um abgewrackt zu werden, 1839
Caernarvon Castle, Nordwales, 1800
Schneesturm: Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen, 1812
Die Überquerung des Baches, 1815
Dido erbaut Karthago; oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches, 1815
Die Schlacht von Trafalgar, 1822-1824
Odysseus verhöhnt Polyphem – Homers Odysssee, 1829
Der Brand des Ober- und Unterhauses, 16. Oktober 1834, 1835
Sklavenhändler werfen die Toten und Sterbenden über Bord – aufkommender Taifun, 1840.
Der Lauerzersee mit den Mythen, ca.1848
St. Anselms-Kapelle mit Teil von Thomas Beckets Krone, Kathedrale von Canterbury, 1794
Der Clyde-Fall, ca.1845
Popes Villa in Twickenham, 1808
Dolbadern Castle, Nordwales, 1800
Querschiff der Klosterkirche von Ewenny, Glamorganshire, 1797
Der große Reichenbachfall im Haslital, Schweiz, 1804
Fischer auf See, 1796
Biegung des Lune, mit Blick auf Hornby Castle, ca. 1817
Der Wohnsitz von William Moffatt Esq., in Mortlake; früher (Sommer-) Morgen, 1826
Mortlake Terrace, der Wohnsitz von William Moffatt, Esq.; Sommerabend, 1827
Holländische Boote in einem Sturm: Fischer bemühen sich, ihren Fang an Bord zu bringen, 1801
Pier in Calais mit französischen “Poissards”, die ausfahren wollen: Ankunft eines englischen Paketbootes, 1803
Der Schiffbruch, 1805
Rye, Sussex, ca. 1823
Der Untergang des Karthagischen Reiches, 1817
Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Große Westeisenbahn, 1844
Der Erzbischöfliche Palast in Lambeth, 1790
Wolverhampton, Staffordshire, 1796
Innenansicht der Kathedrale von Salisbury, Blick auf das nördliche Querschiff, ca. 1802-1805
Die Morgensonne bricht durch den Dunst: Fischer säubern und verkaufen Fische, 1807
Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1810
Ausbruch des Vesuv, 1817.
Marksburg und Braubach am Rhein, 1820
Dover Castle, Dezember 1822.
Ein Sturm (Schiffbruch), 1823
Das Forum Romanum, für Mr. Soanes Museum, 1826
Northampton, Northamptonshire, Winter 1830-31
Das Goldene Geäst, 1834
Venedig vom Portal der Kirche Madonna della Salute aus gesehen, 1835
Flint Castle, Nordwales, 1835
Das Moderne Italien – Die Pifferari, 1838
Das alte Rom: Agrippina trifft mit der Asche des Germanicus ein. Die Triumphbrücke und der Palast der Cäsaren sind wieder aufgebaut, 1839
Venedig: Ein Sturm auf der Piazzetta, ca. 1840
Venedig: Der Canal Grande, auf die Dogana blickend, ca.1840
Der blaue Rigi: Der Vierwaldstätter See, Sonnenaufgang, 1842
Vierwaldstätter See: Die Bucht von Uri von oberhalb Brunnens gesehen, 1842
Schneesturm – ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale in der Untiefe und bewegt sich nach dem Lot. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel aus Harwich auslief,1842
Der Pass von Faido, 1843
Walfänger, 1845
Eine Yacht nähert sich der Küste, ca.1850
Petworth Park, mit Lord Egremont und seinen Hunden; Musterstudie, ca. 1828
Chronologie
Liste der Tafeln
1. J.M.W. Turner, Tom Tower, Christ Church, Oxford, 1792, Bleistift und Wasserfarbe auf weißem Papier, 27,2 x 21,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London.
Von der Dunkelheit ins Licht: Vielleicht hat kein Maler in der Geschichte der westlichen Kunst eine größere visuelle Spannbreite abgedeckt als Turner. Wenn man eines seiner ersten ausgestellten Meisterwerke wie das recht zurückhaltende St. Anselms-Kapelle, Canterbury von 1794 mit einem lebhaft hellen Bild aus den 1840er Jahren wie Der Clyde-Fall (beide weiter unten abgebildet) vergleicht, mag man kaum glauben, dass sie von derselben Hand gemalt wurden. Die sofort ins Auge fallenden Unterschiede können jedoch leicht die große Kontinuität in Turners Kunst verschleiern, ebenso wie die blendenden Farben, die gesamte Farbkomposition und die schemenhaften Formen der späten Bilder den Eindruck erwecken, dass Turner die Ziele der französischen Impressionisten geteilt habe oder gar so etwas wie ein abstrakter Maler sein wollte. Beide Ansichten wären völlig falsch. Die Kontinuität demonstriert vielmehr, wie energisch Turner seine früh gesteckten Ziele verfolgte und in wie großartiger Weise er sie schließlich erreichte. Der Zweck des vorliegenden Bandes besteht darin, diese Ziele und ihre Verwirklichung durch ausgewählte Werke nachzuzeichnen sowie einen kurzen Überblick über Turners Leben zu geben.
Joseph Mallord William Turner wurde in London in Covent Garden in der Maiden Lane 21 geboren, und zwar Ende April oder Anfang Mai 1775. (Turner selbst behauptete gerne, am 23. April geboren worden zu sein, dem Geburtstag des englischen Nationalheiligen St. George und gleichzeitig William Shakespeares Geburtstag. Es gibt allerdings keine Belege für diese Behauptung.) Sein Vater William arbeitete als Perückenmacher und später, als Perücken in den 1770er Jahren aus der Mode kamen, als Barbier. Wir wissen nur wenig über Turners Mutter Mary (geborene Marshall), außer, dass sie geistig labil war und sich ihr Zustand durch die tödliche Krankheit von Turners 1786 gestorbener Schwester noch verschlimmerte. Aufgrund der hieraus resultierenden Belastung für die Familie wurde Turner 1785 zu einem Onkel nach Brentford, einer kleinen Marktstadt westlich von London, geschickt. Hier trat Turner auch in die Schule ein. Brentford war die Hauptstadt der Grafschaft Middlesex und verfügte über eine lange Tradition des politischen Radikalismus, die viel später auch in Turners Werk zum Ausdruck kommen sollte. Wichtiger war jedoch, dass die Umgebung der Stadt – die ländliche Gegend der Themse hinunter nach Chelsea und die Landschaft den Fluss hinauf nach Windsor und darüber hinaus – dem jungen Turner geradezu arkadisch vorgekommen sein muss (besonders angesichts der schäbigen Umgebung von Covent Garden) und viel zu seiner späterer Vision einer idealen Welt beigetragen hat.
Im Jahr 1786 ging Turner in Margate, einem kleinen Ferienort an der Themsemündung weit östlich von London, zur Schule. Einige Zeichnungen von diesem Aufenthalt sind erhalten. Sie sind bemerkenswert frühreif, insbesondere hinsichtlich des Verständnisses der Rudimente der Perspektive. Nachdem er seine formale Schulbildung offenbar abgeschlossen hatte, war Turner in den späten 1780er Jahren wieder in London und arbeitete für verschiedene Architekten oder architektonische Topographen. Zu ihnen zählte Thomas Malton jr., dessen Einfluss auf Turners Werk um diese Zeit erkennbar ist. Nachdem Turner ein Probetrimester an der Schule der Royal Academy verbracht hatte, führte der erste Präsident der Akademie, Sir Joshua Reynolds (1723-92), höchstpersönlich ein Auswahlgespräch und erteilte ihm die Zulassung zu dieser Einrichtung. Die Royal Academy Schools waren zu dieser Zeit die einzige reguläre Kunstschule in ganz Großbritannien. Malerei wurde hier jedoch nicht unterrichtet – sie fand erst 1816 Eingang in den Lehrplan –, sondern die Schüler lernten lediglich Zeichnen, zunächst anhand von Gipsabgüssen antiker Statuen und anschließend, wenn man sie für gut genug hielt, an Aktmodellen. Turner benötigte für diesen Schritt etwa zweieinhalb Jahre. Zu den Gastdozenten und Lehrern der Aktklassen zählten Historienmaler wie James Barry RA und Heinrich Füssli RA, deren hochgesteckte künstlerische Ziele den jungen Turner schon bald beeinflussen sollten. Da Turner in einer Zeit lebte, die noch keine Stipendien für Studenten kannte, musste er sich von Anfang an seinen Lebensunterhalt verdienen.
Im Jahr 1790 stellte er erstmals in einer Ausstellung der Royal Academy aus, und mit wenigen Ausnahmen sollte er bis zum Jahr 1850 in all diesen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vertreten sein. In dieser Zeit veranstaltete die Royal Academy jährlich nur eine Ausstellung, so dass sie eine weit größere Bedeutung hatte als ihre heutigen Expositionen, die mit vielen anderen (manche ebenfalls von der Royal Academy organisiert) konkurrieren müssen. Turners lebhafte und innovative Arbeiten heimsten schon bald eine sehr positive Resonanz ein. Im Jahr 1791 ergänzte er für kurze Zeit sein Einkommen als Kulissenmaler am Pantheon Opera House in der Oxford Street. Dieser Kontakt mit dem Theater zahlte sich auf lange Sicht durch die hier gewonnenen Erkenntnisse, nämlich dass die Bemalung großer Leinwandflächen keinen Schrecken barg, man Licht dramatisch einsetzen konnte und die Positionierung von Schauspielern und Requisiten in der Malerei erfolgreich adaptiert werden konnte, sehr aus. Auf diese Weise positionierte Turner in seinen reifen Werken Figuren und/oder Gegenstände häufig links unten, im Zentrum oder rechts, wenn er sicherstellen wollte, dass der Betrachter sie wahrnimmt.
Anlässlich der Ausstellung der Royal Academy von 1792 erhielt Turner eine Lektion, die seine Kunst schließlich in bis dahin in der Malerei unbekannte Dimensionen des Lichts und der Farbe vorstoßen ließ. Turner wurde besonders von dem Aquarell Das Torhaus der Battle Abbey von Michael Angelo Rooker ARA (1746-1801) beeindruckt, das er zweimal in Wasserfarben kopierte (das Bild Rookers befindet sich heute in der Sammlung der Royal Academy in London, während Turners Kopien Bestandteil des Turner-Nachlasses sind). Rooker hatte es zu einer ungewöhnlichen Meisterschaft bei der Wiedergabe feiner Tonunterschiede von Mauerwerk gebracht (unter Ton wird hier die Abstufung von hell zu dunkel einer gegebenen Farbe verstanden). Das außergewöhnlich breite Spektrum an Tönen, das Rooker in Battle Abbey eingesetzt hatte, war für Turner eine wichtige Inspiration. Er ahmte Rooker in dieser Hinsicht nicht nur in seinen beiden Kopien, sondern auch in vielen später im Jahr 1792 angefertigten ausgefeilten Zeichnungen nach. Schon bald hatte der junge Künstler Rooker in Bezug auf die subtile Differenzierung von Tönen überflügelt.
Die für derartige Tonabstufungen eingesetzte Technik war als “Tonleitertechnik” bekannt und hatte ihre Grundlage in der Eigenart der Aquarellmalerei. Da Wasserfarbe ein transparentes Medium ist, muss der Maler hier von hellen hin zu dunklen Tönen arbeiten (da es sehr schwierig ist, einen hellen Ton auf einen dunklen zu setzen, während das Gegenteil einfach ist). Anstatt eine Palette mit all den für ein Bild benötigten Tönen anzumischen, ging Turner wie Rooker vor und mischte nur jeweils einen Ton an und trug ihn an unterschiedlichen Stellen auf einem Blatt Papier auf. Während die Farbe auf diesem Bild trocknete, trug er die angefertigte Tonmischung von seiner Palette auf unterschiedliche Stellen weiterer Aquarelle auf, die in einer Art Produktionsstraße über sein gesamtes Atelier verteilt waren. Bis er zu dem ersten Bild zurückkehrte, war dieses getrocknet. Turner machte die jeweilige Farbe auf seiner Palette dann etwas dunkler und trug diese nächste “Note” auf der “Tonleiter” von hell zu dunkel auf dieses und die weiteren Bilder auf.
Ein derartiges Vorgehen sparte selbstverständlich viel Zeit, da man nicht gleichzeitig ein breites Spektrum an Tönen anmischen musste und ebenso wenig eine riesige Palette und eine Vielzahl von Pinseln (für jeden Ton einen) benötigte. Aber diese Technik ermöglichte nicht nur die Produktion einer hohen Zahl an Aquarellen. Sie trug auch zur Verstärkung räumlicher Tiefe bei, da stets die dunkelsten Töne zuletzt aufgetragen wurden, so dass ihre Platzierung im Vordergrund eines Bildes den Eindruck des maximalen Zurückweichens hinter sie verstärken konnte. Es sollte nicht lange dauern, bis Turner ein unangefochtener Meister in der Differenzierung der kleinsten Unterschiede von hell und dunkel war. Am Ende hatte er sich zum weltweit subtilsten Tonalisten in der Kunst entwickelt. Schon in einer ganzen Reihe von nach dem Sommer 1792 gemalten Aquarellen ermöglichte Turner seine Fähigkeit, innerhalb eines extrem engen Tonspektrums von hell zu dunkel subtile Unterschiede zu erzielen, ein blendendes Strahlen des Lichts zu projizieren (da sehr helles Licht Töne in ein enges Tonspektrum zwängt). Schließlich sollte diese Fähigkeit Turner auch die Freiheit geben, in völlig neue Dimensionen der Farbe vorzudringen. Daher sind viele der in diesem Band abgebildeten sehr späten Werke mit Feldern purer Farbe überflutet, innerhalb derer lediglich etwas hellere oder dunklere Variationen derselben Farbe Menschen, Gegenstände, Landschaften oder Meereslandschaften bezeichnen.
2. J.M.W. Turner, Folly Bridge und Bacon’s Tower, Oxford, 1787, Feder und Tusche mit Aquarellfarben, 30,8 x 43,2 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Die Arbeit ist die Übertragung eines Bildes, das Michael Angelo Rooker für den Oxford Almanach geschaffen hat.
3. J.W. Archer, J.M.W. Turners zweites Elternhaus in der Maiden Lane Nr. 26, Covent Garden, 1852, Aquarell, British Museum, London. Die Familie Turner zog vom Geburtshaus des Künstlers auf der gegenüberliegenden Straßenseite 1782 oder 1783 in dieses Haus.
Trotz der tonalen Subtilität dieser Formen wirken sie alle vollkommen konkret. Turners Fähigkeiten als Kolorist sollten immer ausgefeilter werden, besonders nach seiner ersten Italienreise im Jahr 1819. In der zweiten Hälfte seines Lebens entwickelte er sich zu einem der besten und innovativsten Koloristen in ganz Europa. Der Beginn dieser Entwicklung liegt früh in seinem Leben und resultierte aus dem Studium von Rookers Battle Abbey im Jahr 1792. Turner holte sich bei anderen Künstlern stets das, was er benötigte, und Rookers Aquarell gab ihm das, was er brauchte, genau zur rechten Zeit.
Im Jahr 1793 zeichnete die Royal Society den 17-jährigen Turner mit ihrem Greater Silver Pallet-Preis für Landschaftsmalerei aus. Zu diesem Zeitpunkt konnte Turner seine Arbeiten bereits leicht verkaufen und besserte sein Einkommen während der 1790er Jahre durch Privatstunden auf. An Winterabenden zwischen 1794 und 1797 traf er mit anderen Künstlern – darunter Thomas Girtin (1775-1802), ein weiterer führender junger Aquarellmaler – im Haus von Dr. Thomas Monro zusammen. Dieser war ein Arzt König Georges III. und auf Geisteskrankheiten spezialisiert. Später behandelte er auch Turners Mutter. (Sie starb schließlich 1804.) Monro hatte in seinem Haus auf der Adelphi Terrace mit Blick auf die Themse eine inoffizielle künstlerische “Akademie” gegründet. Er zahlte Turner dreieinhalb Shilling sowie ein Austern-Abendessen für die Kolorierung der von ihm selbst in Umrissen abgezeichneten Kopien von Werken unterschiedlicher Künstler, u. a. Antonio Canaletto (1696-1768), Edward Dayes (1763-1804), Thomas Hearne (1744-1817) und Robert Cozens (1752-1797), der zu dieser Zeit wegen einer psychischen Erkrankung ein Patient Monros war. Turner geriet hierbei natürlich unter den Einfluss all dieser Maler. Er war, ebenso wie Tom Girtin, besonders von der Weite von Cozens Landschaften beeindruckt. Thomas Gainsborough RA (1727-1788), Philippe Jacques de Loutherbourg RA (1740-1812) Heinrich Fuseli RA (1741-1825) und Richard Wilson RA (1713?-1782) waren in den 1790er Jahren weitere wichtige Einflusspersonen Turners. Gainsboroughs von den holländischen Meistern inspirierte Landschaften ließen Turner eine Vorliebe für derartige Motive entwickeln, während de Loutherbourg Turner vor allem bei der Zeichnung der Figuren beeinflusste, da Turner wie jener ihren Stil von der Art Bild abhängig machte, in der sie auftraten. Auch Füsslis Herangehensweise an die menschliche Gestalt begegnet dem Betrachter in einigen von Turners Bildern wieder. Seine Hochachtung vor den Bildern Richard Wilsons, der einen italienischen Stil auf britische Landschaften anwandte, führte zu Turners Leidenschaft für die Arbeiten von Claude Gellée (bekannt als Claude Lorrain, 1600-1682), von dem Wilson sich stark hatte beeinflussen lassen und der Turners dauerhaftester malerischer Einfluss bis zum Ende seines Lebens sein sollte. Von seiner Jugend an aber verlieh vor allem ein beherrschender ästhetischer Einfluss Turners Denken über die Kunst Gestalt. Dieser stammte – wenig überraschend – aus der Royal Academy, wenn Turner ihn auch eher durch Lektüre als direkte Vermittlung rezipierte. Es handelt sich um die Lehren von Sir Joshua Reynolds.
Turner hatte im Dezember 1790 Reynolds’ letzte Vorlesungen gehört. Durch die Lektüre der restlichen Vorträge scheint er sich mit allen Lektionen Reynolds über die idealisierende Funktion der Kunst vertraut gemacht zu haben, die dieser in jenen 15 Vorträgen so beredt ausführte. Turners kreative Entwicklung kann überhaupt nur im Kontext von Reynolds Lehren verstanden werden.
In seinen Diskursen entwarf Reynolds nicht nur ein umfassendes Ausbildungsprogramm für angehende Künstler. Er vertrat auch die zentrale idealisierende Doktrin der akademischen Kunst, die sich in der italienischen Renaissance herausgebildet hatte. Man kann sie als die Theorie der poetischen Malerei bezeichnen. Dieser Doktrin zufolge sind die Malerei und die Bildhauerei der Dichtung verwandte Disziplinen. Daher sollten Maler und Bildhauer die tiefe Humanität, die Klangfülle, die Angemessenheit der Sprache, des Versmaßes und der Metaphorik, die Großartigkeit der Anlage und den moralischen Diskurs der erhabensten Dichtung und poetischen Dramen mit den Mitteln ihrer jeweiligen Kunstform anstreben und nachbilden.
Von der Mitte der 1790er Jahre an können wir Turner dabei beobachten, wie er sich anschickt, all diese Ambitionen zu verwirklichen. Von dieser Zeit an mangelt es seinen Landschaften und Bildern des Meeres kaum noch an einer menschlichen Dimension und die Sujets sind häufig der Geschichte, Literatur und Dichtung entnommen. Die Bilder sind außerdem immer stärker strukturiert, um das maximale Maß an visueller Harmonie, Kohärenz und Klangfülle zu erlangen. Das visuelle Äquivalent zur Angemessenheit der Sprache, des Versmaßes und der Metaphorik in der Poesie (sowie zur Angemessenheit der Gestik und des Verhaltens in poetischen Dramen wie den Stücken Shakespeares) wurde in der Reynolds und Turner geläufigen ästhetischen Literatur als decorum bezeichnet. Viele der von Turner verehrten Landschaftsmaler, besonders Claude, Nicholas Poussin (1594-1665) und Salvator Rosa (1615-1673), hatten häufig das Dekorum beachtet, indem sie die Tageszeit, das Licht und das Wetter der zentralen Aussage ihrer Bilder anpassten. Bis zum Jahr 1800 hatte Turner ebenfalls mit dieser Praxis begonnen. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem im gleichen Jahr in der Royal Academy gezeigten Aquarell von Caernarvon Castle. Dieses Bild wird ebenso wie eine besonders einfallsreiche Verwirklichung des Dekorums in Popes Villa in Twickenham im Zustand der Baufälligkeit aus dem Jahr 1808 sowie dem weitaus bekannteren späteren Beispiel, Das Kriegsschiff “Téméraire” von 1839, unten diskutiert. Dekorum ist eine assoziative Methode und da Turner eine ungewöhnliche Begabung besaß, Verbindungen herzustellen, fand er es stets leicht, Tageszeiten, Licht und Wetter sehr gut mit der Aussage seiner Bilder in Einklang zu bringen. In vielen seiner Arbeiten setzte er auch assoziative Instrumente ein, denen man in der Dichtung häufig begegnet: Anspielungen, d. h. subtile Verweise auf spezifische Bedeutungen, Spielereien mit der Ähnlichkeit von Erscheinungen (Wortspielen vergleichbar), Gleichnisse oder direkte Vergleiche von Formen und Metaphern, bei denen etwas Sichtbares gleichzeitig für etwas Unsichtbares steht.
Gelegentlich konnte Turner seine visuellen Metaphern sogar so ineinander verweben, dass komplexe Allegorien entstanden. (Viele dieser Techniken werden unten erläutert.) Auch hier folgte Turner Reynolds, der in seinem siebten Diskurs vorgeschlagen hatte, dass Maler und Bildhauer wie Dichter und Dramatiker “figurative und metaphorische Ausdrücke” gebrauchen sollten, um die imaginativen Dimensionen ihrer Kunst zu erweitern. In seinem letzten Vortrag, den Turner 1790 besuchte, hatte Reynolds ganz besonders die Erhabenheit von Michelangelos Kunst gerühmt. Schon ab 1794 begann Turner, die Maße der wiedergegebenen Gegenstände und Schauplätze (z. B. Bäume, Bauwerke, Schiffe, Hügel und Berge) zu verdoppeln oder zu verdreifachen, um sie zu vergrößern. Er sollte diese Praxis bis an sein Lebensende beibehalten, so dass seine Landschaften und Meerlandschaften genauso grandios erscheinen wie Michelangelos Figuren. Im Jahr 1796 begann Turner mit einem Aquarell der Kathedrale von Llandaff (in diesem Band abgebildet) auch moralische Aussagen zu transportieren.
Häufig gab er einen Kommentar zu der kurzen Dauer des menschlichen Lebens und unserer Zivilisation, unserer Gleichgültigkeit gegenüber diesem Faktum, der Destruktivität der Menschheit etc. ab. Mit dieser Zielsetzung und um die zeitliche Dimension seiner Bilder auszuweiten, begann er ab 1800, komplementäre Paare von Bildern zu malen. Diese waren üblicherweise von gleicher Größe und im gleichen Medium ausgeführt, allerdings keineswegs immer (die unten diskutierten Bilder Dolbadern Castle und Caernarvon Castle, ein Ölgemälde und ein Aquarell, sind ein Beispiel). Auf diese und noch weitere Weisen setzte er Reynolds’ Forderung um, dass Künstler Moralisten sein und das menschliche Leben aus einer kritischen Perspektive betrachten sollten. Direkt verbunden hiermit war Reynolds’ Maxime, dass die Künstler sich nicht mit willkürlichen oder unbedeutenden menschlichen Erfahrungen abgeben sollten, sondern sich stattdessen mit den universalen Wahrheiten unserer Existenz, die in den höchsten Verkörperungen der Dichtung und des poetischen Dramas thematisiert werden, auseinander setzen sollten. Zur Erreichung dieses Ziels hielt Reynolds die Künstler an, sich nicht bei den bloßen Erscheinungen aufzuhalten, sondern stattdessen das, was Turner selbst in einer Randnotiz in einem Buch als “die Eigenschaften und Ursachen der Dinge” bezeichnen sollte, also die universalen Wahrheiten des Verhaltens und der Form, zu vermitteln.
Wir werden gleich auf Turners Herangehensweise an die universalen Wahrheiten der menschlichen Existenz zurückkommen. Von Mitte der 1790er Jahre an begann er jedoch “die Eigenschaften und Ursachen der Dinge” in seinen Abbildungen von Gebäuden auszudrücken, wie man leicht an dem unten abgebildeten Aquarell St. Anselms-Kapelle, Canterbury (1794) sehen kann. In Bildern wie diesem können wir bereits ein wachsendes Verständnis der grundlegenden strukturellen Dynamik menschlicher Bauwerke entdecken. Schon nach kurzer Zeit, in Aquarellen wie Querschiff der Klosterkirche von Ewenny, Glamorganshire (1797; ebenfalls unten abgebildet), sollte diese Einsicht zu voller Reife gelangen. Da Turner glaubte, dass die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Architektur von jenen der Architektur der Natur herrührten, war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Verständnis geologischer Strukturen. Turner legte schon von einem frühen Zeitpunkt im folgenden Jahrhundert an die “Eigenschaften und Ursachen” derartiger natürlicher Formen offen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Felsschichtungen in Der Große Reichenbachfall im Haslital, Schweiz aus dem Jahr 1804. Gleichzeitig können wir etwa ab Mitte der 1790er Jahre Turners tiefes Verständnis der Grundregeln des Verhaltens des Wassers beobachten. Die Fischer auf See (1796; unten abgebildet) demonstrieren, wie vollkommen er die Wellenbildung, die Spiegelung und die unterschwellige Bewegung des Meeres durchdrungen hatte. Von nun an sollte seine Darstellung des Meeres immer meisterhafter werden und schon bald eine in der maritimen Malerei einzigartige mimetische und expressive Kraft entwickeln.
4. J.M.W. Turner, Das Pantheon am Morgen nach dem Brand, RA 1792, Aquarell, 39,5 x 51,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Das Pantheon Opera House in der Londoner Oxford Street wurde von Brandstiftern am 14. Februar 1792 niedergebrannt. Turner hatte dort möglicherweise während der vorausgegangenen Jahre als Kulissenmaler gearbeitet.
5. J.M.W. Turner, Der Sankt-Gotthard-Pass von der Mitte der Teufels Broch (Teufelsbrücke) in der Schweiz gesehen, signiert und datiert 1804, Aquarell, 98,5 x 68,5 cm, Abbot Hall Art Gallery, Kendal, Cumbria.
Es gibt ohne Zweifel viele Maler, die Turner hinsichtlich des fotografischen Realismus bei der Abbildung des Meeres übertroffen haben und übertreffen. Aber keiner von ihnen hat bezüglich der Darstellung des fundamentalen Verhaltens von Wasser nur auf Meilen – gemeint sind natürlich Seemeilen – an Turner heranreichen können. Als Turner 1801 das Bridgewater-Seestück (Abbildung unten) ausstellte, war sein Verständnis dieser Dynamik perfekt. Gleichzeitig hatte Turner zu dieser Zeit begonnen, die essentielle Dynamik der Wolkenbewegungen und damit die fundamentalen Wahrheiten der Meteorologie zu verstehen. Hier hatte er es bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts schließlich zur Meisterschaft gebracht. Nur seine Bäume blieben etwas manieriert. Aber zwischen 1809 und 1813 durchdrang Turner auch die “Eigenschaften und Ursachen” der Gestalt von Bäumen, so dass nun eine größere Geschmeidigkeit der Linienführung und ein ausgeprägter Sinn für die strukturelle Komplexität derartiger Formen an die Stelle einer recht altmodischen Darstellung von Stämmen, Ästen und Blattwerk trat. Im Jahr 1815 war auch diese Verwandlung komplett, so dass im Verlauf des folgenden Jahrzehnts Turners Bäume in Arbeiten wie Biegung des Lune, mit Blick auf Hornby Castle und den beiden Ansichten von Mortlake Terrace von 1826 und 1827 (alle drei Bilder sind unten abgebildet) vielleicht die hübschesten, blühendsten und expressivsten natürlichen Organismen waren, denen man in der Kunst überhaupt begegnen kann.
All diese Einsichten sind Manifestationen von Turners Idealismus, da sie auf subtile Weise die Idealität der Formen verdeutlichen, jene Wesenseigenschaften, die bestimmen, warum ein Bauwerk seine spezifische Gestalt aufweist, damit es fest steht, warum ein Felsen oder Berg eine ganz bestimmte Struktur hat, was die Bewegung des Wassers lenkt, was die Form und Bewegung von Wolken hervorruft und warum Pflanzen und Bäume auf eine ganz bestimmte Art wachsen. Kein Künstler hat jemals Turners Einsichten in diese Prozesse erreicht. Dies wurde von hellsichtigen Kritikern schon vor seinem Tod im Jahre 1851 erkannt, besonders von John Ruskin, der in seinen Schriften ausführlich auf Turners Verständnis der “Wahrheiten” der Architektur, der Geologie, des Meeres, des Himmels und weiterer Bestandteile eines Landschaftsbildes oder Seestücks einging.