Jack Kerouac: Beatnik, Genie, Rebell - Nicola Bardola - E-Book

Jack Kerouac: Beatnik, Genie, Rebell E-Book

Nicola Bardola

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Beschreibung

Jack Kerouac ist der erste Popliterat der weltweiten Literaturgeschichte, einflussreichster Vertreter der amerikanischen Beat-Generation und zugleich ihr Namensgeber. Im Zentrum seines literarischen Schaffens stehen existentielle Rastlosigkeit, Lebenshunger, Freiheitsdrang, Visionen von und die Suche nach Erleuchtung und einem besseren und helleren Leben, das im wirklichen vom Alkohol zerstört wurde. Kerouac wurde 1922 in Lowell, Massachusetts, geboren und starb 1969 in Florida. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Gedichte, Tagebücher, Theaterstücke, Briefe, Essays und Gemälde; seine Bedeutung für spätere Schriftsteller wie Thomas Pynchon oder T.C. Boyle und Künstler wie Patti Smith oder Johnny Depp ist noch heute groß und zeigte sich erneut besonders deutlich, als Bob Dylan 2016 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Kerouacs erste deutschsprachige Biografie anlässlich seines 100. Geburtstages im März 2022 zeichnet nicht nur den Lebensweg des legendären Beatniks nach, sondern beschäftigt sich auch mit der ihm so eigenen Sprache, dem Misserfolg seines Debüts »The Town and the City«, den stilistischen Veränderungen vom Frühwerk hin zum Durchbruch mit »On the Road« – dem Manifest der Beat Generation – sowie seinen posthum veröffentlichten Werken.

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EPUB

Seitenzahl: 582

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Der Autor

Der Germanist Nicola Bardola wuchs zweisprachig in Zürich auf, wo er auch italienische Literatur und Philosophie studierte. Dank seines vieldiskutierten Romans Schlemm kennt er nicht nur als Literaturkritiker, sondern auch als Autor die Gratwanderung zwischen biografischem und fiktionalem Schreiben. Er veröffentlichte Biografien u. a. über John Lennon, Yoko Ono, Ringo Starr und Elena Ferrante, im Herbst 2021 erschien Mercury in München.

Nicola Bardola

JACK KEROUAC

BEATNIK, GENIE, REBELL

DIE BIOGRAFIE

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Originalausgabe Februar 2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2021 by Nicola Bardola

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Fotos von gettyimages/(Allen Ginsberg LLC/Kontributor), München

Redaktion: Dr. Nastasja Dresler

MP · Herstellung: CF

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28887-7V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Vera Seraina Bardola

Vor uns lag noch ein längerer Weg. Uns sollte es recht sein. Der Weg ist das Leben.

JACK KEROUAC

Inhalt

VORWORT

TEIL EINS DIE STÜRMISCHE, UNRUHIGE, STUMME, STIMMLOSE STRASSE

BIS IN DIE ZEHENSPITZEN

ZWISCHENSTOPP IN ASHEVILLE

NUR EIN FINGERSCHNALZEN

EIN GROSSER ROMAN ÜBER ALLES

EIN VERRÜCKTER AHAB AM STEUER

WIE EINE AUSGEROLLTE STRASSE

EIN ALLEIN FÜR SICH ROLLENDER STEIN

TEIL ZWEI DER WIND IN DEN ÄSTEN

DU BIST EIN GENIE, DIE GANZE ZEIT

EITLER KÄFER VOLLER EIGENARTIGER IDEEN

FAHRTWIND UNTERM STERNENHIMMEL

DAS ZIEL EINES JEDEN GETRIEBENEN

EIN HISTORISCHES EREIGNIS

DIE WILDESTEN ALLER ZEITEN

DIE FIRST LADY LIEST JACKS BÜCHER

DIE SUMPFKIEFER VOR DEM NACHBARHAUS

DAS GEFÄLSCHTE TESTAMENT

Nachwort

BIBLIOGRAFIE

BILDNACHWEIS

BILDTEIL

PERSONENREGISTER

VORWORT

»Now’s the Time« – »Die Zeit ist jetzt«, so nennt Charlie Parker seinen Bebop-Blues von 1945. Die Rechte daran verkauft er noch im Studio für 50 Dollar. Die Melodie wird zu einem der bekanntesten Jazz-Standards Parkers. »Now’s the time«, sagt auch Dean Moriarty im Roman On the Road zu seinem Gefährten Sal Paradise. Die Zeit ist jetzt: In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni 2021 fällt eine etwa 250 Jahre alte Eiche in Orlando, Florida, um und zerstört beinahe das Jack Kerouac House. Nur die Veranda wird beschädigt. Verletzt wird niemand. Die Kerouac-Stipendiatin, die Dichterin und Essayistin Tanya Grae, ist zum Zeitpunkt des Baumsturzes nicht im Haus. Lokale Medien berichten über den Vorfall und rufen zu Spenden auf. Das einfache Haus mit Holzfassade ist etwa hundert Jahre alt und soll auch noch weitere hundert Jahre an seinen berühmtesten Bewohner Jack Kerouac erinnern. Es befindet sich im idyllischen College Park, in der Clouser Avenue 1418, nördlich vom Zentrum Orlandos.

Jack Kerouac wählt 1957 dieses Cottage im beschaulichen Akademikerviertel, um dem Rummel zu entgehen, der ihn seit der Veröffentlichung des Romans On the Road (Unterwegs) umgibt. Er lebt dort mit seiner Mutter Gabrielle von Juli 1957 bis Frühling 1958 und schreibt die Fortsetzung von Dharma Bums (Gammler, Zen und hohe Berge). Die imposante Eiche nennt Kerouac »Grandfather«, und die Kerouac-Fans und Besucher tun es ihm bis heute gleich.

Seit Herbst 2000 beherbergt das Jack Kerouac House Stipendiaten: Vier Schriftsteller werden im Jahr bedacht und inzwischen sind es über 65 »Writers in Residence«, die hier ungestört jeweils drei Monate lang arbeiten konnten. Sie alle kennen Kerouacs »Großvater« und manche erwähnen ihn in ihren Arbeiten. 2013 wurde das Haus in das National Register of Historic Places aufgenommen. Jacks »Großvater« kann nun nicht mehr bestaunt werden, aber die Erinnerungen bleiben. Vor allem in den USA wird viel unternommen, um Leben und Werk Jack Kerouacs zu würdigen.

Besonders einflussreich ist die Jack Kerouac School of Disembodied Poetics, die 1974 als Teil der Naropa University in Boulder, Colorado, gegründet wird. Initiator sowohl der Kerouac School als auch der Universität, der einzig staatlich anerkannten Hochschule, die sich auf buddhistische Prinzipien beruft, ist der schillernde, trinkfreudige und westlich orientierte tibetische Buddhist Chögyam Trungpa Rinpoche. International bekannt wird Chögyam, weil er während des Tibetaufstands 1959 zu Fuß über den Himalaya nach Indien flieht. Als er 1970 als Dreißigjähriger, frisch verheiratet und in London ansässig, die USA bereist, knüpft er als Erstes Kontakte zu den dortigen Philosophen und Schriftstellern: »Führt mich zu den Dichtern«, bittet er seine Begleiter. Jack Kerouac ist kurz zuvor gestorben, doch seine Freunde und Verehrer gedenken seiner. Die Dichterinnen Anne Waldman und Diane di Prima, Kerouacs Freund Allen Ginsberg und der Komponist und Künstler John Cage sowie Chögyam selbst sind die Gründer, Namensgeber und ersten Leiter der Kerouac School. Anne Waldman lehrt dort heute noch Creative Writing und viele Absolventen messen ihre Fortschritte immer aufs Neue an dem Werk Jack Kerouacs und setzen sich mit dem Erbe der Beat Generation auseinander. Die Liste der Dozenten an der Kerouac School ist lang und enthält u. a. William S. Burroughs, Ken Kesey, Gregory Corso, Joanne Kyger, Philip Whalen oder Lawrence Ferlinghetti. Anne Waldman führt die Überlieferungslinie weiter: Sie spricht von der »Outride Lineage« und definiert »Outrider« als Dichterinnen und Dichter, die sich außerhalb des akademischen Mainstreams der Dichtung bewegen, aber nicht außerhalb der Welt der Poesie. Man fahre parallel, so Waldman im Sinne Kerouacs. »Disimbodied«, »körperlos«, heißt die Kerouac School einerseits, weil sie zunächst ein Gedankenspiel kreativer Menschen, nicht genrefixiert, experimentell und risikofreudig war und ist. Andererseits erklärt sich der Begriff auch aus den Gegebenheiten ihres Gründungsjahres, wie Waldman erläutert: »Es gab am Anfang wirklich keine Wandtafeln und Hörsäle. Die Schule war zunächst tatsächlich körperlos.«

Anne Waldman, Diane di Prima oder Hettie Jones sind bekannte Autorinnen, die zur Beat Generation gezählt werden. Viele Frauen von damals stehen aber im Schatten der prominenten Beatniks Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William S. Burroughs, Herbert Huncke oder Gregory Corso. Nachfolgend kommen zwei Frauen zu Wort, Carolyn Cassady und Joyce Johnson. Beide führten Langzeitbeziehungen mit Jack Kerouac und beide analysierten nachträglich ihre Liebeserlebnisse mit Kerouac, dem »King of the Beats«.

Der Kult um Jack Kerouac ist mit dem um John Lennon vergleichbar. Jack und John trennen 18 Jahre, der Atlantische Ozean und zwei Musikrichtungen. Beide sind aber die kreativen Köpfe in ihren Kreisen, beide sterben jung, beide haben zum Zeitpunkt des Todes ihren schöpferischen Zenit überschritten, beide beschäftigen sich sehr mit sich selbst, beide hinterlassen ein Werk, dessen Faszination nicht nachlässt. Jack Kerouac ist in Amerika eine Ikone wie der junge Elvis, der junge Marlon Brando oder James Dean.

Jack Kerouac öffnet mit seinen Schriften die Türen für künftige Jugendkulturen, damals für die Hippies und die Yippies. Er schaut hinein, sieht nicht seinen Platz darin und bleibt draußen, bleibt bei sich. »Ich weiß, ich bin ein guter Autor, ein großer Autor. Ich bin kein mutiger Mann. Aber eine Sache kann ich, und das ist Geschichten schreiben.« Jack Kerouacs Storys sind auch die Wegbereiter für den Reportage- und Schreibstil des New Journalism. Es ist ein weiter Weg dahin: »Eines Tages werde ich die richtigen Worte finden, und es werden einfache sein«, sagt Jack Kerouac alias Ray Smith im Roman Dharma Bums. Jack Kerouac hat sie unterwegs gefunden, in Bewegung und mit Ausdauer. In seinem bekanntesten Roman On the Road findet folgender Dialog statt zwischen Jack Kerouac (Sal Paradise) und seinem Freund Neal Cassady (Dean Moriarty):

»Sal, wir müssen gehen und nie anhalten, bis wir dort sind.«

»Wohin gehen wir, Mann?«

»Ich weiß es nicht, aber wir müssen gehen.«

Der Zeitschrift Paris Review sagt Jack Kerouac im Sommer 1968: »Ich habe meine ganze Jugend damit verbracht, langsam zu schreiben, mit Überarbeitungen und endlosem Wiederkäuen von Mutmaßungen und Streichungen, so dass ich einen Satz pro Tag schrieb und der Satz kein Gefühl hatte. Verdammt, Gefühl ist das, was ich in der Kunst mag, nicht Schlauheit und das Verbergen von Gefühlen.«

Im Mittelpunkt dieser Biografie steht Jack Kerouacs literarisches Schaffen, seine Suche nach dem eigenen Sound, seine Gefühle für den Tod und für das Leben, das Reisen und das Schreiben.

Nicola Bardola, November 2021 

TEIL EINSDIE STÜRMISCHE, UNRUHIGE, STUMME, STIMMLOSE STRASSE

BIS IN DIE ZEHENSPITZEN

Jean-Louis Lebris de Kérouac wird in Lowell, Massachusetts, am 12. März 1922 in der Lupine Road 9 geboren. Das Haus mit Holzfassade, einer Veranda und einem großen Balkon im ersten Stock ist heute frisch in Hellbraun gestrichen. Eine blaue Ehrenplakette ist daran befestigt und trägt die Aufschrift: »Centralville Preservation Trust – Jack Kerouac – Birthplace – b. 1922 – Lowell Historic Board.« Kein anderer Ort wird in der kleinen Stadt am Merrimack River mit seinen etwa 115 000 Einwohnern öfter von Touristen besucht.

Die Hausgeburt verläuft problemlos im Elternschlafzimmer im oberen Stockwerk. Jean-Louis ist das dritte von drei Kindern. In der lokalen Presse erscheinen zwei Anzeigen, eine auf Englisch, die andere auf Französisch: »Le 12 mars à M. et Mme. Leo A. Keroack, 9 Lupine Rd, un fils.« Im Englischen verändert sich Keroack zu Keroach: »March 12, to Mr. And Mrs. Leo A. Keroach, 9 Lupine road, a son.« Nur Vater Leo wird, wie damals üblich, genannt, der Vorname der Mutter Gabrielle wird unterschlagen. Und der hier noch namenlose Spross wird dreißig Jahre später der berühmteste Sohn der Stadt Lowell sein und es bis heute bleiben. All seine Bücher publiziert er seit Erscheinen seines berühmtesten Romans On the Road im Jahr 1957 unter dem Namen Jack Kerouac. Er selbst bezeichnet sich gerne als Jean-Louis Lebris de Kérouac, um auf eine möglicherweise adlige Abstammung vom Baron François Louis Alexandre Lebris de Kerouac aus der Bretagne hinzuweisen. In der Geburtsurkunde steht schlicht Jean Louis Kirouac.

Im Jahr 2009 veröffentlicht die französische Familienforscherin Patricia Dagier gemeinsam mit dem Journalisten Hervé Quéméner in Frankreich das Buch Jack Kerouac – Breton d’Amérique, worin die beiden minutiös Jack Kerouacs Herkunft erkunden. Demnach stammt Jack Kerouac (»der Bretone aus Amerika«) väterlicherseits von Urbain-François Le Bihan, Sieur de Kervoac ab. Urbain ist ein Händler aus der Mittelschicht in der Bretagne, der 1727 nach Kanada auswandert. In Québec zeugt er mit Luise Bernier einen unehelichen Sohn, der 1732 geboren wird. Danach gründet Urbain mit Luise eine kinderreiche Familie, die direkten Vorfahren Jack Kerouacs. Dabei tauchen in den verschiedenen Katastern zahlreiche Varianten des Namens auf, u. a. Carouch, Caroack, Querouac, Querouec, Quarouac, Karoüac, Karoüack, Karouäc, Kyrouac, Kyroique, Kéroack, Kervoach, Kerouacq oder Kerrouack.

Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts reisen mehrfach Vorfahren Jack Kerouacs von Kanada nach Frankreich, um Kontakt mit der wohlhabenden Familie des Marquis de Kerouartz aufzunehmen. Ziel ist es, eine Verwandtschaftsbeziehung nachzuweisen und dabei in den Genuss etwaiger Erbschaften zu kommen. Zu diesem Zweck wird sogar ein bretonischer Genealoge beauftragt, der den kanadischen Kerouacs bescheinigt, mit den französischen Kerouartz verwandt und selbst von vornehmer bretonischer Abstammung zu sein. Die Bemühungen führen zwar zu interessanten Reiseerlebnissen, aber die Absichten scheitern, von den Kerouartz als Verwandte akzeptiert oder gar mit einem Erbe bedacht zu werden.

Jack Kerouac ist dennoch stolz auf seine Familiengeschichten. Sein französischer Taufname Jean-Louis erinnert an die Vorfahren mütterlicherseits. Seine Großmutter in Québec war halb Indianerin und trug den Familiennamen »Jean«. Ihren Sohn, Jacks Onkel, nannten sie Louis. Wie später Jack hatte Louis dunkles Haar und ausgeprägte Wangenknochen. Vater Leo erzählt Jack wiederum, dass er ein Nachfahre Kornisch sprechender Kelten und Aristokraten sei. Aus Irland seien vor Urzeiten die »Kerouac’hs«, wie man sie keltisch schreibt, nach Cornwall ausgewandert. »Kerouac’h« bedeute »die Sprache des Hauses«. Die Eltern der Mutter Gabrielle waren schließlich mit ihren Kindern aus Québec nach Neuengland eingewandert. Im Vorwort zu Lonesome Traveler schreibt Jack Kerouac ausführlich über seine Vorfahren. Dagier und Quéméner zufolge sind seine Schilderungen jedoch nicht alle richtig. Fest steht, im frühen 18. Jahrhundert wanderten die Kirouacs aus Cornwall in die Bretagne aus. Dort erhielt die Familie ein Wappen, auf dessen blauem Untergrund mit goldenen Streifen und drei silbernen Nägeln das Lebensmotto »Aimer, Travailler et Souffrir«, »Lieben, arbeiten und leiden« geschrieben steht. Dieser Leitsatz wird Jack Kerouac sein Leben lang begleiten. Um 1750 bekam Baron Alexandre Louis Lebris de Kerouac of Cornwall von der französischen Regierung Land in Kanada zugesprochen. Einige der Nachfahren wurden Farmer, manche besaßen Kartoffeläcker und heirateten Mohawk- und Kahnawake-Indianerinnen. Es war Jack Kerouacs Großvater Jean-Baptiste, ein Kartoffelbauer, der schließlich von Kanada in die USA einwanderte. Geografisch gesehen ist diese Veränderung nicht wirklich bemerkenswert, aber die Lebensbedingungen sind im Süden deutlich besser.

Jean-Baptistes dünn besiedelte Heimat grenzt an die Bundesstaaten New Hampshire, Maine, Vermont und New York. Die Entfernung von der Hauptstadt Québec bis nach Boston, der Hauptstadt von New Hampshire, beträgt etwa 600 Kilometer und führt über gut ausgebaute Straßen. Boston ist zugleich die größte Stadt Neuenglands und liegt keine 50 Kilometer südöstlich von Lowell. Jean-Baptiste zieht es aber zunächst nach Nashua in New Hampshire, wo er als Schreiner arbeitet. Nashua liegt nur etwa 20 Kilometer nördlich von Lowell. Jack Kerouac wird nach ihm getauft: Jean-Louis Lebris de Kerouac. Zu Hause nennt man ihn einfach »Ti Jean«, den kleinen Jack. Bis zuletzt unterschreibt er Briefe an enge Freunde mit Ti Jean. »Ti« leitet sich von dem französischen petit, zu Deutsch: »klein«, ab. Auch auf seinem Grabstein im Edson Cemetery in Lowell ist der Kosename Ti Jean eingraviert.

Joseph Alcide Leon Kirouac, Jacks Vater, wird 1896 in Nashua geboren. Er ändert seinen Namen in Leo Kerouac und arbeitet schon als Teenager in Druckereien. In verschiedenen Konstellationen wird er sein Leben lang diesen Beruf ausüben. Leo schreibt gelegentlich selbst für verschiedene Zeitschriften und Tageszeitungen Artikel zum lokalen Tagesgeschehen. In Nashua arbeitet er für die wichtigste Tageszeitung, den Nashua Telegraph sowie für L’Impartial (»Der Unparteiische«), eine überregionale Tageszeitung in französischer Sprache. Nach sechs Jahren schickt ihn der Inhaber des Telegraph nach Lowell, damit er sich dort um seine Neuerwerbung L’Etoile (»Der Stern«) kümmert, eine frankokanadische Tageszeitung, die das reichhaltige Presseangebot in Lowell ergänzt: Für englischsprachige Leser gibt es dort bislang zwei Tageszeitungen, den Lowell Courir-Citizen und die Lowell Sun mit einer Morgen- und einer Abendausgabe. Die industrielle Revolution ist in vollem Gange und der Informationshunger groß.

Leo fährt 1914 und 1915 von Lowell oft nach Nashua zurück, um dort Gabrielle Levesque zu treffen. Seit ihrem 14. Lebensjahr arbeitet sie dort als Vollwaise in einem Schuhladen. Sie wird später sagen, dass sie ohne Bücher aufgewachsen sei. Vor allem dank Jacks Interessen beginnt sie, sich im mittleren Alter auch für Kultur zu interessieren.

Lowell, die Geburtsstadt Jack Kerouacs, wurde nach dem Unternehmer Francis Cabot Lowell benannt, der von 1775 bis 1817 in der Region lebte. Sie liegt nur 45 Kilometer westlich von der Atlantikküste. Der Fluss Merrimack bestimmt das Stadtbild und beeinflusst maßgeblich die Stadtgeschichte: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden in Lowell die ersten Spinnereien eröffnet. Die Stadt entwickelt sich rasch zu einem Zentrum der Textilindustrie. Um 1900 gilt sie als das amerikanische Manchester. Eine Vielzahl an Mühlen kurbelt die Maschinen- und Gusswarenindustrie an, die Gastarbeiter aus aller Welt anlockt, auch Deutsche und Frankokanadier. Während Jacks Kindheit leben etwa 100 000 Menschen in Lowell, darunter etwa 30 000 Frankokanadier. Im zentral gelegenen Stadtteil Little Canada gibt es Kinos für Stummfilmvorführungen, Vaudeville-Theater, Bars und Restaurants. Hochkultur findet in Lowell aber kaum statt. Um in die Oper zu gehen, klassische Konzerte zu besuchen oder anspruchsvolle Theaterstücke zu sehen, muss man nach Boston fahren. Der wirtschaftliche Höhenflug endet in dem Städtchen zu Beginn der 1930er Jahre. Heute ist Lowell mit etwa 110 000 Einwohnern allerdings immer noch eine der größten Städte in Massachusetts.

Geboren wird Jack Kerouac um fünf Uhr nachmittags, so schildert er es im Roman Doctor Sax. »Alles ist rot im Raum … Irgendwo das Rauschen des Flusses, der Eisplatten mit sich führt … Schmelzender Nassschnee auf den Hügeln … Ein universelles, trauriges und verlorenes Rot sterblicher Verdammung … Goldene Vögel schweben über ihr und mir, als sie mich das erste Mal an ihre Brust drückt.« Jack Kerouac beschreibt in Doctor Sax in einer Mischung aus Fakten und Fiktion die Ereignisse rund um seine Geburt und erinnert sich an seine Kindheit. So kommt der kleine Jack beispielsweise schon früh mit besonderen Substanzen in Berührung: Leos Bruder Joseph raucht – als Medizin gegen sein Asthma – Marihuana-Zigaretten. Kerouac porträtiert Onkel Joseph als belesen, intelligent und depressiv. Klein Jack sieht den Onkel oft weinen.

Die Lupine Road ist eine kleine Seitenstraße im Stadtteil Centralville am nordöstlichen Stadtrand von Lowell. Centralville ist ein vergleichsweise idyllisches, multiethnisches Arbeiterviertel. Die Landschaft ist hügelig, die einfach gebauten braun-gelblichen Holzhäuser werden durch Gärten voneinander getrennt und den Straßenrand säumen Bäume. In der Nähe liegt die römisch-katholische Kirche Saint Louis de France, in der Jack Kerouac als Jean-Louis Kirouac am 19. März 1922 getauft wird. Sein Patenonkel ist Leos Bruder, der Schuhmacher Jean-Baptiste Kirouac. Die Patin ist dessen Frau Rosanna. Jack Kerouac ist das dritte Kind von Gabrielle-Ange Levesque Kerouac, die alle seit der Geburt ihres Enkels Paul im Mai 1948 »Mémêre« (Großmutter) nennen und von Leo »Alcide« Kerouac. Sein Bruder Gerard ist fünf Jahre, seine Schwester Caroline, genannt »Nin«, ist drei Jahre älter als Jack.

Jack Kerouac wächst auch in dem mehrheitlich von frankokanadischen Arbeitern bewohnten Viertel Pawtucketville auf. Danach wohnen die Kerouacs in der Burnaby Street, der Beaulieu Street und schließlich in der Sarah Avenue und an etlichen weiteren Adressen. Die Lebensqualität des Wohnorts spiegelt meist die aktuelle finanzielle Situation der Familie. Bis zur Einschulung mit sechs Jahren spricht Ti Jean fast nur Joual (auch Québécois genannt), eine Varietät des nordamerikanischen Französisch. Vater Leo spricht zwar passabel Englisch, aber Mutter Gabrielle gar nicht, weshalb zu Hause Joual gesprochen wird. Diese Angewohnheit ist im vielsprachigen Schmelztiegel Lowell nichts Außergewöhnliches. Die Immigranten-Familien bewahren ihre Sprachen in ihren vier Wänden, allen voran Polen, Griechen, Kanadier, Syrer und auch Deutsche. Der Begriff »Joual« wurde 1959 von einem Sprachwissenschaftler geprägt: »Joual« sei die Art, wie Frankokanadier cheval, also »Pferd«, aussprechen. Abschätzig wird von Joual auch als français rustique, (bäuerliches Französisch) gesprochen. Für Jack ist es die Sprache seines Herzens: Er spricht bis zu seinem Tod mit seiner Mutter nur Joual. Die sprachliche Erfahrung dieser Varietät ist prägend für Jacks Stil: Auch später greift er immer wieder zu rustikal frankokanadischem Vokabular, wenn ein Thema besonders emotional wird oder es um seine Kindheit geht. So virtuos und impulsiv er sich im Englischen bald ausdrücken wird, so wichtig ist für ihn die französische Sprachbasis, der Bilingualismus, der es ihm als jungem Erwachsenen beispielsweise auch ermöglichen wird, Autoren aus Frankreich wie Rimbaud, Baudelaire, Céline, Proust, Gide oder Camus im Original zu lesen.

Die Zeit in der Beaulieu Street 34, in einem geräumigen Holzhaus unweit der 1904 erbauten Kirche Saint Louis de France, wo die Kinder die Grundschule besuchen, hat für Jack eine besondere Bedeutung: In Book of Dreams bezeichnet Jack das Haus als »house of dreams« und beschreibt die Kirche mit den verschiedenen Gebäuden detailliert, in denen die strengen Nonnen wohnen. Nebenan befindet sich der Schulraum. Die Kirche spielt eine wichtige Rolle für die Kerouacs und ist gesellschaftlich relevant in Lowell: Lou und Gabrielle beteiligen sich an vielen Veranstaltungen. Die religiöse Konkurrenz ist allerdings auch aufgrund der vielen Zuwanderer aus Kanada, Polen und Griechenland, aber auch aus dem Nahen Osten groß. Jede Lehre hält sich für die beste. Die Katholiken üben ständige Kritik an den Protestanten und schüren einen latenten Antisemitismus, den Jacks Eltern an ihre Kinder weitergeben – bei Jack mit mäßiger Wirkung, wird doch der Jude Allen Ginsberg in New York einer seiner besten Freunde und Wegbegleiter. Leo und Gabrielle organisieren auch unabhängig von der Kirchengemeinde Zusammenkünfte mit Nachbarn. Für die Festivitäten kocht Gabrielle aufwändig und später setzt sie sich ans Klavier. Es werden frankokanadische Lieder gesungen, und die Erwachsenen und die Kinder tanzen wild durcheinander. An Wochenenden fahren die fünf Kerouacs manchmal an die Küste zum Vergnügungspark am Salisbury Beach.

Jack Kerouac ist stolz auf seine Geburtsstadt und auf sein Idiom. In seinen Büchern erzählt er oft von damals und kehrt als erfolgreicher Schriftsteller mehrfach nach Lowell zurück, auch als seine Familie nicht mehr dort lebt. Aber viele Freunde sind noch da, manche englisch-, manche französischsprachig, und viele Griechen. Die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend verbringt Jack in den beiden Stadtteilen Pawtucketville und Centralville. Beide grenzen südlich an den Merrimack. Die Schilderung seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen lassen auf eine überwiegend glückliche Zeit schließen. So spielt beispielsweise ein brauner Bademantel eine große Rolle: Kerouac erinnert sich daran, wie er 1926 als Vierjähriger auf dem Schoß seiner Mutter sitzt und von ihr umarmt wird. Das sei seine erste wirkliche Erinnerung überhaupt. (Die »Erinnerung« an die Geburt versteht er selbst als Vision.) Kerouac denkt dabei an den kuscheligen braunen Bademantel, den sie trägt. Wer immer bei den Kerouacs krank wird, bekommt diesen Bademantel angezogen. Seither assoziiert Kerouac die Farbe Braun mit Behaglichkeit und Sicherheit. Braun bleibt für ihn bis zuletzt die Farbe des Lebens.

Eine von Kerouacs frühen Erinnerungen verbindet Emotionen mit Sprache. Bruder Gerard bringt eines Tages einen hungrigen Freund aus einer bettelarmen Familie mit nach Hause, um mit ihm sein Sandwich zu teilen. Der fremde Junge wirkt auf Jack wie die personifizierte Armut. Der Junge heißt mit Nachnamen Plourdes. Der Name steht seither für die »Verzweiflung, für grimmige Hoffnungslosigkeit, für die Sorgen von Lowell, wie ein einsames Geheul eines Hundes, dem niemand die Tür öffnet«, so Kerouac später. (Allerdings heißt auch der Erzbischof von Ottawa Plourdes. Er lebte gesund und in Wohlstand von 1915 bis 2013.)

Kerouac betont mehrfach die positiven Erlebnisse aus Kindertagen: Gabrielle kocht hervorragend, der Vater sorgt für bescheidenen Wohlstand und die Stimmung in den Wohnungen und Häusern, in denen auch gerne musiziert wird, ist oft ausgelassen. Allerdings wird die Idylle durch einen tragischen Vorfall schon früh getrübt, durch einen Todesfall, der Jacks Leben und Werk stark beeinflusst.

1926 leidet Vater Leo unter rheumatischen Anfällen. Er lässt eine Druckmaschine zu sich nach Hause in die Beaulieu Street transportieren. Er ist zeitweise fast so bettlägerig wie sein kränklicher Sohn Gerard. Vielleicht will Leo seinem Sohn und seiner Familie Tag und Nacht näher sein. Wenn es die Schmerzen zulassen, arbeitet Leo von zu Hause und der vierjährige Ti Jean erlebt hautnah, wie Texte gesetzt und vervielfältigt werden. Ti Jean muss aber auch mit ansehen, wie sein Bruder immer schwächer und kränker wird. Jack verbringt viel Zeit an Gerards Bettkante. Sie fantasieren und hören seltsame Geräusche, denn angeblich wurden die Häuser in der Beaulieu Street über einem ehemaligen Friedhof errichtet. Manchmal tauchen Vögel am Fenstersims auf. Die Nonnen, die Gerard unterrichten, glauben, dass Gerard eine ganz besondere und fast persönliche Beziehung zu den Vögeln pflegt. Aber auch das ändert nichts an den schwindenden Kräften des Jungen. Die Ärzte können nichts ausrichten. Der Vater tätschelt manchmal den Kopf seines Sohnes und sagt: »Armer Junge, geboren, um zu leiden.« Hier wiederholt sich das Motto des Familienwappens. Die Leiderfahrung ist ein Leitmotiv in Kerouacs Leben, aber als mächtiges Gegenstück dazu sind auch die Freude und der Genuss bestimmende Gefühle und Fähigkeiten, denen er mit einer einzigartigen und innovativen Sprache Ausdruck verleihen wird.

Der Hausarzt teilt schließlich den Eltern mit, dass Gerard nicht mehr lange leben wird. In Visions of Gerard schildert Jack Kerouac eindrücklich das Leiden seines älteren Bruders. Er erinnert sich an die Nachbarn und die Nonnen, die den kranken Jungen an seinem Bett besuchen. Als schließlich im Frühsommer 1926 auch der Priester Jean-Baptiste Laboussiere das Haus der Familie Kerouac besucht, wird Gabrielle klar, dass alle ihre Anstrengungen, ihre Liebe und ihre Gebete ihren Sohn nicht mehr retten können. Nicht einmal die so genannte Rosenheilige, die Heilige Thérèse von Lisieux, die zwei Jahre nach Gabrielles Geburt in Lisieux starb und 1925, drei Jahre nach Jacks Geburt, von Papst Pius XI. heiliggesprochen wurde, kann noch helfen. Es hängen viele Heiligenbildchen in der Wohnung. Kreuz, Rosenkranz und Kerzen schmücken Gabrielles Küche. Doch keine andere Heilige wird von den Frankoamerikanern mehr verehrt als die Heilige Thérèse von Lisieux. Ein bekanntes, an sie gerichtetes Gebet lautet: »Heilige Theresia vom Kinde Jesus! Du bist der Liebling Gottes. Du bist die Helferin in allen Anliegen. Inständig empfehle ich dir noch einmal all meine Sorgen. So hilf mir denn! Du hast versprochen, vom Himmel aus Gutes auf Erden zu tun. Tue es auch an mir! Lass das große Vertrauen, das ich auf deine mächtige Fürbitte hege, nicht vergebens sein, sondern erflehe mir von Gott die gnädige Erhörung meiner Bitte. Amen.«

Kerouac verbindet das Sterben des Bruders im Mai und Juni 1926 in der Rückschau mit seinen Erwachsenenfantasien, mit seiner drogen- und meditationserprobten und halluzinierenden Schreibweise und stellt sich seinen geliebten Gerard in schmerzerfüllter Ekstase vor, die sich in seinem Inneren wie eine Blume entfalte. Gerard sehe Millionen weißer Punkte, dann zucke erneut sein Körper: »Er öffnet die Augen und konzentriert sich auf das Konzentrieren … die Schreie der Verwandten aus den Schlafzimmern im oberen Stockwerk, draußen explodierende Feuerwerkskörper … Ich musste damals gedacht haben, es wäre das Ende der Welt, als Gerard starb.« Schließlich notiert Kerouac den Satz: »Der Tod ist die andere Seite der Münze, die wir jetzt Leben nennen.«

Gerard Kerouac stirbt am 2. Juni 1926 mit nur neun Jahren zu Hause in der Beaulieu Street an rheumatischer Karditis, die aber nicht im Zusammenhang mit der Erkrankung des Vaters steht. Nicht nur Ti Jeans frühe und so drastische Begegnung mit dem Tod und die daraus entstandene Angst vor dem Sterben werden ihn ein Leben lang begleiten. Die unmittelbaren Folgen des Todes Gerards lassen den Jungen Verhaltensweisen ausprägen, die für seine Arbeit als Schriftsteller bestimmend bleiben. Und die vielen künftigen Freunde und Weggefährten Jacks ähneln oft Gerard, sei es äußerlich, sei es charakterlich. Es ist, als sei Jack seither auf der Suche nach einem Ersatzbruder. Bei Gerards Trauerfeier in der katholischen Kirche Saint Louis de France erscheint ihm die Zeremonie wie ein Film: Gerard ist der Hauptdarsteller; Ti Jean, seine Schwester, seine Eltern und der Priester spielen die Nebenrollen, und Gott ist der Regisseur. Ti Jean versteht sich als Teil der Ereignisse, aber vor allem auch als deren Beobachter. Beim Begräbnis des Bruders entsteht ein Muster: Jack nimmt als Schreibender verschiedene Rollen an, wobei die meisten gekoppelt sind an die Funktion des Betrachters und des Chronisten. Je nach Situation und Thematik modelliert Jack seine Identität, um noch besser die Menschen um ihn herum literarisieren zu können.

Jack begleitet seine Eltern nach Nashua, wo Gerard im Familiengrab beigesetzt wird. Nach Gerards Tod umsorgt Gabrielle ihren einzigen verbliebenen Sohn noch mehr als früher. Gleichzeitig vergöttert sie ihren Erstgeborenen und ruft ihn immer wieder als leuchtendes Vorbild in Erinnerung. Ti Jeans Verehrung für Gerard wird stark von seiner Mutter geprägt. Gemeinsam erinnern sie sich an den verlorenen Bruder und Sohn, der als perfektes Kind idealisiert wird. Sie gedenken seiner Sensibilität: wie er einmal eine verletzte Maus nach Hause gebracht und gepflegt hat. Die Maus war wieder fit, Gerard dachte schon daran, sie wieder auszusetzen, aber als er nach der Schule nach Haus kam, hatte eine Katze die Maus entdeckt. Nur ein kleiner Blutfleck war übriggeblieben. Und die Nonnen des nahe gelegenen Klosters, die Gerard lobten und würdigten. Die Familie beschwört das Bild von Gerard, der im Unterricht aufmerksam bei der Sache war, der seiner Mutter versprochen hat, dass er im Himmel auf sie warten werde, in einem schönen und großen Haus. Den vierjährigen Ti Jean irritiert dieser Gedenkkult so sehr, dass er nach Gerards Tod nicht mehr allein schlafen will. Seither darf er einige Zeit im großen Bett seiner Mutter übernachten. Zudem gewöhnt sich Ti Jean daran, mehrmals die Woche im Wohnzimmer kleine Stummfilme aufzuführen, merkwürdige Pantomimen mit verschiedenen Charakteren, die alle Jack selbst spielt. Dazu schaltet er den Victrola-Plattenspieler ein, bewegt sich zur Musik und drückt sich in Gebärdensprache aus.

Einige Wochen nach dem Tod des Bruders fragt der kleine Jack, wo Gerard jetzt sei. Bei Jesus, im Himmel, sagt man ihm. Wann er zurückkomme. Ausweichende Antworten. Jack wartet und sucht, aber der Tod trennt ihn unumkehrbar von seinem Bruder. Und so beginnt er, sich fortan für den Tod zu interessieren. Er spürt eine Angstlust: Bewunderung für seine Macht, Abscheu gegenüber seiner Boshaftigkeit. Bald bekommt Ti Jean den Spitznamen »Memory Babe«. Den Kameraden, den Erziehern und den Eltern fällt auf, wie genau und wie oft sich Jack an bestimmte Ereignisse erinnert. Er kann sich lange Dialoge merken. Er kann Menschen exakt beschreiben, denen er nur kurz begegnet ist. Und Jack kann Begebenheiten anschaulich und detailreich nacherzählen. Dieses Talent ist sein Kapital, das er für die spätere Karriere als Schriftsteller mitbringt.

Ti Jean bekommt viele Sachen von Gerard, nicht nur seine Kleider. Besonders wichtig ist ihm der grüne Schreibtisch, an dem nun der kleine Bruder zeichnet und schreibt. In dieser Zeit gewinnt Schwester Nin für Ti Jean an Bedeutung. Er ist fünfjährig, als sie ihn ins Zentrum von Lowell mitnimmt, wo sie gemeinsam im Kino Royal Theatre, das sich ganz in der Nähe der väterlichen Druckerei namens Spotlight Print befindet, regelmäßig Samstagsmatineen anschauen. Es kostet die beiden keinen Eintritt, weil Vater Leo die Werbung für das Kino setzt und druckt. Ti Jean schwärmt für die Schwarzweiß-Western mit Tom Mix.

Sonntags gehen die Kerouacs gemeinsam in die Kirche. Unter der Woche sucht Jack das Gotteshaus auch allein auf, um zu beten und zu beichten. Zugleich ist er schon ein kleiner Abenteurer und Rebell: Mit acht Jahren reißt er aus und verlässt Lowell mit einigen Freunden. Sie schaffen es bis nach Pelham, New Hampshire, etwa 30 Kilometer nördlich von Lowell gelegen. Nach einer ungemütlichen Nacht werden die Kinder am nächsten Morgen am Ufer des Merrimack gefunden und nach Hause gebracht.

Leo ist gesellschaftlich aktiv: Der gläubige Katholik engagiert sich in der Kirche, hilft beim Organisieren von gemeinsamen Abenden mit Gesellschaftsspielen und ist Vorsitzender des Centralville Social Club. Lowell ist eine rasch expandierende Stadt. Vater Leo fühlt sich in gehobenen Kreisen wohler als unter Arbeitern. Seine Schwester, bei der er anfangs in Lowell wohnt, ist eine einfache Arbeiterin in der Textilindustrie, und Leos Frau Gabrielle wird später in Schuhfabriken arbeiten, um das Gehalt aufzubessern. Sein Einkommen reicht nicht aus, um seiner jungen fünfköpfigen Familie den gewünschten Wohlstand zu bieten, und trotzdem ermöglicht er gemeinsam mit Gabrielle der Familie ein zufriedenes Leben, dessen Standard annähernd an kleinbürgerliche Verhältnisse heranreicht. Die vielen Wohnortswechsel innerhalb Lowells und Leos berufliche Flexibilität sind die Folge. Der kleine Jack ist von frühauf fasziniert von der Atmosphäre in Zeitungsredaktionen und Druckereien, aber auch von Kegelbahnen und Billardsalons.

Die Mutter übernimmt in Lowell die Rolle der perfekten Hausfrau. Sie sorgt für Ordnung, Sauberkeit und gutes Essen. Jack schwärmt vielfach von den Kochkünsten seiner Mutter, von ihren Pfannkuchen mit Ahornsirup, von dem Kartoffelpüree und dem Schweinefleischeintopf, von ihren Hamburgern und ihren warmen Pfirsich- oder Kirschkuchen mit Schlagrahm. Vaters Lieblingsdessert ist Gabrielles Dattelkuchen. Sie hat ein heiteres Wesen, ein rundliches Gesicht, trägt eine Brille und blickt meist freundlich drein. Sie ist praktisch veranlagt, gibt kaum Geld für sich selbst aus und kleidet sich einfach. Für Gabrielle ist die Familie das Wichtigste. Deshalb pflegt sie auch nur wenige Kontakte außerhalb des Familienkreises, ganz im Gegensatz zu Jacks Vater Leo, der sehr gerne unter Leute geht, viele Freunde hat und für verschiedene Einnahmequellen sorgt, nicht nur als Drucker und Lokaljournalist, sondern auch als Schreiner, Versicherungsmakler oder Chef einer Kegelbahn mit Billardsalon.

In Lowell gibt es, bis auf die Lupine Road 9, nicht das eine Kerouac-Haus und bis heute auch kein Kerouac-Museum. Die Familie zieht innerhalb von Pawtucketville und Centralville sehr oft um, daher bindet sich Jack emotional nicht an ein bestimmtes Gebäude, sondern an die beiden Stadtteile, die im Nordwesten von der hügeligen Landschaft und einem Wald, im Süden vom Fluss begrenzt werden. Seine Kindheitserinnerungen führen ihn oft nach Pawtucketville und Centralville. Im Juli 1931 nehmen ihn die Eltern zum ersten Mal mit nach Québec, in das Land seiner Vorfahren.

Jack ist zehn Jahre alt, als die Familie Kerouac ein Jahr später schließlich weiter ins Zentrum von Lowell zieht. Ab Herbst 1932 besucht Ti Jean die fünfte Klasse der kirchlichen Schule St. Joseph’s, an der französisch-kanadische Jesuiten unterrichten. Allerdings sind seine Noten dort so gut, dass er nach nur einem Jahr die Klasse überspringen kann und im Herbst 1933 in die siebte Jahrgangsstufe der Bartlett Junior High School wechseln darf. Spätestens jetzt ist die sorglose, wenn auch vom Tod Gerards überschattete Kindheit vorbei. Die Momente, in denen die vierköpfige Familie am Küchenherd vereint ist und vom Vanilleduft aus dem Backofen umströmt wird, den »vanilla winter waves«, wie Jack sie nennt, gehören fortan einer unwiederbringlich behüteten Zeit an. Die Great Depression, die in den USA schon am 24. Oktober 1929 mit dem Schwarzen Donnerstag beginnende Weltwirtschaftskrise, macht auch Jacks Familie zu schaffen. Die zunehmend düstere Stimmung beeinflusst Ti Jean und auch der überwunden geglaubte Tod seines Bruders macht sich wieder bemerkbar. An einem warmen Sommerabend 1934 beobachtet Jack auf der Brücke zur Moody Street, wie plötzlich ein Mann, der eine Wassermelone trägt, zusammenbricht und auf der Stelle stirbt. Ti Jean schaut in die Augen des Mannes, er folgt seinem Blick aufs Wasser, wo sich der Augustmond spiegelt, als sei der Mond selbst das Angesicht des Todes. Das Ereignis ruft in dem Zwölfjährigen Erinnerungen an den Verlust Gerards wach und stürzt ihn in eine tiefe Verzweiflung mit starken Verlustängsten, auch seine Eltern könnten plötzlich sterben. In jener Nacht weigert er sich wieder, allein zu schlafen. Er kriecht in Gabrielles Bett, in dem aber auch schon Schwester Nin liegt. Vater Leo hat sein eigenes Zimmer. Nin gibt nach und weicht in Ti Jeans Kinderbett aus. Ti Jean schmiegt sich an seine Mutter. Er schämt sich zwar, aber spürt die wohltuende Ruhe, die von ihrer Nähe ausgeht und die er braucht, um den Schrecken des Todes zu verkraften.

Dank Leos Einfallsreichtum und Gabrielles Sparsamkeit kommen die Kerouacs zunächst ganz gut über die Runden. Jack erinnert sich, dass sein Vater ein allseits beliebter Mann in Lowell war. Leo besucht gerne kulturelle Veranstaltungen und Sport-Events. Er nimmt seinen zwölfjährigen Sohn mit auf die Pferderennbahn in Boston. Ti Jean ist begeistert von der dortigen Atmosphäre, von den Wetten, den grölenden Zuschauern, den Vorhersagen der Buchmacher und den Siegerstatistiken. In derselben Zeit entdeckt er einen neuen Lieblingsort, die Bibliothek: Jack liest sich durch die Kinderklassiker von Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn bis zu Der letzte Mohikaner. Die Werke regen ihn dazu an, eigene Geschichten zu erfinden, die er in Notizbücher schreibt. 1934 beschließt er sogar, einen eigenen Roman zu verfassen. Der Sound soll exakt dem Mark Twains entsprechen und einen klangvollen Titel hat er auch schon parat: Jack Kerouac Explores the Merrimack. Die Berichte seiner Erkundungen bleiben fragmentarisch, aber Jacks Lust, selbst schöpferisch tätig zu sein, erreicht damit eine neue Stufe.

Ti Jean hat in seinem Kinderzimmer einen Victrola-Koffer-Plattenspieler für 78er Schellackplatten stehen. Zu seinem Repertoire an 10-Inch-Scheiben gehört der Instrumentalhit Dardanella, komponiert vom 1875 in Köln geborenen und 1900 in die USA ausgewanderten Fred Fisher und gespielt von Ben Selvin und seinem Orchester. Als erste Single verkauft sich Dardanella 1920 über drei Millionen Mal in den USA. Ti Jean findet, dass sich das fröhliche Lied mit dem Ostinato-Bass gut als Opener für Pferderennen eignet, die er zu Hause nachspielt: Zunächst wischt er sorgfältig mit einem feuchten Tuch den Linoleumboden seines Zimmers, dann ertönt das Stück und schließlich ist Ti Jean Stadionsprecher, Reiter, Pferd und Publikum in einem. Am Ende notiert Ti Jean minutiös die Ergebnisse in ein Heft, für das er ein Zeitungslayout kreiert und das sich an seine imaginierten Fans des Galopprennsports richtet. Zudem ahmt Ti Jean Comics nach und verschlingt Pulp-Magazine, vor allem das wöchentlich erscheinende Shadow. Er fantasiert sich in das dort geschilderte Böse hinein und glaubt sogar, dieses in der eigenen Nachbarschaft wiederzuerkennen. Manchmal verfasst er eigene Kurzgeschichten in seinem Notizbuch. Er flieht oft aus der Wirklichkeit und lebt leidenschaftlich gern in der Welt der Vorstellungskraft, weshalb er auch Radiohörspiele liebt. Wenn er eine besondere Erfahrung macht, beispielsweise eine Wanderung durch den Neuschnee in der Stadt unternimmt, dann überhöht Ti Jean gerne die Ereignisse, wenn er von ihnen erzählt oder darüber schreibt.

Gabrielle ist allerdings nicht begeistert von Ti Jeans häuslichen Hobbys. Sie sieht es lieber, wenn der Junge draußen an der frischen Luft spielt. Noch heute gibt es im Stadtgebiet von Lowell viele Grünflächen und Bäume. Deshalb hängt sie ein Bild mit dem Kindergedicht Jack Be Nimble, Jack Be Quick an die Wand seines Zimmers. Der Text stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Der dritte Vers lautet: »Jack jump over the candlestick« und deutet auf eine Wahrsagung hin: Erlischt die Kerze beim Sprung nicht, ist das ein gutes Zeichen. In der populären Kultur ist der Kinderreim bis heute weit verbreitet. So hat ihn beispielsweise Don McLean in seinem Song American Pie variiert und damit auf Jumpin’ Jack Flash der Rolling Stones angespielt: »So come on Jack be nimble, Jack be quick / Jack Flash sat on a candlestick / Cause fire is the devils only friend.«

Als die Kerouacs in die Phoebe Avenue ziehen, die sich heute auf dem Gelände der University of Massachusetts Lowell befindet, besucht Jack die Bartlett Junior High School. Als Kind und auch noch als junger Teenager treibt er sich nach der Schule gerne mit Freunden am Ufer des nahe gelegenen Merrimack herum. Im Hinterhof spielt er manchmal allein Baseball. Er trainiert für echte Spiele, die am Stadtrand stattfinden, im Viertel Dracut, in dem vor allem griechische Einwanderer leben. Dort wird auch Football gespielt. Als Ti Jean einmal bei einem Match besonders hart angegangen wird, nennt ihn ein Gegenspieler »Little Christ«. Daran wird sich Jack bis an sein Lebensende erinnern und es mehrfach thematisieren.

Jack mag Mannschaftsspiele, aber er streunt auch gerne allein herum. Besonders die Moody Street, die Little Canada mit Downtown verbindet, fasziniert ihn mit den vielen Lebensmittel- und Tabakläden, den Imbissständen, den Bank- und Postschaltern oder den Versicherungsbüros. Und er trainiert beharrlich weiter: Er weiß inzwischen, wie schnell er im Vergleich zu den anderen ist. Er ist zwar nicht besonders groß, aber sehr flink. Im Sommer 1935 beginnt Ti Jean, systematisch an seiner Sprinttechnik zu arbeiten. Auf dem Sportgelände des Textile Institute (es taucht in Kerouacs Büchern mehrfach auf und ist heute Teil der University of Massachusetts) übt er sich bis in die Abenddämmerung im Ausdauerlauf und stoppt die Zeit. Gabrielle wartet dann schon mit einer kräftigen Mahlzeit auf den heimkehrenden Sohn. Aber tagsüber ist sie wegen ihrer Arbeit in der Schuhfabrik nur noch selten zu Hause und kann nur noch schlecht überblicken, wo er sich herumtreibt.

Jack schwänzt oft die Schule und geht stattdessen ins Kino oder trainiert. Er profiliert sich in der Football-Mannschaft der Lowell High, in der neben Söhnen von Einwanderern aus Kanada auch griechisch-, irisch- und polnischstämmige Jugendliche mitspielen. Zur Pawtucketville-Clique gehören unter anderem Roland Salvas, George Apostolos oder Joseph Beaulieu. Der Priester Armand »Spike« Morissette hatte Jack schon früh erklärt, dass er nach dem Abitur mit einem Sportstipendium an einer Uni studieren könnte. Auch dies ist ein Anreiz für sein hartes Training. Jack ist inzwischen zum stämmigen und schnellen Halfback avanciert, der seinem Team oft kopfvoran das Spielfeld erschließt. Dank seiner geringen Körpergröße, seiner Wendigkeit und seines raschen Reaktionsvermögens bietet er den Gegnern wenig Angriffsfläche. Jack fällt durch seine enorme Entschlossenheit auf, mit der er den Ball nach vorne trägt. Er wird oft spät, aber sehr rabiat von den Gegnern zu Boden gebracht. Nicht selten kassiert er dabei starke Kopfstöße. Aber Jack ist hart im Nehmen. Und er macht keinen Hehl aus seinem Draufgängertum. Scouts werden auf ihn aufmerksam. Trainiert wird aber auch außerhalb des schulischen Rahmens: Jack schließt sich den Dracut Tigers an und setzt im Oktober 1935 gemeinsam mit Joseph Beaulieu eine Annonce in die Lowell Sun. Gesucht werden Teams, die es mit den Dracut Tigers aufnehmen. Manchmal geht die Sache gut, und Jacks Mannschaft gewinnt, manchmal müssen sie aber auch bittere Niederlagen einstecken. Jack hat insbesondere vor den griechischen Gangs Respekt, echten Kämpfern, die Jack anerkennend »homerisch« nennt.

Jack ist 14, als der Merrimack im April 1936 nach starken Regenfällen über die Ufer tritt. Es ist seit vielen Jahren die größte Katastrophe in Lowell. Die Überschwemmungen zerstören auch Leos kleine Druckerei. Jack erinnert sich, wie er einen Filmbericht über die Fluten im Royal Theatre sieht. Leo muss Schulden aufnehmen, findet aber danach eine Anstellung als Drucker in der benachbarten Kleinstadt Andover. Die beiden Einkommen von Jacks Eltern reichen kaum zum Leben. Die Kerouacs verlassen das Haus in der Sarah Avenue und ziehen in eine günstige Wohnung in der Moody Street 736.

Mit dem Wechsel von der Bartlett Junior High zur Lowell High School entwickeln sich die kindlichen Talente Ti Jeans zu Qualitäten eines ehrgeizigen Teenagers. Längst nennen ihn die Freunde nicht mehr Ti Jean oder Jean, sondern Jacky: Der Sechzehnjährige rasiert sich und kämmt das gewellte Haar mit Wasser und Gel nach hinten wie John Howard und Ronald Colman in Frank Capras Film Lost Horizon (In den Fesseln von Shangri-La). Es ist unübersehbar, dass Jack sich zu einem außergewöhnlich attraktiven jungen Mann entwickelt. Sein gutes Aussehen kombiniert mit dem melancholischen Blick sind dabei vor allem reizvolle Zugaben: Was das weibliche Geschlecht wirklich fasziniert, sind Jacks Charme und seine Belesenheit. Jack beginnt sich die Klassiker anzueignen: Conrad, Fitzgerald, Melville.

Schwester Nin macht sich lustig über Jacks Vorbereitungen im Bad, aber sein Stilbewusstsein gepaart mit literarischer Bildung hat Erfolg: Jack merkt, wie die Mädchen »in seine blauen Fenster sehen« und dabei dahinschmelzen. Mary Carney, Tochter irischer Einwanderer, verliebt sich in Jack. Die beiden lernen sich im Rex Ballroom kennen. Sie tanzt Jitterbug mit einem coolen Typen namens Ray St. Louis, der den Jive Talk draufhat und Marihuana raucht. Ray ist glücklicherweise müde, braucht eine Pause und Jack übernimmt. Mary und Jack treffen sich seither regelmäßig, und es kommt zu wilden Knutschereien. Gabrielle mag Mary, aber sie befürchtet, dass sich ihr Ti Jean zu früh festlegen könnte. Er soll nicht schon als Teenager in die Heiratsfalle tappen. Doch Mary und Jack sind so verliebt, dass sie Pläne für eine Hochzeit nach Abschluss der Highschool schmieden. Andererseits wagt Jack es nicht, Mary an ihren »prime focal points«, wie er sie nennt, zu berühren. Offenbar wünscht sich Mary allmählich mehr von Jack. Dieser ist aber nicht bereit, mit ihr intim zu werden.

Im selben Zeitraum vertieft Jack die Freundschaft mit Sebastian (Sammy) Sampas, auch eine Leseratte. Die Bibliothek ist ihr Lieblingsort, ihr »home away from home«. Jacks Fantasien, später einmal ein berühmter Schriftsteller zu werden, steigern sich auch dank der Leinwaldhelden, die er regelmäßig im Kino sieht, allen voran Cary Grant und Richard Arlen. Jack sagt rückblickend: »Ich habe Arlen so oft im Rialto Theatre gesehen, dass ich dachte, ich selbst sei Arlen.« Arlen wird 1900 geboren und kämpft im Ersten Weltkrieg als Pilot für die kanadische Armee bei den Royal Flying Corps. Er arbeitet danach unter anderem als Sportredakteur bei einer Tageszeitung, bevor er ab 1921 in zahlreichen Stummfilmen in Los Angeles auftritt. Er schafft den Wechsel zum Tonfilm und wird ein gefragter Action-Held. Er heiratet dreimal und hat einen Sohn. So ergeben sich später tatsächlich einige Parallelen zwischen Arlen und Kerouac, der seine Schreibversuche ausweitet: Die Leinwanddramen, aber auch Geschichten aus Zeitungen inspirieren ihn. Erst später wird er sich verstärkt an Autoren und ihren Büchern orientieren.

Jack lernt Fred Bertrand kennen (später in Jacks Prosa Vinny Bergerac genannt), der aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Jack nennt die Moody Street den Slum von Lowell, aber wenn Freds Mutter in der Fabrik arbeitet, verbringt er viel Zeit in Freds kleiner Wohnung, denn die Bertrands besitzen eine große Plattensammlung. Jack hört gerne Blues und Jazz. Das lenkt ihn auch davon ab, dass Vater Leo zunehmend verbittert und hinter seinen wirtschaftlichen Problemen Intrigen wittert. Er sucht ständig einen Sündenbock und wird anfällig für Verschwörungstheorien aller Art. Das Scheitern seiner Selbstständigkeit, den Zwangsverkauf seiner Druckerei, verkraftet er nicht. Obendrein plagen ihn auch ohne sein Spotlight-Print-Business weiterhin Schulden. Beim Pokern und auf der Pferderennbahn hat er viel Geld verspielt. Bald müssen die Kerouacs selbst in die Moody Street ziehen. Der wirtschaftliche Niedergang der Familie beschäftigt Jack. Er hilft Leo, indem er im Social Club stundenlang beim Bowling die Kegel wieder an die richtige Position zurückstellt und für Ordnung an den Billardtischen sorgt. Und er lernt seither noch fleißiger und trainiert noch härter.

An Thanksgiving 1938 findet das Derby zwischen Lowell und der Lawrence High School statt. Rund 14 000 Zuschauer verfolgen im Lawrence Memorial Stadium das Spiel. Mit einem außergewöhnlich gewagten Lauf gelingt Jack der für Lowell entscheidende und siegreiche Touchdown. Als er nach Hause kommt, jubeln ihm die Nachbarn von den Fenstern aus zu: »There is nothing like being a football star, not even publishing your first novel«, erinnert sich Jack später an den großen Moment. Dank seines sensationellen Touchdowns werden ihm Stipendien angeboten. Jack kann nun zwischen dem renommierten Boston College in Chestnut Hill und der Columbia University in New York City wählen. Die Entscheidung fällt ihm schwer, weil Boston seinem Vater zudem einen Job als Drucker an der dortigen Universität anbietet. Es ist letztlich Gabrielle, die den Ausschlag gibt: Ti Jean solle nicht auf die Eltern Rücksicht nehmen. Jack entscheidet sich für die Columbia. Das große Abenteuer nimmt seinen Anfang in New York, wo er zunächst ein Jahr die auf die Universität vorbereitende Horace Mann School in der Bronx besucht. Diese Entscheidung bedeutet zugleich, dass Gabrielle nun beginnt eine neue Rolle in der Familie zu spielen: Leo wirkt in seiner Erschöpfung und Frustration zunehmend apathisch, weshalb Gabrielle die Zügel in die Hand nimmt.

Jack beendet im Frühjahr 1939 die Lowell High School. Schwester Nin hat bereits einen Job in Lowell als Buchbinderin gefunden. Jack verlässt seine Heimatstadt zum ersten Mal für längere Zeit. Mary hat mit ihm Schluss gemacht und geht mittlerweile mit einem anderen Jungen aus. Jack hat an der zerbrochenen Liebe zu knabbern, aber seine Zukunft als Sportler und Student in New York hat Vorrang. Er wohnt zunächst bei der Stiefschwester Gabrielles in Brooklyn in der State Street 293. Die Subway-Fahrt bis zur Horace Mann Prep School in der 246th Street in der Bronx dauert eineinhalb Stunden. Unterwegs in der Bahn lernt er für die Schule, aber seine Begeisterung hält sich in Grenzen. Während des Unterrichts ist er selten aufmerksam, manchmal döst er vor sich hin, um dann für die Sportstunden in Topform zu sein. Er trainiert mit seinen Kameraden bis zur Erschöpfung. Auch sie wollen sich während des Vorbereitungsjahres für die Universität bewähren. Zu Hause bei Gabrielles Stiefschwester gibt es nur einfache Mahlzeiten, aber dafür üppige Portionen, oft Kartoffeln in verschiedenen Variationen. Vor dem Schlafengehen führt Jack Tagebuch und entwirft Skizzen für Kurzgeschichten. Manche der Texte erscheinen in der Unizeitung. Tagsüber isst Jack Butterbrotstullen. Selten kann er sich etwas Besseres leisten. Den anderen Sportstipendiaten geht es ähnlich wie ihm. Die regulären Studenten schätzt Jack in ihrer Mehrheit als Sprösslinge wohlhabender, oft jüdischer Familien aus New York und Umgebung ein. Jack fühlt sich fremd unter ihnen. Es ist offensichtlich, dass die anderen ihn für den armen Jungen aus der Provinz halten. Seine großen Hände hängen aus den zu kurzen Jackenärmeln. Sein spärlicher Proviant bleibt nicht geheim. Jack jobbt als Tellerwäscher in der Kantine der Horace Mann. Aber er findet auch Freunde unter den reichen Kameraden. Einer macht ihn auf Ernest Hemingway aufmerksam, woraufhin Jack den späteren Pulitzer- und Nobelpreisträger mit Begeisterung liest.

Im Herbst 1939 erscheint eine von Jacks Geschichten im Horace Mann Quarterly: The Brothers findet Beachtung und die Universität ist mehr als zufrieden mit dem Stipendiaten aus Lowell. (Der Originaldruck befindet sich in der New York Public Library.) Jack bewährt sich als Sportler und als Schreiber. Wenig später heißt es im akademischen Jahrbuch treffend: »Brain and brawn found a happy combination in Jack.« (»Kopf und Muskeln haben sich bei Jack zu einer geglückten Kombination gefügt.«) Tatsächlich wird ihn seine Verbindung von Intelligenz und Muskelkraft noch weit bringen. Er schreibt für die Unizeitung Liebesgeschichten und Musikkritiken und ist gleichzeitig auf dem Sportplatz so erfolgreich als Halfback, dass er im Literaturteil der Frühjahrsausgabe die Titelgeschichte schreiben darf, einen Text über Jesus: Heiligabend.

Jack besteht das Vorbereitungsjahr auf der Horace Mann mit guten Noten. Am 7. November 1939 schreibt ihm seine erste große Liebe Mary aus Lowell nach New York, sie sollten es doch noch einmal miteinander versuchen. Als Jack wieder in Lowell ist, beginnt die Romanze erneut, und Jack lädt Mary zum Frühjahrsball an der Horace Mann ein. Wieder in New York wagt sich Jack in ein Stundenhotel in Manhattan und verliert seine Unschuld mit einer Prostituierten. Nun gewinnt Jack gegenüber Mary an Selbstvertrauen und fühlt sich vorbereitet. Er geht zudem ins Solarium, um danach braungebrannt und reifer auszusehen. Als Mary ihn sieht, erschrickt sie: Jack ist krebsrot im Gesicht. Und als sie bei der Feier die reichen Töchter New Yorks in den teuren Kleidern sieht, bricht sie in Tränen aus und will den Saal sofort verlassen. Zum intimen Höhepunkt des Abends kommt es nicht. Mary bittet ihn aber, er solle New York den Rücken kehren und wieder ganz nach Lowell kommen, wo er hingehöre. Doch Jack lässt sich nicht entmutigen, im Gegenteil. Mary reist die 350 Kilometer in nordöstlicher Richtung heimwärts, und Jack bleibt in der Stadt seiner Träume, wo er als Sportler und Journalist, als Student und als Autor reüssieren will. Er sucht verstärkt Kontakt zu den Kameraden auch außerhalb seines Sportteams. Die Sportstipendiaten beobachten Jack argwöhnisch und vermuten, dass er es nur auf Almosen der reichen Jungs abgesehen hat. Aber Jack geht es um mehr als nur um deren Hühnchensandwiches. Die Zeugnisübergabe boykottiert er. Während die Kameraden sich in Schale werfen, um ihre Notenbüchlein entgegenzunehmen, liegt Jack auf der Campuswiese mit zwei Büchern, einem Roman von Hemingway und Gedichten von Walt Whitman.

Jack lernt im Frühling 1940 Seymour Wyse kennen, der in New York eine ähnliche Funktion einnimmt wie Fred Bertrand in Lowell. Mit Seymour (ein Brite, der während der Überfahrt nach New York auf der Île-de-France, einem der damals schönsten Passagierschiffe weltweit, Duke Ellington persönlich kennenlernt) entdeckt Jack die Platten Ellingtons oder des Count Basie’s Swinging Orchestra und vieler anderer. Zur Jazz-Clique gehören auch Donald Wolf und Aram »Al« Avakian, dessen Bruder George Produzent von Jazz-Platten ist. Seymour nimmt Jack mit ins Apollo Theatre in Harlem. Dort erlebt Jack unter anderem die Jimmie Lunceford Band live. Lunceford nimmt bereits seit 1929 Platten auf. 1934 tritt er im Cotton Club in Harlem die direkte Nachfolge von Cab Calloway an: Lunceford wird zur Cotton Club Hausband, was ihm zum nationalen Durchbruch verhilft. 1937 wird ein witziger Sechs-Minuten-Film über Jimmie Lunceford and his Orchestra mit dem Three Brown Jacks Dance Team und der Sängerin und Tänzerin Myra Johnson gedreht. Das Ensemble ruft zum Auftakt dieses »Musical Short« (eine Gattung, die viel zum Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm beitrug) in teuflischem Ambiente den Gott des Rhythmus an: Lunceford und seine Solisten geben Kostproben ihres Könnens. Bemerkenswert ist das Saxophonsolo, das sich im Rahmen der Swing-Nummer schon Freiheiten nimmt, die später in den Bebop münden werden. Der Slogan Luncefords lautet: »Rhythm is our business, rhythm is what we sell. Rhythm is our business, business sure is swell«, und Lunceford ist groß im Geschäft: Seine Komposition Rhythm Is Our Business ist 1935 ein Nummer-eins-Hit in den USA. Seine Liveshows gehören zu den beliebtesten, auch dank ihrer Vaudeville- und Comedy-Elemente. Wenig später erleben Seymour und Jack im Savoy Theatre Count Basie mit Lester Young als Solisten. Jack schreibt daraufhin mehrere Artikel über Jazz für den Horace Mann Record. Er ist begeistert von Youngs Ideenreichtum und seiner »unvergleichlichen Phrasierung«, wie Jack es nennt. Beispiele dafür sind Jumpin’ At The Woodside (1938) oder Lester Leaps In (1939). In Lesters Solos ist schon der Drang deutlich zu spüren, die Fesseln klar konturierter Orchestrierung zu sprengen. Der Achtzehnjährige Jack schreibt euphorisch in der Unizeitung vom »wirklichen Jazz«, eine Musik, die »nicht vorgeformt und frei für jegliche Improvisation ist.« Sie sei ein Ausbruch leidenschaftlicher Musiker, die all ihre Energie in ihre Instrumente fließen lassen auf der Suche nach einem seelenvollen Ausdruck, nach einer einzigartigen Stegreifdarbietung. Ein Solist improvisiere um eine Melodie herum, um sich selbst auszudrücken mit seiner ganzen Persönlichkeit und Originalität. Das erfasse den Hörer bis in die Zehenspitzen (»It get’s you right down to your shoe-tops!«). Jack verfolgt weiterhin enthusiastisch die Entwicklung des Jazz. Gemeinsam mit Aram Avakian (der sich in Artikeln Albert nennt) schreibt er eine umfangreiche Reportage im Horace Mann Record über Al’s Bruder unter der Überschrift: »Real Solid Drop Beat Riffs And Kicks Are Plentiful In George Aviakan’s Unique Album Of Chicago Style Jazz«: »Die Töne strömten aus der glänzenden Trompete. Jeder von ihnen trug seine eigene Bedeutung und Poesie in sich, und alle waren von einer wunderschönen Klangqualität«, so Jacks noch konventioneller Kritikerton, der bald ebenso der Vergangenheit angehören wird wie seine Begeisterung für den Bigband-Swing. Bei George Avakians Produktion handelt es sich um eine Kompilation in Form von sechs Schellackplatten, die im März 1940 bei Decca erscheint. Avakian, damals noch Student, wird später einer der einflussreichsten Musikproduzenten der USA. Jack juckt es in den Füßen bei Live-Gigs und am Schreibtisch vertieft er sich in die Materie. Seine literarischen Schreibversuche werden einen ähnlichen Weg einschlagen wie den der experimentierfreudigen Jazzer. Auch Jacks Jazz-Freund und Georges Bruder Aram Avakian macht später Karriere. Er wird Fotograf, Filmregisseur und Drehbuchautor.

ZWISCHENSTOPP IN ASHEVILLE

Den Sommer 1940 verbringt Jack in Lowell bei seinen Eltern, die wieder umgezogen sind. Ein Foto zeigt Schwester Carolyn und Jack dicht beieinander auf dem neuen Balkon, sie mit leicht geöffnetem Mund, auf dem Geländer sitzend, die Beine übereinandergeschlagen, die Füße in schicken Schuhen steckend, passend zum Kleid, und die Hände in den Schoß gelegt. Er – deutlich größer – an das Geländer gelehnt, die Arme verschränkt, der Mund geschlossen, die Miene ernst. Jack liest viel (Dickinson, Hardy, London, Thoreau), trainiert hart, trinkt abends gerne Bier und sinniert mit seinen Freunden über Möglichkeiten, sich literarisch auszudrücken. Sammy Sampas empfiehlt ihm William Saroyan, den Jack begeistert verschlingt. Er beschäftigt sich zudem mit der Biografie Jack Londons, den er damals für »den größten Menschen« hält, der jemals gelebt hat.

Im Spätsommer 1940 geht Jack wie geplant zu einer der renommiertesten Hochschulen der USA, zur Columbia-Universität in New York City. Seine neue Adresse befindet sich in Manhattan, in der 116th Street. Dort bezieht er auf dem Campus ein kleines Einzelzimmer und ist umgeben von Kommilitonen. Jack macht sich Illusionen über seinen nächsten großen Schritt als Student. Er sieht sich schon wie Bing Crosby in einer Knopfstrickjacke und Pfeife rauchend im Haus einer Studentenverbindung verkehren und die anderen mit seiner Belesenheit beeindrucken. Er stellt sich auch gleich zu Beginn bei einer der Burschenschaften vor. Als er aber merkt, mit welchen Ritualen eine solche Aufnahme verbunden ist, verzichtet er. Jack ist nicht der Typ, der mit einer bunten Studentenmütze seine Zugehörigkeit zu einer zweifelhaften Organisation demonstrieren will. Er zieht es vor, allein und lesend seine Freizeit auf dem Campus zu verbringen. Allerdings vernachlässigt er die naturwissenschaftlichen Fächer.

Im Oktober spielt der Freshman Jack für die Columbia gegen die Rutgers. Auch für seinen zweiten Einsatz gegen die St. Benedict’s Prep School Mitte Oktober wird er in der Unizeitung gelobt. Allerdings verletzt er sich am Schienbein. Es scheint nicht so schlimm zu sein. Der Coach des Columbia-Teams lässt ihn in den darauf folgenden Tagen weiter trainieren. Aber die Schmerzen lassen nicht nach. Als Jack endlich zum Röntgen geschickt wird, stellt der Arzt fest, dass sein Schienbein gebrochen ist. Später wird Jack mehrfach dem Trainer vorwerfen, ihn mit dem kaputten Bein rennen gelassen und viel zu spät zum Röntgen geschickt zu haben.

Jacks Bein wird eingegipst, und er fällt für den Rest der Saison aus. Jack humpelt auf Krücken über den Campus der Columbia und lässt sich als der ehrenvoll auf dem Spielfeld kämpfende und nun verwundete Football-Held feiern. Aber das ist nur ein kleiner Trost. Die Verletzung wirft ihn in Wirklichkeit aus der geplanten Bahn und lenkt ihn in eine neue Richtung. Jack ahnt schon, dass sich der Beinbruch negativ auf seine sportliche Karriere auswirken wird, kann aber noch nicht ermessen, wie sehr sein Leben sich dadurch verändern wird. Die weichenstellenden Ereignisse, die nun folgen, hätte es ohne den Beinbruch wohl kaum gegeben. Es beginnt damit, dass Jack jetzt viel mehr Zeit für das Studium abseits des Sports, also vor allem für die langen Leselisten der Uni und für das eigene Schreiben hat. Die meisten seiner neuen Prosaskizzen veröffentlicht er aber nicht in der Unizeitung, sondern behält sie für sich in seinen Notizbüchern. Zudem begeistert sich Jack insbesondere für die Werke des 1900 in Asheville, North Carolina, geborenen und mit nur 38 Jahren verstorbenen Schriftstellers Thomas Clayton Wolfe. Kerouac bewundert Wolfes Fähigkeit, Autobiografisches mit Fiktion zu mischen. Er wird bekannt durch seinen umfangreichen Debütroman Look Homeward, Angel. A Story of the Buried Life (1929). Es folgen die Romane Of Time and the River (1935) und The Web and the Rock (posthum 1939). Im Jahr 2000 bekommt der 1930 geborene Tom Wolfe den erstmals verliehenen Thomas Clayton Wolfe Prize verliehen. Die beiden Wolfes sind nicht verwandt, aber Thomas Clayton Wolfe ist genau betrachtet ein Vorläufer der Beatniks, während Tom K. Wolfe einer ihrer Nachfolger ist, berühmt geworden als Mitbegründer des New Journalism und durch seine Bücher The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby (1965), The Electric Kool-Aid Acid Test (1968) oder The Bonfire of the Vanities (1987).

Tom Wolfe sagt über Thomas Clayton Wolfe in seiner Dankesrede anlässlich der Preisverleihung: »Wenn jemand so freundlich ist, insbesondere über fünfzigjährige Leser, mein Werk zu loben, warte ich immer eine Weile, weil sie so oft Look Homeward, Angel oder Of Time and the River, The Web and the Rock, From Death to Morning meinen. Es ist so schwierig, sich heute vorzustellen, was für eine Berühmtheit Thomas Wolfe 1929 war, als Look Homeward, Angel erschien. 1930 beschrieb Sinclair Lewis, der erste Amerikaner, der den Literaturnobelpreis gewann, Thomas Wolfe in seiner Nobelpreis-Dankesrede als den Schriftsteller, der vielleicht der größte aller amerikanischen Schriftsteller, nein, der größte aller Schriftsteller der Welt werden würde. Wolfes Debüt sei eine kolossale Schöpfung voll tiefer Lebenslust. Wolfe sei ein gargantuanischer Charakter von ungeheurer Vitalität.«

Auch in Deutschland findet Thomas Wolfe leidenschaftliche Leser. Schau heimwärts, Engel erscheint 1932 bei Rowohlt und stößt auf Begeisterung. Hermann Hesse schreibt: »die stärkste Dichtung des heutigen Amerika, die ich kenne«. Die Rezensenten loben bis heute die »eruptive Ausdrucksenergie«, die »sich aufwölbende, lavaartige Sprache« und insbesondere das Erinnerungsvermögen des Autors. Dies sei ein »Kultbuch der Jugend«, »die Bibel aller Pubertierenden«, ein »elefantöser Proust«; Schau heimwärts, Engel sei noch von der Romantik beeinflusst, sei schwärmerisch, voller Vitalität, voller Überschwang. 1926, vier Jahre nach Kerouacs Geburt, beginnt Wolfe Look Homeward, Angel zu schreiben. Wolfe schreibt schnell und assoziativ. Er verknüpft die Familiengeschichte, seine ersten 20 Lebensjahre, die zugleich die ersten 20 Jahre des Jahrhunderts sind, mit amerikanischer Befindlichkeit und mit seinem persönlichen Wunsch, Schriftsteller zu werden. Episoden und Porträts reihen sich locker chronologisch aneinander.

Look Homeward, Angel erscheint 1929 stark gekürzt auf etwa 60 000 Wörter. (Die Urfassung hätte zu einem Umfang von über 1000 Seiten geführt.) Tom Wolfe beschreibt in seiner einstündigen Ansprache Leben und Werk von Thomas Clayton Wolfe, setzt originelle Schwerpunkte und gibt Anekdoten zum Besten, die zu Kerouacs Zeit nicht nur unter Literaten weit verbreitet sind. Man erzählt sich, dass Wolfe so groß war, dass er nicht am Schreibtisch, sondern auf der Oberfläche des Kühlschranks schrieb. »He was larger than life«, so Tom Wolfe, der das Schwingen seiner langen Arme nachahmt. Nur den Bariton kann er nicht nachsprechen. Aber er erinnert an William Faulkners eher experimentellen Roman The Sound and the Fury, der im gleichen Jahr wie Look Homeward, Angel