Jacob der Gefangene - Karin Wenger - E-Book

Jacob der Gefangene E-Book

Karin Wenger

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Beschreibung

Lange Zeit ist Jacob der Hoffnungsträger seiner Familie. In Kerala geboren, in Dubai aufgewachsen, Studium und Karriere als erfolgreicher Geschäftsmann in den USA. Er liebt das Gefühl des Erfolgs, rauschende Partys und das Hochgefühl von Ecstasy. Dann kommt der Wendepunkt: Jacob und ein Freund werden von der Polizei wegen Drogenbesitzes verhaftet, sie kommen auf Kaution frei und Jacob flieht nach Dubai, wo er sich eine neue Existenz aufbaut. Doch als er 2008 nach Mumbai fliegt, um seine kranke Mutter zu besuchen, wird er aufgrund eines internationalen Haftbefehls am Flughafen verhaftet und ins Tihar-Gefängnis, eine der größten Haftanstalten Asiens, gebracht. Dort beginnt seine endlose Reise durch das korrupte und marode indische Justizsystem, und dort trifft Karin Wenger 2011 während einer Recherche auf ihn. Von da an begleitet sie den Gefangenen über mehr als zehn Jahre. Die Notizen, Briefwechsel und Interviews, die aus diesen Begegnungen entstehen, sind ein eindrückliches Zeugnis aus dem indischen Gefängnisalltag und erzählen von einem Mann, der tief fiel und dann wieder aufstand und sich neu erfand.

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Karin Wenger

Jacob der Gefangene.

Eine Reise durch das indische Justizsystem

Matthes & Seitz Berlin

Für Adon

Inhalt

Neu-Delhi, 11. November 2011 – Tihar-Gefängnis

Neu-Delhi, 20. November 2011 – Die Kämpferin gegen Korruption

Tihar, 13. November 2011 – Brief von Jacob

Neu-Delhi, 15. November 2011 – Der Bruder

Brief von Jacob (Fortsetzung) – Tihar, 13. November 2011

Tihar, 18. November 2011 – Brief von Jacob

Neu-Delhi, 23. November 2011 – Gefängnisbesuch

Neu-Delhi, 1. Dezember 2011 – Der Menschenrechtsanwalt

Tihar, 15. Dezember 2011 – Brief von Jacob

Neu-Delhi, 19. Dezember 2011 – Gerichtsverhandlung

Kurze Notiz im Dezember – Der Gefängnischef

Tihar, 20. Dezember 2011 – Brief von Jacob

Neu-Delhi, 9. Januar 2012 – Gerichtsverhandlung

Neu-Delhi, 12. Januar 2012 – Der Ex-Minister und sein Sohn

Neu-Delhi, 19. Januar 2012 – Der korrupte Politiker

Jacobs Fotoalbum

Tihar, 21. Januar 2012 – Brief von Jacob

Neu-Delhi, 15. Februar 2012 – Gerichtsverhandlung

Tihar, 18. Februar 2012 – Brief von Jacob

Neu-Delhi, Ende Februar 2012 – Freiheit

Neu-Delhi, März 2012 – Alltag

Neu-Delhi, 20. Mai 2012 – Zurück auf Feld eins

Kochi, 12. Februar 2016 – Wiedersehen

Neu-Delhi, 25. Dezember 2016 – Der korrupte Politiker und das Karma

Aschau, 28. Juni 2020 – Die Braut und die Kühe

Bangkok, 15. Januar 2020 – Sieben Leben (oder neun)

Epilog

Neu-Delhi, 11. November 2011 – Tihar-Gefängnis

»Wenn du nach Tihar kommst, weißt du nicht, ob du dieses Loch je wieder verlassen oder hier verrotten wirst«, sagt Jacob. Er sei ein Gefangener des indischen Justizsystems, begraben unter Papierbergen, gefangen in einer bürokratischen Endlosschleife. »Und doch denke ich manchmal, vielleicht ist dieses Gefängnis der Weg zur Freiheit«, fährt er fort. Ich treffe Jacob auf dem Gefängnisrundgang, auf den mich Shamsher Singh, der Vorsteher von Gefängnis Nummer 4, mitgenommen hat. In dessen Anwesenheit, so schien es mir, wurde Jacob ein paar Zentimeter kleiner, dabei stand Singh einfach nur da, lachte ein tiefes, kehliges Lachen und zwirbelte an seinem Schnurrbart.

Die erste Station auf diesem Rundgang ist der Hochsicherheitstrakt. »Zuerst die bösen Buben«, sagt Shamsher Singh, zwinkert mir zu, bevor er mit der Faust gegen die Tür schlägt und mit Baritonstimme donnert: »Bruder, aufmachen, los!« Im Hochsicherheitstrakt gibt es keine Bäume und kein Grün, nur hohe Wände, nackten Beton und einen kaputten Fernseher. Singh begrüßt die Insassen wie alte Freunde. »Meine Lieblinge« nennt er die Männer aus Kaschmir, Pakistan und Bangladesch. Sie hocken auf ihren Fersen und brummen ein »Namaste«. »Staatsfeinde, Flugzeugentführer, Terroristen«, raunt er, als die schwere Tür wieder ins Schloss fällt. Auf dem Weg zum nächsten Trakt begrüßt Singh einen Guru – das Haar lang, die Hände zum Gruß gefaltet –, der zwischen den Gefängnisbungalows wandelt wie auf Wolken. Der habe von seinem Ashram aus einen Prostitutionsring betrieben, sagt Singh. Ich denke: Echt jetzt? Wie klischiert ist das denn – der Gottesfürchtige, der sich als Zuhälter entpuppt. Bereits nach wenigen Minuten wirkt das Gefängnis auf mich wie ein Spiegel des indischen Lebens: schräg, explosiv, absurd, von einem großen Machtgefälle gezeichnet und in buntem Neben- und Durcheinander.

Im nächsten Trakt hat der Rotary Club an diesem Nachmittag ein Konzert für die Gefangenen organisiert. Ein paar Insassen führen in schrillen Kostümen einen Bollywoodtanz auf. Auszeichnungen werden vergeben für die besten Wärter, die folgsamsten Gefangenen. »Solche Feste zeigen, wie vorbildlich Tihar geführt wird, wie sehr wir uns um unsere Insassen kümmern«, flötet Gefängnissprecher Sunil Gupta, der sich von Gästen des Rotary Clubs abgewendet und sich nun zu uns gesellt hat, um uns ein Stück auf dem Rundgang zu begleiten. Er dreht sich leicht und spuckt einen langen, von Paan rot gefärbten Speichelstrahl auf den Boden. Dann schiebt er sich einen neuen Paan, eine Mischung aus geriebenen Betelnüssen, Tabak und Gewürzen, die in ein Blatt gerollt und mit gelöschtem Kalk bestrichen werden, in den Mund und beginnt zu kauen. Ich wende mich wieder Shamsher Singh zu, der die Tür zum nächsten Trakt aufgestoßen hat und mit ausladender Geste sagt: »Das ist der VIP-Trakt.« Er zeigt auf kleine Bungalows, in denen Männer fernsehen oder auf ihren Matten auf dem Boden dösen. Dieser Trakt ist großzügiger und sauberer, der Rasen im kleinen Park ist gepflegt, die Gefangenen haben Einzelzellen. Es ist der Vorzeigetrakt im Gefängnis Nummer 4. Genau hier befindet sich auch das Vipassana-Meditationszentrum in einem der Bungalows. Insassen wandeln schweigend im Garten auf und ab. Die Verurteilten ganz in Weiß gekleidet, die Untersuchungshäftlinge in ihren eigenen Kleidern. Sie absolvieren den zehntägigen Vipassana-Meditationskurs. »Wer Tihar verlässt, geht dank unserem großen Kursangebot als eine veränderte Person nach Hause. Die Gefangenen sind unsere Studenten und sie bessern sich hier«, setzt Gefängnissprecher Gupta seine Lobeshymne fort, als ob das Gefängnis eine private Heilanstalt sei und ich eine interessierte Klientin. Wie zum Beweis läutet nun die Glocke vor dem Bungalow und die schweigenden Gefängnisinsassen kehren, den Blick auf den Boden gerichtet, zurück auf ihre Kissen, um zu meditieren.

Hätte ich nicht selbst zu meditieren begonnen, hätte ich wahrscheinlich nie einen Fuß ins Tihar-Gefängnis gesetzt. Die Meditation war mein Versuch, dem konstanten Lärm in Neu-Delhi, dieser übervölkerten, stinkenden, heißen Stadt, zu entrinnen, auch dem inneren Lärm. Ich dachte, wenn ich mich an einem ruhigen Ort still hinsetze, werde auch mich Stille erfüllen. Deshalb meldete ich mich für einen zehntägigen Vipassana-Meditationskurs in McLeod Ganj an, nahe dem Zentrum des Dalai Lama. Zehn Stunden Meditation täglich. Zehn Tage im Schweigen. Weder Bücher noch Schreibzeug waren erlaubt. Wir Meditierenden sollten uns ganz auf uns konzentrieren, zuerst auf unseren Atem, dann auf unseren Körper, auf Schmerzen, Gefühle, Ängste, Verspannungen. Wir sollten sie wahrnehmen, aber nicht darauf reagieren, Gelassenheit üben. Kein Problem, dachte ich.

Doch sobald ich von äußerer Stille eingehüllt war, hörte ich den Lärm in mir wie ein schlecht dirigiertes Symphonieorchester toben. Befehle, Vorwürfe, Anklagen, Wünsche. Die Stimmen gaben keine Ruhe. Monkey mind, Gedanken wie flüssiges Quecksilber, grenz- und zeitüberschreitend und begleitet von einem Crescendo aus Emotionen: Wut, Angst, Glück, Trauer und Freude. Sie schienen aus dem Nichts in mir hochzuschießen, nur um wenig später wieder abzuklingen. War das mein Leben? Ein Meer aus Wellen, die an- und abschwollen, nur um dann wieder in den großen Wassermassen zu verschwinden? Dann auf einmal, am vierten Tag: Stille. Sie wurde begleitet von einer Leichtigkeit und Euphorie, die meinen Körper von Tag zu Tag durchsichtiger und schmerzfreier machte. Was, wenn wir immer so leben könnten, dachte ich nun. Wäre das Freiheit? Würden wir so unseren inneren Gefängnissen, unseren Vorurteilen, Ideologien und Gedankenkonstrukten entfliehen? Kaum gedacht, begann das Knie erneut zu schmerzen, die Gedanken blieben an den Schmerzen hängen – sollte ich nun das Bein strecken oder nicht? Die Leichtigkeit war dahin. Alles begann von vorn. Selten merkte ich so deutlich, dass nicht äußere Mauern und Gitter unsere Gefängnisse sind, sondern unser eigenes Denken unsere Pfade zementiert und uns stärker einschränkt als jede Gefängnismauer. Ich merkte, nur wenn ich mich vertraut mache mit diesen eigens erschaffenen Gefängnissen, wenn ich ihre Wände und Gitter genau studiere, habe ich die Möglichkeit, ein Schlupfloch in die Freiheit zu finden.

Vipassana ist eine uralte Meditationstechnik und bedeutet so viel wie: die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Buddha brachte die Technik seinen Schülerinnen und Schülern bei und lehrte sie, sich selbst zu beobachten und kennenzulernen. Ziel ist es, das eigene Leiden, das durch unsere Verblendung entsteht, zu überwinden und frei zu werden. Maßgeblich dazu beigetragen, dass die Vipassana-Meditation heute weltweit gelehrt wird, hat S. N. Goenka. Der indische Geschäftsmann, 1924 in Burma geboren, hatte die buddhistische Vipassana-Meditation als Mittel gegen seine Migräne entdeckt und sie ab den Siebzigerjahren einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Goenka starb 2013, doch die Meditation und Goenkas Vorträge sind bis heute auf der ganzen Welt in Vipassana-Zentren lebendig, wo sie als Meditationsanleitungen und Videobotschaften abgespielt werden. Wie gut es tat, jeden Abend meine Gedanken und meinen Fokus auf etwas ausrichten zu können, mich für einen Moment ablenken zu lassen! An einem solchen Vortragsabend erfuhr ich, dass Vipassana-Kurse auch im Tihar-Gefängnis in Neu-Delhi angeboten werden. Mein Interesse war sofort geweckt. Wenn ich von meiner Vergangenheit eingeholt und von meinen Emotionen überrumpelt wurde, während ich still saß, wie würde es dann Verbrechern, Kriminellen und unschuldigen Gefangenen ergehen, wenn sie mit sich und ihren Gedanken alleine wären, fragte ich mich. Diese Frage ließ mich nicht mehr los. Sie führte mich direkt ins Tihar-Gefängnis. Ich wollte eine Reportage über das Thema schreiben. Noch ahnte ich nicht, dass mich die Begegnung mit einem Gefangenen in Tihar über Jahre begleiten und beschäftigen würde.

Tihar-Gefängnis, Neu-Delhi. Eines der größten Gefängnisse in Asien. Eigentlich ist es ein ganzer Gefängniskomplex, eine ummauerte Festung, die aus mehreren Untergefängnissen besteht. Die Anlage ist für 5200 Häftlinge konzipiert, doch sitzen hier mehr als dreimal so viele Gefangene ein. Drei Viertel aller Gefangenen warten noch auf ihr Urteil, viele schon seit Jahren. Sie stecken im bürokratischen indischen Rechtssystem fest. Im Gefängnis gibt es eine Bäckerei, eine Schneiderei, ein Malatelier, Sportveranstaltungen, Konzerte – und Meditationskurse. Und da stehen wir jetzt also im Vorzeigetrakt im Gefängnis Nummer 4, gleich neben den Bungalows des Vipassana-Meditationszentrums.

»Wollen Sie von den Gefangenen selbst hören, welche Wunder Meditation bewirkt«, fragt Gupta, der immer noch auf seinem Paan kaut. Ohne meine Antwort abzuwarten, lässt er einen Gefangenen holen. So treffe ich Jacob.

Jacob, 38 Jahre alt, wartet seit mehr als drei Jahren im Tihar-Gefängnis auf sein Urteil. Als Untersuchungshäftling trägt er Jeans, ein enganliegendes T-Shirt mit aufgedrucktem Porträt von Bob Marley, unter dem sich seine Muskeln abzeichnen. Er trainiere jeden Tag, jedoch ohne Hanteln. Die seien im Gefängnis verboten, sagt er und lacht. Er lacht viel, ein warmes, einnehmendes Lachen, als ob sich damit die Dunkelheit vertreiben und ein Gefühl von Leichtigkeit herbeilachen ließe, selbst hier, im Gefängnis. Er ist charmant, spricht Englisch, Hindi und Malayalam, die Sprache des südlichen Gliedstaats Kerala. Für einen kurzen Moment vergesse ich, wo ich bin, dass ich einem Gefangenen gegenübersitze. Dann frage ich mich, was Jacob mit seinem Charme, den er mir gegenüber so offen ausspielt, bezweckt. Ist es die bloße Freude, an diesem Ort, an dem die einzigen Frauen die Nonnen sind, die sich um das Seelenheil der Gefangenen kümmern, wieder einmal eine weltliche Frau zu sehen? Oder ist es viel mehr sein Wissen darum, dass er an einem Ort wie Tihar nur überleben kann, wenn er jede Gelegenheit schnell erkennt? Doch was für eine Gelegenheit könnte ich für ihn sein? Jacob gehört nicht zu den Kleinkriminellen, Mördern und Dieben, wie viele der Insassen in Tihar. Auch nicht zu den korrupten Politikern, die hier unter Vorzugsbedingungen einsitzen. Er sei in Indien nicht einmal angeklagt, vielmehr forderten die USA seine Auslieferung, sagt er, und natürlich könne ich ihn interviewen. Wir setzen uns unter einen Baum, außer Hörweite der Aufpasser Gupta und Singh. Was er meine, wenn er sage, vielleicht sei das Gefängnis der Weg zur Freiheit, frage ich Jacob, und er antwortet:

Seit ich hier bin, habe ich vier Vipassana-Kurse gemacht. Ich hab stunden- und tagelang gesessen. Weißt du, wie anstrengend das ist? Die Gedanken machen ständig ihr eigenes Ding, wie ungezogene Kinder. Ich dachte an längst Vergangenes, krallte mich daran fest, obwohl ich das gar nicht mehr verändern kann. Dann dachte ich an die Zukunft, auch wenn die weit weg ist. In meinem Kopf bin ich nach Dubai gereist, nach Schardscha, in den Iran, die Wüste Omans und natürlich in die USA. Ich war wütend auf all die Freunde, die mich betrogen und verleumdet haben, und traurig über all das, was ich verloren habe. Gedanklich reiste ich ziel- und orientierungslos durch mein vergangenes Leben. Nicht einmal eine Minute konnte ich im Hier und Jetzt bleiben. Da erst habe ich gemerkt, wie schwach ich bin.

Was hat das mit Schwäche zu tun, frage ich.

Ist es nicht ein Zeichen von Schwäche, wenn deine Gedanken dich im Griff haben und nicht du sie? So war das mein ganzes Leben lang. Ich war ein Getriebener, rannte unablässig, immer auf der Suche nach dem nächsten Geschäft, nach mehr Geld, mehr Anerkennung. Runde um Runde im Hamsterrad. Gefangen in einer Welt, in der jeder mehr als der andere verdienen, besser als der Nachbar sein will. Wahrscheinlich hätte ich so weitergemacht, bis ich tot umgefallen wäre. Erst als ich nirgends mehr hinrennen konnte, stillsitzen musste, wurde mir klar: Der einzige Ort, an dem wir wirklich sein können, ist der, an dem wir uns befinden. Der einzige Moment, den wir wirklich genießen können, ist der gerade gegenwärtige jener flüchtigen Sekunden, in die unser Leben unterteilt ist. Jedes Davor und Danach ist eine Illusion, ein Abweg von dem, was ist.

Und das hast du durch die Meditation verstanden?

Die Meditation hat meinen Blick geschärft. Ich sehe jetzt immer besser, was wirklich ist, nicht, was ich gern sehen würde. Das ist nicht immer schön, aber es ist ehrlicher. Ich erkenne die Fehler, die ich begangen habe, die falschen Freunde, die ich hatte. Für all das büße ich jetzt. Manchmal denke ich: Gott sei Dank bin ich hier gelandet. Wäre die Welt sonst nicht einfach an mir vorbeigezogen, und ich hätte am Ende gedacht: War ich wirklich da?

Wie hat sich dein Blick auf die Welt verändert?

Ich mache mir keine Sorgen mehr über die Vergangenheit oder die Zukunft. Die Vergangenheit ist vorbei und nicht mehr veränderbar. Wenn die Zeit kommt, beginne ich wieder von vorne. Es ist wie bei der Meditation: Driften deine Gedanken ins Irgendwo, dann holst du sie einfach zurück, konzentrierst dich wieder auf den Atem, beginnst von vorne. Immer wieder von vorne. Das ist das Leben: Ein stetiger Neuanfang.

Glaubst du, es ist einfacher, im Gefängnis zu meditieren, weil es hier sowieso nichts zu tun gibt und die äußeren und gesellschaftlichen Zwänge wegfallen?

Vielleicht, auch wenn im Gefängnis ganz ähnliche Regeln gelten wie außerhalb. Die Welt im Gefängnis ist einfach ein kleiner Ausschnitt der Welt draußen. Der wahre Test besteht darin, ob du dein Leben zu einer Meditation machen kannst, nicht nur die Momente, in denen du still auf einem Kissen sitzt. Das Gefängnis ist ein negativer Ort und ein gutes Übungsfeld dafür. Hier reden alle tagein, tagaus über ihren Fall, wie sie hier rauskommen und was ihre nächsten Verbrechen sein werden. Wenn du nicht aufpasst, saugen sie dich in ihre Geschichten wie in ein schwarzes Loch. Ich höre mir diese oft grausamen Geschichten an, aber ich lasse mich nicht mehr in ihre schwarzen Löcher ziehen. Wenn du in Tihar einsitzt, musst du überleben lernen. Du brauchst Freunde und musst dir die Feinde vom Leib halten, die Starken von den Schwachen, die Korrupten von den Ehrlichen unterscheiden können. Die meisten, die hier einsitzen, sind Kleinkriminelle, viele sind unschuldig.

Wie kannst du dir da so sicher sein?

Weil sie mir ihre Geschichten erzählen. Und wieso sollten sie mich anlügen? Viele wurden von der Polizei als Sündenböcke missbraucht. In Indien ist die Polizei nicht dein Freund und Helfer, sie ist dein Feind. Als Louis Mountbatten, der letzte englische Vizekönig von Indien, 1948 unser Land verließ, war das nicht das Ende der Kolonialherrschaft, sondern einfach der Beginn einer neuen korrupten Elite, diesmal nicht weißer, sondern brauner Hautfarbe. Sie regieren immer noch nach den Regeln der Kolonialisten, sogar noch härter und ungerechter, weil sie die Selbstsicherheit der Engländer nicht geerbt haben, nur ihr System, in dem sie sich jetzt behaupten müssen. Wer sich seiner selbst nicht wirklich sicher ist, der muss die Selbstsicherheit spielen, und wer spielt, der übertreibt gern mal. Sie kommen aus der reichen indischen Oberschicht, erlernten ihr Handwerk an Universitäten in England oder in den USA und haben zwei Arten von Gesetz: eines für die Reichen und eines für die Habenichtse. Ihre Handlanger sind die Polizisten, deren Opfer sitzen in Tihar. Viele kommen zu mir und bitten mich um Hilfe.

Und wie kannst du ihnen helfen?

Ich schreibe für sie Gesuche ans Gericht, weil sie nicht schreiben können oder nicht wissen, wie man ans Gericht schreibt. Gestern war so einer bei mir. Er hatte 200 Kilogramm Knoblauch in Rajasthan abgeliefert und war dann zum Tempel gegangen, um zu