Yoko Ono - Nicola Bardola - E-Book

Yoko Ono E-Book

Nicola Bardola

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Beschreibung

Feministin, Pazifistin, radikale Künstlerin: Yoko Onos Leben ist eine einzige Gratwanderung zwischen den Welten. Wo andere Grenzen errichten, reißt sie Grenzen ein. Ihr Interesse gilt nicht dem Althergebrachten und Bestehenden, als Polit-Aktivistin ist Yoko Ono auf der Suche nach utopischen Potenzialen. Sie ist Filmemacherin, Songwriterin, Sound-Eskapistin, Performerin und bildende Künstlerin. »Form follows function«, lautet, in Anlehnung an den Bauhaus-Leitsatz, ihre kreative Formel. Nicola Bardola knüpft mit seiner Biografie an seine langjährige Recherche über Onos Ehemann und Ex-Beatle John Lennon an. Entstanden ist ein außergewöhnlich faktenreiches Buch, in dem Bardola das bewegte Leben Onos nachzeichnet: Vom kleinen Mädchen, das die Bombenangriffe in Tokio überlebte, über die radikale Künstlerin, die die Fluxus-Bewegung der 1960er-Jahre in New York City revolutionierte, bis zur etablierten Grande Dame, die heute zu den gefragtesten Künstlerinnen der Welt gehört. Erweiterte und komplett überarbeitete Neuauflage.

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Nicola Bardola

Yoko Ono

Aktualisierte und erweiterte Neuauflage

Zweitausendeins

Für die Inhalte der in dieser Publikation genannten Links auf Websites Dritter übernehmen wir keinerlei Haftung, da wir uns diese nicht zueigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hinweisen.

Erste Auflage Herbst 2012. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage Frühling 2022, mit freundlicher Genehmigung des Langen Müller Verlags. Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2012, 2022 by Nicola Bardola. Alle Rechte für die deutsche Ausgabe Copyright © 2022 by Zweitausendeins GmbH & Co. KG, Karl-Tauchnitz-Str. 6, 04107 Leipzig. www.zweitausendeins.de Umschlagsillustration von Christiane Nebel. Die Rechte einiger Abbildungen konnten trotz größter Bemühungen nicht geklärt werden. ISBN 978-3-96318-155-9

Inhalt

Vorwort

I. Liebe, Fluxus und Grapefruit

LOVE

YOKOS KUNST FÜR KINDER ODER MEIN UNSICHTBARES ICH

YOKOS HERKUNFT

ES GIBT NICHT VIELE KOMPONISTINNEN AUF DER WELT

ALLES FLIESST – FLUXUS

YOKO GOES GAGA

YOKO ONE – ARBEITSWUT UND DEPRESSION

YOKO, TONY UND KYOKO

GRAPEFRUIT

AUTODESTRUKTIVE KUNST

CUT PIECE

VON NEW YORK NACH LONDON

II. Bottoms, John und die Beatles

OH, NO, ONO

ICH HING IN DER LUFT

YOKOS RACHE

TWO VIRGINS

YOKO ONO UND DIE BEATLES

LENNONO IST KUNST

PR FÜR DEN FRIEDEN

IMAGINE

YOKO KEHRT ZURÜCK NACH NEW YORK

III. Neubeginn, Tod und Kontinuität

YOKOS GEHEIMNISSE

DOUBLE FANTASY

DAS LÄCHELN DER MENSCHEN

DER WUNSCHBAUM

IMAGINE PEACE TOWER

DER JOHN-LENNON-EDUCATIONAL-TOURBUS, DER SONGWRITING CONTEST UND WEITERE INITIATIVEN

IMAGINEPEACE.COM

Nachwort

Herkunft und Werdegang

Anhang

Für Vera

They won’t leave.Get out the Yoko Ono CDs.MURRAY (Karikaturist)Yoko is doing something unique – it has never been done before.ERIC CLAPTONSeen you much in love.YOKO ONO

Vorwort

Geboren: Jahr des Vogels Frühe Kindheit: Himmel gesammelt Jugend: Seetang gesammelt Späte Jugend: Eine Grapefruit geboren. Schnecken, Wolken, Abfall, Dosen usw. gesammelt. Mehrere Schulabschlüsse mit Spezialisierung in diesen Themen.Zurzeit: Reisen als Vortragende zu obigen und weiteren Themen. Ausgezeichnet mit dem Hal-Kaplow-Preis.

So charakterisiert sich Yoko Ono im März 1966 anlässlich der Ausstellung STONE in der Judson Church Gallery in New York. Diesem Steckbrief lässt sie ein Statement folgen:

Die Menschen hörten nicht auf, Teile von mir wegzuschneiden, die sie nicht mochten. Letztlich blieb nur der Stein von mir übrig, der in mir war, aber sie waren immer noch nicht zufrieden und wollten wissen, wie es in dem Stein ist. y.o.

PS: Wenn die Schmetterlinge in deinem Bauch sterben, dann sende deinen Freunden gelbe Todesanzeigen.

Diese Texte vermitteln einen Eindruck vom Lebensgefühl Yoko Onos exakt neun Monate, bevor sie zum ersten Mal John Lennon begegnete. Ihr vielfältiges Werk ist bis heute von Kontinuität geprägt. Trotzdem lässt es eine Prä- und eine Post-John-Lennon-Ära deutlich erkennen. Yokos Zeit mit John, diese vierzehn Jahre währende Amour fou, ist die bekannteste Phase im Leben der japanischen Künstlerin. Ohne die Ehe mit dem Gründer der Beatles würde man Yoko Ono heute sehr viel weniger Aufmerksamkeit schenken. Dennoch war Yokos Kreativität vor und nach ihrer Zeit mit John mindestens ebenso groß wie in den Jahren 1966 bis 1980.

Diese Biografie geht von den Arbeiten der japanischen Künstlerin aus, um damit ein bewegtes Leben aufzuzeigen, das aufgrund schöpferischer Kraft, Experimentierfreude, Radikalität und der beständigen Suche nach Wahrhaftigkeit fasziniert. Yoko sagte: »Kunst ist mein Leben und mein Leben ist Kunst.« Das ist einer der vielen Gründe, warum sich einer der begabtesten und begehrtesten Männer der damaligen Popwelt in Yoko verliebte. »Yoko ist wie ein Acidtrip oder als wäre man zum ersten Mal betrunken«, sagte John. Mit dieser Liebe mündeten zwei Lebensläufe ineinander, zwei Individuen verschmolzen zu einer Rock-’n’-Roll- und Kunst-Ikone.

Dieses Buch versteht sich auch als »Übersetzung« von Yokos nicht immer leicht verständlichen Impulsen vor, während und nach ihrer Zeit mit dem Beatle. Rohmaterialien der Avantgarde-Künstlerin werden hier vorgestellt und interpretiert, um den Prozess von Yokos erster Idee bis hin zu ihren oft unfertigen – bewusst unvollendeten – Arbeiten zu zeigen.

Seit über vier Jahrzehnten ist sie die wohl berühmteste Witwe der Welt. Sie hat nach Johns Tod nicht wieder geheiratet. Viele Menschen, besonders Beatles-Fans, schauen seit einigen Jahren genauer hin. Peter Jacksons sechsstündiger Film Get Back überraschte im November 2021 Fab-Four-Kenner: Wie sollte diese friedliebende Frau die größte Rockband der Welt gesprengt haben? »Onophobische« (Vor-) Urteile könnten mit Hilfe dieses Buches weichen zugunsten eines unvoreingenommenen Blicks auf ein überaus schillerndes und vielseitiges Leben. Diese Biografie will zeigen, wie es zu den berühmten und manchmal berüchtigten Attributen kommen konnte, mit denen Yoko heute noch beschrieben wird: »lebender Haiku«, »Fluxus-Hexe«, »fünfter Beatle«, »16-Spur-Stimme«, »Querdenkerin«, »Multimillionärin«, »Gay-Ikone« oder »Dance-Club-Diva«.

Wer ist diese japanisch-amerikanische Friedensaktivistin, Menschenrechtlerin, Feministin, Filmemacherin, Konzeptkünstlerin, Sängerin und Komponistin?

Sommer in Venedig 2009: Yoko Ono steht in den Giardini auf der Bühne der Kunstbiennale, nimmt beim Presseempfang den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk entgegen und sagt: »Venedig ist die schönste Stadt der Welt.«

Ich frage mich im Stillen: Ist das nicht New York? Obwohl ich weit vorne sitze, sieht man Yoko kaum. »Sie ist so klein. Wo ist sie nur?«, fragt mich nach dem offiziellen Teil der Preisverleihung ihr Sohn Sean Lennon ernsthaft beunruhigt hinter der Bühne und macht sich auf die Suche nach seiner Mutter.

Ich sehe Yokos Tochter Kyoko, die versucht, ihre Kinder noch ein wenig zu bändigen, bevor sie zum Eisessen gehen. Danach schlendere ich noch durch die Gärten, lasse Natur und Kunst auf mich wirken und denke über diese Familie nach, deren männliches Oberhaupt seit bald dreißig Jahren fehlt. Ohne John Lennon kommt das Fernöstliche jetzt stärker zum Ausdruck.

Mutter und Großmutter Yoko ist es gewohnt, für andere zu sorgen und ihren Verbund zusammenzuhalten. Zierlich und fragil, aber auch zielbewusst und durchsetzungsfähig organisiert Yoko wie kaum eine andere Frau ihrer Generation ein komplexes System sozialen Engagements und künstlerischen Ausdrucks, das manchmal belächelt und kritisiert wird und stark von Ruhm und Erfolg geprägt ist.

Nicola Bardola, Januar 2022

I Liebe, Fluxus und Grapefruit

LOVE

Es gibt kaum eine Künstlerin der Gegenwart, die so oft das Wort »Love« verwendet wie Yoko Ono. Sie treibt die Verbalisierung der Liebe exzessiv voran, u. a. mit der Taschenlampen-Aktion »I love you«. Yoko entwickelte die Performance, die ihre universelle Liebesbotschaft variieren und verstärken sollte, Anfang der Nullerjahre. Hierbei handelt es sich um eine sehr einfach anmutende Aktion, eigentlich ein Kinderspiel, das sich von infantilen Impulsen dadurch unterscheidet, dass Yoko die »I love you«-Veranstaltungen mit einem weltweiten Appell verbindet.

»Erinnern wir uns einen Augenblick an die Liebe«, sagt Yoko bei ihren Performances oft einleitend, worauf sie rhythmisch und manchmal mit herztonähnlichen Geräuschen unterlegt aus dem Dunkel aufscheint und dabei eine Taschenlampe auf die Zuschauer richtet. Einmal leuchten und klopfen bedeutet »I«, zweimal leuchten und klopfen bedeutet »love«, dreimal klopfen und leuchten bedeutet »you«. Diesen Vorgang wiederholt Yoko sehr oft. Zwischendurch fordert sie das Publikum auf, diese »I love you«-Botschaft selbst weiter zu senden in dem von ihr vorgegebenen Rhythmus. Von Schiffen aus, von Berggipfeln aus, von Gebäuden aus oder indem man ein ganzes Hochhaus dazu nutzt, auf großen und kleinen Plätzen in Städten und Dörfern, vom Himmel aus und in den Himmel hinein – Yoko fordert das Publikum auf, diese Botschaft ausdauernd in die ganze Welt und ins Universum zu senden, egal ob mit oder ohne Taschenlampe, mit oder ohne Lichter. Dem ersten Teil der Botschaft folgt schon der zweite: Einmal leuchten bedeutet »I love you«, zweimal leuchten bedeutet »love is forever«, dreimal leuchten bedeutet »you are beautiful«. Diese Aktion liegt Yoko bis heute sehr am Herzen.

Beim Filmfestival von Venedig 2004 zeigte sie das dazugehörige Video auf einer Leinwand im Freien. Bei Konferenzen lässt Yoko kleine Taschenlampen verteilen, mit denen dann alle die Botschaft im Raum multiplizieren können, was in den meisten Fällen zu großer Heiterkeit und nur sehr selten zu Verlegenheit führt.

»Viele sind verängstigt, konfus und wütend in dieser Welt. Ich glaube, es herrscht ein Wettstreit unter den Menschen. Die einen versuchen diesen Planeten zu zerstören, die anderen versuchen die ganze Erdoberfläche mit Liebe zu bedecken. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir jetzt alle versuchen, die Welt mit Liebe zu erfüllen. Und das ist der Grund für meine Aktion. Sie ist sehr einfach. Statt jemanden um ein Treffen zu bitten, sich zu verabreden, hinzugehen und das zwei- oder dreimal zu wiederholen, bis man vielleicht einander sagt, ›ich liebe dich‹, kann man jetzt allen ›ich liebe dich‹ sagen.«

Yoko berichtet von der Aktion nachts auf der Piazza San Marco in Venedig oder von derselben Aktion wenig später im September 2004 in der Tate Gallery in London in einem abgedunkelten Raum sowie in München vor dem Haus der Kunst: »Es war sehr seltsam, denn plötzlich sah ich all die Liebeslichter aus dem Publikum auf mich scheinen. Und ich sagte, ›danke, ich fühle mich sehr geliebt‹.«

Danach fordert Yoko das Publikum auf, die Taschenlämpchen mit nach Hause zu nehmen und den Vorgang mit Verwandten und Bekannten und Fremden zu wiederholen. Es sei schön, auf diese Weise Augenblicke zu erzeugen, in denen man an Liebe denke, statt an all das andere. Im Publikum herrschen jeweils verschiedenste Reaktionen auf die Yoko-Morse-Performance: von Kopfschütteln über Belustigung und Heiterkeit bis zu Betroffenheit und nachdenklichem Ernst. Yoko berichtet auch davon, dass Männer oft zurückhaltend und schüchtern reagieren, Frauen hingegen die Botschaft sofort verstünden, offen und herzlich seien. »Männer sind offenbar gehemmt und verkrampft. Wir müssen ihre Herzen öffnen. Und wir müssen schnell sein, denn die andere Seite eilt voraus.«

Yoko meint mit der anderen Seite die (Umwelt-) Zerstörer, verweist auf die vielen Beispiele für die Beschränkungen der Freiheit und fordert die Intellektuellen und alle anderen auf, etwas zu tun. Gekoppelt mit John Lennons Song Give Peace a Chance, der Friedenshymne, die noch zu Beatles-Zeiten am 1. Juni 1969 – während eines Bed-ins von John und Yoko in Montreal – entstand, führte die Taschenlampen-Aktion in Tokio im Oktober 2004 in der Budōkan-Arena zu einem Höhepunkt, zu einem Liebeslichtermeer und zu einem kollektiven Glücksgefühl. Im selben Jahr produzierte Yoko einen Film mit dem Titel Onochord, in dem sie ihre Liebeslicht-Performance dokumentiert. (Er ist problemlos im Internet zu finden und dokumentiert die beschriebenen Events.)

Manchmal scheint es, als wolle Yoko die Liebe geradezu herbeireden. »Liebe« war auch ein zentraler Begriff für John Lennon, lange bevor er Yoko kennenlernte. Bei Yoko nimmt das Motiv »Liebe« insofern eine besondere Stellung ein, als sie sehr viel mehr Mühe hatte, sich an einen Menschen zu binden als John. Nicht nur ihre drei Ehen und viele Liebhaber vor John deuten auf Beziehungsängste Yokos hin. Wer sich von allen geliebten Menschen jederzeit einigermaßen schmerzfrei trennen kann, wie sie es im Verlauf ihres Lebens immer wieder gezeigt hat, verspürt vielleicht den Wunsch, einmal abhängig von jemandem zu sein, so wie »Jealous Guy« John abhängig war von ihr. Yokos Sehnsucht nach tiefem Trennungsschmerz, wenn es zum Abschied kommt, ist ein Motiv für ihr Love-Mantra.

Das Attentat am 8. Dezember 1980 auf John war nicht nur für Yoko, es war für die Welt ein Schock. Sichtbar bleibt, wie rasch Yoko ihre Trauer in Kunst verwandelte. Eindrücklichstes Beispiel dafür ist das Foto der zerbrochenen und blutverschmierten Brille ihres ermordeten Mannes, das Yoko als Cover-Motiv für ihr bereits im Juni 1981 veröffentlichtes Album Season of Glass verwendete. Die Witwe habe nicht einmal das Anstandsjahr abgewartet und sei mit einer geschmacklosen Vermarktungsaktion des toten John an die Öffentlichkeit getreten, empörten sich ihre Kritiker.

Yoko wehrte sich: »John hätte es gebilligt, und ich kann auch erklären, warum. Ich wollte die ganze Welt daran erinnern, was passiert ist. Die Leute fühlen sich von der Brille und dem Blut angegriffen? Die Brille ist ein winziger Bestandteil dessen, was passiert ist. Wenn den Leuten diese Brille auf den Magen schlägt, dann tut es mir leid. Es gab eine Leiche. Es gab Blut. Sein ganzer Körper war blutüberströmt. Der Boden war voller Blut. Das ist die Wirklichkeit. Ich möchte, dass die Menschen dem ins Gesicht sehen, was passiert ist. Er hat keinen Selbstmord begangen. Er ist ermordet worden. Die Leute fühlen sich von der Brille und dem Blut abgestoßen? John musste wesentlich Schlimmeres hinnehmen.«1

Das Album ist bis heute eines ihrer erfolgreichsten und wegen des Covers umstrittensten. Yoko-Kritiker, die sie schon Ende der 1960er-Jahre als egozentrische und erfolgsgierige Frau darstellten, fanden sich hier bestätigt: Mehr Kalkül als Gefühl, lautete das Urteil. Yoko hat nach Johns Tod nicht mehr geheiratet (Olivia, George Harrisons Witwe, übrigens auch nicht). Dass Yoko ihre drei Ehemänner und davor ihre Liebhaber nach Kriterien ausgesucht hat, die auch Prominenz oder Reichtum beinhalten, ist aufgrund ihres Werdegangs naheliegend. Heute scheint sie jedoch von dieser Haltung weit entfernt zu sein. Als ich sie bei der DLD-Konferenz – »Digital, Life, Design«, einem internationalen von Hubert Burda ausgerichteten Treffen v. a. für Internet-Experten – in München im Januar 2012 traf, schrieb sie mir in mein Grapefruit-Exemplar: »Seen you much in love«.

Volltreffer. Ich war zu jenem Zeitpunkt frisch verliebt. Und kurz zuvor hatte ich die abschließende Publikumsfrage gestellt. Das Motto am Rednerpult lautete: »All you need is … data?« Ich wollte von ihr wissen, was wichtiger sei, Daten oder Liebe: »What’s better: All you need is data or all you need is love?«

Und sie sagte: »In the end, all you need is love«, und fuhr fort: »Ich weiß das. Ihr werdet sagen, oh, das ist aus den Sechzigern. Aber es ist wahr. Das ist alles, was du wirklich brauchst. Leider haben wir jetzt nicht viel davon. Wir denken ständig an all diese wichtigen Dinge und sind in Sorge, nicht genug Energie zu haben. Wir müssen aber an unsere Energie denken.« Sie machte dabei mit ihrer linken Hand eine ausholende Bewegung hinab zum Bauch und wieder hinauf. »Wir müssen zunächst darauf achten, dass unsere eigene Energie fließt. Und das ist Liebe.« Sie lächelte und hob dabei den Zeigefinger. »And that’s love.« Dabei schaute sie mich die ganze Zeit an.

Und ich hoffe, dass sie fühlte, wovon sie sprach.

YOKOS KUNST FÜR KINDER ODER MEIN UNSICHTBARES ICH

Yoko Ono hat als Teenager einen Text geschrieben und mit 36 Bildern illustriert, der erst 60 Jahre später veröffentlicht wurde. Angeblich hat ihr 1975 geborener Sohn Sean Lennon – der zweite Sohn Johns – das Kleinod im Jahr 2010 im Archiv seiner Mutter gefunden. An Invisible Flower heißt das Kunstwerk der neunzehnjährigen Yoko. Darin übt sie sich auf rund 40 Seiten in Kalligrafie und luftig-minimalistischen Zeichnungen in Pastell und Kreide. Erzählt wird von einem bezaubernd schönen Wesen, das allen bekannt und trotzdem unsichtbar ist.

Großartig ist das Eröffnungsblatt: Es ist leer, nur am unteren rechten Rand steht: »No one saw it.« Niemand sah das Wesen. Da mag man an Hans Christian Andersens Des Kaisers neue Kleider oder an Karl Valentins Witz im Bild Kaminkehrer bei Nacht denken, ein rein schwarzes Bild. Jedenfalls zeigt sich schon hier Yokos radikale Fantasie.

Nur ein Mensch könne dieses Wesen sehen: »Smelty John«. Der Leser traut seinen Augen nicht. 15 Jahre bevor sie John zum ersten Mal begegnet, taucht er in ihrem Werk schon auf? Purer Zufall oder Vorahnung? Yoko gefällt natürlich diese Spekulation und sie nährt sie durch ein weiteres Erlebnis: Am 18. Februar 1952 datiert und unterschreibt der elfjährige »John W Lennon« eine Zeichnung, auf der zwei reitende und bewaffnete Indianer zu sehen sind, und widmet sie Tante Mimi.

Yoko kommentiert: »Es brachte mich aus der Fassung, als ich An Invisible Flower wieder las. Ich musste an die Zeichnung von John denken, die im selben Jahr entstand wie An Invisible Flower. Die beiden Menschen auf den Pferden sehen John und Yoko sehr, sehr ähnlich. Und das Datum, der 18. Februar, das war mein neunzehnter Geburtstag. Es scheint so, als hätten wir beide schon 1952 gewusst, dass wir uns fünfzehn Jahre später ineinander verlieben würden.«

Sean schreibt im Vorwort: »Ich konnte es einfach nicht glauben, dass meine Mutter das schrieb, bevor sie meinen Vater traf. Das ist wie eine Zeitreise.«

Und Yoko weiter im Nachwort: »Über zehn Jahre später, nachdem ich das geschrieben hatte, begegnete ich einem John, der richtig gut riechen konnte. Er kräuselte die Nase und nahm meinen Geruch wahr. Als ich das bemerkte, wusste ich augenblicklich, dass er der Einzige ist, der mein unsichtbares Ich sehen kann.«

Natürlich wissen Yoko und Sean, wie sehr solche Geschichten zur Legendenbildung beitragen und veröffentlichen sie entsprechend publikumswirksam. Und dann ist es doch überraschend, was es zu entdecken gibt, beispielsweise Yokos legendäres »yes«.

Bereits in ihrem wiederentdeckten Bilderbuch steht es alleine auf einer ganzen Seite, fünfzehn Jahre später wird es dasselbe »yes« derselben Künstlerin sein, das John entdeckt, nachdem er die Leiter in der Indica Gallery hochsteigt und es auf einer Leinwand an der Decke sieht.

Dank dieser Installation, dank dieser positiven Aussage der Fluxus-Künstlerin fühlt sich John zu Yoko hingezogen. Affirmatives Denken zieht sich durch Yokos ganzes Werk. Es scheint ihr Glück zu bringen. Aber trotz der bemerkenswerten künstlerischen Konstanz und der numerologischen Zufälle im Zusammenhang mit dem Buch An Invisible Flower steht diese Buchveröffentlichung von 2012 stellvertretend für den immerwährenden Versuch Yokos, ihre Beziehung zu John durch Koinzidenzen zu verstärken und symbolisch zu überhöhen. Mit weiteren überraschenden bibliografischen Funden, mit weiteren Zeichnungen und Bildgeschichten aus Yokos und Johns Archiv ist zu rechnen.

Yoko war auch vor An Invisible Flower nicht als Autorin von Kinder- oder Bilderbuchtexten bekannt. Von den Medien wurde kaum wahrgenommen, dass Yoko kurz nach dem Tod Johns zwei Bilderbücher veröffentlichte. In keiner Dokumentation über Yoko, in keiner Biografie wird das bisher erwähnt.

Es ist sicher kein Zufall, dass Yoko unmittelbar nach dem Attentat auf ihren Mann und in tiefster Trauer emotional und künstlerisch nicht nur die Öffentlichkeit mit Season of Glass provozierte, sondern auch zurück zu den Ursprüngen ging, zu eigenen Kindheitserinnerungen und aktuellen Erlebnissen mit ihrem Sohn Sean. 1981 erschien in Japan das Bilderbuch Boku wa Onii-chan und wenig später auf Deutsch unter dem Titel Jetzt bin ich ein großer Bruder, illustriert von der bekannten japanischen Kinderbuchautorin und Künstlerin Yoko Imoto. Erzählt wird die Geschichte vom kleinen Kater Nonta, der gleich fünf Geschwisterchen auf einmal bekommt. Bisher war er Einzelkind und hatte die Mama ganz für sich allein. (Ein Vater taucht im gesamten Bilderbuch nicht auf.) Doch jetzt fühlt er sich einsam und ist eifersüchtig. Als er mit den Kleinen einen Ausflug machen soll, bringt er sie absichtlich und wiederholt in Gefahr, in der Hoffnung sie loszuwerden und daraufhin wieder ganz alleine Mutters Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber im letzten Moment rettet er jeweils die Geschwisterchen vor dem sicheren Tod. Er kann sie einfach nicht alleine lassen. Am Ende bringt er alle wohlbehalten zurück nach Hause und errötet, als die Kleinen ihn vor der Mutter loben.

Geschickt zeigt Yoko Ono in diesem Bilderbuch, wie ihr Held Nonta seine bösen Gedanken auslebt und weitgehend in die Tat umsetzt, aber schließlich selbst und ohne dass irgendwo ein Erwachsener den Zeigefinger hebt, im letzten Moment feststellt, dass seine Liebe zu den Kleinen größer ist als sein Neid. So wächst allmählich das Verantwortungsgefühl in Nonta. Unschwer sind hier Yokos eigene Kindheitserlebnisse erkennbar, als sie sich während des Zweiten Weltkriegs in Japan unter schwierigsten Umständen als Erstgeborene um ihre kleinen Geschwister kümmern musste.

Noch interessanter ist das zweite Bilderbuch Yokos. 1983 erschien es als japanische Originalausgabe unter dem Titel Kitsune-iro no Jitensha. Der Band wurde wiederum von Yoko Imoto illustriert: Der kleine Fuchs und das Fahrrad ist ein gutes Beispiel für Yokos Kunst und Engagement für Kinder und Jugendliche. Bedenkt man den langen herstellerischen Vorlauf, den ein Bilderbuch hat, wird deutlich, dass Yoko Ono auch diesen Text verhältnismäßig kurz nach dem Attentat an John schrieb. Es galt ja eine große Lücke zu füllen oder zumindest den Versuch zu unternehmen, Johns überbordende, durch den fünfjährigen Sean angeregte Fantasie zu kompensieren.

Diese gestalterische Kraft Johns wird u. a. im Buch Real Love – Bilder für Sean deutlich, in dem Johns skurrile und bizarre Gedankenwelt mit der Fantasie seines Sohnes verschmilzt und fabelhafte Bild-Text-Kombinationen mit herrlichem Nonsens und überraschenden Klang- und Wortspielen erzeugt.

»Stolz zeigte mir John ein paar krakelige Striche, die Sean auf ein Stück Papier gekritzelt hatte. Das waren Seans erste Zeichnungen. John rahmte jedes einzelne dieser Bilder, und plötzlich schmückten viele, viele gerahmte Kunstwerke von Sean unsere Wohnung im Dakota Building. Wenig später sah ich dann Sean und John gemeinsam zeichnen. John malte etwas und erklärte Sean, was es war (…) So lernte Sean die Freude am Zeichnen, die Freude, dies zusammen mit seinem Dad zu tun, die Freude am Leben. Ich hoffe, dass dieses Buch auch für euch diese Freude spürbar macht. Es entstand im Geiste des Lachens und von viel, viel Liebe«, schrieb Yoko 1999 im Vorwort zu Real Love.

Yoko war nach Johns Tod plötzlich als alleinerziehende Mutter mit pädagogischen Problemen konfrontiert, die bis dahin vor allem von John gelöst worden waren. Ganz bewusst hatte John die Hauptrolle im Haushalt und bei der Erziehung übernommen und Yoko, die besser mit Zahlen umgehen konnte, die Geschäfte überlassen. In ihrem Bilderbuch Der kleine Fuchs und das Fahrrad thematisiert nun Yoko soziale Fragen in der Überflussgesellschaft. Erzählt wird die Geschichte des Fuchsjungen Kun. Unschwer ist dahinter ihr Sohn Sean zu erkennen. Ein Mädchen fährt mit einem neuen Rad durch Kuns Park. Kun darf das Fahrrad ausprobieren und ist begeistert. Zurück in seiner Höhle, bittet Kun seine Mutter, ihm ein Fahrrad zu schenken. Diese verneint und fordert Kun auf, vernünftig zu sein, ein Fahrrad sei zu teuer. Sie könnten sich das nicht leisten. Oder wünsche Kun, dass seine Mutter noch mehr arbeiten muss? Und noch weniger für ihn da ist? »Kun weint sich in den Schlaf.«

Es sind für Eltern schwer auszuhaltende Situationen, wenn sie sehen, dass nicht alle Träume ihrer Kinder Wirklichkeit werden können und wie stark die Kinder manchmal darunter leiden. Am nächsten Morgen steht jedoch ein Fahrrad vor der Fuchshöhle. Kuns Mutter hat das irgendwie möglich gemacht. Der kleine Fuchs ist so begeistert, dass ihm gar nicht auffällt, dass seine Mutter nicht da ist. Kun schwingt sich auf das Rad und merkt, dass es auch noch ein ganz besonders tolles, ja fast magisches Fahrrad ist, das von alleine Steinen ausweicht und bergab nie zu schnell wird. Erst als Kun freudig und hungrig wieder in den Fuchsbau zurückkehrt, stellt er fest, dass seine Mutter nicht da ist und vermutet, dass sie nun noch mehr arbeiten muss, um das Fahrrad zu bezahlen. Als Kun am Ende der Geschichte wieder glücklich bei seiner Mutter ist, sagt er: »Mama, ich brauch doch gar kein Fahrrad.« Bemerkenswert: Kun hat keinen Vater. Der gesamte Konflikt wird von Mutter und Sohn ausgetragen.

Selbstverständlich ist die Geschichte des Fuchsjungen Kun nicht bis ins Detail biografisch. Als eine der reichsten Künstlerwitwen weltweit, hätte Yoko ihrem Sohn jederzeit Dutzende verschiedenster Fahrräder kaufen können. Doch Yoko musste Grenzen ziehen, durfte nicht jeden materiellen Wunsch ihres Sohnes erfüllen und musste zusehen, wie sich dieser in den Schlaf weint, wohl wissend, dass sie es auf der Stelle hätte verhindern können.

Obwohl sich Yoko heute von dem Buch distanziert und sagt, sie sei nicht die Urheberin, wurde es in viele Sprachen übersetzt und war auch in Deutschland in den 1980er-Jahren erfolgreich. Es vergleicht den Wert menschlicher Beziehungen mit der Bedeutung von Gegenständen, es vergleicht die Wirkung erzwungener Verhaltensregeln mit eigenständig gewonnenen Einsichten und es enthält viele Motive, die auch in Yokos Kunst für Erwachsene eine wichtige Rolle spielen, allen voran das Wünschen.

Es wird die Basis einer weiteren wichtigen Kunstaktion Yoko Onos. So durchdringen Kindheitsmotive auffallend stark Yokos Gesamtwerk. Kindliche Neugier, kindliche Unbefangenheit, kindliche Ängste, kindliche Spielfreude oder auch kindliche Naivität prägen ihre künstlerischen Ausdrucksformen.

YOKOS HERKUNFT

Die Bilderbücher können auch in Beziehung zu Yokos eigener Kindheit gesetzt werden. Yoko Onos Vorfahren lassen sich bis ins neunte Jahrhundert zurückverfolgen. Einer ihrer Urgroßväter, Atsushi Saisho, entstammte der Dynastie des religiösen Führers Saisho, der 807 die neue und umstrittene buddhistische Sekte Tendai Lotus mit kaiserlichen Mitteln gründete. Er ließ ein Kloster erbauen und wurde später mit dem Titel »Daishi« – großer Lehrer – geehrt und wurde so zum ersten bedeutenden Priester Japans. Yoko Ono ist im Bewusstsein aufgewachsen, dass ihre Vorfahren mächtig und wohlhabend waren. Das setzte sich bis zu ihren Eltern fort:

Ihre Mutter Isoko wurde 1911 geboren und gehörte zur angesehenen und vermögenden Familie Yasuda. Ihr Großvater – Yokos Urgroßvater Zenjiro Yasuda – hatte die gleichnamige Kaufmanns- und Bankendynastie gegründet und war durch geschicktes Wirtschaften sehr reich geworden, sodass auch noch Isokos Vater Anteile an Fabriken besaß und mit Versicherungen und Grundbesitz handelte. Wie viel Liebe bei der Heirat ihrer Eltern eine Rolle spielte und wie viel von Yokos Großeltern bestimmt wurde, lässt sich schwer sagen. Fest steht, dass der Bund fürs Leben keine Liebesheirat nach heutigen westlichen Vorstellungen war. Formelle Faktoren spielten eine große Rolle. Isoko brachte ein kleines Vermögen in die Ehe mit Eisuke Ono, der ein entfernter Verwandter der kaiserlichen Familie war und eigentlich Pianist werden wollte, aber von seinen Eltern und später auch von den Schwiegereltern dazu gedrängt wurde, nach seinem Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften im Bankwesen zu arbeiten. Von der Verlobung bis zur Heirat vergingen mehrere Jahre. Seit 1927 arbeitete Eisuke sehr erfolgreich für verschiedene Geldhäuser, u. a. die Yokohama Specie Bank und später für die Bank of Tokyo. 1931 heirateten Isoko und Eisuke und gründeten einen großbürgerlichen Hausstand innerhalb des palastähnlichen Anwesens von Isokos Eltern mit etlichen Bediensteten. Kurz vor der Geburt Yokos am 18. Februar 1933 musste Eisuke geschäftlich für längere Zeit in die USA nach San Francisco, weshalb Yoko ihren Vater, bis sie fast drei Jahre alt war, nur von Fotos kannte.

Yoko hatte also schon in ihren ersten Lebensjahren gespürt, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen. Yokos gutaussehende Mutter kümmerte sich nicht besonders intensiv um ihre Tochter. Viele erzieherische Aufgaben wurden vom Personal übernommen, während Isoko Künstlersalons organisierte und sich selbst v. a. in Hausmusik verwirklichte.

Yoko erinnert sich: »Meistens war ich zu müde, um mich mit anderen Kindern zu treffen. Wenn ich Lust auf einen Spielkameraden hatte, fragte ich die Hausangestellten: ›Bittest du jemanden, mit mir zu spielen?‹ Und prompt kam die Antwort: ›Ja, es gibt immer jemanden. In zehn Minuten ist er hier.‹«2

Es muss eine kalte und sterile Atmosphäre im Hause Ono geherrscht haben. Hier trafen sich Tokios Geldadel und geistige Eliten. Kinder hatten proper, anständig und leise zu sein. Gefühlsregungen wurden unterdrückt. Das führte bei Yoko zu Verlust- und Existenzängsten.

»Ich hatte Angst davor, einfach wegzufliegen, zu verschwinden«. Die Kindheitsfotos zeigen Yoko stets adrett gekleidet vor hochherrschaftlichem Hintergrund. Noch gab es keine Anhaltspunkte, dass aus diesem Kind dereinst eine der berühmtesten Frauen des internationalen Kulturbetriebs werden würde.

1935 folgten Mutter und Tochter Eisuke nach San Francisco. Im Dezember 1936 kam Yokos kleiner Bruder Keisuke zur Welt, 1937 kehrte die Familie nach Tokio zurück, 1940 zogen alle für ein Jahr nach New York, woraufhin Eisuke die Leitung einer Bank in Hanoi übernahm und seine Frau und die beiden Kinder nach Tokio zurückkehrten. Im Oktober 1941 wurde Yokos Schwester Setsuko geboren. Fortan war Yoko das älteste von drei Geschwistern, das einerseits Mühe hatte, sich bei den strengen Eltern Privilegien zu erkämpfen, andererseits lernte sie rasch, für Bruder und Schwester Verantwortung zu übernehmen. Ihre sich erst später entfaltende Durchsetzungsfähigkeit und ihr Talent, eigene Ansichten, Meinungen und Vorstellungen zu vermitteln, zeigten sich schon im Umgang mit ihren Geschwistern. Alles folgte jedoch noch den strengen Regeln des Hauses, dem festen, familiären Rahmen. Yoko musste sich meistens dem elterlichen Willen fügen. Ihre spätere sehr heftige Rebellion gegen ihr Zuhause war auch eine Folge des engen Korsetts ihrer Kindheit.

Yoko bedeutet »Kind des Ozeans«, und dieser Klang, diese Herkunft und die poetische Bedeutung sollten 33 Jahre nach Yokos Geburt dem Beatles-Gründer John Lennon gut gefallen. Ihn würde das trotzige, das aufmüpfige, das freiheitsliebende Wesen der kleinen Japanerin faszinieren.

ES GIBT NICHT VIELE KOMPONISTINNEN AUF DER WELT

Frauen empfinden Yoko Ono anders als Männer. Pattie Boyd, Gattin und Muse von George Harrison (sie inspirierte ihn zu Something) und von Eric Clapton (ihn inspirierte sie u. a. zu Layla) beschreibt Yoko so: »Sie war alles, was Cynthia (Johns erste Ehefrau, Anm. des Autors) – und vermutlich jede andere Frau, die John jemals getroffen hat – nicht war. Sie war anarchisch, originell und hatte vor nichts Angst. Und sie verfiel nicht in die stereotype Rolle der sich unterwerfenden Frau, die John gewohnt war.«3

Und auch Cynthias im Grunde positives Fazit überrascht: »Ich machte weder John noch Yoko dafür verantwortlich. Ich verstand ihre Liebe. Es war mir klar, dass es für mich keine Möglichkeit gab, gegen diese Einheit von Geist und Körper, die beide miteinander darstellten, zu kämpfen. Ihre allumfassende Liebe ließ keine Zeit für Schmerz oder Unglück. Yoko hat mir John nicht weggenommen, denn er hat mir niemals wirklich gehört.«4 Und auch Johns Halbschwester Julia Baird lobt Yoko, wenn sie schreibt: »John starb zu Beginn einer neuen Schaffensperiode, und sein Genie war in voller Blüte zum Schweigen gebracht worden. Die letzten Songs, die er komponiert hatte, sind fantastisch – Woman, Watching the Wheels, Starting Over. Manche Leute sind der Meinung, dass es die besten Songs sind, die er je geschrieben hat. Die Geburt von Sean weckte in John neues Selbstvertrauen und sensibilisierte ihn für alles Menschliche. Die fünf Jahre, die er mit Sean als Full-Time-Daddy und mit Yoko verbracht hatte, gaben ihm Zeit zum Atemholen, die er gebraucht hatte, um sein Talent zu erneuern.«5

Die Frau als vorausblickende und fürsorgliche Begleiterin, die Frau als leise Lenkerin, die tiefe und verborgene Bedürfnisse im Mann erkennt; die Frau als Muse – und Yoko im Mittelpunkt der drei von Julia Baird genannten Songs auf dem letzten zu Lebzeiten Johns veröffentlichten Album. Denn auch Watching the Wheels wäre ohne die von Yoko geschaffenen Freiräume unmöglich gewesen. Die kongeniale Frau idealerweise an der Seite kreativer Köpfe. Yoko kennt wie kaum eine andere Künstlerin der Gegenwart den ein Leben lang währenden Kampf um Kreativität. Sie führt ihn an allen Fronten – formal und inhaltlich. Sie führt ihn geschäftstüchtig und mit Liebe zugleich und vor allem mit Sehnsucht nach Frieden – und das von Kindheit an.

Yoko erhielt schon vor der Grundschule Musikunterricht. Ihre Eltern – der Vater spielte leidenschaftlich gerne Klavier, die Mutter beherrschte mehrere Instrumente – meldeten sie in Tokio an der renommierten Jiyu Gakuen Girls’ School an. Das 1921 von Frank Lloyd Wright entworfene Gebäude steht heute unter Denkmalschutz. Damals fand dort Privatunterricht u. a. auch für die Kinder der Kaiserdynastie in verschiedenen Fächern statt: »Wir lernten, wie man Töne richtig trifft, was Akkorde sind, wie man Klavier spielt und einfache Lieder komponiert. Einige berühmte japanische Komponisten waren auch auf der Schule.« Zuhause standen gutes Benehmen und Hausmusik auf der Tagesordnung. Yoko erfüllte bis zur Pubertät fast ausnahmslos die elterlichen Wünsche nach Disziplin. Zugleich erwachte ihr Interesse für akustische Alternativen: »Wir bekamen eine Hausaufgabe, bei der wir den verschiedenen Klängen des Tages zuhören und jeden Klang in Musiknoten umformen sollten. Dadurch entwickelte ich die Gewohnheit, die Geräusche um mich herum in Musiknoten umzuwandeln.«

Im Vorwort des Buches von Gillian G. Gaar Rebellinnen – Die Geschichte der Frauen in der Rockmusik erinnert sich Yoko an das Jahr 1946 in Tokio, wie sie vor ihrem Vater stand, der – wie so oft – mit Pfeife und Wildlederjacke in einem tiefen und bequemen Ledersessel saß. Sie hatte ihrem Vater gerade ihren wirklichen Berufswunsch mitgeteilt. Sie wollte Komponistin werden.

»Normalerweise hätte ich nicht im Traum daran gedacht, so etwas laut zu sagen, es sei denn, es wäre mir einfach herausgerutscht. Und genau das war passiert. Eigentlich hatte mich mein Vater in sein Arbeitszimmer gerufen, um mir zu sagen, dass ich besser doch keine Pianistin werden solle. ›Du bist nicht gut genug. Hör einfach auf zu üben. Es ist reine Zeitverschwendung‹«. Er habe es in einem liebenswürdigen Ton gesagt. Allerdings sei es nie ihr Wunsch gewesen, Pianistin zu werden, das war von Anfang an seine Idee gewesen. Yokos Vater Eisuke Ono hatte auf Wunsch seiner Eltern 1927 seine erste Festanstellung in einer Bank bekommen. Seine Leidenschaft als junger Mann gehörte aber dem Klavierspiel. Er träumte davon, Pianist zu werden und hatte auch gegen den Willen seiner Eltern Unterricht genommen. Yoko sollte nun statt seiner Klaviervirtuosin werden. Die dreizehnjährige Yoko wusste, dass der Vater die Tragfähigkeit ihres Wunsches bezweifelte.

»Es gibt nicht viele Komponistinnen auf der Welt, Yoko. Zumindest ist mir keine einzige bekannt. Vielleicht gibt es einen Grund dafür. Vielleicht hat es mit der Begabung von Frauen zu tun. Ich weiß, dass du ein begabtes und intelligentes Kind bist. Aber ich möchte nicht zusehen, wie du dich vergeblich abmühst.« Und er fügte hinzu: »Vielleicht sind Frauen keine guten Komponistinnen, aber gute Interpreten.«

Yoko war dankbar, dass ihr Vater sich überhaupt mit ihrem Berufswunsch beschäftigte. Das war für damalige Zeiten ungewöhnlich. Töchter in vergleichbarer Situation gingen normalerweise in ein Mädchenpensionat und sollten danach bald und gut heiraten. Ihr Vater hingegen ließ sie Gesangsstunden nehmen. Er wusste, dass Yoko Poesie und Musik liebte. Deshalb sang Yoko nun unter anderem auch deutsche Lieder. Aber sie gab die Gesangsstunden wieder auf, studierte mit dem Einverständnis ihrer Eltern Philosophie an der Gakushūin-Universität in Tokio und schrieb heimlich Songs und ihre ersten Instructions, Anweisungen, die später im Buch Grapefruit veröffentlicht wurden.

Zum Beispiel Collecting Piece: »Sammle Geräusche im Kopf, auf die du im Verlauf der Woche nicht geachtet hast. Wiederhole sie an einem Nachmittag in anderer Reihenfolge.«

Yoko solidarisiert sich im Vorwort zu Rebellinnen mit den anglo-amerikanischen Rockmusikerinnen von den 1950er-Jahren bis heute. »Wir alle haben Schmerzliches erlebt, wir alle haben Kämpfe erlebt, und alle zusammen haben wir einen weiten Weg zurückgelegt und wirklich viel erreicht.«

Yokos weiter, selbstbestimmter und bewusst gewählter Weg wird als solcher spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich sichtbar. Der langsam zurückkehrenden Normalität in der zerbombten Metropole Tokio sind zwei Episoden vorangegangen, die wichtig sind, wenn es darum geht, Yokos seelische Verletzungen einerseits und Yokos rebellische Natur andererseits zu verstehen.

Beim letzten großen US-amerikanischen Luftangriff auf Tokio vom 9. März 1945 überstieg die Zahl der Opfer die der Atombombenabwürfe auf Nagasaki und Hiroshima. Yoko überlebte den Angriff in einem besonders sicheren Bunker im vornehmen Stadtteil Azabu, der heute noch zu den Luxusvierteln Tokios zählt. Über 100.000 Bewohner Tokios verloren an jenem Tag ihr Leben. Daraufhin beschloss Yokos Mutter, mit ihren drei Kindern ins sicherere Hinterland zu flüchten.

Die Familie Ono ist immer noch wohlhabend. Durch die Begegnungen mit der vergleichsweise armen Landbevölkerung südlich von Karuizawa erlebt Yoko erstmals eindringlich die Folgen großer sozialer Unterschiede und macht zwei prägende Erfahrungen. Die Bauernkinder dort verdeutlichen dem vornehmen Mädchen, was sie von den reichen Stadtflüchtlingen halten. Yoko erlebt Mobbing unter Heranwachsenden. Sie findet keine Freunde auf dem Land. Um die Kälte und die Feindseligkeit der anderen Kinder zu verstehen, zwingt sie sich, den Alltag aus deren Sicht zu betrachten. Und im Verlauf der Monate führt der Kriegszustand ohnhin zu einer Annäherung. Denn trotz des Wohlstands der Familie Ono, die immer noch Immobilien in Tokio besitzt, kann von einem regulären Zahlungsverkehr keine Rede mehr sein. Yokos Mutter tauscht beispielsweise eine wertvolle, antike Nähmaschine gegen einen Sack Reis ein. Weitere Erbstücke und viele Edelsteine wechseln die Besitzer, ohne dass nur annähernd ihr Gegenwert erzielt wird. Auch die Miete für das Haus am Rande eines Kornfelds ist exorbitant hoch. Hin und wieder fehlt das Nötigste, weshalb das älteste der drei Geschwister gefordert ist: Yoko ist mehrfach gezwungen, in der Nachbarschaft zu betteln. Und dabei erlebt sie immer wieder Hänseleien und Erniedrigungen. Aber sie gibt nicht auf, lässt nicht locker, bis sie das Wichtigste für sich, ihre Mutter und ihre Geschwister beisammen hat. Trotzig hält sie dem diskriminierenden Verhalten stand. Diese Erfahrung wird ihr später helfen, die ersten Jahre an der Seite John Lennons mit allen Anfeindungen der Medien und des Publikums besser zu überstehen. Schließlich wirft man ihr nichts weniger vor, als für das Ende der Beatles verantwortlich zu sein. Stiller Widerstand und Bereitschaft zum Kampf paaren sich im letzten Kriegsjahr mit einer vagen Sehnsucht dazuzugehören, auch arm zu sein, um dem Neid, den Aggressionen und dem ausbeuterischen Verhalten zu entgehen. Yoko findet schließlich auch einige Freunde, passt sich an, spielt in Bauernkleidern. Sie wechselt versuchsweise die Seiten, entdeckt verborgene Vorzüge und Freiheiten, die sie unter normalen Umständen innerhalb der strengen japanischen Rituale in gehobenen Familien nicht ausleben kann. Sie wird nicht zuletzt aufgrund dieser Erlebnisse, die nicht nur Last und Qual bedeuten, während ihrer Erwachsenenjahre in New York als unbekannte Künstlerin das Leben einer sehr kreativen, aber nahezu mittellosen jungen Frau und Mutter klaglos führen. Sie könnte jederzeit familiäre Unterstützung anfordern und könnte sich so als wohlhabende Fluxus-Künstlerin der ersten Stunde voll in New York entfalten. Doch die Unabhängigkeit von ihren Eltern, die Freiheit, sich ohne Rücksicht auf Konventionen auszudrücken und der Wille, als freie Künstlerin ohne Hilfe aus der Verwandtschaft zu reüssieren, sind ihr wichtiger. Letztlich wird dieser hohe Anspruch, den sie an sich selbst stellt, einerseits zu enorm einfallsreicher Sponsorensuche, andererseits zu tiefen Krisen und 1966 schließlich zu Paul McCartney führen – mit der Bitte, ob er der Fluxus-Bewegung ein Notenblatt widmen könne. Dieser verneint, schickt sie aber zu John Lennon.

Yoko Ono hat in diesem prägenden Kriegsjahr auf dem Land gelernt, Verantwortung für ihre Geschwister zu übernehmen. Sie hat gelernt, den Alltag selbst zu gestalten und teilweise sogar für ein Auskommen zu sorgen. Gleichzeitig hat sie bittere Armut, Ungerechtigkeit und Konflikte erlebt. Seither und bis heute versucht sie, mit ihren Mitteln Frieden und Freiheit in der Welt zu fördern und Leid zu mindern.

Die zweite einschneidende Episode, die 1945 auf dem Land in der Präfäktur Nagano stattfand, schildert Yoko Ono später als Kindesmissbrauch. Im Rahmen der Ausstellung Have You Seen the Horizon Lately im Museum Villa Stuck in München 1998 schreibt sie: »Ich war unternährt und wurde krank. Ein Arzt besuchte uns regelmäßig zu Hause. Eines Tages sagte er mir während einer Untersuchung, ich solle die Augen schließen. Ich fühlte mich unwohl dabei und plötzlich pressten sich warme, feuchte Lippen auf meinen Mund. Ich erstarrte.« Die Kuratorin Jo-Anne Birnie Danzker schreibt dazu im Ausstellungskatalog:

»Yoko Ono steht dazu, dass ihr Werk seit jeher innerhalb der feministischen Kunstpraxis angesiedelt ist, einer Kunstpraxis allerdings, die auf die Vorrangigkeit des Dialogs zwischen Männern und Frauen und nicht auf der Ausgrenzung der Männer besteht: ›Dieser Dialog zwischen den Geschlechtern ist vielleicht der schwierigste, aber auch der wichtigste in unserer Gesellschaft‹,« zitiert Danzker Ono. Die nur allzu häufige Pervertierung dieses Dialogs durch körperliche Misshandlung und sexuellen Missbrauch sei das Thema der Arbeit Horizontal Memory, 1997, bei der anonyme Fotografien von misshandelten Frauen auf dem Boden des Ausstellungsraums ausgebreitet wurden, sodass man, wenn man sich vorwärtsbewegte, kaum umhin kam, auf sie zu treten. Begleittexte zu Nahaufnahmen männlicher Gesichter erzählten von Erinnerungen, u. a. an den Kuss während der medizinischen Untersuchung oder an einen betrunkenen ›netten‹ Fremden, der der kleinen Yoko helfen will und sie wegführt. Was dann geschah, erzählt Yoko nicht, aber ihre radikale künstlerische Auseinandersetzung, u. a. auch in der Performance Cut Piece, die sie Anfang der 1960er-Jahre entwickelt, lässt vermuten, dass Yoko schlimmeren Missbrauch erdulden musste, als oben beschrieben. In Cut Piece fordert sie das Publikum auf zu handeln, übergibt den Freiwilligen eine Schere, die ihr die Kleider vom Leib schneiden.

Bis in die Gegenwart beschäftigt sich Yoko auf verschiedenste Weise mit dem Thema Missbrauch und Gewalt. Yokos Ausstellung Das Gift in der Galerie Haunch of Venison in Berlin im Herbst 2010 forderte mit der Installation A Hole die Besucher auf, ein Einschussloch in einer Glasfront von zwei Seiten, der des Täters und der des Opfers, zu betrachten. In der Ausstellung This Room Moves at the Same Speed as the Clouds im Frühjahr 2022 im Kunsthaus Zürich legt Yoko den Schwerpunkt auf ihre frühen Performances, die sich mit Gewalt auseinandersetzen.

Yokos bereits in den frühen 1960er-Jahren in New York entwickelte partizipative Kunst zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Schaffen. Sie findet in zahlreichen Mitmach-Aktionen und auch im Rahmen von This Room Moves at the Same Speed as the Clouds und Das Gift – dort mit der Installation eines Stadtplans von Berlin – großen Zuspruch. Die Besucher sollten beispielsweise Zeugnisse persönlicher Gewalterfahrungen dokumentieren. Sie beschrieben Post-its und klebten diese an die entsprechenden Stellen auf dem Stadplan. Mit einfachen Mitteln fanden so traumatische Ereignisse den Weg an die Öffentlichkeit. Im Gästebuch in Berlin war zu lesen, dass die Ausstellung hilfreicher sei als viele Therapiesitzungen.

Ein weiteres Problem belastet Yoko bei Kriegsende. Nach der Kapitulation Japans im August 1945 fehlen Nachrichten vom Vater. Ohne Wissen seiner Familie wird er von den alliierten Besatzungsmächten nach Saigon in ein Konzentrationslager gebracht. Yoko kann nicht wissen, ob er noch am Leben ist. Zum Glück muss sie regelmäßig in den Unterricht und hat dort Möglichkeiten, sich abzulenken. Während ihre jüngere Schwester Keisuke große Ängste entwickelt und nicht mehr in die Schule geht, blüht Yoko angesichts der vielen Widrigkeiten nun regelrecht auf. Wenn ein Bauernjunge sie im Klassenzimmer provoziert, starrt sie ihn angriffslustig an, und im Pausenhof schreit sie manchmal so laut sie kann, um sich zu behaupten. Stolz trägt sie ihre lange schwarze Haarpracht offen wie die Mädchen vom Dorf.

Nachdem Yoko mit ihrer Mutter Isoko, den jüngeren Geschwistern Keisuke und Setsuko sowie der einen verbliebenen Haushälterin von ihrem einjährigen Aufenthalt auf dem Land in das besetzte und schwer zerstörte Tokio zurückgekehrt ist, beginnt erneut eine Zeit der Ordnung, Disziplin und unterdrückter Neugier. Yokos Vater kehrt aus der Gefangenschaft zurück, ist vorläufig jedoch arbeitslos, weil er auf den von General MacArthur erstellten Kriegsverbrecherlisten geführt wird. Doch 1947 wird er als ungefährlich eingestuft und nimmt eine leitende Position bei der Bank of Tokyo ein.

Später sagt Yoko in einem Interview mit dem Magazin Esquire: »Ich habe während des Krieges eine wichtige Lektion gelernt. Nichts bleibt bestehen. Man soll nichts besitzen wollen, das einem wichtig ist, weil man es vielleicht verliert, egal ob Gegenstände oder Menschen.«

Yoko besitzt heute sehr viele kostspielige Gegenstände aller Art und lebt spätestens seit ihrer Zeit mit John im Luxus, aber diese Weisheit scheint sie trotz ihres Status als Multimillionärin verinnerlicht zu haben. Ohne diese Einstellung wäre es ihr wohl nicht möglich gewesen, ihren Ehemann John Lennon 1973 während seines von ihm sogenannten »Lost Weekend« in Los Angeles für fast zwei Jahre von ihrer Sekretärin May Pang begleiten zu lassen.

Die GIs bringen 1947 neue Sitten in die Hauptstadt Tokio: Von Coca-Cola über Jazz bis Kaugummi erkennt Yoko ihre frühen Kindheitseindrücke aus den USA im besetzten Land wieder. Ihre Mutter warnt sie vor diesem Wunderland-Import und versucht sie davon abzuhalten, zu viel von dieser seltsamen Kultur aufzusaugen. Aber Yoko leistet stillen Widerstand, bleibt unauffällig ungehorsam, sucht nicht die Konfrontation mit der Mutter, sondern heimliche Wege, den amerikanischen Way of Life zu beobachten. Exkursionen und Stadtspaziergänge werden genutzt, um die Faszination des Fremden wirken zu lassen. Kindlich-spielerisch vergleicht sie die japanische Tradition mit der westlichen Zivilisation. Vom Neuen geht ein Reiz aus, der letztlich dazu geführt hat, dass Yoko Ono den größten Teil ihres Lebens in New York und nicht in ihrer Heimat verbracht hat. Die Kontakte zu Tokio sind aber nie abgerissen – im Gegenteil: Sie besucht nicht nur regelmäßig ihre Verwandtschaft in Japan, sondern ist dort nach wie vor mit Ausstellungen oder Charity-Aktionen (zuletzt nach der Katastrophe von Fukushima) sehr präsent.

1947 besucht Yoko wieder die Gakushūin-Schule, wo sie mit Kronprinz Akihito dieselbe Klasse besucht. Der spätere Tenno Akihito (von 1990 bis 2019 ist er Kaiser von Japan) ist wie Yoko 1933 geboren. Sie lernt in der Schule auch Akihitos jüngeren Bruder Yoshi kennen. Mit Yoshi tauscht sie Gedichte aus, interessiert sich für alle Arten von Kunst und Kultur und fragt sich, ob es möglich ist, ihre Liebe zum Dichten, ihr Talent fürs Komponieren und ihr Interesse für Malerei miteinander zu verbinden. Insgeheim betreibt sie alle drei kreativen Tätigkeiten intensiv, ohne den Anspruch zu erheben, ihre Eltern – und schon gar nicht ihre Lehrer – könnten daraus schlau werden. Yoko nimmt regelmäßig an den Proben des Schülertheaters teil und setzt sich oftmals durch, wenn es darum geht, welche Rolle sie spielen darf. Als sie ihre Texte Lehrern zeigt, bekommt sie nur ablehnende Kritiken: »Sie sagten, meine Erzählungen klängen wie Gedichte und meine Aufsätze wie Prosa. In Japan gab es damals keine Avantgarde. Meine Lehrer fanden meine Arbeiten schlecht, weil sie sie von den dort bestehenden Standards aus beurteilten«, erinnert sich Yoko in ihrem 1974 erschienenen autobiografischen Buch Just Me!

Immer noch äußerlich an die Gepflogenheiten des Hauses angepasst, gibt Yoko Freundinnen ihrer Mutter Englischunterricht. Doch innerlich reift der neue Wunsch heran, den Ur-Fragen menschlicher Existenz nachzugehen. Yokos Vater befindet sich 1952 geschäftlich in New York – ein weiterer Karriereschritt bahnt sich an –, als ihn ein Telegramm erreicht: Yoko bittet ihn um Erlaubnis, an der Gakushūin-Universität Philosophie zu studieren. Er stimmt zu, und sie immatrikuliert sich als erste Frau in der Geschichte der renommierten Tokioter Universität für dieses Fach.

»Meine Eltern unterstützten mich in dieser Phase sehr. Vater mit seiner sofortigen Erlaubnis und Mutter, indem sie mir Selbstvertrauen gab und mir immer wieder sagte, auch eine Frau könne Botschafterin oder Ministerin werden, wenn sie so klug sei wie ich. Zudem sagte sie, ich solle keine Dummheiten machen und nicht heiraten und auch keine Kinder bekommen.« Die Empfehlung einer Mutter an ihre Tochter, sie sollte ledig und kinderlos bleiben, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Isoko sich in ihrer Funktion als Ehefrau und Mutter nicht wohl fühlte und die Erziehung ihrer Kinder zu großen Teilen dem Dienstpersonal überließ.

Yoko wohnt nach wie vor zu Hause in dieser seltsamen emotionalen Kälte, lebt sich aber schnell auf dem Uni-Campus ein. Nach nur zwei Semestern muss sie jedoch das Studium aufgeben, weil ihr Vater das Angebot, die amerikanische Niederlassung der Bank of Tokyo in New York zu leiten, nicht ausschlagen will und mit seiner ganzen Familie wieder in die USA in ein großes und vornehmes Haus in Scarsdale zieht. Prinz Yoshi ist traurig über den plötzlichen Abschied und schickt Yoko eine Postkarte mit einem von ihm geschriebenen Waka, einer japanischen Gedichtform, in der weder gereimt noch in Zeilen unterteilt wird:

»Fragen wir die hohe Welle in der Ferne, ob es dem Menschen gut geht, von dem ich träume.«

Yoshi mag Yoko mehr als umgekehrt: »Die Trennung von Yoshi machte mir nichts aus. Und ich bin stolz darauf, dass sie mir nichts ausmachte«, erinnert sich Yoko. Sie weiß, wer in einer Beziehung weniger liebt, ist auch weniger verletzlich, ist weniger eifersüchtig, ist letztlich stärker, kann leichter Abschied nehmen.

ALLES FLIESST – FLUXUS

Das Motto von Isoko und Eisuke könnte lauten: für unsere Tochter aus gutem Hause nur das Beste auch in den USA. Yoko verbringt den Sommer 1952 in Cambridge an der Harvard University und belegt dort Kurse im Bereich Musik, insbesondere Gesang. Ein Zeitzeuge ist der heute pensionierte New Yorker Psychotherapeut Richard Rabkin, der sich im Gespräch mit Jerry Hopkins an seine damaligen Begegnungen mit Yoko erinnert.

Auf Rabkin wirkte die 20-jährige Yoko wenig japanisch. Yoko suchte den Rat des jungen Therapeuten, weil sie Probleme mit einem Englischaufsatz hatte. Yokos Dozent hatte Schwierigkeiten mit ihrem fremdartigen Schreibstil. Rabkin riet ihr, etwas Ehrliches und Persönliches auf einfache Weise zu schreiben. Vielleicht eine Erinnerung an ihre Kindheit. Der Psychologe war dann vollkommen überwältigt von dem, was Yoko ihm erzählte: »Ich war in keiner Weise auf die tiefe Traurigkeit vorbereitet, die sie mir offenbarte. Alle ihre Erinnerungen waren schmerzhaft. Alle.« Schriftlich und mündlich erfuhr Rabkin von Yokos Enttäuschungen in ihrer Kindheit und Jugend. Sie fühlte sich isoliert und zurückgewiesen. Sie empfand ihren Vater als abwesend, als einen, der mit seiner Arbeit verheiratet ist, und ihre Mutter als eine Frau, die wenig Mütterliches an sich hatte.

Rabkin war in dieser Zeit einer der wenigen Freunde Yokos. Ansonsten war sie eine Einzelgängerin, las sehr viel und vermied es sogar, die japanische Gemeinde zu besuchen, weil sie dort das Gefühl hatte, man würde sie als etwas Besonderes und aufgrund ihrer Herkunft als eine aristokratische Frau behandeln. Im Herbst 1952 besuchte die 19-jährige Yoko das renommierte, idyllisch gelegene und elitäre Sarah Lawrence College. Heute noch gilt diese musisch ausgerichtete Privatschule als wichtige Talentschmiede. Viele erfolgreiche Künstler sind aus ihr hervorgegangen. Die Arbeitsweise dort erinnert entfernt an die Freiheiten, die in Montessori-Schulen gegeben sind. Jede Studentin – 1952 war die Koedukation noch nicht eingeführt worden – hatte ihren eigenen Tutor und gemeinsam bestimmten sie das Lerntempo und die Kurse. Yoko blieb sich treu und belegte Philosophie und Komposition. Kommilitoninnen erinnern sich an Yoko als unnahbare und schüchterne junge Frau.

»Als ich noch aufs Sarah Lawrence ging, hielt ich mich vor allem in der Musikbibliothek auf und hörte Schönberg und Webern. Von denen war ich begeistert. Ich komponierte damals selbst einige serielle Werke. Aber mir fehlte die Disziplin, die Partituren zu Ende zu schreiben. Zudem erfand ich das Streichholz-Stück (Match Piece): Ich entzündete ein Streichholz und sah es so lange an, bis es erlosch.«6

Im College beginnt Yokos Grapefruit, zaghaft Gestalt anzunehmen. Einerseits erarbeitet sie sich ein solides theoretisches Fundament, wobei sie sich vergleichsweise nur kurz bei Mozart und Bach aufhält, stattdessen sich intensiv mit Werken wie Arnold Schönbergs Verklärte Nacht