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J.M.W. Turner wurde 1775 in Covent Garden als Sohn eines Barbiers geboren und starb 1851 in Chelsea. Es bedarf der Erfahrung eines Spezialisten, Gemälde auszusuchen,um ein Werk über diesen Maler zu verfassen, denn mit einem Gesamtwerk von über 19000 Gemälden und Zeichnungen kann Turner als ein äußerst produktiver Maler bezeichnet werden. Sein Name wird einerseits mit einer gewissen Vorstellung der Romantik in den Landschaften und einer bewundernswerten Gewandtheit in der Ausführung seiner Seegemälde verbunden. Andererseits erinnert er aber auch an einen Vorreiter im Umgang mit Farben: an Goethes Theorie der Farben. Man braucht das Talent des großen englischen Kritikers John Ruskin, um Turners Malerei zu interpretieren. Mit Gemälden wie dem Brand des Ober- und Unterhauses, seiner ergreifenden Sicht des Schlachtfeldes von Waterloo und vielen anderen gibt Turner aber auch einen Zeitzeugenbericht ab. Seine Werke werden in zahlreichen Museen ausgestellt, z.B. im British Museum in London sowie in New York, Washington und Los Angeles.
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Seitenzahl: 332
Text: Eric Shanes
Übersetzung: Dr. Martin Goch
Redaktion der deutschen Ausgabe: Klaus H. Carl
Layout:
Baseline Co. Ltd
61A-63A Vo Van Tan Street
4. Etage
Distrikt 3, Ho Chi Minh City
Vietnam
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© Parkstone Press International, New York, USA
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CREDITS
© The Trustees of the British Museum, Abbildungen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19
Cecil Higgins Art Gallery, Bedford, Abbildungen 1, 2, 3
Fitzwilliam Museum, Cambridge, UK
Indianapolis Museum of Art, Indianapolis, USA, Abbildungen 1, 2, 3, 4
Lady Lever Art Gallery, Port Sunlight, UK, Abbildungen 1, 2, 3
Courtesy of the National Gallery of Ireland
Photo © the National Gallery of Ireland
Photo © National Museums Liverpool: Walker Art Gallery, Abbildungen 1, 2
Royal Academy of Arts, London
© Salisbury & South Wiltshire Museum, Abbildungen 1, 2, 3
Tate Britain, Abbildungen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44
Victoria & Albert Museum, London, Abbildungen 1, 2, 3
Alle Rechte vorbehalten.
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ISBN: 978-1-78310-630-1
Eric Shanes
Das Leben und die Meisterwerke
Selbstporträt, um 1708.
Öl auf Leinwand, 74,5 x 58,5 cm. Turner Bequest,
Tate Gallery, London, Vereinigtes Königreich.
Dies ist die überarbeitete, ergänzte und aktualisierte vierte Ausgabe des Buches Turner/The Masterworks von Eric Shanes, das erstmals 1990 in London erschien.
Hinweis an den Leser: Im folgenden Text werden Turners ursprüngliche Titel für seine Gemälde und Aquarelle verwendet, auch wenn die Namen und Worte in diesen Titeln sich von der modernen Schreibweise unterscheiden und sogar, wenn sie innerhalb von Turners eigenem Werk uneinheitlich sind. Verweise im Text auf Literatur erfolgen mittels Kurztiteln, die vollständigen Angaben finden sich in der Bibliographie.
INHALT
Für zwei begeisterte Turner-Bewunderer, Marilyn und Jeremy Roberts, in Freundschaft.
VORWORT
DAS LEBEN
MEISTERWERKE VON J.M.W. TURNER
TURNER UND SEINE KRITIKER
AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAPHIE
CHRONOLOGIE
J.M.W. Turner, Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen,mit Blick auf Bauen und die Tellskapelle, Schweiz, signiert auf dem Fass links mit JMWT, ca.1810, ausgestellt in der RA 1815,
Aquarell über Bleistift mit Auskratzungen, Auslassungen und
Gummi Arabicum im Originalrahmen, 66 x 100 cm, Privatsammlung.
Wir blicken über einen von riesigen, glänzenden Felsen umgebenen See. In der Ferne zieht ein schwerer Sturm ab, der eine feuchte Atmosphäre und eine Welt hinterlässt, die in der hellen Sonne des beginnenden Morgens zu dampfen beginnt. Nicht weit entfernt entsteigen Reisende, die der Sturm durchnässt hat, während sie sich auf dem Wasser befanden, einer kleinen Fähre. Ihre Besitztümer und die Ladung liegen über den Strand verstreut. Auf der rechten Seite schnieft ein Mädchen in ein Taschentuch, vielleicht wegen der vor ihr liegenden verschütteten Milch, vermutlich aber doch eher, weil der Sturm ihr eine Erkältung eingebracht hat. Etwas weiter in der Ferne nähern sich weitere Boote, während man am Ende der Landspitze gerade eben die 1388 erbaute und 1638 wieder aufgebaute Kapelle erkennen kann, die dem Gedenken an den schweizerischen Freiheitskämpfer Wilhelm Tell gewidmet ist.
Aufgrund der Unmittelbarkeit des Bildes könnte man meinen, dass es direkt vor Ort gemalt wurde, was allerdings mit Sicherheit nicht zutrifft. Vielmehr entstand es aus einer am Ufer angefertigten leichten Bleistiftzeichnung sowie einer Mischung aus Erinnerungen und Beobachtungen, die nicht notwendigerweise diesen Ort betrafen. Vor allem aber entsprang das Bild einer kraftvollen, leidenschaftlichen und produktiven Vorstellungskraft. Niemand weiß genau, wann Joseph Mallord William Turner Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen, mit Blick auf Bauen und die Tellskapelle, Schweiz malte. Wahrscheinlich stammt das Bild aber aus der Zeit um 1810, als die Schweizreise des damals 27-jährigen Künstlers also bereits etwa acht Jahre zurücklag. Es handelt sich bei dem Bild um ein Aquarell, ein Medium, das vor Turner erheblich weniger Ausdruckskraft besessen und in erster Linie dazu gedient hatte, die trockenen Fakten über einen Ort und seine Bewohner zu vermitteln. Aufgrund seines großen Formats sowie seiner Kombination aus räumlicher Breite, feinen Details und einem großen tonalen Spektrum könnte man das Aquarell sogar für ein Ölgemälde halten. Dieses Missverständnis würde durch den kunstvollen Goldrahmen, der das Bild seit seiner Entstehung einrahmt, noch verstärkt. Turner wollte den Betrachter vermutlich in die Irre führen.
Benötigt irgendjemand wirklich eine Bestätigung, dass Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen ein herausragendes Kunstwerk ist? Weist das Bild nicht all die ein Kunstwerk definierenden Merkmale auf? Darüber hinaus kann nicht jeder beliebige Künstler ein solches Werk erschaffen. Es handelt sich zweifellos um die Arbeit eines ungewöhnlich begabten Individuums mit großer visionärer Kraft, einer ausgeprägten Sensibilität für die äußere Erscheinung und das Verhalten der natürlichen Welt (zu der der Mensch selbstverständlich gehört), einer vollkommenen Beherrschung der Sprache der Malerei und des gewählten Mediums und nicht zuletzt einem Gefühl sowohl für enorme Breite als auch feinste Details und der Geduld, diese auszuarbeiten.
In unserer Zeit, in der die kulturelle, soziale und politische Nivellierung (ganz zu schweigen von der Feigheit der Kritik) alles, von einem Urinal, über ein leeres Zimmer, abgeschnittenes Schamhaar bis hin zu Akten der Selbstverstümmelung als Kunst anerkennt, zeigt uns ein Aquarell wie Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen immer noch, dass ein wahres Kunstwerk etwas Magisches, Übermenschliches und Außergewöhnliches ist. Warum diese drei Eigenschaften? Weil jedes herausragende dramatische, musikalische, literarische oder visuelle Werk seine Kraft zweifellos aus etwas jenseits unserer Fähigkeiten bezieht, um uns auf eine Ebene zu heben, die unsere Vorstellungskraft, Gefühle und unseren Intellekt erheblich stärker stimuliert als die profane Welt, in der wir normalerweise leben. Wie viele andere Werke Turners hebt uns Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen mit Leichtigkeit auf diese höhere Ebene.
Turner erweckte zu Beginn der 1790er Jahre, als er noch nicht einmal sein 20. Lebensjahr vollendet hatte, zuerst mit seinen illustrierenden Aquarellen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Als er im Lauf der Zeit seine herausragenden Begabungen als ausgezeichneter Ölmaler, Grafiker und Wasserfarbenmaler entwickelte und perfektionierte, wuchs auch die Bewunderung für seine Werke, so dass im Jahr 1815, in dem auch Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen zum ersten Mal der Öffentlichkeit gezeigt wurde, ein anonymer Autor Turner „… das erste Genie des Tages“ nannte. In einer Zeit solcher schöpferischer Giganten wie Keats, Byron, Goethe, Schubert, Beethoven, Delacroix und vielen anderen war ein solches Kompliment in der Tat keine Kleinigkeit. Es handelte sich auch um keine Übertreibung, denn selbst aus einer solchen hochkarätigen Gesellschaft ragt Turner heraus. Darüber hinaus hat seine Beliebtheit seitdem kaum gelitten, obwohl die von seinen Werken bei Auktionen erzielten Preise zwischen den 1920er und den 1960er Jahren vorübergehend etwas sanken, in der Zwischenzeit sind sie allerdings wieder in die Höhe geschossen. Vierwaldstätter See, vom Landeplatz in Flüelen aus gesehen etwa wechselte bei einer Auktion im Juli 2005 in London für fast zwei Millionen Pfund den Besitzer. Und jenseits des Kunstmarkts wächst die Zahl der Bewunderer Turners ebenfalls stetig. Sie können einfach nicht genug von ihm bekommen. Der Autor des vorliegenden Buches hat 2000/2001 anlässlich des 150. Todestages des 1851 verstorbenen Künstlers in der Royal Academy of Arts in London eine Ausstellung von Aquarellen Turners organisiert, die während ihrer elfwöchigen Laufzeit fast 200 000 Menschen besuchten. In Spitzenzeiten musste man bis zu vier Stunden Schlange stehen, um in die Ausstellungsräume zu gelangen. Ein noch eindrucksvollerer Beweis für Turners Popularität fand sich Anfang 2007, als die Tate Gallery einen Spendenaufruf veröffentlichte, um das Aquarell Der blaue Rigi: Vierwaldstätter See (1842), das auf S. 226 reproduziert ist, erwerben zu können. Das Museum hoffte, von den benötigten 4,8 Millionen £ (Pfund) 300 000 £ unmittelbar von der Öffentlichkeit zu erhalten. Innerhalb von nur fünf Wochen spendeten Turner-Freunde aus aller Welt jedoch mehr als das Doppelte dieser Summe, um ein Werk dieser Qualität für eine wichtige öffentliche Sammlung zu sichern. Auch heute noch erkennen viele Menschen also ein wunderbares Kunstwerk und sind der Meinung, dass es ihnen zusteht und nicht einem einzelnen reichen Sammler.
Die öffentliche Bewunderung Turners ist jedoch nicht völlig ungeteilt. Schon zu seinen Lebzeiten konnten viele seine Kühnheit nicht vertragen. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurde er heftig für seinen starken Einsatz von Weiß kritisiert. Dies ging so weit, dass er und Künstler, die ihm folgten, als „… die weißen Maler“ bezeichnet wurden. Ab den 1820er Jahren wurde Turner häufig, auch in den Zeitungen, wegen seiner Vorliebe für die Farbe Gelb verspottet. Als Turner intensive Gelbtöne mit wilden Rot-, Blau- und Grüntönen kombinierte, verglichen viele Journalisten seine Gemälde abfällig sogar mit Lebensmitteln, vor allem mit Rührei und Salaten. Dann kam Turners Auflösung von Formen in Bildbereichen intensiven Lichts (die sich in späteren Werken sogar auf ganze Gemälde ausdehnte). Viele Menschen der damaligen Zeit, die eher die peinlich genaue Wirklichkeitstreue der präraffaelitischen Maler und/oder des viktorianischen bürgerlichen Realismus gewohnt waren, konnten die Ölgemälde oder Aquarelle des späten Turner einfach nicht verstehen. Selbst Sammler, die vorher noch selbst für schon sehr moderne Turner-Bilder Schlange gestanden hatten, hatten Schwierigkeiten, seine späten Aquarelle schweizerischer Motive zu verstehen und kauften sie nicht.
Derartige Verständnisprobleme wurden durch Turners lebenslange Vorliebe für versteckte Bedeutungen noch verschärft. Nur ein vollständiges, allein diesem Thema gewidmetes Buch, wie etwa die Studie Turner’s Human Landscape (Turners menschliche Landschaft) des Autors des vorliegenden Bandes, könnte diesem Aspekt gerecht werden. Hier muss der Hinweis genügen, dass die Landschaftsmalerei für Turner ein Vehikel war, seine Antwort auf die große Vielfalt der menschlichen Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, und er sie nicht lediglich als Anerkennung der Tatsache verstand, dass die uns umgebende Welt ein schöner oder Angst einflößender Ort ist. Ein Weg, dies zu artikulieren, bestand darin, mit Hilfe von visuellen Verbindungen, Metaphern, Witzen und Vergleichen Assoziationen und Gedanken heraufzubeschwören. Da Turner selbst über ein sehr komplexes Bewusstsein verfügte, sind seine Bedeutungen notwendigerweise ebenfalls komplex, was seine Anhänger häufig verwirrt hat. Wir müssen allerdings versuchen, uns mit diesen Bedeutungen auseinander zu setzen, weil viele Werke Turners sonst unverständlich bleiben.
J.M.W. Turner, Founder's Tower, Magdalen College,Oxford, 1793, Aquarell, 35,7 x 26,3 cm,
The British Museum, London, Vereinigtes Königreich.
J.M.W. Turner, Venedig: Die Mündung des Canal Grande, 1840, Aquarell,
21,9 x 31,7 cm, Yale Center for British Art, New Haven, Connecticut, USA.
In diesem Buch wird dieser Versuch in jedem Fall unternommen werden. Zu lange hat man mit langen, leeren Interpretationen – etwa der Erklärung von Turners Bildern allein durch eine angebliche Sensibilität für das „Erhabene“ – die Notwendigkeit ignoriert, die vielen Bedeutungsschichten Turners wirklich zu untersuchen.
Das Versagen, Turners Aussagen zu verstehen, ist durch die Veränderungen des Geschmacks noch verschärft worden. So führte die wachsende Bewunderung für den französischen Impressionismus zu der verbreiteten Ansicht, dass Turner „… der erste Impressionist“ war. Es ist nachvollziehbar, dass dieses Missverständnis heute so weit verbreitet ist, weil viele angeblich kenntnisreiche Kunstkritiker des 20. Jahrhunderts dies förderten. Selbst heute noch wird diese Auffassung vertreten. Wir werden uns weiter unten mit dieser Fehlinterpretation befassen, hier soll der Hinweis genügen, dass Turner ganz sicherlich kein Impressionist war, selbst wenn einige seiner Bilder einen spürbaren Einfluss auf Monet und Pissarro ausübten.
Dann vereinnahmten auch noch die amerikanischen Abstrakten Expressionisten Turner für sich. Turner wurde so 1966 die für einen im 18. Jahrhundert geborenen Künstler höchst seltene Ehre einer Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York City zuteil. Die Basis dieser Ausstellung war die völlig falsche Annahme, dass Turner tief in seinem Inneren eigentlich ein abstrakter Maler hatte sein wollen, dieses Ziel aufgrund der Erwartungen seiner Zeit aber nur dadurch verwirklichen konnte, dass er die Abstraktion mit dem leeren Drumherum der Gegenständlichkeit, einigen bedeutungslosen Figuren hier, einem Boot da oder einem merkwürdig aussehenden Fisch irgendwo, kombinierte. Heute verwerfen die meisten Turner-Experten diese Interpretation, da es zahlreiche Belege gibt, dass Turners „abstrakte“ Bilder entweder reine vorbereitende Untergrundmalereien, die niemals überarbeitet wurden, oder aber vorbereitende Studien für gegenständliche Bilder waren.
Ganz ohne Zweifel war Turner während seines gesamten Lebens ein gegenständlicher Maler. Warum also hätte er sich in seinen späten Jahren in exakt die entgegengesetzte Richtung bewegen sollen? Angesichts seiner Schriften erscheint es wesentlich wahrscheinlicher, dass er in seinen späten Bildern die Formen vereinfachte und das Licht so sehr intensivierte, um eine ideale, platonische Welt der Form und des Gefühls darzustellen. Die Abbildung eines solchen Reiches durch die Kunst war auch von dem Theoretiker propagiert worden, der Turner während seines gesamten Lebens am stärksten beeinflusste, von Sir Joshua Reynolds. Und jene Reise auf eine höhere und in einem tieferen Sinne wahrhaftigere Wirklichkeit als die, die wir gewöhnlich bewohnen, war sicherlich das, was der Visionär Turner gegen Ende seiner Laufbahn darstellen wollte, nicht aber die Entleerung der Realität hin zu einer bedeutungslosen Abstraktion.
Am Ende sind diese weit verbreiteten Fehldeutungen jedoch bedeutungslos, da wir alle uns aus einem Kunstwerk das herausholen, was wir benötigen. Die Welt, in der wir heute leben, lässt uns nach Schönheit suchen, um all die uns immer mehr umgebende Hässlichkeit zu überwinden. Turner bietet uns diese Schönheit im Überfluss. Aber er gab uns noch so viel mehr: die bedrohliche Macht der Natur, ihren unnachahmlichen Frieden, ihre enorme Pracht, ihre ewigen Konstanten und auch all die Aktivitäten des Menschen. Allein in den hier reproduzierten Bildern sehen wir den Menschen beim Handel, Segeln, der Waljagd, dem Warentransport, der Verhaftung anderer Menschen, als Bauherrn, in Eile, beim Feiern, als Gaffer, beim Kampf, beim Meckern und Schwätzen, bei Wahlen, als Zerstörer, als leidendes Geschöpf, als Ertrinkenden, Sterbenden und Trauernden.
Wir haben hier einen Maler, der bereits fest in der modernen industriellen Welt verwurzelt ist und gleichzeitig noch die letzten Überreste der ihn umgebenden vorindustriellen Welt wahrnehmen konnte. Er machte es sich zur Aufgabe, die alte Welt und die schöne neue Welt einzufangen, und zwar mit enormer Erfindungsgabe und Raffinesse. Dies ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum wir sein Werk so schätzen und warum dies wahrscheinlich immer so bleiben wird. Turner beschrieb gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinn ist er im wahrsten Wortsinn zeitlos.
J.W. Archer, J.M.W. Turners zweites Elternhaus in derMaiden Lane Nr. 26, Covent Garden, 1852, Aquarell,
The British Museum, London, Vereinigtes Königreich.
Die Familie Turner zog vom Geburtshaus des Künstlers auf der
gegenüberliegenden Straßenseite 1782 oder 1783 in dieses Haus.
Von der Dunkelheit ins Licht: Vielleicht hat kein Maler in der Geschichte der westlichen Kunst eine größere visuelle Spannbreite abgedeckt als Turner. Wenn man eines seiner ersten ausgestellten Meisterwerke, wie das recht zurückhaltende St. Anselms-Kapelle, Canterbury von 1794, mit einem lebhaft hellen Bild aus den 1840er Jahren wie Der Clyde-Fall (beide weiter unten abgebildet) vergleicht, mag man kaum glauben, dass sie von derselben Hand gemalt wurden. Die sofort ins Auge fallenden Unterschiede können jedoch leicht die große Kontinuität in Turners Kunst verschleiern, ebenso wie die blendenden Farben, die gesamte Farbkomposition und die schemenhaften Formen der späten Bilder den Eindruck erwecken, dass Turner die Ziele der französischen Impressionisten geteilt habe oder gar so etwas wie ein abstrakter Maler sein wollte. Beide Ansichten wären völlig falsch. Die Kontinuität demonstriert vielmehr, wie energisch Turner seine früh gesteckten Ziele verfolgte und in wie großartiger Weise er sie schließlich erreichte. Der Zweck des vorliegenden Bandes besteht darin, diese Ziele und ihre Verwirklichung durch ausgewählte Werke nachzuzeichnen sowie einen kurzen Überblick über Turners Leben zu geben.
Joseph Mallord William Turner wurde in London in Covent Garden in der Maiden Lane 21 geboren, und zwar Ende April oder Anfang Mai 1775. (Turner selbst behauptete gerne, am 23. April geboren worden zu sein, dem Geburtstag des englischen Nationalheiligen St. George und gleichzeitig William Shakespeares Geburtstag. Es gibt allerdings keine Belege für diese Behauptung.) Sein Vater William arbeitete als Perückenmacher und Barbier. Wir wissen nur wenig über Turners Mutter Mary (geborene Marshall), außer, dass sie geistig labil war und sich ihr Zustand durch die tödliche Krankheit von Turners 1783 verstorbener Schwester noch verschlimmerte. Aufgrund der hieraus resultierenden Belastung für die Familie wurde Turner 1785 zu einem Onkel nach Brentford, einer kleinen Marktstadt westlich von London, geschickt. Hier trat Turner auch in die Schule ein. Brentford war die Hauptstadt der Grafschaft Middlesex und verfügte über eine lange Tradition des politischen Radikalismus, die viel später auch in Turners Werk zum Ausdruck kommen sollte. Wichtiger war jedoch, dass die Umgebung der Stadt – die ländliche Gegend der Themse hinunter nach Chelsea und die Landschaft den Fluss hinauf nach Windsor und darüber hinaus – dem jungen Turner geradezu arkadisch vorgekommen sein muss (besonders angesichts der schäbigen Umgebung von Covent Garden) und viel zu seiner späterer Vision einer idealen Welt beigetragen hat.
Im Jahr 1788 finden wir Turner in der Schule in Margate, einem kleinen Ferienort an der Themsemündung weit östlich von London. Von diesem Aufenthalt sind einige Zeichnungen erhalten. Sie sind bemerkenswert frühreif, insbesondere hinsichtlich des Verständnisses der Rudimente der Perspektive. Nachdem er seine formale Schulbildung offenbar 1789 abgeschlossen hatte, war Turner in den späten 1780er Jahren wieder in London und arbeitete für verschiedene Architekten oder architektonische Topographen. Zu ihnen zählte Thomas Malton jr. (1748 bis 1804), dessen Einfluss auf Turners Werk um diese Zeit erkennbar ist.
Am 11. Dezember 1789 führte der erste Präsident der Akademie, Sir Joshua Reynolds (1723 bis 1792), höchstpersönlich ein Auswahlgespräch mit Turner und gewährte ihm die Zulassung zu dieser Einrichtung. Die Royal Academy Schools waren zu dieser Zeit die einzige reguläre Kunstschule in ganz Großbritannien. Malerei wurde hier jedoch nicht unterrichtet – sie fand erst 1816 Eingang in den Lehrplan –, sondern die Schüler lernten lediglich Zeichnen, zunächst anhand von Gipsabgüssen antiker Statuen und anschließend, wenn man die Schüler für gut genug hielt, an Aktmodellen. Turner benötigte für diesen Schritt etwa zweieinhalb Jahre. Zu den Gastdozenten und Lehrern der Aktklassen zählten Historienmaler wie James Barry RA und Heinrich Füssli RA, deren hoch gesteckte künstlerische Ziele den jungen Turner schon bald beeinflussen sollten.
Da Turner in einer Zeit lebte, die noch keine Stipendien für Studenten kannte, musste er sich von Anfang an seinen Lebensunterhalt verdienen. Im Jahr 1790 stellte er erstmals in einer Ausstellung der Royal Academy aus, und mit wenigen Ausnahmen sollte er bis zum Jahr 1850 in all diesen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vertreten sein. In dieser Zeit veranstaltete die Royal Academy jährlich nur eine Ausstellung, so dass sie eine weit größere Bedeutung hatte als ihre heutigen Expositionen, die mit vielen anderen (manche ebenfalls von der Royal Academy organisiert) konkurrieren müssen. Turners lebhafte und innovative Arbeiten heimsten schon bald eine sehr positive Resonanz ein.
Anlässlich der Ausstellung der Royal Academy von 1792 erhielt Turner eine Lektion, die seine Kunst schließlich in bis dahin in der Malerei unbekannte Dimensionen des Lichts und der Farbe vorstoßen ließ. Turner wurde besonders von dem Aquarell Das Torhaus der Battle Abbey von Michael Angelo Rooker ARA (1746 bis 1801) beeindruckt, das er zweimal in Wasserfarben kopierte (das Bild Rookers befindet sich heute in der Sammlung der RoyalAcademy in London, während Turners Kopien Bestandteil des Turner-Nachlasses sind). Rooker hatte es bei der Wiedergabe feiner Tonunterschiede von Mauerwerk zu einer ungewöhnlichen Meisterschaft gebracht (unter Ton wird hier die Abstufung von hell zu dunkel einer gegebenen Farbe verstanden). Das außergewöhnlich breite Spektrum an Tönen, das Rooker in Battle Abbey eingesetzt hatte, war für Turner eine wichtige Inspiration. Er ahmte Rooker in dieser Hinsicht nicht nur in seinen beiden Kopien, sondern auch in vielen später im Jahr 1792 angefertigten ausgefeilten Zeichnungen nach. Schon bald hatte der junge Künstler Michael Angelo Rooker in Bezug auf die subtile Differenzierung von Tönen überflügelt.
Die für derartige Tonabstufungen eingesetzte Technik war als „Tonleitertechnik“ bekannt und hatte ihre Grundlage in der Eigenart der Aquarellmalerei. Da Wasserfarbe ein transparentes Medium ist, muss der Maler hier von hellen hin zu dunklen Tönen arbeiten (da es sehr schwierig ist, einen hellen Ton auf einen dunklen zu setzen, während das Gegenteil einfach ist). Anstatt eine Palette mit all den für ein Bild benötigten Tönen anzumischen, ging Turner wie Rooker vor und mischte jeweils nur einen Ton an und trug ihn an unterschiedlichen Stellen auf einem Blatt Papier auf. Während die Farbe auf diesem Bild trocknete, trug er die angefertigte Tonmischung von seiner Palette auf unterschiedliche Stellen weiterer Aquarelle auf, die in einer Art Produktionsstraße über sein gesamtes Atelier verteilt waren. Bis er zu dem ersten Bild zurückkehrte, war dieses getrocknet. Turner machte die jeweilige Farbe auf seiner Palette dann etwas dunkler und trug diese nächste „Note“ auf der „Tonleiter“ von hell zu dunkel auf dieses und die weiteren Bilder auf.
J.W. Archer, Dachboden in Turners Haus in der Maiden Lane,Covent Garden, vermutlich Turners erstes Atelier, 1852,
Aquarell, The British Museum, London, Vereinigtes Königreich.
Ein derartiges Vorgehen sparte selbstverständlich viel Zeit, da man nicht gleichzeitig ein breites Spektrum an Tönen anmischen musste und ebenso wenig eine riesige Palette und eine Vielzahl von Pinseln (für jeden Ton einen) benötigte. Aber diese Technik ermöglichte nicht nur die Produktion einer hohen Zahl an Aquarellen. Sie trug auch zur Verstärkung räumlicher Tiefe bei, da stets die dunkelsten Töne zuletzt aufgetragen wurden, so dass ihre Platzierung im Vordergrund eines Bildes den Eindruck des maximalen Zurückweichens hinter sie verstärken konnte. Es sollte nicht lange dauern, bis Turner ein unangefochtener Meister in der Differenzierung der kleinsten Unterschiede von hell und dunkel war. Am Ende hatte er sich zum weltweit subtilsten Tonalisten in der Kunst entwickelt.
Schon in einer ganzen Reihe von nach dem Sommer 1792 gemalten Aquarellen ermöglichte Turner seine Fähigkeit, innerhalb eines extrem engen Tonspektrums von hell zu dunkel subtile Unterschiede zu erzielen, ein blendendes Strahlen des Lichts zu projizieren (da sehr helles Licht Töne in ein enges Tonspektrum zwängt). Schließlich sollte diese Fähigkeit Turner auch die Freiheit geben, in völlig neue Dimensionen der Farbe vorzudringen. Daher sind viele der in diesem Band abgebildeten sehr späten Werke mit Feldern purer Farbe überflutet, innerhalb derer lediglich etwas hellere oder dunklere Variationen derselben Farbe Menschen, Gegenstände, Landschaften oder Meereslandschaften bezeichnen. Trotz der tonalen Subtilität dieser Formen wirken sie alle vollkommen konkret. Turners Fähigkeiten als Kolorist sollten immer ausgefeilter werden, besonders nach seiner ersten Italienreise im Jahr 1819. In der zweiten Hälfte seines Lebens entwickelte er sich zu einem der besten und innovativsten Koloristen in ganz Europa. Der Beginn dieser Entwicklung liegt früh in seinem Leben und resultierte aus dem Studium von Rookers Battle Abbey im Jahr 1792. Turner holte sich bei anderen Künstlern stets das, was er benötigte, und Rookers Aquarell gab ihm das, was er brauchte, genau zur rechten Zeit.
Im Jahr 1796 zeichnete die Royal Society den 21-jährigen Turner mit ihrem Greater Silver Pallet-Preis für Landschaftsmalerei aus. Zu diesem Zeitpunkt konnte Turner seine Arbeiten bereits leicht verkaufen und besserte sein Einkommen während der 1790er Jahre durch Privatstunden auf. An Winterabenden zwischen 1794 und 1797 traf er mit anderen Künstlern – darunter Thomas Girtin (1775 bis 1802), ein weiterer führender junger Aquarellmaler – im Haus von Dr. Thomas Monro zusammen. Dr. Monro war ein Arzt König Georges III. und auf Geisteskrankheiten spezialisiert. Später behandelte er auch Turners Mutter (sie starb schließlich 1804). Dr. Monro hatte in seinem Haus auf der Adelphi Terrace mit Blick auf die Themse eine inoffizielle künstlerische „Akademie“ gegründet. Er zahlte Turner zwei Shillings und Sixpence sowie ein Austern-Abendessen für die Kolorierung der von ihm selbst in Umrissen abgezeichneten Kopien von Werken unterschiedlicher Künstler, u.a. Antonio Canaletto (1696 bis 1768), Edward Dayes (1763 bis 1804), Thomas Hearne (1744 bis 1817) und Robert Cozens (1752 bis 1797), der zu dieser Zeit wegen einer psychischen Erkrankung ein Patient Dr. Monros war. Turner geriet hierbei natürlich unter den Einfluss all dieser Maler. Er war, ebenso wie Tom Girtin, besonders von der Weite von Cozens Landschaften beeindruckt.
Thomas Gainsborough RA (1727 bis 1788), Philippe Jacques de Loutherbourg RA (1740 bis 1812), Heinrich Füssli (Fuseli) RA (1741 bis 1825) und Richard Wilson RA (1713? bis 1782) waren in den 1790er Jahren für Turner weitere wichtige Einflusspersonen. Gainsboroughs von den holländischen Meistern inspirierte Landschaften ließen Turner eine Vorliebe für derartige Motive entwickeln, während Turner vor allem bei der Zeichnung der Figuren durch de Loutherbourg beeinflusst wurde, da Turner wie jener ihren Stil von der Art Bild abhängig machte, in der sie auftraten. Auch Füsslis Herangehensweise an die menschliche Gestalt begegnet dem Betrachter in einigen von Turners Bildern wieder. Seine Hochachtung vor den Bildern Richard Wilsons, der auf britische Landschaften einen italienischen Stil anwandte, führte zu Turners Leidenschaft für die Arbeiten von Claude Gellée (bekannt als Claude Lorrain, 1600 bis 1682), von dem Wilson sich stark hatte beeinflussen lassen und der Turners dauerhaftester malerischer Einfluss bis zum Ende seines Lebens sein sollte. Von seiner Jugend an aber verlieh vor allem ein beherrschender ästhetischer Einfluss Turners Denken über die Kunst Gestalt. Dieser stammte – wenig überraschend – aus der Royal Academy, wenn Turner ihn auch eher durch Lektüre als direkte Vermittlung rezipierte. Es handelt sich um die Lehren von Sir Joshua Reynolds.
J.M.W. Turner, Folly Bridge und Bacon’s Tower, Oxford, 1787, Feder und
Tusche mit Aquarellfarben, 30,8 x 43,2 cm, Turner Bequest, Tate Britain,
London, Vereinigtes Königreich. Die Arbeit ist die Übertragung eines Bildes,
das Michael Angelo Rooker für den Oxford Almanach geschaffen hat.
Turner hatte im Dezember 1790 Reynolds’ letzte Vorlesungen gehört. Durch die Lektüre der restlichen Vorträge scheint er sich mit allen Lektionen Reynolds über die idealisierende Funktion der Kunst vertraut gemacht zu haben, die dieser in jenen fünfzehn Vorträgen so beredt ausführte. Turners kreative Entwicklung kann überhaupt nur im Kontext von Reynolds Lehren verstanden werden.
In seinen Diskursen entwarf Reynolds nicht nur ein umfassendes Ausbildungsprogramm für angehende Künstler. Er vertrat auch die zentrale idealisierende Doktrin der akademischen Kunst, die sich in der italienischen Renaissance herausgebildet hatte. Man kann sie als die „Theorie der poetischen Malerei“ bezeichnen. Dieser Doktrin zufolge sind die Malerei und die Bildhauerei der Dichtung verwandte Disziplinen. Daher sollten Maler und Bildhauer die tiefe Humanität, die Klangfülle, die Angemessenheit der Sprache, des Versmaßes und der Metaphorik, die Großartigkeit der Anlage und den moralischen Diskurs der erhabensten Dichtung und poetischen Dramen mit den Mitteln ihrer jeweiligen Kunstform anstreben und nachbilden.
Von der Mitte der 1790er Jahre an können wir Turner dabei beobachten, wie er sich anschickt, all diese Ambitionen zu verwirklichen. Von dieser Zeit an mangelt es seinen Landschaften und Bildern des Meeres kaum noch an einer menschlichen Dimension, und die Sujets sind häufig der Dichtung, Geschichte und Literatur entnommen. Die Bilder sind außerdem immer stärker strukturiert, um das maximale Maß an visueller Harmonie, Klangfülle und Kohärenz zu erlangen. Das visuelle Äquivalent zur Angemessenheit der Sprache, des Versmaßes und der Metaphorik in der Poesie (sowie zur Angemessenheit der Gestik und des Verhaltens in poetischen Dramen wie den Stücken Shakespeares) wurde in der Reynolds und Turner geläufigen ästhetischen Literatur als „decorum“ bezeichnet. Viele der von Turner verehrten Landschaftsmaler, besonders Claude, Nicholas Poussin (1594 bis 1665) und Salvator Rosa (1615 bis 1673), hatten häufig das Dekorum beachtet, indem sie die Tageszeit, das Licht und das Wetter der zentralen Aussage ihrer Bilder anpassten. Bis zum Jahr 1800 hatte Turner ebenfalls mit dieser Praxis begonnen. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem im gleichen Jahr in der Royal Academy gezeigten Aquarell von Caernarvon Castle. Dieses Bild wird ebenso wie eine besonders einfallsreiche Verwirklichung des Dekorums in Popes Villa in Twickenham im Zustand der Baufälligkeit aus dem Jahr 1808 sowie dem weitaus bekannteren späteren Beispiel, Das Kriegsschiff Téméraire von 1839, unten diskutiert.
Dekorum ist eine assoziative Methode, und da Turner eine ungewöhnliche Begabung besaß, Verbindungen herzustellen, fand er es stets leicht, Tageszeiten, Licht und Wetter sehr gut mit der Aussage seiner Bilder in Einklang zu bringen. In vielen seiner Arbeiten setzte er auch assoziative Instrumente ein, denen man in der Dichtung häufig begegnet: Anspielungen, d.h. subtile Verweise auf spezifische Bedeutungen, Spielereien mit der Ähnlichkeit von Erscheinungen (Wortspielen vergleichbar), Gleichnisse oder direkte Vergleiche von Formen und Metaphern, bei denen etwas Sichtbares gleichzeitig für etwas Unsichtbares steht. Gelegentlich konnte Turner seine visuellen Metaphern sogar so ineinander verweben, dass komplexe Allegorien entstanden (viele dieser Techniken werden unten erläutert). Auch hier folgte Turner Joshua Reynolds, der in seinem siebten Diskurs vorgeschlagen hatte, dass Maler und Bildhauer wie Dichter und Dramatiker „… figurative und metaphorische Ausdrücke“ gebrauchen sollten, um die imaginativen Dimensionen ihrer Kunst zu erweitern.
In seinem letzten Vortrag, den Turner 1790 besuchte, hatte Reynolds ganz besonders die Erhabenheit von Michelangelos Kunst gerühmt. Schon ab 1789 hatte Turner begonnen, die Maße der wiedergegebenen Gegenstände und Schauplätze (z.B. Bäume, Hügel und Berge, Schiffe und Bauwerke) zu verdoppeln oder zu verdreifachen, um sie zu vergrößern. Er sollte diese Praxis bis an sein Lebensende beibehalten, so dass seine Landschaften und Meerlandschaften genauso grandios erscheinen wie Michelangelos Figuren.
Im Jahr 1796 begann Turner, mit einem Aquarell der Kathedrale von Llandaff (in diesem Band abgebildet) auch moralische Aussagen zu transportieren. Häufig gab er einen Kommentar zu der kurzen Dauer des menschlichen Lebens und unserer Zivilisation, unserer Gleichgültigkeit gegenüber diesem Faktum, der Destruktivität der Menschheit etc. ab. Mit dieser Zielsetzung und um die zeitliche Dimension seiner Bilder auszuweiten, begann er etwa ab 1800, komplementäre Paare von Bildern zu malen. Diese waren üblicherweise, allerdings keineswegs immer, von gleicher Größe und im gleichen Medium ausgeführt (die unten diskutierten Bilder Dolbadern Castle und Caernarvon Castle, ein Ölgemälde und ein Aquarell, sind ein Beispiel). Auf diese und noch weitere Weisen setzte er Reynolds’ Forderung um, dass Künstler Moralisten sein und das menschliche Leben aus einer kritischen Perspektive betrachten sollten. Direkt verbunden hiermit war Reynolds’ Maxime, dass die Künstler sich nicht mit willkürlichen oder unbedeutenden menschlichen Erfahrungen abgeben sollten, sondern sich stattdessen mit den universalen Wahrheiten unserer Existenz, die in den höchsten Verkörperungen der Dichtung und des poetischen Dramas thematisiert werden, auseinander setzen sollten. Zur Erreichung dieses Ziels hielt Reynolds die Künstler an, sich nicht bei den bloßen Erscheinungen aufzuhalten, sondern stattdessen das, was Turner selbst in einer Randnotiz in einem Buch als „… die Eigenschaften und Ursachen der Dinge“ bezeichnen sollte, also die universalen Wahrheiten der Form und des Verhaltens, zu vermitteln.
Wir werden gleich auf Turners Herangehensweise an die universalen Wahrheiten der menschlichen Existenz zurückkommen. Von Mitte der 1790er Jahre an begann er jedoch „… die Eigenschaften und Ursachen der Dinge“ in seinen Abbildungen von Gebäuden auszudrücken, wie man leicht an dem unten abgebildeten Aquarell St. Anselms-Kapelle, Canterbury (1794) sehen kann. In Bildern wie diesem können wir bereits ein wachsendes Verständnis der grundlegenden strukturellen Dynamik menschlicher Bauwerke entdecken. Schon nach kurzer Zeit, in Aquarellen wie Querschiff der Klosterkirche von Ewenny, Glamorganshire (1797; in diesem Band abgebildet), sollte diese Einsicht zu voller Reife gelangen. Da Turner glaubte, dass die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Architektur von jenen der Architektur der Natur herrührten, war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Verständnis geologischer Strukturen. Turner legte schon von einem frühen Zeitpunkt im folgenden Jahrhundert an die „… Eigenschaften und Ursachen“ derartiger natürlicher Formen offen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Felsschichtungen in Der Große Reichenbachfall im Haslital, Schweiz, aus dem Jahr 1804.
Gleichzeitig können wir etwa ab Mitte der 1790er Jahre Turners tiefes Verständnis der Grundregeln des Verhaltens des Wassers beobachten. Die Fischer auf See (1796; in diesem Band abgebildet) demonstrieren, wie vollkommen er die Wellenbildung, die Spiegelung und die unterschwellige Bewegung des Meeres durchdrungen hatte. Von nun an sollte seine Darstellung des Meeres immer meisterhafter werden und schon bald eine in der maritimen Malerei einzigartige mimetische und expressive Kraft entwickeln. Es gibt ohne Zweifel viele Maler, die Turner hinsichtlich des fotografischen Realismus bei der Abbildung des Meeres übertroffen haben und übertreffen. Aber keiner von ihnen hat bezüglich der Darstellung des fundamentalen Verhaltens von Wasser nur auf Meilen – gemeint sind natürlich Seemeilen – an Turner heranreichen können.
Als Turner 1801 das Bridgewater-Seestück (in diesem Band abgebildet) ausstellte, war sein Verständnis dieser Dynamik perfekt. Gleichzeitig hatte Turner zu dieser Zeit begonnen, die essentielle Dynamik der Wolkenbewegungen und damit die fundamentalen Wahrheiten der Meteorologie zu verstehen. Hier hatte er es bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts schließlich zur Meisterschaft gebracht. Nur seine Bäume blieben etwas manieriert. Aber zwischen 1809 und 1813 durchdrang Turner auch die „Eigenschaften und Ursachen“ der Gestalt von Bäumen, so dass nun eine größere Geschmeidigkeit der Linienführung und ein ausgeprägter Sinn für die strukturelle Komplexität derartiger Formen an die Stelle einer recht altmodischen Darstellung von Stämmen, Ästen und Blattwerk trat. Im Jahr 1815 war auch diese Verwandlung komplett, so dass im Verlauf des folgenden Jahrzehnts Turners Bäume in Arbeiten wie Biegung des Lunemit Blick auf Hornby Castle und den beiden Ansichten von Mortlake Terrace von 1826 und 1827 (alle drei Bilder sind unten abgebildet) vielleicht die hübschesten, blühendsten und expressivsten natürlichen Organismen waren, denen man in der Kunst überhaupt begegnen kann.
J.M.W. Turner, Malmsbury Abbey, 1792, Aquarell,
54,6 x 38,7 cm, Castle Museum, Norwich, Vereinigtes Königreich.
Dieses Aquarell beeindruckte die Mitglieder der Royal
Academy sehr, als es 1792 in der Akademie ausgestellt wurde.
J.M.W. Turner,Llandaff Cathedral, South Wales, RA 1796,
Aquarell, 35,7 x 25,8 cm, The British Museum,
London, Vereinigtes Königreich.
All diese Einsichten sind Manifestationen von Turners Idealismus, da sie auf subtile Weise die Idealität der Formen verdeutlichen, jene Wesenseigenschaften, die bestimmen, warum ein Bauwerk seine spezifische Gestalt aufweist, damit es fest steht, warum ein Berg oder Felsen eine ganz bestimmte Struktur hat, was die Bewegung des Wassers lenkt, was die Form und Bewegung von Wolken hervorruft und warum Bäume und Pflanzen auf eine ganz bestimmte Art wachsen. Kein Künstler hat jemals Turners Einsichten in diese Prozesse erreicht. Dies wurde von hellsichtigen Kritikern schon vor seinem Tod im Jahre 1851 erkannt, besonders von John Ruskin, der in seinen Schriften ausführlich auf Turners Verständnis der „Wahrheiten“ der Architektur, der Geologie, des Meeres, des Himmels und weiterer Bestandteile eines Landschaftsbildes oder Seestücks einging.
Turner befolgte während seines ganzen Lebens eine von Reynolds empfohlene Herangehensweise, um idealisierte Bilder zu schaffen. Es handelte sich um die idealisierende Synthese, mittels derer die Willkürlichkeit der Erscheinungen überwunden werden sollte. Reynolds wies in seinem künstlerischen System der Landschaftsmalerei nur eine relativ untergeordnete Rolle zu, da er die Landschaftsmaler als dem Zufall unterworfen ansah: Wenn sie z.B. einen Ort zufällig bei Regen besuchten, dann waren sie gezwungen, ihn auch bei Regen darzustellen, wenn sie „wahrheitsgetreu“ sein wollten. Um diese Willkürlichkeit zu überwinden, trat Reynolds für eine andere Form der Wahrhaftigkeit in der Landschaftsmalerei ein, und zwar für die Vorgehensweise von Malern wie Claude Lorrain. Dieser hatte die attraktivsten Elemente unterschiedlicher Orte unter den besten Wetter- und Lichtverhältnissen zu fiktiven und idealen Landschaften synthetisiert und auf diese Weise die Willkürlichkeit transzendiert. Obwohl Turner ein größeres Gewicht auf die Abbildung spezifischer Schauplätze legte als Reynolds zugestehen wollte, wurde diese Konzentration auf das Individuelle in starkem Maße durch die uneingeschränkte Anwendung der von Reynolds propagierten Synthese-Techniken ausgeglichen (und zwar so sehr, dass seine Bilder bestimmter Orte häufig nur noch wenig Ähnlichkeit mit tatsächlichen Gegebenheiten aufwiesen). Turner beschrieb diesen Prozess 1810 selbst folgendermaßen:
Es ist in genau dem Maße wie auch in anderen Kunstformen die Aufgabe des Landschaftsmalers, das, was in der Natur schön und in der Kunst bewunderungswürdig ist, auszuwählen, zu kombinieren und zu konzentrieren.
Darüber hinaus überwand Turner die Willkürlichkeit, indem er seine außergewöhnlichen imaginativen Kräfte voll ausschöpfte. Er drückte seinen Glauben an die Überlegenheit der Imagination in einer Paraphrase Reynolds’ aus, die im Zentrum seines ästhetischen Denkens steht:
… es ist erforderlich, die größere von der kleineren Wahrheit zu unterscheiden: nämlich die größere und freiere Idee der Natur von der vergleichsweise engen und begrenzten; nämlich die Gegenstände, die die Imagination ansprechen von jenen, die sich lediglich dem Auge darstellen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Turner das Auge vernachlässigte. Er fertigte fleißig Skizzen an; in seinem Nachlass befinden sich mehr als 300 Skizzenbücher, die mehr als 10 000 Skizzen enthalten. Häufig skizzierte er einen Ort, obwohl er ihn schon mehrere Male zuvor gezeichnet hatte. Auf diese Weise eignete er sich nicht nur das Aussehen der Dinge an, sondern schulte auch sein sehr leistungsfähiges Gedächtnis, ein für einen idealisierenden Künstler sehr wichtiges Instrument, da das Gedächtnis das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet.
Turners Methode, die Erscheinung der Dinge zu studieren und sich gleichzeitig den Freiraum für das Wirken der Imagination zu erhalten, bestand darin, nur die Umrisse zu skizzieren und auf jegliche Wetter- und Windeffekte und häufig sogar auf die Aufnahme jeglicher Menschen oder anderer Lebewesen zu verzichten (wenn nötig, konnte man diese Elemente separat studieren). Er wandte sich dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder der Skizze zu und fügte zahlreiche visuelle Komponenten der Szene mit Hilfe des Gedächtnisses und/oder der Imagination hinzu. Turner bewahrte alle seine Skizzenbücher für eine mögliche spätere Verwendung auf. Manchmal kehrte er erst nach mehr als vierzig Jahren zu ihnen zurück, wenn er Vorlagen für ein bestimmtes Bild benötigte. Turner begann in den frühen 1790er Jahren mit dieser Praxis. Es ist leicht nachvollziehbar, dass sie ein Ausfluss der idealisierenden Ermahnungen von Reynolds war.
Reynolds’ Lehren brachten noch eine weitere, höhere Form der Idealisierung hervor. Schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt in seiner Laufbahn gelangte Turner zu der Auffassung, dass Formen letzten Endes eine vom Menschen unabhängige metaphysische, zeitlose und universale Existenz eignet. Die Urgründe dieser Ansicht liegen in der Analyse der Architektur. Wie viele vor ihm vertrat Turner die Meinung, dass es nicht nur eine große Ähnlichkeit zwischen menschlicher und natürlicher Architektur gibt, sondern dass beide auf einer universalen Geometrie beruhen. Nach der Mitte der 1790er Jahre erhielt diese Ansicht durch die Lektüre Turners weiteren Auftrieb, und zwar besonders durch die Verse von Mark Akenside, dessen langes Gedicht The Pleasures of Imagination (Die Freuden der Imagination) einen platonischen Idealismus vertritt, mit dem Turner sich mit gewichtigen Auswirkungen auf seine Kunst völlig identifizierte.
In den aus der Zeit nach 1807 stammenden Manuskripten für seine Vorlesungen über Perspektive schrieb Turner über die ästhetische Notwendigkeit, irdische Formen jenen „… imaginierten Spezies“ archetypischer, platonischer Formen anzunähern. Wie viele andere charakterisierte er diese ultimativen Realitäten als „… ideale Schönheiten.“ Auf der Basis dieser Ansicht war es für Turner schließlich ein Leichtes, an die metaphysische Kraft des Lichtes zu glauben und sogar daran, dass – weil sie die Quelle alles irdischen Lichts und Lebens ist – „… die Sonne Gott ist“ (wie er kurz vor seinem Tod feststellte). Die ausgeprägte Nähe von Turners späten Bildern zur Abstraktion ist trotz vieler gegenteiliger Behauptungen in jüngster Zeit also nicht bloß ein malerisches Instrument. Dieses Merkmal rührt vielmehr von seinem Versuch her, eine höhere Macht, wenn nicht gar das Göttliche selbst, darzustellen. Turners Idealismus prägte sein ganzes Leben. In seinem gesamten Oeuvre, vor allem aber in seinen späteren Werken, können wir die Projizierung einer idealen Welt der Farbe, der Form und des Gefühls beobachten. Nicht umsonst stellte ein Autor im Jahr 1910 fest, dass Plato, wenn er eine Landschaft Turners hätte sehen können, „… der Malerei in seiner Republik umgehend einen Platz eingeräumt hätte.“